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Erstes Kapitel.

Wie Heinrich Rohrpenn an Bord des »Paladin« kam. – Ein fixer Kerl. – In See. – Seltsame Unterhaltung im Matrosenlogis. – Ein böser Geist an Bord. – Valeska am Ruder. – Der »Albatroß«. – In den Mallungen. – Der Hai. – Eine Bö.

 

Wer einmal in Hamburg gewesen ist, den zieht es immer wieder nach der alten schönen Hafenstadt.

Wohl hat ihr die neue Zeit gar manche ihrer ehrwürdigen und romantischen Eigentümlichkeiten genommen, aber den Hauch jener alten kernigen Zeit, in der die stahlgepanzerten Hanseaten auf ihren kriegstüchtigen Koggen den Vitalienbrüdern Gödeke Michael, Störtebeker und andern Feinden siegreiche Schlachten lieferten und ruhm- und beutereich wieder aus der Elbe zu Anker gingen, diesen Hauch spürt heute noch jeder, der den mächtigen Strom überschaut und die alten sich längs des Hafens hinziehenden Stadtteile durchwandert.

Nicht wenig trägt dazu auch das Hamburgische Plattdeutsch bei, das einem auf Schritt und Tritt in die Ohren klingt, dasselbe Plattdeutsch, das schon vor Jahrhunderten hier geredet wurde.

Prächtig ist die Elbstadt in ihren modernen Teilen; anmutig spiegeln sich die stattlichen Patrizierhäuser, die von Gärten und Parks umgebenen freundlichen Villen in den stillen Fluten der Binnen- und Außenalster; vielgestaltig und eigenartig ist das wimmelnde Volksleben auf den Plätzen und Straßen, interessant der Blick auf die schmalen Flete, an welchen die altersgrauen, hohen Speicher stehen.

Die eigentliche Besonderheit der Stadt aber ist das Hamburg an der Elbe, der Stadtteil am Hafen, wo vor den Häusern der Schiffsmakler und Schiffshändler, vor den zahlreichen kleinen Wirtschaften und Tavernen sich die verschiedenartigsten Völkertypen, repräsentiert durch Kapitäne, Steuerleute und Matrosen, hin- und herbewegen.

An den »Vorsetzen«, einer unmittelbar am Hafen gelegenen Straße, reiht sich Flaggenstock an Flaggenstock; niedrige eiserne Kräne dienen dem kleinen Schiffsverkehr, und auf dem Strome selbst liegen unabsehbare Reihen von Seeschiffen, deren Masten wie ein Wald zum Himmel ragen und mit ihrem Takelwerk ein schier unentwirrbares Gewebe zu bilden scheinen.

Vom großen Frachtdampfer bis zum kleinen Fischerewer sind hier alle Schiffsgattungen vertreten; Schuten und auch hier und da ein Elbkahn liegen den Schiffen zur Seite, die entweder Ladung aus ihnen empfangen oder in sie abgeben.

Kleine schnelle Schlepp- und Fährdampfer schießen ab und zu durch die Schiffsreihen, und ihr schrilles Pfeifen mischt sich mit dem dumpfen Geheul der gewaltigen Seedampfer, die brausend flußabwärts fahren oder von der Außenelbe heraufkommen.

Es ist ein so reiches und wechselvolles Bild, daß man sich kaum satt daran sehen kann, zumal wenn man seinen Standpunkt auf einem der Pontons bei St. Pauli hat, wo man einerseits den ganzen Hafen und die zahlreichen großen Schiffswerften, Docks und Maschinenfabriken von Steinwärder, Reiherstieg usw. und hinter sich die Deutsche Seewarte und das Seemannshaus auf der Elbhöhe hat, und andrerseits nach Altona hinausschaut und auf den sich breit ausdehnenden Spiegel des herrlichen Stromes, auf welchem je nach dem Stande der Gezeiten ganze Flotten von Segelschiffen vor Anker liegen oder in Bewegung sind.

Hell leuchten die weißen Segel der Vollschiffe, der Barken, Briggen und Schoner in die blaue Luft hinaus, im malerischen Gegensatz zu der lohfarbenen, braunen und roten Leinwand der Ewer, Galioten und Tjalken und den dunklen Rauchmassen aus den Schloten der Dampfer, die zeitweise die Aussicht mit einem Schleier verdecken.

*

In der Morgenfrühe des Tages, an dem unsere Geschichte beginnt, stand ein junger Mann auf dem Speicherkai am oberen Ende des Hafens, in die Betrachtung eines prachtvollen und ganz neuen eisernen Vollschiffes vertieft, das dicht an den Kai herangeholt hatte und mit diesem durch eine breite Planke verbunden war.

Die drei Luken des Schiffes, an dessen Heck und Bug der Name »Paladin« in goldenen, hell in der Morgensonne funkelnden Lettern zu lesen war, standen offen, um die Stückgüter aufzunehmen, die eine Anzahl Schauerleute aus dem Speicher heraus- und an Deck hinüberschafften, wo sie mit Hilfe der Winsch (Winde) in den Raum hinunterbefördert wurden.

Der Name des jungen Mannes war Heinrich Rohrpenn; er hatte sein neunzehntes Lebensjahr noch nicht ganz erreicht, war trotzdem bereits ungewöhnlich groß und kräftig, und konnte als ein prächtiges Muster eines jungen deutschen Seemanns gelten.

Seine Ausbildung hatte er an Bord der »Herzogin Sophie Charlotte«, eines der Schulschiffe des Norddeutschen Lloyd, erhalten, um sich später der Offizierlaufbahn auf den großen Bremer Schnelldampfern widmen zu können. Er war im ersten Jahre als Schiffsjunge, im zweiten als Leichtmatrose und im dritten als Vollmatrose gefahren und hatte auf seinen Reisen während dieser drei Jahre Japan, Australien und die Westküste von Südamerika kennen gelernt.

Diesen Fahrten folgte eine Reise auf einem der Lloyddampfer und hierauf hatte er die Seefahrtschule zu Bremen besucht. Gern hätte er nun eine Stellung als vierter Offizier auf einem der Bremer Schnelldampfer angenommen, allein auf den dringenden Wunsch seines Vaters, des alten Hamburger Kapitäns Adam Rohrpenn, entschloß er sich, als dritter Steuermann auf dem »Paladin« anzumustern, dessen Führer, Kapitän Lüdemann, seit langen Jahren mit Adam Rohrpenn eng befreundet war.

Rohrpenn besaß in dem unterhalb Altonas gelegenen Dörfchen Neumühlen ein kleines Haus, in dem er sein Leben zu beschließen gedachte. Er war bei einem Schiffbruch zum Krüppel geworden und mußte seine Tage in einem Rollstuhl zubringen, sonst hätte er es sich nicht nehmen lassen, seinen Heinrich persönlich an Bord des schönen neuen »Paladin« zu geleiten, der der nämlichen Reederei gehörte, für die er selber dreißig Jahre lang gefahren hatte.

Als der Bau des »Paladin« geplant wurde, da hatte man beschlossen, ihm, Adam Rohrpenn, die Führung dieses Schiffes zu übertragen; allein das grausame Schicksal fügte es anders. Dreißig Jahre lang hatte der brave Kapitän in dem Rufe gestanden, immer nur vom Glück ganz besonders begünstigte Fahrten zu machen; bei der letzten Fahrt aber brach das Unglück über ihn herein: ein furchtbarer Orkan warf seine »Ceres« auf die Klippen der Scillyinseln am Eingang des Englischen Kanals; das Schiff ging in Stücke, nur wenige von der Besatzung wurden gerettet, unter ihnen auch Kapitän Rohrpenn, der jedoch infolge der bei der Katastrophe erlittenen Verletzung zum Invaliden wurde.

Wenn nun aber auch ein Rohrpenn den »Paladin« nicht mehr kommandieren konnte, so sollte doch ein Rohrpenn auf ihm Dienste nehmen; und darum hatte sich an jenem Morgen der Held unserer Geschichte in Neumühlen von seinem Vater verabschiedet und nach Hamburg aufgemacht, wo wir ihn auf dem Speicherkai in die Betrachtung des Paladin vertieft gefunden haben.

Er trug seinen Feiertagsanzug aus blauem Düffel und auf seinem blonden Krauskopf eine Schirmmütze von gleichem Stoff mit von goldenen Knöpfen gehaltenem Sturmriemen und einem schwarzen Wachstuchüberzug. Aus seinem frischen, sonnenverbrannten Antlitz schauten ein paar ehrliche graue Augen scharf und energisch in die Welt hinaus und man erkannte auf den ersten Blick, daß man es in Heinrich Rohrpenn mit einem treuen zuverlässigen, ehrenhaften und mutigen jungen Manne zu tun hatte.

Mittschiffs, unweit des Fallreeps, wo durch die Entfernung eines Stückes der Schanzkleidung eine Ladepforte geschaffen worden war, lehnte ein Mann an der Reling des »Paladin«, der, ein Taschenbuch und einen Bleistift in den Händen, die an Bord kommenden Stückgüter kontrollierte. Das war der Obersteuermann Rupp, der in Abwesenheit des Kapitäns das Kommando führte.

Aus irgend einer Veranlassung wendete er sich jetzt dem Kai zu und gewahrte dabei den dritten Steuermann, den er bereits auf dem Musterbüro kennen gelernt hatte.

»Dor sün Se jo, Rohrpenn!« rief er herüber; »komm Se man gau an Bord, Se könt mi hier helpen!«

Heinrich sprang in drei Sätzen über die Planke an Deck, bot dem Obersteuermann einen fröhlichen guten Morgen, lief in seine Kammer, wo bereits am Abend zuvor seine Seekiste untergebracht worden war, wechselte rasch den Anzug und erhielt dann vom Obersteuermann Buch und Bleistift und die Weisung, sich zur Achterluke zu verfügen und zu notieren, was dort in den Raum hinabgegeben wurde.

Zu der Ladung, die mittschiffs verstaut wurde, gehörten auch zwölf Kruppsche stählerne Feldgeschütze nebst Lafetten und allem Zubehör, außerdem mehrere hundert Gewehre und Munition. Diese Waffen waren für eine Abteilung der australischen Miliz bestimmt; sie erregten naturgemäß die Neugierde der auf dem Kai lungernden Leute, unter denen besonders ein Mann die Verladung mit größter Aufmerksamkeit beobachtete.

In seinem Eifer half er den Schauerleuten die Geschützrohre in die Kranketten schlingen und erwies sich dabei so geschickt und flink, daß Heinrich Rohrpenn in ihm auf den ersten Blick einen erfahrenen Seemann erkannte.

Des Mannes Gesicht war von Sonne und Wetter dunkelgebräunt, er trug goldene Ohrringe und gute Kleider aus dunkelblauem Stoff, wie Janmaat sie anzulegen pflegt, wenn er an Land geht.

Als sich alle Geschütze an Bord befanden, richtete der Mann seine scharfen Augen auf das Schiff und musterte dessen Masten, Raaen und Takelung, sowie auch die feinen Linien des Rumpfes mit kritischen Kennerblicken und jenem wohlgefälligen Verständnis, das jeder tüchtige Seemann solch einem in jeder Hinsicht vollkommenen Fahrzeug entgegenzubringen pflegt.

Acht Tage später wurden die Luken zugedeckt und für die Reise dichtgemacht, denn der »Paladin« hatte jetzt seine gesamte Ladung an Bord.

Während dieser Zeit hatte sich der braune Seefahrer mehrmals auf dem Kai eingefunden und den »Paladin« mit immer neuem Interesse betrachtet; er schien eine Vorliebe für das schöne Schiff gefaßt zu haben.

Heinrich Rohrpenn war daher durchaus nicht verwundert, als der Fremde am letzten Tage des Ladungeinnehmens über die Planke herüber an Deck kam, ohne weiteres auf den auf dem Achterdeck stehenden Kapitän Lüdemann zuschritt und diesen, die Mütze lüftend, fragte, ob die Mannschaft bereits vollzählig sei.

Der Schiffer musterte den Mann von oben bis unten und antwortete dann, daß er noch einige Leute haben müsse; wenn er willens sei, die Reise mitzumachen, dann solle er sich am Nachmittag zu einer bestimmten Stunde auf dem Musterbüro einstellen. Der Mann war gern dazu bereit, und so trennten sie sich nach kurzer Unterhaltung, augenscheinlich jeder mit dem andern sehr zufrieden.

»Ein fixer Kerl,« sagte Kapitän Lüdemann zu Heinrich, dem Abgehenden nachschauend, der mit schnellen, elastischen Schritten über den Kai davoneilte, »er ist dreimal ums Kap Hoorn gewesen, wie er mir gesagt hat, und muß daher seine Sache verstehen. Er hat da auch noch fünf Schiffsmaaten, die mit ihm bei demselben Schlafbaas wohnen, lauter tüchtige Vollmatrosen, und er meint, daß auch die gern auf dem »Paladin« anmustern würden. Ich denke, wir werden diesmal eine gute Kruh Nach dem Engl. crew = Mannschaft; ein von deutschen Seeleuten häufig gebrauchter Ausdruck. haben.«

Am Nachmittag wurde die noch fehlende Besatzung angemustert und zwar der zweite Steuermann, der Bootsmann, der Zimmermann, der Segelmacher, der Steward, der Koch, vierzehn Vollmatrosen – unter diesen auch der braune Kaphoornfahrer, der den Namen Markus Wenzel führte – und acht Leichtmatrosen. Die gesamte Besatzung, den Kapitän und den Obersteuermann mitgerechnet, belief sich daher auf einunddreißig Köpfe, so daß auf jede der beiden Wachen dreizehn Mann kamen, da Kapitän, Koch, Steward, Zimmermann und Segelmacher keine Wache mitzugehen hatten.

Eine Kruh von dreizehn Mann in der Wache an Bord eines Vollschiffes von der Größe des »Paladin« ist nur eben ausreichend, das Fahrzeug in einem mäßigen Sturm noch zu regieren; beginnt es stärker zu wehen, dann muß auch die andere Wache ausgepurrt werden.

Am Abend desselben Tages kam Kapitän Scherk, ein alter Freund des Kapitän Lüdemann, an Bord, um seinen Abschiedsbesuch zu machen. Er war der Führer des »Albatroß«, eines feinen Vollschiffes, das noch einige Hundert Tonnen Mit »Tonnen« bezeichnet man den Raumgehalt eines Schiffes an Registertonnen zu 100 engl. Kubikfuß, gleich 2,8316 Kubikmeter. größer war, als der »Paladin« und um dieselbe Zeit wie dieser die Reise nach Melbourne antreten sollte. Der »Paladin« war ein Schiff von zwölfhundert Tonnen.

Lange schon hatten beide Kapitäne den Wunsch gehegt, miteinander um die Wette segeln zu können, und jetzt endlich war die Gelegenheit dazu gekommen. Sie hatten um einen neuen Hut gewettet, den der erhalten sollte, der vor dem andern im Hafen von Melbourne einlaufen würde.

Obwohl jeder der beiden Seebären im geheimen fest von der überlegenen Schnelligkeit seines eigenen Schiffes überzeugt war, so gab er sich dennoch den Anschein, als glaube er bestimmt, hinter der besseren Segelfähigkeit des nebenbuhlerischen Fahrzeugs zurückstehen zu müssen.

»Na denn adjüs ok, Lüdemann,« sagte Scheck, nachdem sie die Flasche Rotspohn geleert hatten, »adjüs ohl Fründ un glückliche Reis'. Ick denk, in de Gegend von den Äquator sehen wi uns woll sacht wieder. Ick loop veeruntwintig Stunn vör di ut de Elbe rut, aber düssen lütten Vörsprung holst du bald wedder in.«

»Von Inholen kann gor kein' Red' sin,« entgegnete Lüdemann, ernsthaft den Kopf schüttelnd. »Du weetst ganz genau, dat min lütt Schipp gor keen Chance gegenäwer dinen feinen Klipper, den »Albatroß,« hewwen doon deit. Wi liggen veel to deep in 't Water und hewwen ok nich unsen richtigen Trimm. Nee, Fründ Scherk, acht Dag mindestens bist du früher in Melbourne, as ick, so dat du reichlich Tit hest, uns dor antomelln.«

»Nich doch, Lüdemann, ünner den Äquator hest du uns inholt, un denn blewen wi wiet in den »Paladin« sin Kielwater torügg, dat kannst du mi glöwen. De nige Haut is din, dorup kannst du di drist verlaten.«

Die beiden verschmitzten alten Burschen drückten sich lachend die Hände und Kapitän Scherk ging wieder an Land, überzeugt davon, daß er den Hut gewinnen werde.

Am folgenden Morgen kamen zwölf Arbeiter an Bord des »Paladin«, Maschinenbauer von einer Hamburger Schiffswerft, die nach Australien gehen wollten, in der Meinung, dort höheren Lohn zu erhalten. Sie wurden im Zwischendeck untergebracht.

Am Nachmittag erschienen die Kajütspassagiere, sieben an der Zahl. Es waren der Doktor Cellarius, seine Frau und sein sechsjähriges Töchterchen namens Lucie; Fräulein Valeska Merk, die Schwester der Frau Cellarius, und der Ingenieur Eisenlohr, seine Frau und sein siebenjähriger Sohn.

Die Herrschaften ließen sich ihre Kammern anweisen, ihr Gepäck hineinschaffen und richteten sich so behaglich als möglich für die lange Seereise ein, die ihnen bevorstand. Darauf begaben sich der Doktor und der Ingenieur an Deck, um sich miteinander und mit den Offizieren bekannt zu machen, und als die Zeit des Abendessens herankam, da hatten sie die Ansicht gewonnen, daß sie miteinander trefflich auskommen würden, daß Kapitän Lüdemann ein prächtiger Herr sei, daß Rupp, der Obersteuermann, und Klaus, der zweite Steuermann »so-so« wären, der dritte Steuermann aber, der junge Rohrpenn, ein gebildeter, offener und sehr ansprechender Jüngling sei, und daß man, was die Gesellschaft anlangte, eine angenehme Reise erwarten könne.

Noch ein weiterer Tag verging, dann kam der kleine Dampfer »Herkules« und schleppte den »Paladin« die Elbe hinab. Heinrich Rohrpenn hatte den ersten Rudertörn »Törn«, in diesem Falle der Zeitabschnitt, während dessen ein Mann am Ruder zu stehen und das Schiff zu steuern hat. übernommen. Der Hamburger Hafen blieb bald zurück; Altona, mit seinen direkt aus dem Strom aufsteigenden großen Speichern und Dampfmühlen, mit den alten Pfahl- und Bollwerken am Ufer und den zahlreich hier ankernden Fischerfahrzeugen glitt zur Rechten vorüber, und vor Heinrichs sehnsüchtigen Blicken tauchten die Uferhöhen von Ottensen und Neumühlen auf.

Die Schlösser und Villen der Handelsfürsten Hamburg-Altonas schauten hoch herab aus ihren grünen Parks und bunten Gärten; unten bespülte das Wasser des Stromes den weißen Strand.

Terrassenförmig stiegen die kleinen Gärtchen vor den zierlichen Schifferhäusern Neumühlens auf, von alten Ulmen beschattet.

Kapitän Lüdemann war an den jungen Mann herangetreten. »Kiek, Heinrich,« sagte er, »dor is din Vater sin Hus. Er het an sin Flaggenstock dat Signal »Glückliche Reise« upheißt, un dor sitt he sülben in sin Rollstuhl; he het sick bet dicht an de Waterkant ranschuwen laten. Jetzt schwenkt er seinen Strohhut zu uns herüber!«

Heinrich hatte schon längst die Mütze abgerissen und seinem Vater Grüße zugewinkt.

»Auf Wiedersehen!« rief er, obgleich er wußte, daß der alte Herr ihn nicht hören konnte.

»Auf Wiedersehen, ohl Fründ!« rief auch Kapitän Lüdemann, indem er zugleich die von der Gaffel wehende Flagge dreimal dippte.

Das Schiff rauschte vorüber und bald lag auch Neumühlen weit hinter ihm, und das Gehämmer der zahlreichen Bootsbauereien, wegen der das Dörfchen so berühmt ist, war nicht mehr hörbar.

Die Elbmündung war bald erreicht. Im Nordergatt warf der Schleppdampfer die Trosse los, die schon vorher gelösten Segel wurden vorgeschotet, die Raaen getrimmt, und mit frischer östlicher Brise steuerte der »Paladin« hinaus in die grüne Nordsee und dem Englischen Kanal zu.

Kapitän Lüdemann ließ das Log werfen, und zu seiner und der gesamten Besatzung großen Befriedigung stellte es sich heraus, daß das Schiff bei dieser mäßigen Brise nicht weniger als elf Knoten lief.

Drei Tage später war der Kanal durchlaufen und der »Paladin« begann die lange Schwell des Atlantischen Ozeans zu spüren. Der Wind frischte auf, und das Schiff stampfte und rollte über die Biscayische See mit einer so schnellen Fahrt dahin, daß alle Mann geradezu in Entzücken versetzt wurden.

Der Schiffer marschierte auf der Luvseite des Kampanjedecks hin und her, rieb sich vergnügt die Hände, kicherte vor sich hin und redete im Selbstgespräch halblaut allerlei abgerissenes Zeug wie:

»De ohle Jung, de Scherk, de schall de Ogen uprieten – mindestens acht Dag is min »Paladin« früher in Melbourne, as sin ohle Heuwagen, de »Albatroß« – und ich kriege den Hut – haha!«

Das war's, was Heinrich Rohrpenn aufschnappte, als er einen Augenblick auf dem Achterdeck zu tun hatte.

Im Logis, dem Wohnraum der Matrosen, gab die Schnelligkeit des Schiffes an jenem Abend viel Stoff zur Unterhaltung. Janmaat hat eine große Vorliebe für fixe Segler, und jetzt, wo man wußte, was der »Paladin« unter günstigen Umständen zu leisten vermochte, versicherte jeder, noch niemals an Bord eines Schiffes gewesen zu sein, das diesem an Schnelligkeit gleichgekommen wäre.

Markus Wenzel, der Mann mit dem braungebrannten Gesicht, dem pechschwarzen Haar und Bart und den goldenen Ohrringen, war von allen der Begeistertste.

»Junge, Junge!« rief er, als die andern sich in ihren Lobeserhebungen so ziemlich erschöpft hatten, »wat würde der Kasten für ein Piratenschiff abgeben! Wäre er mein, ich machte mein Glück damit, und nicht nur mein Glück, sondern auch das von alle Mann, und das sollte kein halbes Jahr dauern!«

Diese Worte riefen ein allgemeines Gelächter hervor.

»Mensch, Markus! Du willst doch nich etwa sagen, dat du mit düsse »Paladin« Seeraub bedriewen wülltst, wenn he din Eigendom wer?« sagte Tim Thode, ein großer vierschrötiger Seefahrer mit rotem buschigem Bart, der dem andern auf seiner Seekiste gegenüber saß.

»Nee, Maat, dat gerade nich,« antwortete Wenzel; »aber dennoch – warum eigentlich nich? Es gibt ja doch noch manch schlechteres Handwerk, als Seeraub, dat könt ji mi glöwen, Lüd.«

»Oho!« rief Tim. »Meinst du? Nenn mi doch mal so en Handwerk.«

»Dat is leicht geschehen,« erwiderte der andere. »Zum Beispiel unser Matrosenhandwerk – is dat nich en ganz deel schlechter? Harte Arbeit, schlechtes Futter, miserable Bezahlung – ji möt mi nich falsch verstehn, ick will mi öwer de »Paladin« nich beklagen, dat Eten is hier good genug un veel Arbeit hewwt wi hier ok noch nich to sehen kregen – aber dat Gesicht von den Oberstüermann Rupp gefällt mich nich un ok nich dat von den tweeten Stüermann Klaus. Wat Keppen Lüdemann is, de schient ja en ganzen gooden Mann to sin – bis jetzt, wohlverstanden. Aber dies Schiff wird ihn verderben.«

»Hoho!« lachte Tim.

»Jawoll, Maat, dies Schiff wird ihn verderben,« wiederholte Markus Wenzel. »Laß ihn nur erst mal richtig dahinter gekommen sein, daß er einen Schnellsegler, einen Flieger unter den Füßen hat, dann wird er jagen auf Teufel komm heraus, dann wird er die Leinwand stehen lassen bis auf die letzte Minute, bis alle Mann zum Segelbergen ausgepurrt werden müssen, damit die Stengen nicht über Bord gehen, anstatt die Segel beizeiten wegzunehmen, was eine Wache allein verrichten kann. Wartets ab, Maaten, dieser Flieger macht Keppen Lüdemann noch zum Leuteschinder!«

Diese Prophezeiung rief hier und da zustimmendes Brummen und bedenkliches Kopfschütteln hervor, Tim Thode aber rief:

»Wat schall de Snack! Wat het dat mit de Seeräuberei to doon?«

»Lat mi doch man utreden!« entgegnete Wenzel. »Ich habe gesagt, dat Janmaat hart arbeiten muß, wie ein Hund wohnt und schlechte Kost und wenig Geld kriegt. Dahingegen, wenn wir Piraten wären, dann hätten wir höchstens die Segel zu trimmen, dabei das Beste zu essen und zu trinken, könnten nach einer Kreuzfahrt von sechs Monaten die Seefahrt aufgeben und den Rest unsers Lebens wie Fürsten an Land zubringen.«

Thode brach in ein schallendes Gelächter aus.

»Mensch,« sagte er, »för so en Schapskopp hadd ick di wahrhaftig nich holln! Dat kann doch din Ernst nich sin! Du büst noch keen Pirat west, ebensowenig as wi annern. So'n Räuberpack möt noch düller arbeiten, as Janmaat up'n Kohlenschipp, und dorbi kann dat jeden Ogenblick 'n Kugel in Kopp oder 'n Messerstich von sin Oberbanditen gewärtig sin. Un de Kriegsschepen, de achter so'n Rackertüg her sin doon, un de Mordtaten, die jeder Pirat up sin Gewissen hat! Nee, Maat, bleib mich von's Leib mit din Seeräuberei, ick dank dorför.«

»Hat ja noch keiner verlangt, dat du Pirat werden sollst,« antwortete Wenzel ruhig. »Ich behaupte nach wie vor, daß Seeraub nicht das schlechteste Handwerk ist. Mordtaten sind dabei durchaus nicht nötig. Es ist ja wahr, tote Leute plaudern nichts aus, aber man kann Leute auch stumm machen, ohne ihnen die Hälse abzuschneiden. Gibt es nicht Inseln genug, wo man seine Gefangenen aussetzen kann? Und was die Arbeit anlangt, so kann man ja einige Gefangene an Bord behalten, die der Mannschaft die Arbeit abnehmen müssen. Und wenn man genug Beute gemacht hat, dann haut man in der Nähe eines passenden Hafens bei dunkler Nacht das Schiff leck, läßt es wegsacken, geht mit seinem Kram als armer schiffbrüchiger Seemann an Land und kann hernach als wohlhabender Mann herrlich und in Freuden leben. Ich weiß Bescheid, Maaten.«

»Dann bist du woll ein' von de Kerls, de sick gern an anner Lüd ehr Eigendom vergriepen doon?« sagte Thode.

»Du hast mich nicht verstanden, sonst würdest du nicht solche Frage an mich richten,« entgegnete Wenzel in beleidigtem Ton. »Ich bin kein Dieb und die Seekiste eines Schiffsmaaten ist mir heilig, denn da sind nur Dinge drin, die er notwendig haben muß und an die er ein Recht hat. Niemand aber hat ein Recht an Überfluß, solange andre Menschen dadurch zu kurz kommen.«

»Dat is richtig,« kam eine Stimme aus einem dunklen Winkel.

»Es gibt viel Leute,« fuhr Wenzel fort, »die haben so viel Geld, daß sie gar nicht wissen wie reich sie sind, und haben doch in ihrem Leben niemals gearbeitet. Und wir armen Janmaaten müssen schuften und uns quälen Tag und Nacht, bei gutem und schlechtem Wetter um Leib und Seele zusammen zu halten.«

»Dat is richtig,« sagte die Stimme aus dem Winkel.

»Ist das Gerechtigkeit?« redete Wenzel weiter. »Ich sage nein! Und ich würde mich keine Sekunde besinnen, jenen reichen Nichtstuern und Tagedieben etwas von ihrem Überfluß abzunehmen, wenn sich die Gelegenheit dazu fände. So denke ich!«

»Markus het nich unrecht,« brummten einige der andern, »nee, he het ganz un gornich unrecht, wenn man de Sak richtig äwerleggen doon deit.«

Tim Thode aber stierte den braunhäutigen Schiffsmaaten eine Welle zweifelnd an, dann rief er:

»Büst nu to Enn mit din Snack? Du büst en fixen Kerl, Markus, binah en beten to fix. Du kannst reden as en Advokat, aber du kannst mi nich inreden, dat du sülben an dinen Snack glöwen doon deist. Wenn ich nich wüßte, dat du der beste un willigste Seemann hier an Bord bist, denn möcht ich dir fast för en Rebellen ansehen.«

In diesem Augenblick erklang draußen die Schiffsglocke in vier Doppelschlägen.

»Acht Glasen,« schloß Thode seine Rede. »Wir müssen an Deck. Wer hat den ersten Rudertörn?«

Die Steuerbordwache begab sich für die nächsten vier Stunden an Deck und die Backbordwache suchte ihre Kojen auf.

Da das Schiff mit günstigem und stetigem Winde seinen Kurs verfolgte, gab es zunächst keine Arbeit, nur der Mann am Ruder und der auf dem Ausguck hatten ihre Obliegenheiten wahrzunehmen, jeder zwei Stunden lang.

Wenzel und ein andrer Matrose, namens Backhaus, zündeten ihre Pfeifen an und setzten sich nebeneinander auf die Reservespieren, die auf der Luvseite des Decks festgelascht waren.

Eine Weile rauchten sie schweigend und in Gedanken versunken vor sich hin, dann nahm Backhaus das Wort.

»Ich hab mir bannig erschrocken,« begann er mit gedämpfter Stimme, »wie du vorhin in't Logis mit unsen Piratenplan so vierkant rausplatzen tatest. Ich hätt' dat feiner angefangen. Der Thode wird Verdacht kriegen, wenn dat nich vorsichtiger betrieben wird.«

»Hast recht, Maat,« antwortete Wenzel, »ich hätte ein Reef einstecken sollen, ehe ich damit unter Segel ging; aber der Thode hat mich sozusagen herausgefordert. Immerhin hat die Sache einen Anstoß gekriegt und die Leute werden sich das Ding durch den Kopf gehen lassen. Mit Thode bringe ich alles wieder in die Reihe; er hat mich einen fixen Kerl genannt und da hat er recht, bloß daß ich noch viel fixer bin, als er denkt. Und es hat gewirkt, Maat; ich glaube, daß ich dir jetzt schon drei oder vier Mann nennen kann, die zu uns halten werden, wenn die Zeit da ist.«

Wir brauchen der Unterhaltung der beiden nicht weiter zu folgen; das was wir hier wiedergegeben haben, reicht hin, dem Leser zu zeigen, daß schon beim Beginn der ersten Reise des »Paladin« ein böser Geist an Bord des guten Schiffes sein Wesen trieb.

Am Abend des fünften Tages erreichte das Fahrzeug die Höhe von Kap Finisterre. Es rauschte unter allen Segeln und Leesegeln vor einer nördlichen Brise über den mit unzähligen kleinen Schaumkämmen bedeckten Ozean entlang, mit einer Geschwindigkeit, die die Steuerleute in Erstaunen setzte, so oft sie die Logleine einholten und deren Knoten zählten.

Die Passagiere freuten sich der schnellen Fahrt und des schneidigen Schiffes; sie fühlten sich wohl und waren zufrieden mit ihren Reisegenossen, mit dem Kapitän und mit der Mannschaft; sie waren überzeugt davon, daß die letztere aus ausgesucht tüchtigen und zuverlässigen Seeleuten bestünde.

Auch an musikalischer Unterhaltung fehlte es nicht; der Ingenieur Eisenlohr hatte seine Flöte mitgebracht, zur Ausstattung des Salons der Kajüte gehörte ein gutes Pianino und Frau Doktor Cellarius und ihre Schwester, Fräulein Valeska, verfügten über schöne und gutgeschulte Stimmen; so flutete zuweilen ein liebliches Konzert hinaus in die Abendluft und über das Deck, zum Entzücken des braven Kapitäns, des Rudersmannes und der Leute der Wache.

Eines Tages regte sich in Fräulein Valeska das ehrgeizige Verlangen, steuern zu lernen. Sie hatte schon oft stundenlang den Mann am Ruder beobachtet, wie er auf der Luvseite hinter dem Rade stand, mit den sehnigen Fäusten die Speichen gefaßt hielt, sie ab und zu sacht um einige Zoll an sich ziehend und sie eine oder zwei Minuten später ebenso sacht wieder zurückdrückend.

Das sah lächerlich leicht aus, und dennoch lag etwas Großartiges in dem Gedanken, daß durch diese einfachen und mühelosen Bewegungen gewissermaßen das Geschick des ganzen gewaltigen Schiffes und aller an Bord befindlichen Menschen gelenkt wurde.

Fräulein Valeska beschloß daher, sich die Kunst des Steuerns zu eigen zu machen.

Der »Paladin« hatte die Höhe von Madeira erreicht und strich mit Achtknotenfahrt ruhig über die abendliche See.

Der steuernde Matrose war von Heinrich Rohrpenn, dem dritten Steuermann, auf die Kreuzraa hinaufgeschickt worden, um dort eine Arbeit zu verrichten, und unser junger Freund hatte inzwischen das Ruder übernommen.

Seine linke Hand ruhte auf dem Rande des Rades, seine Rechte, in Armlänge ausgestreckt, hielt mit losem Griff eine Speiche und sein Auge beobachtete das Liek Liek ist Tauwerk, mit dem die Segel eingefaßt sind, um ihnen Halt zu geben, auch Saumtau genannt. Man unterscheidet bei Raasegeln das Ober- oder Raaliek, die Seitenlieken und das Unterliek. an der Luvseite des Oberbramsegels; dabei summte er leise eine Melodie vor sich hin, die Fräulein Valeska am Abend zuvor zum Klavier gesungen hatte.

Die Gelegenheit war günstig; jetzt konnte die junge Dame die erste Lektion erhalten. Sie ging achteraus und blieb vor Heinrich stehen.

»Guten Abend, Herr Rohrpenn,« redete sie ihn an.

»Guten Abend, Fräulein Merk,« erwiderte dieser den Gruß, indem er eine stramme Haltung annahm und seinen blonden Krauskopf entblößte. »Feines Wetter,« fuhr er fort, »und alle Aussicht, daß wir diese Brise eine Weile behalten werden. Kann sein, daß sie gegen Sonnenuntergang noch ein wenig auffrischt. Läuft der »Paladin« noch achtundvierzig Stunden so weiter, dann haben wir den Nordostpassat.«

»Wollens hoffen,« sagte Valeska lächelnd, »vorausgesetzt, daß uns das was nützen kann. Ich nehme an, daß Sie die Passatwinde meinen, über die uns Kapitän Lüdemann heute bei Tisch einen Vortrag gehalten hat.«

»Die meine ich,« antworte Heinrich, ebenfalls lächelnd.

»Sagen Sie, Herr Rohrpenn,« begann Valeska wieder, nachdem sie das Rad und die dazugehörige Pinne samt den Ketten ein Weilchen nachdenklich betrachtet hatte, »könnten Sie das Steuer nicht festbinden und sich dann bequem hinsetzen, anstatt da zu stehen und das Rad festzuhalten, das Ihnen ja doch nicht davonläuft?«

Heinrich lachte.

»Es sieht vielleicht so aus, als ob man das könnte,« sagte er. »Aber Sie haben keinen Begriff davon, wie launenhaft und eigenwillig so ein Schiff ist. Ich habe jetzt seit zehn Minuten das Rad nicht bewegt, und schauen Sie einmal achteraus über das Heck, wie schnurgerade unser Kielwasser sich dahinzieht. Wenn ich aber das Ruder festbinden wollte, genau so wie es gegenwärtig liegt, dann verginge sicher keine halbe Minute, daß das Schiff in den Wind aufliefe und alle Segel backschlügen.«

»Merkwürdig,« sagte Valeska und schüttelte das Köpfchen. »Und so lange Sie die Hand am Rade haben, segelt das Schiff ohne abzuweichen geradeaus. Wie erklären Sie das?«

»Das kommt daher, weil ich das Schiff unablässig und scharf beobachte. Zeigt es die geringste Neigung, vom Kurse abzuweichen, dann begegne ich ihm durch eine Bewegung des Ruders. Der leiseste Druck reicht bei dem ruhigen Wetter, das wir jetzt haben, hin, es wieder auf den rechten Weg zu bringen.«

»Ich verstehe,« lächelte Valeska; »der ›Paladin‹ ist so gehorsam wie ein wohlerzogenes Kind. Es scheint durchaus nicht schwer zu sein, ihn zu leiten. Ich glaube, ich brächte das auch fertig.«

»Ganz gewiß brächten Sie das fertig,« erwiderte Heinrich, dem jetzt klar wurde, worauf die junge Dame es abgesehen hatte. »Möchten Sie es nicht einmal versuchen?«

»Sehr gern,« sagte sie; »ich wagte nicht, Sie um die Erlaubnis zu bitten, da ich meinte, das verstieße gegen den Schiffsbrauch und die nautischen Gepflogenheiten.«

»Durchaus nicht,« sagte Heinrich, »und außerdem weiß ich, daß Kapitän Lüdemann nichts dagegen einzuwenden haben würde. Wollen Sie die Güte haben, sich hierher auf die Gräting an meinen Platz zu stellen – hierher, bitte, der Rudersmann steht immer auf der Luvseite.«

Valeska gehorchte.

»So,« fuhr Heinrich fort, »nun fassen Sie gefälligst diese Speiche mit der linken Hand und diese mit der rechten – vortrefflich, das ist die richtige Haltung. Jetzt werden Sie ein leises Beben im Rade spüren, nicht wahr?«

Valeska nickte.

»Das kommt daher, weil das Wasser sacht gegen das Ruder drückt, das ein wenig nach Luv liegt, wie es bei jedem gut modellierten und richtig getakelten Schiff der Fall sein muß. Wenn Sie jetzt das Rad losließen, dann liefe das Schiff sofort in den Wind auf.«

Er beobachtete das Schiff einen Moment aufmerksam, dann fuhr er in seiner Belehrung fort:

»Wir steuern jetzt ›bei dem Winde‹, oder ›voll und bei‹, wie man auch zu sagen pflegt. Sehen Sie das kleine Segel dort ganz oben im Großtopp? Das ist das Groß-Oberbramsegel, auch Groß-Reuel genannt. Es ist eine Kleinigkeit weniger scharf angebraßt, als die übrigen Segel; wenn Sie das also voll halten, dann stehen die andern Segeln sicherlich ganz voll. Leuchtet Ihnen das ein?«

Valeska leuchtete das ein.

»Sie werden nun ab und zu eine flatternde Bewegung des Luvlieks oder der äußeren Kante jenes Segels bemerken; daran erkennen Sie, daß es nur soeben, aber nicht ganz vollsteht. Sie müssen nun dieses Luvliek im Auge behalten und dafür sorgen, daß es lose und flatternd bleibt. Hört das Flattern auf, dann ist das Segel unnötig voll, das Schiff liegt nicht dicht genug am Winde; und Sie müssen das Rad eine Idee nach rechts drehen; flattert und schüttelt sich das Segel zu heftig, dann liegt das Schiff zu dicht am Winde, und Sie müssen das Rad ein klein wenig nach links drücken. Haben Sie alles verstanden?«

»Ich denke,« antwortete Valeska, indem sie die Lippen zusammenpreßte, die Speichen fest mit den kleinen Händen umschloß und ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Luvliek des Groß-Oberbramsegels richtete.

Sie erwies sich als eine sehr fähige Schülerin, und wenn auch während der ersten zehn Minuten der Kurs des »Paladin« etwas schlängelnd war, und sie zu der Erkenntnis kam, daß das Steuern in gerader Linie keineswegs eine so leichte und einfache Sache sei, wie sie zuerst gemeint, so ließ der »Paladin« doch schon nach halbstündigem Unterricht ein so regelrechtes Kielwasser hinter sich zurück, als wenn er sich in den Händen des erfahrensten Rudersmannes befände.

»Eine brave Leistung!« rief Heinrich voll aufrichtiger Bewunderung. »Ich selber hätte nicht besser steuern können!«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Herr Rohrpenn,« entgegnete das junge Mädchen, »aber ich fürchte, ich verdiene das Lob nicht ganz. Während der letzten fünf Minuten habe ich nämlich nicht nach dem Groß-Oberbramsegel, wie Sie mir befahlen, sondern nach einem kleinen dunklen Gegenstand gesteuert, der da vorn am Horizont sichtbar ist. Ich fand das bequemer –«

»Ein dunkler Gegenstand am Horizont?« unterbrach sie Heinrich. »Wo? Aha, ich sehe schon! Schiff in Sicht!« rief er dem in diesem Augenblick aus der Kajüte kommenden Kapitän zu. »Gerade voraus, von hier aus in einer Linie mit dem Kranbalken auf Steuerbord!«

Der Kapitän lugte in der angegebenen Richtung aus, dann schickte er Heinrich mit dem Teleskop zur Bramraa hinauf. Der blieb eine Viertelstunde lang dort oben sitzen, und als er dann dem Schiffer Bericht erstattet hatte, da war dieser zu der Überzeugung gelangt, daß der fremde Segler kein andrer sein konnte, als der »Albatroß« seines Freundes Scherk.

»Steuermann Rupp!« rief er diesem zu, der seine Pfeife rauchend auf dem Hühnerhock saß. »Lassen Sie die Brassen, Fallen und Schoten anholen, jedem einen tüchtigen Pull! Ein Zug am Remen oder an einem Tauende, an dem geholt wird. Die Segel hängen ja so schlaff wie Säcke unter den Raaen! Das Schiff da vorn ist der ›Albatroß‹, hören Sie? Der ›Albatroß‹ ist das, und dem müssen wir nicht bloß auflaufen, sondern müssen ihn auch überholen!«

Der Obersteuermann erhob sich langsam, anstatt jedoch das Manöver von seiner Backbordwache allein ausführen zu lassen, rief er alle Mann zu dieser Arbeit. Der Ausdruck »Säcke« für die Segel, die er selber hatte trimmen lassen, kränkte ihn, und nun wollte er in seinem Groll auch die Mannschaft unzufrieden machen; es war dies so seine Art, darum war er auch bei allen an Bord unbeliebt.

»Da haben wir's Maaten,« sagte Markus Wenzel, während er mit einigen andern die Brassen steifholte; »kaum ist ein andres Fahrzeug in Licht, da geht die Schererei und Hetzerei auch schon los. Hab' ich euch das nicht vorausgesagt? Das ist erst der Anfang, aber so wird's immer gehen, sobald sich voraus ein Segler zeigt, denn der Alte ist versessen darauf, mit seinem neuen Klipper alle Mitsegler zu überholen; ihr werdet sehen, daß ich recht habe.«

»Hewwt ji all uns'niegen Rudersmann sehn?« rief ein andrer lachend und wies mit einer Kopfbewegung auf Fräulein Merk, die noch immer am Ruder stand.

»Meinst, dat wi keene Ogen hewwen?« entgegnete Wenzel. »De Deern is hübsch, aber bildet euch ja nich ein, dat sie auch euch mal am Ruder ablösen wird – nee, Jungchens, dat tut sie bloß bei Heinrich Rohrpenn, den Snäsel, de noch nich drög achter de Ohren is, un den Keppen Lüdemann tom drüdden Steuermann makt het, wil de ohle Rohrpenn en Fründ von em is.«

Der Befehl war ausgeführt und die Steuerbordwache zog sich wieder in ihre Kojen zurück.

Während der Nacht frischte die Brise ein wenig auf, und am Nachmittag des andern Tages war der »Paladin« dem »Albatroß« aufgelaufen; die Schiffe segelten in einer Entfernung von kaum hundert Schritt nebeneinander her. Beider Passagiere standen längs der Reling des Achterdecks, denn solch eine Begegnung auf hoher See ist immer ein wichtiges Ereignis.

Die Kapitäne waren in ihre Kreuzwanten gestiegen und brannten auf den Moment, wo sich die Distanz zwischen ihren Fahrzeugen so weit vermindert haben würde, daß sie miteinander reden konnten.

Endlich, als Kapitän Lüdemann den »Paladin« dem »Albatroß« hatte so nahe kommen lassen, als die Vorsicht dies zuließ, nahm er seinen Strohhut ab und rief:

»Guten Tag, Keppen Scherk! Das ist aber mal eine angenehme Überraschung! Ich habe wirklich nicht erwartet, dich vor unsrer Ankunft in Melbourne noch einmal zu sehen!«

»Goo'n Dag, Keppen Lüdemann!« antworte der andere. »Ja, as dat manchmal so kommen doon deit. Ick heww di all vör acht Dagen to sehen gehofft, aber de Wind wer ok to miserabel! Und dann meine Segel! Die sind so alt und dünn, daß man richtig durchsehen kann; die Brise weht da durch wie durch ein Sieb. Aber jetzt will ich neue unterschlagen lassen, um mit dir Schritt halten zu können. Wenn wir dann in die Windstillen beim Äquator kommen, dann lade ich dich und deine Passagiere zu einem feinen Mittagessen auf dem ›Albatroß‹ ein.«

»Wird dankbar angenommen,« erwiderte der Schiffer des »Paladin«. »Ich fürchte nur, daß du uns in deinem Kielwasser zurücklassen wirst, wenn du die neuen Segel an den Raaen hast. Inzwischen aber muß ich dir adjüs sagen, denn ich sehe, mein Klipper läßt sich nicht halten und will dir mit aller Gewalt vorbeilaufen.«

Damit lüftete Kapitän Lüdemann abermals den Hut und sprang aus der Kreuzwant wieder an Deck hinab.

Kapitän Scherk tat das gleiche, aber er ärgerte sich, denn er mußte sich gestehen, daß der »Paladin« seinen »Albatroß« geschlagen habe – vorläufig wenigstens. Wenn aber die neuen Segel untergeschlagen waren, dann sollte die Scharte ausgewetzt werden, und mit Leichtigkeit, wie er zuversichtlich hoffte.

Die Schiffe kamen einander bald aus Sicht.

Am siebenten Tage nach dieser Begegnung verkündete Kapitän Lüdemann seinen Passagieren beim Abendessen, daß man nunmehr in die Mallungen gelangt sei.

»In die Mallungen?« fragte Fräulein Valeska. »Was ist darunter zu verstehen?«

»Darunter ist der äquatoriale Stillengürtel zu verstehen,« antwortete der Schiffer, »die Gegend, wo die Winde sehr veränderlich oder ›mall‹ sind und oft auch ganz ausbleiben. Der Nordostpassat hat uns so dicht an die Linie herangebracht, daß ich schon hoffte, er würde uns drüber hinauswehen. Aber wir müssen zufrieden sein. Wir sind jetzt sechzig Seemeilen vom Äquator entfernt. Auf meiner letzten Reise lag ich schon hundert Meilen nördlich von ihm in einer Windstille. Ich denke, die jetzige wird nicht lange anhalten. Auch haben wir Gefährten im Unglück; vom Deck aus sind nicht weniger als fünfzehn Segel in Sicht. Den »Albatroß« habe ich darunter nicht erkannt.«

Es war sehr schwül in der Kajüte, die Passagiere verfügten sich daher bald wieder an Deck.

Am nächtlichen Firmament funkelten die Gestirne in zauberhafter Pracht, und bei ihrem Leuchten, verbunden mit dem Schein des jungen Mondes, konnte man hier und da die schattenhaften Formen einiger »Gefährten im Unglück« erkennen; die roten oder grünen Seitenlaternen zeigten die Lage derselben an und warfen lange, farbige, zitternde Lichtstreifen über die glatte Oberfläche der See.

An Bord eines jener Fahrzeuge spielte jemand auf der Harmonika und sang ein Matrosenlied dazu; das Schiff lag ungefähr eine Meile entfernt, und doch waren die Töne, wenn auch leise, so doch ganz klar und deutlich vernehmbar.

Auf dem »Paladin« war alles still; nur die Segel schlugen und scheuerten mit sanftem Rauschen gegen die Stengen; ab und zu hörte man auch den Kapitän nach Wind pfeifen.

Die See war angefüllt mit starkem Phosphorschimmer; die beiden Kinder – des Doktor Cellarius kleines Mädchen und Herrn Eisenlohrs kleiner Knabe – standen unter des letztgenannten Herrn Aufsicht an der Heckreling und beobachteten voll Freude die grünlich leuchtenden Funken und Feuerwolken, die durch die träge rollende Bewegung des Schiffes an dessen Achtersteven und Ruder hervorgebracht wurden.

In der Tiefe des Wassers zeigte sich jetzt ein großer lichter Fleck, einem Stück Mondschein vergleichbar.

Er stieg höher und höher, wurde heller und heller und nahm eine bestimmtere Form an; als er sich dicht unter der Oberfläche befand, erkannte man in ihm einen riesenhaften Hai, der von der Schnauze bis zum Schweif in lichten Nebel wie in einen wallenden Schleier gehüllt war.

Das Untier hielt sich dicht unter dem Heck und schwamm hier eine ganze Weile langsam hin und her, so daß sämtliche Passagiere es mit Muße betrachten konnten; plötzlich fuhr es blitzschnell herum und schoß davon, in gerader Richtung auf eins der andern Fahrzeuge zu, wobei es einen langen Streif silbernen Phosphorlichtes hinter sich herzog.

Gleich darauf hörte man in der Ferne einen lauten Plumps ins Wasser, einen kreischenden, schrecklichen Aufschrei, dann ein Gewirr von Stimmen und dazu das polternde Geräusch, das bei dem hastigen Aussetzen eines Bootes entsteht.

»Horch!« rief Frau Eisenlohr erschrocken, »was mag das zu bedeuten haben?«

Einer der Matrosen kam achteraus.

»An Bord von de Bark dor möt wat passeert sünd,« sagte er zu dem Obersteuermann, der auf seinem bevorzugten Platz, dem Hühnerhock, saß. Der Kapitän befand sich in der Kajüte.

»Dat gaht uns nix an,« entgegnete Rupp mürrisch, ohne von seinem Sitz aufzustehen.

»Haben Sie jemals einen so rohen und widerwärtigen Menschen gesehen?« wendete Frau Eisenlohr sich leise an Fräulein Merk.

»Niemals,« antwortete diese. »Ich werde froh sein, wenn ich das Schiff verlassen kann, weil ich ihm dann nicht mehr zu begegnen brauche.«

Das Aufleuchten des Wassers unter den Remenblättern ließ erkennen, daß die Bark ein Boot zu Wasser gebracht hatte; man konnte wahrnehmen wie dasselbe eine Zeitlang hin und her rojte, endlich aber wieder zu der Bark zurückkehrte. Man hörte die Blöcke quietschen, als es binnenbords geheißt wurde, und damit hatte die Sache für diesen Abend ein Ende.

Während dieser Nacht kam eine der in dieser Gegend häufigen kleinen Böen aus Westen herangezogen und brachte einen heftigen Regenschauer mit. Der wind hielt beinahe eine Stunde an und ermöglichte es der kleinen Flotte, eine Strecke von etwa vier Meilen weiter zu kommen; einige Fahrzeuge segelten in nördlicher Richtung, andre strebten nach Süden.

Der nächste Morgen brachte abermals eine Windstille, allein gegen zehn Uhr vormittags kam eine leichte Brise von Süden her durch und die Schiffe taten alles, sich dieselbe zunutze zu machen.

Der »Paladin« lag mit dem Buge nach Westen, die erwähnte Bark nach Osten; als die schwache Brise ihre Segel füllte, begannen sie sich einander zu nähern.

Kapitän Lüdemann war von dem geheimnisvollen Vorfall, der sich am vergangenen Abend an Bord der Bark zugetragen hatte, unterrichtet worden; er beschloß daher, den Schiffer jenes Fahrzeugs um Auskunft zu fragen, sobald man dem letzteren nahe genug sein würde, vorausgesetzt, daß die Brise so lange anhielt.

Zuerst erschien dies zweifelhaft, allein, als die Fahrzeuge noch eine Kabellänge 185 Meter. voneinander entfernt waren, kam ein stärkerer Windstoß, der wieder abflaute, gerade als der »Paladin« langsam achter dem Heck der Bark entlangstrich. Die Gelegenheit zum Anpreien war also da.

Die Kapitäne teilten einander die Namen ihrer Schiffe und den Bestimmungsort derselben mit, dann die Zahl der bereits auf der Reise zugebrachten Tage usw.; als dies ordnungsgemäß geschehen war, fuhr Kapitän Lüdemann fort:

»Hat sich gestern abend bei Ihnen an Bord etwas besonderes zugetragen? Einige meiner Leute wollen etwas Ungewöhnliches gehört haben.«

»Ja,« antwortete der andre, »es ist ein großes Unglück geschehen, ich habe einen meiner besten Matrosen verloren. Der unselige Mensch hatte es sich in den Kopf gesetzt, über Bord zu springen und um die Bark herumzuschwimmen, um sich zu erfrischen. Ich hatte keine Ahnung von diesem törichten Vorsatz. Er sprang von dem Steuerbord-Kranbalken kopfüber ins Wasser, hatte seine Schwimmfahrt auch beinahe vollendet, da faßte ihn plötzlich ein Hai und riß ihn mit sich hinunter in die Tiefe – vor unser aller Augen! Und nun wünsche ich Ihnen eine glückliche Reise.«

Die Schiffe entfernten sich langsam voneinander und die kurze Unterhaltung hatte ein Ende.

»Gütiger Himmel, wie schrecklich!« rief Herr Eisenlohr, sich zu den übrigen Passagieren wendend, die mit ihm der Schilderung des Unglücksfalles gelauscht hatten. »Das muß derselbe Hai gewesen sein, den wir in der verwichenen Nacht unter unserm Heck beobachteten. Da er sich im Wasser befand, so mußte er das Geräusch, das der in die See springende Mann verursachte, schon eher vernommen haben, als wir, darum schwamm er auch so eilig davon und direkt auf die Bark zu. Und wir, die wir ihm nachschauten hatten keine Ahnung von dem, was das Ungeheuer im Schilde führte!«

Noch im Laufe desselben Vormittages nahm der Himmel nach und nach ein so drohendes Aussehen an, daß Kapitän Lüdemann vorsichtshalber alle kleinen Segel festmachen ließ, so daß nichts mehr stehen blieb, als die Marssegel, die Untersegel, Vorstengestagsegel, Klüver und Besan.

Wie gerechtfertigt diese Maßregel war, zeigte sich bereits, als man bei Tische saß; urplötzlich fing es an heftig zu donnern und zu blitzen und zehn Minuten später ging mit betäubendem Rauschen ein ungeheurer Platzregen nieder. Der Tag verwandelte sich in Nacht, die jedoch auf einmal wieder durch einen grellen gelben Schein erhellt wurde, ein Phänomen, welches den Schiffer veranlaßte, aufzuspringen und in größter Eile an Deck zu rennen.

Sein erster Blick war nach Osten gerichtet, nach der Gegend, von der der Schein ausging, und hier gewahrte er, dass die dichte schwarze Wolkenmasse, die sich über das ganze Firmament ausbreitete, an einer Stelle zerrissen war und ein sich schnell vergrößerndes Stück bleichen, strohfarbenen Himmels durchblicken ließ.

Die ganze See war so schwarz wie Tinte, ausgenommen unterhalb jenes Wolkenrisses; dort zeigte sich ein langer Streif schneeweißen Schaumes, der mit rasender Schnelligkeit gegen das Schiff herangerollt kam.

Klaus, der zweite Steuermann, der die Wache an Deck hatte, stand auf dem Kampanjedeck und betrachtete diese unheimliche Erscheinung mit unruhigem Gesichtsausdruck, der jedoch sogleich verschwand, als er den Kapitän erscheinen sah.

»Das sieht wie eine schwere Bö aus,« sagte er.

Kapitän Lüdemann aber hatte keine Zeit, auf diese Worte zu achten.

»Los die Marssegelfallen!« brüllte er über das Deck. »Gau, Lüd, süs gahn de Masten tom Deubel!«

Der »Paladin« hatte Patent-Marsraaen; als die Mannschaften der Wache die Fallen losgeworfen hatten, begannen die Raaen im Herabkommen sich um sich selber zu drehen und die Marssegel so lange aufzurollen, bis sie mit den Kappen der Untermasten in gleicher Höhe waren. Damit waren alle drei Marssegel zugleich dichtgereeft, ohne daß die Mannschaft es nötig gehabt hätte, sich auf die Raaen zu begeben und die Segel in alter Weise vermittels der Reefzeisinge zu verkleinern.

Diese Patent-Marsraaen waren damals eine neue Erfindung, die sich jedoch nicht lange hielt und schon nach wenigen Jahren den doppelten Marsraaen weichen mußte.

Der Schiffer hatte die Absicht, auch die Untersegel aufgeien und bergen zu lassen – die Fock, das Groß- und das Begiensegel – allein das war nicht mehr ausführbar, weil die Bö mit fürchterlicher Geschwindigkeit herankam.

Es blieb dem wackern »Paladin« daher nichts übrig, als den gewaltigen Druck dieser Segel auszuhalten, und das gelang ihm auch, da Kapitän Lüdemann ihn platt vor den Wind bringen ließ. Sobald es möglich war, wurde er auf südlichen Kurs gelegt, und so jagte er mit der Bö dahin wie ein fliehendes Wild, wobei die Sprühwellen in solchen Massen über die Leereling hereinbrachen, daß das ganze Deck eine einzige wirbelnde Schaumbrandung bildete.

Die größte Wut der Bö hatte sich innerhalb einer Viertelstunde ausgetobt, aber der Sturmwind wehte noch mit Heftigkeit bis in den Spätnachmittag hinein; dann legte er sich und die Mannschaft konnte nun die Marsraaen ein kurzes Stück höher heißen, also gleichsam ein Reef ausstecken.

Gegen sechs Uhr standen wieder die vollständigen Marssegel; die See hatte sich beruhigt und das Firmament aufgeklärt; um zehn Uhr abends ließ der Schiffer die Bramsegel setzen und gab dann den Passagieren die tröstliche Versicherung, daß sie eine ruhige Nacht haben würden und daß er glaube, nunmehr endlich den Südostpassat erreicht zu haben.


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