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Viertes Kapitel.
Am Nugget-tsil

Wir hatten das ›Ohr des Manitou‹ verlassen und waren nach den ›Mugworthills‹ unterwegs. Aus meinem Buch ›Winnetou‹ Band III Seite 481 ist zu ersehen, daß diese Mugworthills dieselbe Berggruppe sind, welche von Winnetou und seinem Vater mit dem Namen Nugget-tsil bezeichnet worden waren. Die beiden Brüder Enters wollten auch dorthin. Ich hatte den Weg, der ihnen vorgeschrieben worden war, erlauscht; ich kannte ihn also. Es gab einen noch kürzeren, den ich ebenso kannte. Den schlugen wir ein. Und da wir besser, viel besser beritten waren als sie, so kamen wir ihnen voraus, obgleich wir die Devils pulpit viel später als sie verlassen hatten. Wir brauchten sie also nicht mühsam einzuholen, wie wir erst gewollt hatten, sondern wir konnten, wann und wo es uns beliebte, auf sie warten, um sie zu uns stoßen zu lassen. Der Augenblick hierzu war am günstigsten, als wir den Gualpafluß erreichten, und zwar an der Stelle, an welcher ich damals nach Winnetous Tod auf Gates, Clay und Summer gestoßen war. Es gab da Wasser zum Trinken, Gras für die Pferde und ein weit ausgedehntes, dichtes Gebüsch, in welches wir uns zurückziehen konnten, um von Jemand, der da kam, nicht eher gesehen zu werden, als bis wir gesehen sein wollten. Es lag inmitten dieses Gesträuches eine kleine lichte Stelle, an der früher einmal ein Lagerfeuer gebrannt hatte. Die hierdurch vernichtete Vegetation hatte sich noch nicht wieder erneuert. Hier wurde das Zelt aufgeschlagen.

Während wir dies taten, bereitete uns meine Frau das Mittagsmahl. Der Bär reichte noch für lange. Außerdem hatten wir unterwegs eine Turkeyhenne und mehrere Präriehühner geschossen. Wir hatten also nicht nötig, uns den Braten erst hier an Ort und Stelle mühsam zu erjagen. Nach dem Essen ruhten wir, obgleich wir nicht ermüdet waren. Aber wir befanden uns hier im Gebiete der Komantschen und Kiowas und mußten alles vermeiden, was geeignet war, unsere Anwesenheit zu verraten.

Es war gegen Abend, als wir da, woher wir die Enters erwarteten, zwei Reiter erscheinen sahen. Sie näherten sich langsam. Ihre Pferde waren ermüdet. Als sie das Gebüsch beinahe erreicht hatten, erkannten wir das Brüderpaar. Sie waren ganz in der Weise der früheren, gefährlichen Zeit mit Messer, Revolver und Büchse bewaffnet. Da wir nicht aus derselben Richtung gekommen waren, sahen sie unsere Spuren nicht. Sie stiegen draußen vor den Büschen ab, ließen ihre Pferde trinken und suchten dürres Holz zu einem Feuer zusammen. Dieses Feuer wurde nicht hinter dem deckenden Gesträuch, sondern auch draußen im Freien angebrannt, so daß es dann, wenn es Abend wurde, weithin leuchten mußte. Das unsere war schon längst wieder ausgegangen. Da nicht nur sie, sondern auch wir durch dieses ihr Feuer verraten werden konnten, stand ich auf, um mich ihnen zu zeigen und sie zu warnen. Da fragte Pappermann:

»Darf ich mit? Möchte gar zu gern die Gesichter sehen, die sie machen, wenn sie Euch erkennen!«

»So kommt!«

Wir gingen hin, doch ich nicht ganz, sondern ich blieb hinter einem dichten Geäst stehen, um zunächst Pappermann allein an sie zu lassen. Er trat von hinten an sie heran und grüßte:

» Good day, Mesch'schurs! Darf ich euch vielleicht fragen, ob ihr sofort skalpiert werden wollt oder es vorzieht, erst morgen oder übermorgen am Marterpfahle zu sterben?«

Sie sprangen beide erschrocken auf.

»Skalpiert? Von wem? Warum?« fragte Sebulon.

»Uns am Marterpfahl umbringen?« fragte Hariman. »Wer? Weshalb?«

»Die Comantschen und die Kiowas, welche behaupten, daß ihnen diese Gegend gehöre,« antwortete der alte Westmann. »Ihr brennt ja ein Feuer, als ob es ganz ausgerechnet eure Absicht sei, euch diese Halunken auf den Hals zu locken! Warum habt ihr euch nicht damit hinter die Büsche versteckt?«

»Weil wir weder die Kiowas noch die Comantschen zu fürchten haben,« erteilte Sebulon die Auskunft.

»So seid ihr also befreundet mit ihnen?«

»Wir sind Freunde aller Menschen, die uns begegnen, aller Roten und aller Weißen!«

» Well! So seid ihr also auch die meinigen! Ich habe die Angewohnheit, die Namen meiner Freunde wissen zu wollen. Darf ich bitten, mir die eurigen zu sagen?« »Wir heißen Enters. Ich Sebulon Enters und mein Bruder Hariman Enters.«

»Danke! Aber weiter: Woher und wohin?«

»Wir kommen von Cansas City herüber und wollen nach dem Rio Grande del Norte. Wer aber seid Ihr?«

»Ich heiße Pappermann und komme aus Trinidad. Wohin ich will, weiß ich selbst noch nicht.«

Da machten Beide eine Bewegung der Überraschung, und Sebulon erkundigte sich schnell:

»Pappermann? Etwa Max Pappermann?«

»Ja. So habe ich stets geheißen, und so heiße ich leider noch.«

»Wie sich das trifft! Wir waren nämlich in Eurem Hotel. Wir hatten uns sogar da angemeldet.«

»Weiß nichts davon. Das Hotel ist nicht mehr mein.«

»Das hörten wir. Aber Ihr habt bis zu Eurer Abreise bei dem neuen Wirt gewohnt. Ein sehr einsilbiger und ungefälliger Mann! Wir wollten eine Auskunft haben, die er uns partout verweigerte. Wir mußten darum Andere fragen, die aber auch nichts wußten, wenigstens nichts Ausführliches. Vielleicht können wir von Euch erfahren, was wir wissen wollen.«

»Was ist das?«

»Es handelt sich um ein Ehepaar Burton, welches nach Trinidad ging, um in Euerm Hotel zu wohnen und dort auf uns Beide zu warten. Wir hörten bei unserer Ankunft, daß diese Personen zwar da gewesen seien, sich aber schon am nächsten Tage wieder entfernt hätten. Wohin, das konnte uns niemand sagen. Wißt Ihr vielleicht Etwas hierüber?«

»Hm! Ob ich Etwas weiß? Ihr seid mit dieser eurer Frage grad an den richtigen Mann gekommen.«

»Wirklich? Das ist uns lieb, sehr lieb! Also, wenn Ihr der richtige Mann seid, so sagt uns schnell, ob . . .«

Da unterbrach ihn Pappermann:

»Ich der richtige Mann? Das habe ich nicht gesagt.«

»Ihr nicht, wer denn sonst?«

»Dieser da!«

Er deutete auf mich, der ich jetzt hinter dem Gesträuch hervortrat, um diese Einleitung zu beenden, weil Pappermann in seiner Unbefangenheit leicht Etwas sagen konnte, was die Brüder nicht zu wissen brauchten. Meine Anwesenheit überraschte sie außerordentlich, doch nicht auf unangenehme Weise. Sie freuten sich, mich getroffen zu haben, mochten die Ursachen dieser Freude nun lautere sein oder nicht. Ich forderte sie auf, ihr Feuer augenblicklich auszulöschen und mit ihren Pferden zu uns ins Gebüsch zu kommen. Sie taten das. Meine Frau wurde von ihnen mit einer Höflichkeit begrüßt, welche von Hariman sehr wahrscheinlich eine wohlgemeinte war, von Sebulon aber nicht. Er gab sich zwar alle Mühe, einen guten Eindruck zu machen, aber sein Blick war dabei falsch, und sein Auge hatte, wenn er sich unbeobachtet wähnte, etwas Lauerndes, etwas zuwartend Drohendes, was mir und meiner Frau unmöglich entgehen konnte. Grad das Herzle besitzt für solche Dinge einen außerordentlich scharfen Sinn. Als wir gefragt wurden, warum wir nicht in Trinidad gewartet hätten, antwortete ich:

»Weil ich Veranlassung fand, auf eure Gesellschaft zu verzichten. Habe euch das wohl auch geschrieben. Ist der Brief in eure Hände gekommen?«

»Ja; der Wirt gab ihn uns, sobald wir kamen und unsere Namen nannten,« erwiderte Sebulon. »Ihr nennt in diesem Brief den Corner und den Howe unsere Freunde. Wir weisen das ganz entschieden zurück. Wir haben als Pferdehändler geschäftlich mit ihnen zu tun gehabt, sie aber, als wir sie näher kennenlernten, sofort fallen lassen; sie sind nicht ehrlich. Aber wie kommt Ihr dazu, diese ihre Unehrlichkeit grad uns aufzuladen? Darf ich fragen, wohin Ihr Euch von Trinidad aus gewendet habt?«

Da fiel das Herzle schnell ein:

»Auf die Bärenjagd!«

Das war eine ebenso kurze wie vortreffliche Antwort, durch welche wir allen Fragen in Beziehung auf die Devils pulpit entgingen.

»Seid Ihr glücklich gewesen?« erkundigte er sich.

»Ja,« antwortete ich. »Es gibt bei uns nun Bärenschinken. Die Tatzen werden aber erst am Tavuntsit-Payah angeschnitten.«

»Am Tavuntsit-Payah?« fragte er rasch, indem er seinem Bruder einen sehr befriedigten Blick zuwarf. »Kennt Ihr den?«

»Ja. Von früher her.«

»Wir wollen auch hin!«

»Auch ihr? Weshalb?«

»Auf Wunsch der Sioux- und Utahhäuptlinge.«

»Ah! So habt ihr sie getroffen?«

»Ja.«

»An der Devils pulpit?«

»Ja. Schade, daß ihr fort waret! Wir hätten euch so gern mitgenommen!«

»Es ist nicht schade darum. Ich hätte mich doch nicht sehen lassen dürfen!«

»Aber es wäre Euch möglich gewesen, die Sache von fern mit anzusehen oder vielleicht gar einiges zu belauschen.«

»Wozu das? Ich hoffe, jetzt von Euch zu erfahren, was sich zugetragen hat und was da Alles besprochen worden ist.«

»Soll ich erzählen?«

»Ja. Ich bitte darum.«

Er begann seinen Bericht. Er nannte uns die Namen der beiden Oberhäuptlinge. Er machte aus den achtzig Indianern, die es gewesen waren, volle vierhundert. Er verwandelte die paar Stunden ihres Aufenthaltes in drei Tage. Er sprach von außerordentlich wichtigen Verhandlungen, denen er mit seinem Bruder beigewohnt habe. Und er stellte das Alles so dar, als ob sie Beide die Hauptpersonen gewesen und mit ganz besonderen Ehren überhäuft worden seien. Besonders ihren Abschied von den Roten schilderte er als einen sehr freundschaftlichen. Kiktahan Schonka und Tusahga Saritsch seien, als sie fortritten, zwei-, dreimal wieder umgekehrt, um ihnen noch einmal die Hand zu drücken.

»So sind die Roten also eher fort als ihr?« fragte ich.

»Ja«, antwortete er.

»Wohin?«

»Das ist ein tiefes Geheimnis, welches wir um keinen Preis verraten sollen. Euch aber will ich es sagen, damit Ihr erkennt, wie gut und wie ehrlich wir es mit Euch meinen. Sie sind nach einem Ort, den sie Pa-wiconte nennen. Ist er Euch vielleicht bekannt?«

»Ja. Es ist ein Wasser. Oder nicht?«

»Doch. Man hat uns den Weg dorthin genau beschrieben. So sollt also auch ihr hin?«

»Allerdings. Wir sollen dort den ganzen Feldzugsplan gegen die Apatschen und ihre Verbündeten erfahren. Ihr seht, wie unendlich wichtig das für Euch ist. Wünscht Ihr, daß wir das, was wir dort erfahren, Euch mitteilen?«

»Selbstverständlich!«

»Wir sind bereit, es zu tun, und hoffen dabei auf Eure Dankbarkeit.«

»Ihr werdet ernten, was ihr säet.«

»Ist dieses Pa-wiconte, dieses ›Wasser des Todes‹, sehr weit entfernt von dem ›dunkeln Wasser‹, in dem unser Vater starb?«

»Wenn ich mich recht erinnere, liegen beide gar nicht weit auseinander. Sobald ich hinkomme, werde ich besser im Bilde sein als jetzt.«

Es wäre nicht klug gewesen, ihm zu sagen, daß unter den beiden verschiedenen Namen ein und derselbe See zu verstehen sei.

»Ah! Ihr habt also die Absicht, selbst auch mit hinzukommen?« fragte er.

»Gewiß. Oder ist Euch das nicht recht?«

Der Blick, den er jetzt seinem Bruder zuwarf, war ein triumphierender. Er war entzückt darüber, daß ich seinen Plänen so ahnungslos entgegenkam, während er doch derjenige war, dem jede Ahnung fehlte.

»Uns nicht recht?« rief er aus. »Welchen Grund hätten wir dazu? Wir sind Eure Freunde. Wir haben Euch liebgewonnen. Wir möchten uns am liebsten nie wieder von Euch trennen. Wir nehmen Euch unendlich gern mit nach dem ›Wasser des Todes‹. Doch setzen wir voraus, daß Ihr uns dafür den ›Nugget-tsil‹ und das ›dunkle Wasser‹ zeigt.«

»Das werde ich tun. Wie aber kommt es, daß Kiktahan Schonka euch nicht gleich mitgenommen hat? Warum schickt er euch nach dem Tavuntsit-Payah?«

»Um die Squaws der Sioux zu beobachten, die nach diesem Orte geritten sind, und ihm dann Bericht hierüber zu erstatten. Er hat uns den Weg genau beschrieben. Nach dieser Beschreibung können es von hier bis hin nur noch zwei Tage sein?«

»Das stimmt. Und nun bitte ich nur noch um eins; dann bin ich zufriedengestellt. Nämlich, es ist doch eigentlich sehr auffällig, daß Ihr Euch an mich gewendet habt, um zu erfahren, wo der ›Nugget-tsil‹ und das ›dunkle Wasser‹ liegen. Es erscheint als fast unglaublich, daß Ihr diese beiden Orte nicht schon längst gefunden habt. Ihr brauchtet Euch in Beziehung auf den Nugget-tsil nur bei den Kiowas zu erkundigen, bei ihrem Häuptling Tangua und seinem Sohn Pida. Und in Beziehung auf das ›dunkle Wasser‹ war es doch wohl nicht unmöglich, einen der Apatschen zu finden, die damals mit mir dort gewesen sind.«

»Das klingt nur so leicht, ist es aber nicht«, entgegnete er. »Ich bin bei den Kiowas gewesen. Der alte Tangua war wohl bereit, mir Auskunft zu erteilen, aber Pida, sein Sohn, hinderte ihn daran; warum, das weiß ich nicht. Und unter all den Apatschen, die ich nach dem ›dunklen Wasser‹ fragte, hat es keinen einzigen gegeben, der mich nicht sofort als Feind betrachtete und mit Mißtrauen von sich wies. Sie sind unendlich vorsichtig, diese Halunken!«

»Diese Halunken sind meine Freunde, Mr. Enters. Beliebt es Euch, nur noch ein einziges Mal ein solches Wort zu gebrauchen, so sind wir geschiedene Leute! Meine Frau mag jetzt das Abendessen bereiten. Ist das vorüber, legen wir uns schlafen. Und morgen früh bei Tagesanbruch verlassen wir diese Stelle, um nach dem Tavuntsit-Payah zu reiten. Ist euch das recht?«

»Ja. Doch werden wir unser Lager aber nicht hier, sondern ein wenig nach der Seite suchen. Wir sind arge Schnarcher, und es ist eine Lady hier, die wir nicht belästigen wollen.«

Das war eine sehr durchsichtige Ausrede. Sie wollten allein sein, um ungestört sprechen zu können. Sogleich kam mir der Gedanke, sie dabei zu belauschen; aber ich verzichtete darauf, ihn auszufahren. Was ich wissen wollte, konnte ich auf direktere und leichtere Weise erfahren, als durch das unbequeme Anschleichen und immerwährende Horchen und Lauschen nach allen Seiten, welches anstrengender ist, als man glaubt.

Die soeben berichtete Unterhaltung war nur zwischen mir und Sebulon Enters geführt worden. Sein Bruder Hariman hatte kein einziges Wort dazu beigetragen. Es schien, als ob die Beiden miteinander uneinig seien, und zwar in nicht gewöhnlichem Grad. Sie vermieden, einander anzusehen oder doch ihre Blicke einander begegnen zu lassen.

Ganz ebenso still hatte sich der »junge Adler« verhalten. Er tat so, als ob die Brüder gar nicht anwesend seien. Das eröffnete keine allzu freundliche Perspektive auf unser Zusammensein mit ihnen. Sie sonderten sich so, wie Sebulon gesagt hatte, nach dem Abendessen von uns ab und kamen erst am frühen Morgen wieder, als der Duft des Kaffees ihnen verriet, daß auch wir schon munter seien. Als die Sonne erschien, war das Zelt abgebrochen, und der Weiterritt konnte beginnen. Hierbei fiel uns erst auf, daß jeder von ihnen einen sogenannten Stockspaten am Sattel hängen hatte. Als Pappermann sah daß meine Augen verwundert an diesen Werkzeugen hingen, fragte er die Brüder:

»Ihr habt euch mit Spaten versehen. Wollt ihr Schätze graben?«

»Vielleicht«, antwortete Sebulon mit einer Betonung, welche Pfiffigkeit bedeuten sollte.

»Aber was für welche?«

»Weiß ich noch nicht. Jedenfalls haben wir Werkzeuge zum Graben, wenn wir welche brauchen. Kiktahan Schonka hat uns kein Geld versprochen, sondern Beute, Waren, Pferde und ähnliche Dinge. Auch Metalle, also Silber, Kupfer oder gar Gold. Daß es sich da um Bonanzen oder Diggins handelt, die wir erst untersuchen müssen, versteht sich ganz von selbst! Darum haben wir die Spaten mit!«

Dieser Mann hatte, wie man sich vulgär auszudrücken pflegt, »große Rosinen im Kopf«. Und bei aller seiner Einbildung stand ihm der Gedanke fern, daß er nur ein Werkzeug war, welches später, wenn man es nicht mehr brauchte, weggeworfen werden sollte.

Wir ritten heut genau denselben Weg, den ich damals mit Gates, Clay und Summer geritten war. Und am Abend lagerten wir an derselben Stelle der offenen Prärie, wo wir damals geschlafen hatten. Wir machten kein Feuer. Am andern Morgen sagte ich den beiden Enters, daß wir gegen Mittag den Tavuntsit-Payah erreichen würden. Den Namen Mugworthill hütete ich mich sehr, auszusprechen. Er steht in meiner Schilderung, welche sie gelesen hatten. Sie kannten ihn also und hätten sofort gewußt, daß es sich um den Nugget-tsil handele. Das aber sollten sie, wenigstens jetzt, vorher noch nicht erfahren. Zu meiner Verwunderung wurde ich von Sebulon gefragt:

»Kennt Ihr diesen Berg nur von weitem, nur vom Hörensagen, Mr. Burton, oder seid Ihr selbst schon dort gewesen?«

»Schon wiederholt war ich dort«, antwortete ich.

»Es sollen einige Gräber dort sein. Drei oder vier. Ist das wahr?«

»Zwei habe ich gesehen, die andern nicht. Wer mag wohl da begraben sein?«

»Einige Häuptlinge der Kiowas.«

»Wirklich?«

»Ja. Das wurde mir von einem erzählt, der auch schon öfters dort gewesen ist.«

»Wir werden an den beiden Gräbern, die ich gesehen habe, lagern. Es ist das der beste Platz dazu.«

Während dieses Vormittages war meine Frau sehr nachdenklich. Wir nahten uns einem Ort, der für sie von einem nicht nur großen, sondern auch heiligen Interesse war. Sie hält das Andenken an die schöne Schwester Winnetous hoch, sehr hoch. Sie hatte wohl oft schon gesagt, daß sie herzlich wünsche, wenigstens das Grab der schönen, lieben Indianerin einmal zu sehen. Dabei war sie aber stets überzeugt gewesen, daß sie niemals nach Amerika kommen werde. Und nun war sie doch drüben, und die Erfüllung ihres Wunsches stand bevor.

Auch der »junge Adler« schien sich mit ernsten Gedanken zu tragen. Bezogen sie sich etwa auf mich? Er sah mich zuweilen so eigentümlich prüfend an, senkte aber schnell den Blick, wenn der meinige ihn dabei überraschte.

Die beiden Enters kamen uns dreien nicht zu nahe. Sie hielten sich hinter uns zu Pappermann, der heut sehr genau wußte, was er ihnen sagen durfte und was nicht. Ich hatte ihn gestern abend vor dem Schlafengehen genau instruiert.

Es war noch nicht Mittag, als die Berge im Süden auftauchten. Sie wurden um so höher, je näher wir kamen. Auf ihrer höchsten, bewaldeten Kuppe stand noch immer jener Baum, der über alle andern emporragte. Auch dem Herzle fiel er auf.

»Wie das so stimmt!« sagte sie. »Nicht wahr, da hinauf hatte Winnetou seinen Späher geschickt?«

»Ja«, nickte ich.

»Sag, wie ist es dir nur zumute? Ich möchte weinen. Du nicht auch?«

Ich antwortete nicht.

Wir umritten die dunklen Höhen auf ihrer westlichen Seite und bogen dann im Süden nach links ein, um an das tief hineinführende Tal zu kommen, welches meine Leser alle kennen. Diesem folgten wir bis an die betreffende Seitenschlucht, die uns weiter hinaufleitete und dann sich teilte. Da stiegen wir ab und kletterten, die Pferde an den Zügeln führend, zu der scharfkantigen Höhe empor, hinter welcher das Terrain sich wieder senkte. Dann ging es jenseits hinab und in gerader Richtung durch den Wald, bis wir unser Ziel erreichten. Da standen sie beide, das Grabmal, in welchem Intschu tschuna, der Vater meines Winnetou, hoch auf dem Rücken seines Pferdes saß, und die Steinpyramide, aus welcher der Baum zur Höhe stieg, an dessen Stamm Nscho-tschi zur Ruhe bestattet worden war. Ich hielt an. Es überkam mich ein Gefühl, als ob ich erst gestern zum letzten Mal hier gewesen sei. Die Bäume waren höher geworden und das Unterholz etwas dichter. Sonst aber schien es, als ob die tiefe, ergreifende Ruhe dieses Ortes Jahrzehnte lang von keinem Windeshauch gestört worden sei.

»Da liegen die Häuptlinge der Kiowas«, sagte Sebulon Enters. »Wir sind also an Ort und Stelle. Bleiben wir heute da?«

»Ja. Vielleicht auch morgen noch«, antwortete ich.

»Schaffe die Beiden wenigstens einstweilen fort!« bat meine Frau leise. »Sie sollen mir diese erste Stunde nicht verderben!«

Schon wollte ich ihr diesen Wunsch erfüllen, da kam Sebulon mir zuvor:

»Soll ich vielleicht mit meinem Bruder gehen, um einen frischen Braten zu schießen? Oder gibt es gleich jetzt die versprochenen Bärentatzen?«

»Ja, geht und versucht, ob ihr irgend etwas vor das Rohr bekommt!« fiel Klärchen schnell ein. »Ihr habt mehrere Stunden lang Zeit. Wir essen erst am Nachmittag.«

Sie entfernten sich. Ich schlug mit Pappermann das Zelt auf. Der brave Alte vermied dabei soviel wie möglich alles Geräusch. Er sah, .daß das Herzle am Grab der Schwester kniete und betete. Ich darf es wohl verraten: sie betet oft und gern. Dann kam sie zu dem Grab des Häuptlings. Am Fuß desselben, genau an der Westseite, gab es eine kleine, etwas eingesunkene Stelle, die aber auch, wie ihre Umgebung, mit moosigem Gras überwachsen war.

»Hier hast du wohl damals gegraben?« fragte sie.

»Ja«, antwortete ich. »Ich habe das Loch zwar sehr sorgfältig wieder geschlossen, aber während des Grabens ist doch soviel Erde verlorengegangen, daß sie später fehlte, als die Füllung sich nach und nach setzte. Daher diese Vertiefung.«

»Die aber auch andere auf den Gedanken bringen kann, nachzugraben!«

»Mögen sie es tun! Sie würden wohl nichts finden.«

»Ich bitte dich, das nicht so sicher zu sagen. Ich habe nämlich einen Gedanken.«

»Ah! Wirklich?«

»Ja, wirklich! Und zwar nicht erst jetzt, sondern schon während des ganzen Vormittags.«

»Du schienst allerdings sehr nachdenklich zu sein. War es das?«

»Ja, nichts Anderes.«

»So bitte, laß es mich wissen!«

Ich bin nämlich gewohnt, die Gedanken und Gefühle meiner Frau in allen Stücken mit in Erwägung zu ziehen. Ihr angeborener Scharfsinn kommt mir oft zu Hilfe, während mein mühsam erworbener Scharfblick mich in die Irre führt. Ich gebe gern zu, daß die Frau dem Mann in Beziehung auf die feineren Instinkte überlegen ist. Darum freue ich mich immer, wenn die meinige mir sagt, daß sie einen »Gedanken« oder eine »Ahnung« habe, denn ich weiß, daß es mir zur Hilfe dient. So auch jetzt. Sie antwortete:

»Je näher wir heut diesen Bergen kamen, desto deutlicher und zusammenhängender trat Alles, was du von ihnen erzählt hast, vor mich hin. Und da kam mir ein Wort in den Sinn, welches nicht wieder weichen wollte. Winnetou hat es zu dir gesagt, und zwar wiederholt. Weißt du noch, wie er das Gold, die Nuggets, zu nennen pflegte?«

»Meinst du etwa deadly dust?«

»Ja, deadly dust Noch ganz kurz vor seinem Tod, als er mit dir von seinem Testament sprach, hat er zu dir gesagt, daß du zu Besserem bestimmt seist, als nur um Gold zu besitzen. Und dennoch grubst du hier am Grab seines Vaters nur nach Gold, nach weiter nichts. War das nicht ein Fehler, lieber Mann?«

»Ich glaube nicht. Das Gold, welches hier vergraben lag, war nicht für mich, sondern sehr wahrscheinlich für wohltätige, edle Zwecke.«

»Sollte es wirklich nichts, gar nichts gegeben haben, was persönlich für dich, seinen besten Freund und Bruder, bestimmt war? Und sollte Winnetou, der Weitsehende und Hochdenkende, grad bei Abfassung seines Testamentes vergessen haben, daß man auch für ›wohltätiger edle Zwecke‹ noch weit Besseres geben kann als nur Gold und immer wieder nur Gold? Bitte, überlege doch!«

»Hm! Weißt du, Herzle, was du da sagst, ist richtig, unzweifelhaft richtig. Ich habe zwar die Ausrede, daß ich damals nur unter Lebensgefahr und in größter Eile nachsuchen konnte, aber das ist doch nicht geeignet, mich zu entschuldigen. Ich hatte ja später jahrelang Zeit, die versäumte Umsicht nachzuholen. Daran habe ich aber gar nicht gedacht – niemals, niemals.«

»Ich auch nicht. Ich habe mir also ganz dieselbe Gedankenlosigkeit vorzuwerfen, wie du dir. Willst du mir einen Wunsch erfüllen?«

»Welchen?«

»Noch einmal nachzugraben? Aber besser, sorgfältiger und tiefer als damals?«

»Gern – sehr gern.«

»Ich glaube nämlich, wir finden noch Etwas, und zwar die Hauptsache. Die Goldanweisung lag nur zum Schutz des eigentlichen, wirklichen Schatzes oben darauf!«

»Wie du das sagst! Als ob du es ganz genau wüßtest!«

»Ich weiß es nicht, aber ich fühle es. Winnetou war abgeklärter und größer als damals du, lieber Mann. Sein eigentlicher, sein unschätzbarster Wert lag nicht im Umgang mit dir, lag überhaupt nicht in deiner Nähe. Wir haben doppelt nachzugraben, nämlich hier, an der Gruft seines Vaters, und sodann ebenso in deiner Erinnerung. Da werden wir gewiß keinen deadly dust finden, wohl aber Perlen und Edelsteine, die aus tiefen, seelischen Bonanzen stammen. Wollen wir nicht gleich beginnen? Es paßt so gut, weil die beiden Enters abwesend sind.«

»Dieser Grund ist nicht maßgebend, weil die Spuren nicht so schnell zu verwischen wären, daß die Brüder nicht bemerkten, was während ihrer Abwesenheit hier vorgenommen worden ist. Wo über dreißig Jahre vergangen sind, wird es wohl keinen bösen Schaden machen, wenn noch einige wenige Stunden vergehen. Wir dürfen nicht vergessen, daß ich von Tatellah-Satah an die mittelste der fünf großen Blaufichten gewiesen bin. Er schreibt: ›Ihre Stimme sei dir wie die Stimme Manitous, des großen, ewigen und allliebenden Geistes!‹ Das ist also so wichtig und so eilig, daß es allem Anderen vorauszugehen hat.«

»Ganz gewiß, ganz gewiß! – Aber wo sind diese blauen Fichten? Wo stehen sie?«

»Gar nicht weit von hier. Komm!«

Ich führte sie nach einer Stelle des Waldes, wo aus dem Boden sich mehrere Felsen erhoben, an deren Fuß ein Wassertümpel lag. Da standen die fünf Silber-Blaufichten, welche Tatellah-Satah meinte. Sie waren bis ganz herunter auf den Boden beästet. Unter diesen Ästen gab es einige wenige dürre. Kaum war mein Blick auf den mittelsten dieser Bäume gefallen, so wußte ich, woran ich war. Das Herzle aber stand da, schaute die Bäume ratlos an, schlug die Hände zusammen und seufzte:

»Da sieht ja eine genau wie die andere aus, nur daß die mittlere ihre Schwestern um einige Ellen überragt! Und auch ein Ast genau wie der andere! So gedrungen, so reich und dicht benadelt! Und dieser Baum, diese Fichte, soll zu dir sprechen? Wie denn, wie? Weißt du es?«

»Ja.«

»Ich nicht!«

»Das glaube ich wohl!«

»Also wie? – Sag es mir!«

»Kannst du Fichte und Tanne unterscheiden?«

»Ich denke!«

»So betrachte die mittlere Fichte genauer! Es gibt da unten einige dürre Zweige, an denen sich nur noch wenige Nadeln befinden. Bitte, zähle sie! Von unten herauf! Und zeige dabei mit dem Finger hin!«

Sie tat es.

»Eins, zwei, drei«, zählte sie. »Vier, fünf, sechs ...«

»Halt!« unterbrach ich sie. »Betrachte diesen sechsten, dürren Zweig! Ist das auch Fichte?«

»Nein, sondern Tanne.«

»Merkst du nun, daß der Baum zu reden beginnt?«

»Ah! So ist das, so, so?«

»Ja, so! Kann dieser Tannenzweig an der Fichte gewachsen sein?«

»Gewiß nicht. Man hat den richtigen entfernt und diesen falschen an seine Stelle gebracht. Aber ist das nicht unvorsichtig oder gar gefährlich. Konnte das nicht ebensogut auch jeder Andere außer dir entdecken?«

»Nein. Wenn es grüne Zweige wären, dann ja. Da würde der Tannenzweig mit seiner ganz anderen Benadelung sofort auffallen. Da es aber vertrocknete Äste sind, an denen man nur wenige Nadeln sitzen ließ, konnte nur ich allein den Treffer machen, und zwar auch nur deshalb, weil ich vorher ganz besonders aufmerksam gemacht worden war. Bitte, entferne diesen Zweig!«

»Abbrechen?«

»Nein, sondern herausziehen.«

Sie tat es. Es war an der Stelle des ursprünglichen Astes ein Loch gebohrt und der Tannenzweig dann hineingesteckt worden. Dieses Loch war jetzt zu sehen; aber es hatte nur der Zweig darin gesteckt; es war leer. Nun untersuchte ich den Stamm in der Nähe des Bohrloches. Ganz richtig! Man hatte die Rinde in Form einer Klappe losgelöst und dann mit dem Ast wieder fest angesteckt. Als ich diese Klappe öffnete, fiel ein weißes Papier heraus. Das Herzle griff eiligst zu und rief freudig aus:

»Das ist die ›Stimme des Baumes‹! Das ist sie! Oder nicht?«

»Gewiß ist sie es.«

»Was so ein Indianer für ein scharfsinniger und gescheiter Mensch ist!«

»Ja«, lachte ich. »Und welch eine beispiellose Klugheit von einer weißen Squaw aus Radebeul, die das Alles sogleich entdeckt!«

Da lachte sie mit und sagte:

»Habe ich diese Entdeckung etwa nicht dadurch eingeleitet, daß ich den Unterschied zwischen Tanne und Fichte sehr wohl kannte? Laß uns lesen!«

Da sie daheim meine Sekretärin ist und fast meine ganze Korrespondenz besorgt, hielt sie sich für berechtigt, auch dieses Blatt zu öffnen und vorzulegen. Sie zog schon die Augenbrauen in die Höhe, um ein möglichst wichtiges Gesicht zu machen; aber diese Wichtigkeit fiel sofort wieder in sich zusammen, und in sehr enttäuschtem Ton erklang die Klage:

»Das kann ich aber nicht lesen – leider, leider!«

»Wohl indianische Bilderschrift?«

»Nein. Es sind englische Buchstaben; aber die Sprache ist fremd.«

»Zeig her!«

»Da! Hier! Aber setzen wir uns! im Stehen begreift man schwerer.«

Sie setzte sich nieder und klopfte mit der Hand neben sich auf den Boden. Man weiß wohl bereits, was ich da zu tun hatte: Ich setzte mich neben sie nieder und las die Zeilen vor. Sie waren im Apatsche von derselben kalligraphisch geübten Hand auf dasselbe sehr gute Papier geschrieben wie der Brief, den ich daheim von Tatellah-Satah erhalten hatte. Die Übersetzung lautete:

»Warum suchtest du nur nach deadly dust? Nach tödlichem, goldenem Staub?

Glaubtest du wirklich, Winnetou, der überschwänglich Reiche, könne der Menschheit nichts Besseres hinterlassen?

War Winnetou, den du doch kennen müßtest, so oberflächlich, daß du es verschmähen durftest, in größerer Tiefe zu suchen?

Nun weißt du, warum ich dir zürnte. Sei mir willkommen, wenn du verstehst, es mir zu sein!«

Das war der Brief des alten »Tausend Jahre«. Ich faltete das Papier zusammen und steckte es ein. Wir sahen einander an.

»Ist das nicht sonderbar?« fragte das Herzle.

»Höchst sonderbar!« nickte ich, »Er schreibt ganz dasselbe, was du gesagt hast. Ich bin beschämt, außerordentlich beschämt!«

»Nimm es dir nicht zu Herzen!«

»O doch! Ich habe da eine Sünde an Winnetou begangen, die ich mir unmöglich verzeihen kann. Und nicht nur an Winnetou allein, sondern an seiner ganzen Rasse! Jetzt bin auch ich überzeugt, daß wir noch mehr und noch viel Wichtigeres finden werden, als ich damals gefunden habe.«

»Weil der alte Tatellah-Satah es sagt?«

»Nicht nur deshalb, sondern noch viel mehr aus dem Grund, der in Winnetous Charakter liegt. Ich habe tief unter diesem hohen, edlen Charakter hinweggesehen und tief unter ihm hinweggehandelt. Das ist meine Sünde. Er würde gütig lächeln und mir verzeihen; ich aber lächle nicht. Bedenke, daß über dreißig Jahre unnütz vergangen sind! Ein volles Menschenleben! Komm, Herzle, wir müssen graben!«

»Ja, solange die Enters fort sind«, stimmte sie bei.

»Nicht das! Mir ist es jetzt gleich, ob sie da sind oder nicht. Horch! Ich höre ihre Stimmen. Sie sprechen mit Pappermann. Sie sind also schon zurück.«

Ja, sie waren wieder da, und zwar mit einem Prairiehasen, der sich in die Berge herein verlaufen hatte. Sebulon tat wunder, was das für eine Heldentat von ihnen sei; ich aber fiel ihm kurz entschlossen in die prunkende Rede:

»Legt das Häslein her! Vielleicht braten wir es, vielleicht auch nicht. Es gibt jetzt Wichtigeres zu tun.«

Ich hatte die Absicht gehabt, ihnen erst später, wenn wir von hier fort waren, zu sagen, daß wir dagewesen seien, denn ich fürchtete den Einfluß dieses Ortes und seiner Erinnerungen auf ihren Seelenzustand. Oder mit andern Worten, ich hatte psychiatrische Bedenken. Nun aber trieben mich ganz andere Gründe. Ich hatte höhere Rücksichten zu nehmen und fuhr darum fort:

»Ich habe euch eine Entdeckung zu machen, die ich für später aufheben wollte. Ihr befindet euch nämlich über den Ort, an dem wir heut und morgen lagern werden, im Irrtum. Hier liegen nicht Kiowahäuptlinge begraben, sondern der Vater und die Schwester meines Winnetou. Der Tavuntsit-Payah ist unser Nugget-tsil.«

Der Eindruck dieser meiner Worte war ein großer, ja ein sehr großer. Die Brüder standen still; sie bewegten sich nicht; sie sagten kein Wort.

»Habt ihr mich verstanden?« fragte ich.

Da setzte Hariman sich, als ob er zu Boden falle, nieder, schlug die Hände vor das Gesicht und begann laut und bitterlich zu weinen. Nun hob Sebulon seinen finstern und doch flackernden Blick zu mir empor und fragte:

»Ist das wahr, was Ihr sagt?«

»Was könnte ich für einen Grund haben, euch zu belügen?«

» Well! Wir glauben Euch! Das sind also die Gräber von Intschu tschuna und Nscho-tschi?«

»Ja.«

»Deren Mörder unser Vater war?«

»Euer Vater, ja, kein Anderer.«

»Erlaubt, daß ich mir die Gräber betrachte.«

Er ging zunächst zum Grab des Häuptlings und dann zu dem seiner Tochter. Er nahm sie sehr eingehend in Augenschein. Er schien innerlich ruhig zu sein; aber ich sah, daß er, wenn er sich bewegte, wankte. Es war, als ob er auf einem hohen Turmseil gehe und sich heimlich bemühe, die Balance nicht zu verlieren. Dann ging er langsam wieder dahin zurück, wo der Hase lag. Er stieß ihn mit dem Fuß an und sagte in leise knirschendem Ton:

»Auch nur so ein armes Häschen! Wir! Grad wie damals Gates und Clay. Ihr seht, Mr. Burton, daß ich Alles gelesen und mir Alles gemerkt habe, sogar das mit dem Hasen und den alten Tauben, die niemand genießen konnte. Ich möchte Euch bitten, uns einen Dienst, einen Liebesdienst zu erweisen.«

»Welchen?«

»Uns zwei Bilder aus der Vergangenheit dieses Ortes zu zeigen, die zwei für uns wichtigsten Bilder. Versteht Ihr mich?«

»Ich verstehe. Ihr wünscht, daß wir uns jetzt auf die Pferde setzen und ich euch herumführe, um euch Alles zu zeigen, was damals geschehen ist, zum ersten Mal, als Intschu tschuna mit seiner Tochter erschossen wurde, und zum zweiten Mal, als euer Vater mir das Testament entriß?«

»Ja, das meine ich.«

»Das wollte ich tun, um Mrs. Burton die betreffenden Orte zu zeigen. Wollt ihr uns begleiten, so habe ich nichts dagegen. Ich denke aber, daß es besser für euch ist, darauf zu verzichten.«

»Warum?«

»Weil meiner Ansicht nach ein Sohn sehr starke Nerven haben muß, um einen Rundritt zu den Orten auszuhalten, an denen sein Vater solche Taten beging.«

»Wir sind gesund, und unsere Nerven sind es auch. Also ihr wollt?«

»Ja.«

»Wann?«

»Wann es euch beliebt.«

»Also sofort! Ich habe nämlich nicht den Vorzug, sehr geduldig zu sein.«

»Werdet es schon noch werden, wenn nicht jetzt, so doch später. Wir reiten also. Mr. Pappermann bleibt als Wache hier.«

»Sehr gern!« nickte der Alte. »Habe nicht die geringste Lust, mich um derartige alte Stapfen zu bekümmern!«

Er hätte sich wohl gern noch kräftiger ausgedruckt, denn er konnte die Brüder nicht leiden, und besonders Sebulon war ihm direkt verhaßt, doch ließ er es bei dieser Andeutung bewenden. Wir Anderen konnten gleich wieder aufsteigen, denn die Pferde waren noch gar nicht abgesattelt. Wir ritten den Weg, den wir gekommen waren, wieder zurück und dann südwärts bis zu dem Spring, an dem ich damals mit Winnetou, Intschu tschuna, Nscho-tschi, Sam Hawkens, Dick Stone, Will Parker und den dreißig Apatschen gelagert hatte. Das ist in Winnetou Band I Seite 483 zu lesen. Von da aus verfolgten wir die Wege, die ich dann teils gegangen und teils geritten war, bis die Schüsse fielen, von denen Vater und Tochter getroffen wurden. Hierdurch gewannen meine Frau und die Brüder ein klares Bild von der Ermordung derer, die mir so lieb gewesen waren. Wir waren hierbei zu unserem Zelt zurückgekommen, wo ich dann gleich an Ort und Stelle erzählen und erklären konnte, wie es bei dem Raub des Testamentes zugegangen war. Hariman Enters hatte während dieses ganzen Rittes und dieser ganzen Instruktion kein einziges Wort gesprochen und mich kein einziges Mal angesehen. Er tat mir leid. Seine Wangen glühten zuweilen; oft wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Er fieberte. Ganz anders sein Bruder. Dieser schien ganz unberührt. Er zeigte eine Ruhe, die selbst ein guter Menschenkenner vielleicht für echt gehalten hätte. Aber seine Augen – seine Augen! Die hatte er nicht in der Gewalt! Die verrieten Alles, Alles! Er war wütend darüber, daß die Streiche seines Vaters nicht so geglückt waren, wie es in dessen Absicht gelegen hatte. Er haßte mich wahrscheinlich noch tiefer und noch glühender, als dieser mich gehaßt hatte. Er war eines jeden Verbrechens, sogar des Mordes, gegen mich fähig. Und doch brauchte ich ihn nicht zu fürchten, wenigstens jetzt noch nicht, weil er mich an Kiktahan Schonka abzuliefern hatte, und zwar, wie sich ganz von selbst verstand, lebendig und vollständig heil.

Auch er bemerkte jetzt die kleine Bodenvertiefung am Häuptlingsgrab. Er betrachtete sie, sann nach und fragte mich dann:

»Hier habt Ihr wohl gegraben, damals?«

»Ja«, nickte ich.

»Da lag das Testament?«

»Ja. Und nicht nur das Testament.«

»Was noch?«

»Das weiß ich nicht; ich werde es aber erfahren. Ich bitte euch, mir eure Spaten zu borgen.«

»Wozu?«

»Um zu graben.«

»Noch einmal? – Hier? – An dieser Stelle?«

»Gewiß, noch einmal! Und an derselben Stelle!«

»So glaubt Ihr wirklich, wirklich, daß damals nicht alles herausgenommen worden ist?«

»Das glaube ich, grad das!«

Da leuchteten seine Augen infolge einer inneren Flamme glühend auf, und seine Stimme klang vor Erregung heiser, als er rief:

»Und da soll ich Euch unsere Spaten borgen! Fällt mir gar nicht ein! Nicht im Traum! Wir graben selbst, wir selbst, mein Bruder und ich!«

Er rannte dorthin, wo die Spaten lagen, holte sie, hielt seinem Bruder einen hin und forderte ihn auf:

»Steh auf, und heule nicht, alte Memme! Du hörst es ja: Das Nest ist nicht ganz ausgenommen worden! Es gibt noch was zu holen! Wahrscheinlich viel, sehr viel! Steh auf; steh auf! Arbeiten heißt es jetzt, arbeiten!«

Hariman hatte sich wieder niedergesetzt und den Kopf gesenkt! Er stieß den ihm angebotenen Spaten von sich und sagte:

»Laß mich! Ich arbeite nicht! Ich rühre keine Hand! Verflucht sei all das Gold und deine Sucht, es Anderen zu entreißen! Du wirst an ihr zugrunde gehen, genau wie er – wie er!«

»So willst du nicht?«

»Nein! Gib dir keine Mühe! Ich habe genug!«

»Feigling! Verdammte Memme!« zischte Sebulon ihn verächtlich an.

Da erhob sich Hariman mit einem schnellen Ruck, trat hart an ihn heran und fragte in zornigem Ton:

»Wer ist die Memme? Du oder ich? Ich habe den Mut, zu kämpfen; du aber hast ihn nicht! Ich will frei sein, frei von diesem Teufel, der uns besessen hat und auch heute noch besitzt. Er ist ohne Gnade und ohne Erbarmen. Er gebietet uns, ihm zu gehorchen oder zugrunde zu gehen. Er fordert von uns das Verbrechen oder den Sühnetod für den Väter. Dir fehlt der Mut, gegen ihn zu kämpfen; darum wählst du das Verbrechen; ich aber wähle ... den Tod. Ich wiederhole also die Frage: Wer ist die Memme? Du oder ich?«

»Ich wähle nicht das Verbrechen, sondern ich wähle das Gold, das Gold! Und wenn du nicht hilfst, so nehme ich mir es allein!«

Er warf den einen Spaten hin und begann, mit dem anderen zu graben. Hariman setzte sich wieder nieder.

Da trat Pappermann herbei, griff nach dem am Boden liegenden Spaten und sagte:

»Ich helfe mit. Zwei fördern mehr als einer.«

Sebulon aber fuhr ihn schnell an:

»Fort mit Euch! Ihr habt hier nichts zu suchen! Ich dulde keinen Anderen!«

» Well! Ganz wie Ihr wollt! Ich glaubte, Euch einen Gefallen zu tun!«

Er ließ den Spaten wieder fallen. Sebulon aber arbeitete in einer Weise, als ob er von Sinnen sei. Er tat Stich um Stich, und zwar mit einem Übermaß von Kraft und Eile, als ob keine Minute zu verlieren sei und es sich um Leben und Seligkeit handle. Das Loch wurde tiefer und tiefer. Er starrte nur immer hinein. Er sah weder nach rechts noch nach links. Der Schweiß lief ihm von der Stirn und über die Wangen herunter.

»Das ist Wahnsinn – der offenbare Wahnsinn!« flüsterte meine Frau mir zu. »Er tut, als ob ihm Alles gehöre! Was soll daraus werden?«

»Nichts Gefährliches für uns«, antwortete ich ebenso leise.

»Aber wenn er etwas findet – was dann?«

»Wenn es kein Gold oder Geldeswert ist, wird er es verschmähen.«

»Und wenn es etwas ist, was er nicht verschmäht? Dann kommt es unbedingt zum Kampf zwischen dir und ihm!«

»Zum Kampf? Keinesfalls! Laß mich nur machen, und habe keine Sorge! Es handelt sich hier um unendlich wichtige psychologische Vorgänge, die ich in dieser Weise gewiß niemals wieder zu sehen bekomme.«

»Was hast du von all diesem psychologischen Interesse, wenn du es mit dem Leben bezahlen mußt!«

»Bitte doch, sei vernünftig; sei ruhig! Es geschieht mir nichts, wirklich nichts!«

»Ich möchte es wohl glauben. Aber gib mir trotzdem einen von deinen Revolvern! Ich schieße diesen wahnwitzigen Menschen augenblicklich nieder, wenn er es wagt, die Hand an dich zu legen!«

Das war ihr ernst. Sie hatte wirklich Angst. Die Gute, der es ganz unmöglich ist, einen Wurm oder Käfer unzart zu berühren, wollte aus Liebe zu mir einen Menschen niederschießen! Ich war gerührt, verbarg dies aber und antwortete lachend:

»Liebes Kind, wenn geschossen werden soll und muß, so tue ich es selbst. Ich ziele besser als du. Und nun sei gut und . . .«

»Horch!« unterbrach sie mich. »Was ist es?«

Sebulon hatte nämlich einen Ruf ausgestoßen, einen Jubelruf, und verdoppelte seine Anstrengung. Die Erde flog nur so aus dem Loch heraus! Ich trat hin, um hinabzuschauen.

»Fort, fort!« brüllte er mich an.

»Ich will nur einen Blick hinuntertun!« entschuldigte ich mich.

»Auch das nicht! Fort, oder ich schlage zu!«

Er hob den Spaten hoch empor und sah mich mit drohenden Augen an. Sie waren wie mit Blut unterlaufen. Ich trat zurück und fuhr in beruhigendem Ton fort:

»Darf man denn nicht einmal fragen, warum Ihr jetzt gerufen habt?«

»Das will ich Euch wohl sagen: Ich bin auf Gold gestoßen.«

»Wirklich?«

»Ja – auf etwas Hartes, Breites. Das Loch ist zu schmal. Ich muß es größer machen. Aber ich allein, ich allein! Wer mir zu nahe kommt, den schlage ich nieder, sei er, wer er sei!«

Er arbeitete weiter; ich aber kehrte an meinen Platz zurück.

»Siehst du, daß ich Recht habe?« begann das Herzle ihre Warnungen aufs neue. »Er wollte dich erschlagen!«

»Wird es aber nicht tun. Bitte, kompliziere mir die Situation nicht durch deine Angst! Du hast absolut keinen Grund, dich zu beunruhigen!«

Da beruhigte sie sich, obgleich der Eindruck, den Sebulon machte, keineswegs geeignet war, dieser Beruhigung Vorschub zu leisten. Bisher hatte er sich den Schweiß von Zeit zu Zeit abgewischt; nun tat er das nicht mehr. Die Nässe rann in großen, schweren Tropfen herunter. Das Gesicht erschien geschwollen; die Augen traten mehr und mehr hervor. Er ächzte und stöhnte, erst nur zuweilen, nun aber fast bei jedem Spatenstich. Er ermüdete. Er mußte dann und wann innehalten, um Atem zu holen. Seine Arme begannen zu zittern. Seine Bewegungen wurden ungewiß. Es war ein häßlicher, ein überaus häßlicher Anblick, den er bot. Er glich einem Dämon, einem bösen Geist, dessen Betrachtung für sterbliche Augen unerträglich ist.

Da endlich wieder ein Freudenruf! Und wieder einer und abermals einer!

»Vater, Vater, du bist hier! Du hilfst mir! Ich weiß es; ich fühle es! Ich danke dir; ich danke dir!«

Nachdem er dies im Ton des Entzückens ausgerufen hatte, wendete er sein verzerrtes Gesicht uns zu und drohte:

»Keiner darf heran, keiner! Wer es wagt, diese Schätze zu berühren, den schlage ich tot, sofort und augenblicklich tot! Merkt euch das!«

Das Loch war breit und tief geworden. Er stieg hinein. Es ging ihm bis an den Gürtel. Er bückte sich nach innen und hob Etwas empor. Er legte es auf den Rand. Es war ein tönernes Gefäß. Er brachte noch eines zum Vorschein und noch eines; dann ein viertes und fünftes. Hierauf grub er noch eine Weile tiefer, stieg sodann heraus, tat einen langen, schweren Atemzug und sagte:

»Fertig! Das ist Alles! Weiter gibt es nichts!«

Hariman hatte von ihm abgewendet gesessen. Jetzt drehte er sich um, sah die Gefäße, stand auf und näherte sich seinem Bruder.

»Ah, da kommst du doch!« höhnte dieser. »Aber glaube ja nicht, daß du Etwas davon bekommst! Es ist mein, Alles mein, Alles mein!«

»Nichts ist dein!« antwortete Hariman.

»Wem sonst?«

»Es gehört Mr. Burton, keinem Anderen. Winnetou hat es für ihn vergraben, für ihn allein.«

»Beweis, Beweis!« lachte Sebulon. »Dieser Mr. Burton hat sich vor dreißig Jahren geholt, was ihm gehörte. Das Testament. Alles Andere ließ er liegen; es war nicht sein! Heut habe ich es gefunden. Ein Fund wie jeder andere Präriefund. Nach dem Gesetz des Westens gehört er dem Finder, also mir, nur mir!«

»Falsch, grundfalsch!« widersprach Hariman. »Was wußtest du von diesem Schatz? Mr. Burton aber kannte ihn. Er wollte ihn holen, wollte graben. Er bat um unsere Spaten. Du hast ihm nicht nur deinen Spaten, sondern auch deine Arme, deine Arbeitskraft geliehen. Du grubst in seinem Namen; du grubst für ihn. So ist es; so steht es, und niemand kann es ändern.«

»So? So?« zischte Sebulon. »Das sagst du, mein eigener Bruder! Woher weißt du, daß ich für ihn gegraben habe, nicht aber für mich, für mich? Hast du das etwa von mir gehört? Nein! Oder von ihm? Nein! Er hat ruhig zugesehen, als ich arbeitete, und nicht gesagt, daß es für ihn sein soll. Und als er an das Loch kam, um hinabzuschauen, und ich ihn fortwies, da hat er gehorcht; da hat er sich entfernt, ohne auch nur den allergeringsten Anspruch auf das zu erheben, was sich in dem Loch befand. Verstanden? Diese fünf Schatzgefäße sind also mein Eigentum. Und ich will den sehen, der den Mut besitzt, sie mir streitig machen zu wollen! jetzt hilf! Ich will sie öffnen!«

Das Herzle sah mich besorgt und fragend an. Ich antwortete leise: »Warten wir, was sich drin befindet. Auf keinen Fall ist es Gold.« »Vielleicht doch.«

»Nein. Ich habe aufgepaßt. Für Gold war es nicht schwer genug. Nur Geduld!«

Die Tongefäße waren von quadratischer Gestalt, von blaubrauner Farbe und mit indianischen Figuren verziert. Man erkannte sie sofort und auch schon von weitem als gebrannte Töpferarbeiten aus einem Moqui- oder Zuni-Dorfe. Sie waren aus einem oberen und einem unteren Teil zusammengesetzt, der erstere auf den letzteren gestülpt, die Verbindungslinie mit einem Kitt überzogen, der keine Feuchtigkeit hindurchließ. Außerdem waren sie noch mit starken, geölten Bastschnüren umwickelt und verknotet. Ich vermutete auch aus diesem Grund, daß der Inhalt kein Metall, sondern irgendein Gegenstand sei, der vor allen Dingen vor Feuchtigkeit zu beschützen gewesen war.

»Also komm und hilf!« forderte Sebulon seinen Bruder nochmals auf. »Aber nimm dich in acht, daß wir nichts zerbrechen!«

Sie setzten sich miteinander zu den Gefäßen nieder und begannen, zunächst die Umschnürung zu entfernen. Hariman tat dies in ruhiger und bedächtiger Weise, Sebulon aber hastig, nervös und ohne Geduld. Wie vorhin seine Arme gezittert hatten, so bebten jetzt seine Hände und Finger.

»Die verfluchten vielen Knoten!« klagte er. »Es geht so langsam, so langsam! Und doch ist der Vater da, der Vater! Ich fühle es an der Aufregung, an der Leidenschaft, die mich zersprengen möchte. Mach schnell, mach schnell! Aber zerbrich nichts, ja nichts! Es darf kein einziger Bruch, kein Riß entstehen!«

Als die Schnüre von den ersten zwei Gefäßen entfernt waren, machten sich die Beiden daran, den Kitt mit den Messern zu entfernen. Das war eine zeitraubende Arbeit, weil er sich im Verlauf der Zeit in Stein verwandelt hatte. Dabei sprach Sebulon in Einem fort auf seinen Bruder ein, von Silber, von Gold, von Perlen, von alten, mexikanischen toltekischen, aztekischen oder gar altperuanischen Schmucksachen und Geschmeiden. Er bildete sich das Teuerste, das Köstlichste ein, was es gibt. Das artete nach und nach in hirnverbranntes, verrücktes Schwatzen aus, welches man eben nur des psychologischen oder vielmehr psychiatrischen Interesses wegen ertrug. Sie hielten gleichen Schritt in ihrer Arbeit. Als der Eine fertig war, war es auch der Andere. Jeder konnte sein Gefäß nun öffnen, tat es aber noch nicht. Die Spannung war zu groß. Man holte erst Atem.

»Rate! Was ist drin!« rief Sebulon mit zuckenden Lippen und fast kreischender Stimme. »Gold? Diamanten . . .?«

»Ich rate nicht«, antwortete Hariman. »Machen wir auf!«

»Gut! Ich zähle! Eins . . . zwei ... drrrrrrrei ...!«

Die beiden Deckel flogen zu gleicher Zeit auf. Jeder schaute in sein Gefäß. Jeder griff hinein, um den Inhalt herauszunehmen, aber still, ganz still. Es ertönte kein Ruf der Überraschung, der Freude oder gar des Jubels. Sie betrachteten, was sie in den Händen hielten.

»Ein Lederpaket!« sagte endlich Sebulon.

»Ja, ein Lederpaket«, stimmte Hariman bei.

»Etwa mit Gold?«

»Nein. Dazu ist es zu leicht.«

»Diamanten? Geschmeide?«

»Auch zu leicht.«

»Gar Banknoten?«

Seine Augen blitzten wieder auf. »Fünf solch Pakete mit Banknoten! Welch ein Vermögen!«

»Auf, auf! Schneiden wir auf! Schnell, schnell!« rief er aus.

Die Riemen wurden zerschnitten und die Lederteile auseinander geschlagen.

»Bücher!« sagte Hariman enttäuscht.

»Bücher! Tod und Teufel! Nur Bücher!« brüllte Sebulon. »Weg mit ihnen, weg, weg!«

Er schleuderte sie fort.

»Aber was für Bücher?« warnte Hariman. »Schau doch erst nach! Es kann ja Geld drin liegen!«

Sofort holte Sebulon das weggeworfene Volumen wieder her, um es zu prüfen, warf es aber sehr bald noch weiter von sich als vorher.

»Geschriebene Seiten, lauter geschriebene Seiten!« zürnte er. »Mit nichtssagenden Überschriften und mit dem geliebten Namen Winnetou!«

»Bei mir hier auch«, erklärte Hariman, der sein Paket inzwischen auch einer Untersuchung unterworfen hatte.

»So weg damit, immer weg! Und dafür die andern drei her! Ich hoffe, daß sie Besseres enthalten!«

Man kann sich denken, daß ich den Verlauf dieser Szene nicht so gleichgültig verfolgte, wie ich mir den Anschein gab. Hier war mir jedes einzelne Blatt oder Blättchen, jedes Stückchen Leder- oder Bastschnur heilig. Ich ließ die Beiden nur deshalb gewähren, weil sie mir die Arbeit abnahmen. Aber verletzen oder gar verderben durften sie mir nichts; das verstand sich ganz von selbst. Jetzt nun, als sie die beiden nächsten Gefäße hernahmen, ging das Oeffnen derselben dem ungeduldigen Sebulon nicht schnell genug. Er schnitt und riß die Umschnürung in bebender Eile herunter und rief dabei aus:

»Das geht Alles zu langsam, viel zu langsam! Der Kitt wird nicht wieder aufgekratzt, denn das erfordert zu viel Zeit. Wir schlagen die Gefäße einfach entzwei. Da sehen wir sofort, was sie enthalten!«

Da ging ich schnell zu ihnen hin und sagte:

»Entzweigeschlagen wird hier nichts! Diese Gefäße enthalten das Vermächtnis eines großen, edlen Verstorbenen. Sie haben für mich einen größeren Wert als Gold und Edelsteine. Ich dulde nicht, daß man sie zerbricht!«

Er stellte das, was er in den Händen hatte, neben sich hin, griff zum Spaten, sah mich drohend an und fragte:

»Und wenn ich sie dennoch zerbreche, was dann?«

» Pshaw! Ihr kommt ja gar nicht dazu!«

»Wieso?«

»Ich schlage Euch nieder, daß ihr zur Erde fliegt wie ein umgefallener Sack!«

»Ah, wirklich, wirklich? Versucht das doch einmal! Merkt aber vorher auf, was ich Euch sage: Ihr seht den Spaten in meiner Hand. Mit ihm zerschlage ich zunächst das Gefäß, und dann, wenn Ihr nur die geringste Bewegung gegen mich wagt, zerschmettere ich Euch mit ihm den Schädel! Nun tut, was Ihr wollt!«

Er hob den Spaten hoch, um seine Drohung auszufahren, und ich ballte schon die Faust zum angekündigten Hieb; da aber stand auch schon das Herzle neben mir und sagte:

»Nicht du, sondern ich!«

Sie schob mich zur Seite, trat hart an Sebulon heran und befahl:

»Nieder mit dem Spaten, nieder!«

Sie streckte dabei die Hand gebieterisch aus. Man sah ihr an, daß es ihr gar nicht einfiel, einen Widerstand zu erwarten. Er fuhr, fast möchte ich sagen, erschrocken zusammen und schaute ihr in die Augen. Ihre beiderseitigen Blicke hingen für kurze Zeit aneinander. Da senkte er den seinen, und er senkte auch den Spaten.

»Werft ihn weg!« kommandierte sie.

Er ließ ihn fallen.

»Setzt Euch wieder nieder!« forderte sie ihn in weniger strengem Ton auf.

Er tat auch das.

»So! Nun fahrt in Eurer Arbeit fort, aber vorsichtig und anständig! Es darf nicht der geringste Riß oder Sprung entstehn! Ich hoffe, Ihr tut mir das zu Liebe!«

»Zu Liebe, ihr zu Liebe!« erklang es kleinlaut aus seinem Munde. »Was soll man von mir denken, daß ich gehorche! Diese Augen, diese Augen! Hariman, sag es ihr, sag es ihr, damit wenigstens er mich nicht für einen Feigling hält, der sich vor ihm fürchtet!«

»Was ist's?« fragte sie den Genannten.

Er antwortete:

»Mein Bruder kann Eure Augen nicht ertragen, Mrs. Burton. Gleich vom ersten Augenblick an. Er sagte es mir sofort, nachdem er Euch gesehen hatte, und er hat es mir bis jetzt schon zehnmal, schon zwanzigmal wiederholt.«

»So ist es!« klagte Sebulon. »Diese Augen, diese niederträchtigen, unausstehlichen blauen Augen! Sie tun mir weh! Sie plagen und quälen mich! Schaut weg von mir, Mrs. Burton, schaut weg! Sonst tue ich Alles, Alles, was Ihr wollt!«

Da setzte sie sich neben ihn nieder, berührte mit ihrer Hand leise seinen Arm und antwortete:

»Wenn Ihr doch immer nur tätet, was ich will, so tätet Ihr stets das Richtige!«

Er zuckte den von ihr berührten Arm und stöhnte »Alle Teufel! Nun faßt sie mich sogar an!«

»Ich werde es nicht wieder tun. Es geschah ganz ohne Absicht«, entschuldigte sie sich. »Nun aber bitte, die Gefäße wieder zur Hand! Ich bleibe dabei und schaue zu.«

Er griff gehorsam nach dem seinen und sagte, zu Hariman gewendet:

»Also, entfernen wir den Kitt! Aber behutsam, sehr behutsam, damit ja nichts zerbricht! Verstanden?«

Er nahm, als ob gar nichts vorgefallen sei, die unterbrochene Arbeit von neuem auf. Und es tat sie so die sorgfältig und so bedächtig, daß ich mich im stillen schier verwundene. Das Herzle aber lächelte leise und glücklich. Sie fühlt sich immer so froh, wenn es ihr gelungen ist, etwas Böses in Gutes zu verwandeln. Zwar kehrte die frühere Hast bei Sebulon nach und nach zurück; aber er widerstrebte ihr; es gelang ihm, sich zu beherrschen, wenigstens bis zu dem Augenblick, an dem er so weit war, das Tongefäß öffnen zu können. Da holte er tief, tief Atem und rief dann aus:

»Verzeihung, Mrs. Burton! Wenn es wieder nur Bücher sind, so sollen sie Euer sein! Wenn es aber Gold oder dem Ähnliches ist, so gebe ich es nicht her! Um keinen Preis! Soll ich nachschauen?«

»Ja«, antwortete sie.

Er entfernte den Deckel und sah hinein.

»Ganz dasselbe Lederpaket!« stöhnte er.

Er nahm es heraus, öffnete es und durchsuchte es.

»Wieder nur geschriebene Zeilen, weiter nichts, weiter nichts! Es ist ein Unglück, ein Jammer, eine Schande! Und du?«

Diese Frage war an seinen Bruder gerichtet, der sein Paket soeben auch geöffnet hatte. Er zeigte es her und antwortete:

»Auch nur Schreibereien, nichts Anderes!«

Da sprang Sebulon auf und jammerte:

»Ich muß Atem holen, Atem! Es packt mich die Wut! Mich rührt der Schlag!«

Er warf die Arme um sich und rannte auf und ab. Hariman aber griff still nach dem fünften, also letzten Gefäß und begann, zunächst die Schnuren zu entfernen. Das Herzle griff mit zu, um ihm zu helfen. Als Sebulon das sah, kam er schnell herbei, schob sich zwischen sie und seinen Bruder hinein und bat:

»Nicht Ihr, nicht Ihr, Mrs. Burton! Schont Eure Hände! Ich mache das für Euch!«

Das war nicht etwa bös, sondern gut gemeint. Wie sonderbar! Es dauerte nicht lange, so war auch dieser letzte Behälter geöffnet. Er hatte denselben Inhalt wie die andern vier. Da beugte sich Sebulon ganz so, wie sein Bruder es vorher, nur aus ganz anderem Grunde, gemacht hatte, tief nieder, legte sein Gesicht in beide Hände und begann zu weinen. Seine Brust arbeitete konvulsivisch. Wir Anderen verhielten uns still. Nach einer Weile stand er mit einem plötzlichen Rucke auf, sah sich um, als ob er aus einem Traum erwache und rief in zornigem Ton:

»Wie sagte ich? Wie habe ich gesagt? Er sei da, unser Vater, unser Vater? Verrückter Kerl, der ich bin! Von dem alten Lump ist längst keine Faser, kein Atom, kein Stäubchen mehr übrig! Nur die Schande hat er uns gelassen, die Schande! Und den Trieb zum Bösen hat er uns vererbt, den Drang zum Mord, zur Selbstvernichtung! Das ist Alles, was wir ihm zu verdanken haben, Alles, Alles! Und das will Vater gewesen sein und hat sich Vater genannt! Pfui!«

Er spuckte dreimal aus und wendete sich von uns, sich zu entfernen. Aber schon nach wenigen Schritten blieb er stehen, drehte sich nach uns um und sagte:

»Mrs. Burton, ich verzichte auf die Schreibereien. Ich mag sie nicht. Ich schenke sie Euch, hört Ihr es, Euch, nur Euch! Mit einem jeden Andern würde ich um sie kämpfen, sogar mit Old Shatterhand. Euch aber will ich sie überlassen, ohne daß ich Etwas dafür verlange. Sie sind also Euer Eigentum. Macht damit, was Euch beliebt!«

Hierauf wendete er sich wieder von uns ab und schritt davon, in den Wald hinein, hinter dessen Bäumen er verschwand.

»Törichter Mensch!« sagte sein Bruder, der ihm, ebenso wie wir, nachgeschaut hatte. Weiter sagte er nichts.

Das Herzle hatte nun eigentlich jetzt das Essen zu bereiten; sie tat es aber nicht. Sie wollte zunächst wissen, was für ein Schatz es war, den wir da ausgegraben hatten. Ich bat vor allen Dingen Pappermann, noch einmal tiefer zu graben, der Ueberzeugung wegen, daß nicht etwa auch heut wieder Etwas liegengelassen werde. Hariman Enters erbot sich sofort, ihm dabei zu helfen. Sie gingen noch volle zwei Fuß tiefer, f anden aber nichts und schütteten dann die BodenOeffnung vollständig wieder zu. Inzwischen untersuchte ich mit meiner Frau den Inhalt sämtlicher fünf Gefäße.

Es waren lauter zusammengebundene Hefte, Manuskripte, geschrieben von Winnetous eigener, mir wohlbekannter Hand. Man kann sich wohl denken, welchen Eindruck diese kalligraphisch nicht schönen, aber auáerordentlich charakteristischen Schriftzüge auf mich machten. Die Buchstaben hatten peinlich genau dieselbe Lage und Länge. Die Schrift war klar und harmonisch, wie die Seele dessen, von dessen Hand sie stammte. Er hatte eigentlich nicht geschrieben, sondern gezeichnet und gemalt. Kein einziger Fleck, keine Spur irgendeiner Unsauberkeit war da zu sehen. So war er ja immer, und so war er in allem gewesen! Und das waren nicht etwa nur zwanzig, dreißig, fünfzig Seiten, sondern viele, viele hunderte! Wo hatte er sie geschrieben? Auf den Umschlägen einiger Hefte war es zu sehen. Da stand: »Geschrieben am Nugget-tsil« – – »Geschrieben am Grabe meines Vaters« – – »Geschrieben am Grabe Klekih-petra's« – »Geschrieben in Old Shatterhands Wohnung am Rio Pecos« – »Geschrieben bei Tatellah-Satah« – – »Geschrieben für meine roten Brüder«.-- »Geschrieben für meine weißen Brüder« –-»Geschrieben für alle Menschen, die es gibt«. Viele der Hefte aber waren ohne solch eine Überschrift. Die Sprache war englisch. Wo ihr der richtige, individuelle Ausdruck fehlte, traten die bezeichnenderen indianischen Worte an ihre Stelle. Er hatte von mir so manchen deutschen Ausdruck gehört und im Gedächtnis festgehalten. Nun war es so rührend, zu sehen, wie sehr und wie gern er sich in diesen Blättern befleißigt hatte, an hierzu geeigneten Orten diese Ausdrücke in Anwendung zu bringen.

Am Schluß des letzten Heftes fand ich ein vollständiges Inhaltsverzeichnis und einen an mich gerichteten Brief. Das Inhaltsverzeichnis werde ich später veröffentlichen. Der Brief lautete folgendermaßen:

 

»Mein lieber, lieber, guter Bruder!

Ich bete zum großen, allgütigen Manitou, daß Du kommst, um Dir diese Bücher zu holen. Und wenn Du sie beim ersten Male verfehlst, weil Du nicht tief genug gräbst, so ist es noch nicht an der Zeit, daß sie in Deine Hände kommen. Dann werde ich nicht eher aufhören im Gebete, bis Du endlich doch noch kommst und sie findest. Denn sie sind nur für Dich, für keinen Andern.

Ich habe dieses mein Vermächtnis nicht bei Tatellah-Satah niedergelegt, weil er Dich nicht liebt. Aber auch hier sind seine Gründe edel, wie immer. Und ich habe es auch keinem Andern anvertraut, weil mein Vertrauen zum allmächtigen und allweisen Vater der Welten größer ist als zu den Menschen. Ich grabe diese Bücher tief in die Erde, denn sie sind wichtig. Höher oben liegt ein zweites Testament, um dieses hier zu verbergen und zu beschützen. Ich werde Dir nur von diesem oberen sagen, damit das untere liegen bleibe, bis seine Zeit gekommen ist. Und ich habe Tatellah-Satah mitgeteilt, daß hier zwei Vermächtnisse für Dich liegen, damit sie, wenn Du ja nicht kommen solltest, trotzdem nicht verlorengehen.

Und nun öffne mir Dein Herz und Deinen Geist, und vernimm, was ich, der Verstorbene und doch Lebende, Dir sage!

Ich bin Dein Bruder. Ich will es sein und bleiben. Auch dann, wenn die Trauerkunde durch die Stämme der Apatschen geht: ›Winnetou, unser Häuptling, ist tot!‹ Du hast mich gelehrt, daß der Tod die größte aller Erdenlügen sei. Ich möchte Dir beweisen, daß dieses köstliche Geschenk, welches du mir brachtest, die Wahrheit enthält. Ich will, wenn man von mir sagt, daß ich gestorben sei, die Hände ebenso über Dich breiten, wie ich sie über Dich breitete, als ich noch lebte. Ich will Dich schützen, mein Freund, mein Bruder, mein lieber, lieber Bruder.

Der große, gute Manitou führte uns zusammen. Wir sind nicht Zwei, sondern Einer. Wir werden es bleiben. Es gibt keine Macht auf Erden, die stark genug ist, dies zu verhindern. Auch das Grab gähnt nicht zwischen uns. Ich werde seine Tiefe überspringen, indem ich in meinem Vermächtnis zu Dir komme und für immer bei Dir bleibe.

Du bist, seit ich Dich kenne, mein Schutzengel gewesen, und ich war in gleicher Weise der Deine. Du standest mir höher, als jeder Andere, den ich liebte. Ich eiferte Dir nach in allen Dingen. Du gabst mir viel. Du brachtest mir Schätze für Geist und Seele, und ich versuchte, sie festzuhalten und mir anzueignen. Ich bin Dein Schuldner; aber ich bin es gern, denn diese Schuld ist nicht drückend, sondern erhebend. Konnten die Bleichgesichter nicht alle so zu uns kommen, wie Du, der Einzelne, zu mir, dem Einzelnen, kamst? Ich sage Dir, alle, alle meine roten Brüder wären ebenso gern ihre Schuldner geworden, wie ich der Deine geworden bin! Der Dank der roten Rasse wäre ebenso groß und ebenso aufrichtig gewesen wie der Dank Deines Winnetou für Dich. Und wo Millionen danken, da wird die Erde zum Himmel.

Aber Du hast noch mehr getan, unendlich mehr als das! Du hast Dich nicht nur Deines roten Freundes, sondern auch seiner ganzen verachteten, verfolgten Rasse angenommen, obgleich Du ebenso wußtest und weißt wie ich, daß die Zeit kommen wird, in der man Dich dafür ebenso verachtet und verfolgt wie sie. Doch zage nicht, mein Freund; ich werde bei Dir sein! Was man Dir, dem Lebenden, nicht glaubt, das wird man mir, dem Verstorbenen, glauben müssen. Und wenn man das, was Du schreibst, nicht begreifen will, so gib ihnen das zu lesen, was ich geschrieben habe. Ich bin überzeugt, es war gewiß die kühnste, aber wohl auch die beste Tat Deines Winnetou, daß er in stillen, heiligen Stunden das Gewehr zur Seite legte, und für Dich zur Feder griff. Sie ist mir schwer geworden, diese Tat, sehr schwer, dieser Feder wegen, die sich sträubte, mir, der Rothaut, zu gehorchen. Und doch auch leicht, so leicht, des Herzens wegen, dessen Stimme aus jeder Zeile spricht, die ich dem Volk der Menschen hinterlasse.

So wird Dein Winnetou auch noch im Tod an Deiner Seite stehen, denn meine Liebe lebt. So wird er für Dich kämpfen, indem er für sich selbst und seine Rasse kämpft. So hab ich mich zu Deinem Schutz zu Dir emporgehoben und bitte Dich, vergönne mir den Platz! Dann wird auch ebenso mein Volk sich zu dem Deinigen erheben, und alle Leiden meiner Nation sind ausgelöscht, wenn nicht aus der Geschichte, so doch vor Manitou, der gütig richtet, wenn er kann und darf.

Du weißt, ich bin bei Dir, wenn Deine Augen diese Zeilen lesen, doch nicht als Geist, als irre Spiritistenseele, sondern als mein treuer, warmer Puls, der fortan mit dem Deinigen vereint in Deinem Herzen schlägt. Könnte dieser Puls der Puls der ganzen Menschheit sein!

Bin ich ein Tor, indem ich dieses schreibe? Ich grüße Dich! Was Du von mir noch alles hören möchtest, wirst Du in diesen Blättern finden. Ich brachte sie zum Nugget-tsil. Die Grube ist geöffnet, sie für Dich aufzunehmen. Bin ganz allein! Wie habe ich Dich geliebt! Wie liebe ich Dich noch! Du warst mir Geist und Seele, Herz und Wille. Was ich Dir bin, das wurde ich durch Dich. Es gibt so Viele, so ungezählte Viele, die ganz dasselbe werden möchten, für Euch – – für Euch – – – für Euch!

Dein Winnetou.«


Das Herzle saß eng neben mir. Ich hatte ihr mit halblauter Stimme vorgelesen. Als ich nun fertig war, sagte sie nichts. Sie schlang ihre Arme um mich, lehnte ihren Kopf an meine Schulter und weinte. Auch ich war still. So saáen wir lange Zeit. Dann packten wir die Manuskripthefte in die Tongefäße und trugen sie in das Zelt, um sie dort aufzubewahren. Den Brief aber behielt ich zurück.

»Wirst du ihn dem ›jungen Adler‹ zeigen?« fragte sie mich.

Ich hatte soeben denselben Gedanken gehabt. Wieder einer jener häufigen, alltäglichen Fälle, daß sie in ganz demselben Augenblick auch ganz dasselbe denkt wie ich.

»Ja, er soll ihn lesen, und zwar sogleich«, antwortete ich.

Wir gingen zu ihm hin. Es schien, als habe er sich gar nicht um uns bekümmert. Aber als ich ihm den Brief mit einigen erklärenden Worten zum Lesen überreichte, ging es wie heller Sonnenschein über sein Gesicht. Er sprang schnell auf, griff nach dem Brief und sagte:

»Ich danke Euch, Mr. Burton! Glaubt mir, ich weiß ganz genau, was es heißt, einen solchen Brief aus solcher Hand zu bekommen!«

»Ich zeige ihn Euch nicht ohne egoistische Absicht«, erwiderte ich. »Ich stelle dieses Vermächtnis meines Winnetou unter Euern besondern Schutz. Ich kann nicht stets in der Nähe des Zeltes sein und bitte um Eure Wachsamkeit, so oft ich gezwungen bin, mich zu entfernen. Zum Beispiel gleich jetzt. Ich gehe nämlich, um nach Sebulon Enters zu sehen.«

»Und ich habe inzwischen für des Leibes Nahrung zu sorgen«, erklärte das Herzle. »Ich mache wahr, was du ihm und seinem Bruder versprochen hast – – nämlich die Bärentatzen. Ich hoffe, daß mir das mit Pappermanns Hilfe gelingen wird.«

Der Gedanke, nach Sebulon auszuschauen, war mir nicht nur wegen meiner eigenen Sicherheit gekommen. Noch viel mehr als das drängte mich das Mitleid, ihn jetzt nicht für längere Zeit aus den Augen zu lassen. Es galt, auch ihn zu retten, nachdem sein Bruder so ziemlich als gerettet gelten konnte. Ich ging ihm nach, indem ich seinen Spuren folgte. Sie führten in die Tiefe des Waldes, nicht in gerader Linie, wie die Stapfen eines Menschen, welcher weiß, wohin er will, sondern bald nach rechts und bald nach links, bald vorwärts und bald wieder zurück, als ob er in der Irre sei und nicht wisse, wo aus oder ein. Zuweilen war er stehengeblieben, aber nicht an einer und derselben Stelle, sondern sich nach allen Seiten drehend und wendend, als ob er rundum von unsichtbaren Wesen bedroht worden sei, gegen die er sich hatte wehren müssen. Das waren seine Gedanken.

Durch diese Beobachtungen aufgehalten, kam ich nur langsam vorwärts. Endlich aber hörte ich ihn, noch ehe ich ihn erblickte. Er sprach laut, sehr laut. Ich folgte der Richtung, die mir der Schall verriet. Er stand unter einer hohen Buche, an ihren Stamm gelehnt. Es gab in der Nähe ein dichtes Unterholz, hinter dem ich Deckung fand. Er sprach, als ob er greifbare Gestalten vor sich habe. Er gestikulierte; er nickte ihnen zu. Ich hörte folgendes:

»Ihr Alle seid schon tot, ihr Alle! Nur wir zwei sind noch übrig! Müssen auch wir noch fort? Hariman will sterben; ich aber will leben. Ich will den Willen des Vaters tun, damit er nicht auch noch mich, den letzten, ermordet! Ich will ihm diesen Old Shatterhand an das Messer liefern, ich will, ich will! Ich will diesen seinen größten Feind vernichten und verderben, damit ich selbst am Leben bleibe. Aber kann ich – – kann ich – – – kann ich – – –?«

Er bewegte bei dieser dreimaligen Frage den Kopf so, als ob er einen Halbkreis von Zuhörern vor sich habe. Er lauschte, als ob ihm von dorther geantwortet werde. Dann fuhr er fort:

»Diese Frau, diese Frau ist schuld! Diese Frau mit den blauen Augen und mit der Herzensgüte im Gesicht! Die stellt sich mir in den Weg!«

Er legte die beiden hohlen Hände wie ein Schallrohr an den Mund und erklärte geheimnisvoll:

»Das sind die blauen Augen unserer Mutter. Diese lieben, guten, blauen Augen, die so unzählbar oft weinten, bis sie vor Herzeleid brachen und sich schlossen! Habt ihr diese Ähnlichkeit auch bemerkt? Und das ist das Wohlwollen und die Güte unserer Mutter, genau, genau! Wie das lächelt! Wie das bittet! Wie das verzeiht! – – – Sollen diese Augen sich in Tränen ergießen, meinetwegen? Soll soviel Güte vernichtet werden? In Haß, in Rache verwandelt? Kann ich das? Darf ich das? Eines Schurken wegen? Eines Schurken – Schurken Schurken?!«

Er neigte den Kopf zur Seite, als ob er auf etwas lausche, was ihm zugerufen wurde, machte dann eine Bewegung zornigen Widerspruches und antwortete:

»Nein! Er hat mich betrogen, der Alte! Betrogen, betrogen, betrogen! Es war kein Gold; es waren nur Blätter, nur Blätter! Will er mich mit Kiktahan Schonka etwa ähnlich betrügen? Er hat, als er lebte, alle Welt betrogen. Nun er tot ist, kann er nur uns noch betrügen. Aber betrogen muß sein, betrogen, betrogen! Soll ich mir das gefallen lassen? Wahrlich, ich habe große Lust, ihm das zurückzugeben, ihn so zu betrügen, wie er mich betrügt, ihn mit diesem Old Shatterhand zu betrügen! Vielleicht tue ich es, vielleicht! Sogar wahrscheinlich! Dieser blauen Augen wegen! Und dieses lieben, gütigen Gesichtes wegen! Ich will einmal – –«

Er hielt in seiner Rede inne. Er wurde unterbrochen. Sein Bruder erschien jenseits der Buche und rief, indem er sich ihm näherte:

»Still, still, Unvorsichtiger! Dein einsames Schreien und Brüllen wird uns noch beide verderben!«

»Sie waren alle da, alle!« entschuldigte sich Hariman.

»Unsinn! Niemand ist da, Niemand! Aber Einer kann kommen, jeden Augenblick. Und wenn der hört, was du dann den Bäumen erzählst, ist Alles entdeckt, was du doch sonst so sorgsam verschweigst!«

»Wen meinst du?«

»Old Shatterhand. Er ging in den Wald, und zwar genau in der Richtung, in welcher du verschwandest. Ich kenne den Dämon, der dich zwingt, so laute Reden zu halten. Darum bin ich schnell hinter dir her, um dich zu warnen. Aber ich wußte nicht, wo du warst. Es dauerte lange, bis ich dich fand. Endlich hörte ich dich schreien.«

»So ist dieses Schreien doch zu Etwas gut gewesen. Du hättest mich sonst nicht gefunden!«

»Rede doch nicht so lächerlich, sondern komm! Man wird in kurzer Zeit zum Essen rufen.«

»Ah! Die Bärentatzen?«

»Ja. Bin neugierig, ob sie ihr gelingen. Sie hat noch niemals welche gebraten.«

»Oh, die bringt alles fertig, alles, sogar Bärentatzen! Und wenn sie ihr nicht gelängen, so äße man sie doch, und sie würden schmecken, sage ich dir, schmecken. Also komm!«

Sie gingen miteinander fort. Ich beeilte mich, ihnen unbemerkt vorauszukommen, und das gelang. Als sie den Lagerplatz erreichten, saß ich dort schon an der Seite des »jungen Adlers«, und es schien, als sei ich nicht erst vor wenigen Augenblicken, sondern schon vor längerer Zeit zurückgekehrt.

Für Leser, welche gern Alles wissen, auch so nebensächliche Dinge, erkläre ich hierdurch mit größter Feierlichkeit, daß die Zensur, die ich den Bärentatzen gab, auf II a lautete. Das Herzle ist zwar meine Frau, und ich wäre also wohl verpflichtet gewesen, ihr eine »I mit Stern« zu verleihen; aber das wäre geschmeichelt und also unwahr gewesen, und hierzu gebe ich mich sogar in Küchenangelegenheiten nicht her. Hätte Klärchen die Tatzen trotz der lebhaften Mithilfe Pappermanns verdorben gehabt, so wäre es mir überhaupt nicht eingefallen, ihr eine Zensur zu erteilen, denn nach Paragraph 51 der »Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich vom 1. Februar 1877« habe ich in allen derartig heiklen Fällen als Ehemann das Recht, meine Aussage zu verweigern. Aber die Leistung war keine schlechte. Sie stand vielmehr, besonders was die beigefügten Wacholderbeeren, die Pilze und den Beifuß betrifft, so hoch über dem Niveau der Gewöhnlichkeit, daß ich unbedingt zu einer I oder gar einer Ia gegriffen hätte, wenn die Tatzen noch zwei bis drei Tage älter gewesen wären. Der Grund lag also nicht am Herzle, sondern die Tatzen selbst waren schuld. Wenn ich hierdurch zu einer IIa gezwungen wurde, so fühle ich mich stark verpflichtet, der Wahrheit gemäß hinzuzufügen, daß sich die II nur auf den Bär, das a aber nur auf meine Frau bezieht.

Nach dem Essen unternahmen wir beide, nämlich sie und ich, einen Ritt nach dem schon erwähnten Aussichtsbaum auf der Bergeshöhe. Es kam mir darauf an, eine weite Umschau zu halten. Die Squaws der Sioux hatten nach dem Nugget-tsil gewollt. Sie hätten schon lange vor uns hier eintreffen müssen, und doch war keine Spur von ihnen zu entdecken. Wir hatten überhaupt weder die Fährte noch den Stapfen eines einzigen Menschen zu sehen bekommen. Darum ritt ich jetzt nach der dominierenden Kuppe, um von dort aus Umschau zu halten.

Als wir da oben ankamen, gab es eine schöne, reine, klare, den Blick weithin tragende Luft. Ich stieg auf den Baum, so hoch mich seine Zweige trugen. Die Bergesgruppe des Nugget-tsil lag unter mir. Sie war bewaldet. Jenseits dieser Waldregion breitete sich die von mir schon früher geschilderte, spärlich bewachsene Prärie. Ich konnte sie sehen, und noch weit in sie hinein, rundum. Aber es war kein Mensch zu entdecken, auch kein Tier. Ich hatte mein Fernglas mitgenommen. Ich suchte mit ihm die ganze Gegend ab. Keine Spur eines lebenden Wesens. Wir konnten sicher sein, heut nicht gestört zu werden. Wir ritten also wieder nach unserem Lager hinab und kamen dort an, als es zu dunkeln begann.

Pappermann hatte für trockenes Feuermaterial gesorgt, welches für die ganze Nacht reichte. Er lag vor dem Zelteingang wie ein treuer. Hund, der sich verpflichtet fühlt, ihn zu bewachen. Der »junge Adler« saß in seiner Nähe. Die beiden Enters hockten am Feuer und brieten ihren Hasen. Sie testen davon später auch an uns aus, und wir weigerten uns nicht, kameradschaftlich mitzuessen. Sie kamen uns verändert vor. Sie erschienen uns unbefangener als sonst. Sie nahmen an unserm Gespräch bescheiden, aber doch in einer Weise teil, als ob gar nichts zwischen uns und ihnen liege. Wie kam das? Hatten sie jetzt ein besseres Gewissen als früher? Oder richtiger, waren ihre Absichten jetzt Weniger feindlich als vorher? Wahrscheinlich! Sogar auch in Beziehung auf Sebulon, der sich so ruhig und vernünftig benahm, als ob die heutige Schatzgräberszene vollständig aus seinem Gedächtnis verschwunden sei.

Es lag im heutigen Milieu, daß wir ausschließlich von Winnetou und seinen Apatschen sprachen. Ich erzählte einige sehr bezeichnende Episoden, die ich mit ihm erlebt hatte; Pappermann berichtete über die Art und Weise, in welcher er ihn kennengelernt hatte, und der »junge Adler« schilderte in verschiedenen Charakterzügen den tiefen Einfluß, den der Verstorbene auch noch nach seinem Tod auf die Indianer, besonders aber auf die Apatschen und die ihnen verwandten Völkerschaften äußerte. Die beiden Enters hörten nur zu. Sie sprachen nicht, kein Wort, aber man sah ihnen an, wie ganz und gar sie bei der Sache waren. Das freute mich. Sie hatten wahrscheinlich von seiten ihres Vaters und seiner Genossen soviel Feindseliges über mich und Winnetou gehört, daß es ihnen gar nichts schaden konnte, jetzt einmal etwas Besseres und Richtigeres zu erfahren. Der »junge Adler« fühlte in seiner Feinsinnigkeit, welche stillen Absichten ich während dieses Gespräches mit dem Brüderpaar verfolgte, und er ging auf diese Absichten ein, indem er mich in dem Bestreben, ihren Haß in Achtung umzuwandeln, unterstützte.

Das Abendessen brachte hierin eine nur kurze Unterbrechung. Als es vorüber war, griff Pappermann nach einer der Zigarren, von denen er sich aus Trinidad einen Vorrat mitgenommen hatte. Die beiden Enters zogen, dies sehend, ihre kurzen Pfeifen und die Tabaksbeutel aus den Taschen. Sie schauten fragend zu dem Herzle herüber und bekamen die gewünschte Erlaubnis bereitwillig zugenickt. Der »junge Adler« rauchte nicht. Er behauptete, nur bei Beratungen zu rauchen, und zwar nur aus dem Kalumet, sonst nicht. Was mich betrifft, so weiß man, daß ich sehr, sehr stark rauchte. Ich gestehe sogar ein, daß ich der stärkste von allen Rauchern war, die ich kennengelernt habe. Jetzt bin ich es nicht mehr. Es sind nun fünf Jahre her, da bat mich das Herzle, nicht mehr soviel zu rauchen. Sie meinte, ich habe meinen Lesern noch außerordentlich viel zu sagen und müsse also trachten, solange wie möglich zu leben. Da legte ich die Zigarre, die ich im Mund hatte, weg und sagte: »Das ist die letzte gewesen im Leben, ich rauche nie wieder!« Warum hätte ich meiner Frau nicht gehorchen sollen? Sie hatte doch recht! So stand ich also nun auf demselben Punkt wie der »junge Adler«: Höchstens nur noch bei indianischen Beratungen zu rauchen, und zwar aus dem Kalumet, sonst nie! Trotzdem fällt es mir nicht ein, die anregende Wirkung einer guten, verständig genossenen Zigarre oder Pfeife zu leugnen, und ebensogut ist mir sehr wohl bekannt, daß unsere alltägliche Phantasie am liebsten und wohl auch am bequemsten auf Tabakswölkchen aus der Tiefe in die Höhe steigt. Das Gedächtnis scheint geöffnet und die Seele zur Mitteilung bereitwilliger zu werden. Das beobachtete ich jetzt auch am »Jungen Adler«. Er rauchte zwar nicht selbst, aber seine Hand spielte mit den Ringeln und Ringen, die der neben ihm sitzende Pappermann seinen Lippen entgleiten ließ. Er sog den Duft von dessen Zigarre mit Behagen ein und schien hierdurch eine ganz andere Gedankenrichtung und Ausdrucksweise zu bekommen. Es ist gewiß mehr als sonderbar, daß der freie Indianer niemals zum Gewohnheitsraucher wird und doch, oder vielleicht grad deshalb, den besseren und feineren Wirkungen des Nikotins zugänglich ist. Er raucht nur in besonders wichtigen und heiligen Augenblicken.

Der »junge Adler« besaß ein reiches Innenleben; aber er war schweigsam. Heut trat er zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, ein wenig aus sich heraus, aber auch nur vorsichtig, und so nach und nach. Von sich selbst sprach er nicht, sondern ausschließlich nur von Winnetou, und ich hatte das Gefühl, daß es der Einfluß des narkotischen Duftes war, der ihm die Lippen öffnete. Das Herzle benutzte diese Gelegenheit zu einer Frage, deren Beantwortung ihr schon seit unserem kurzen Aufenthalt am Kanubisee auf dem Herzen lag. Der junge Apatsche hatte soeben von dieser unserer Begegnung mit der schönen Aschta gesprochen, da fragte meine Frau:

»Ich sah den Stern auf ihrem Gewand, und ich sehe ihn auch hier bei Euch. Was ist es mit diesem Stern? Und was ist es mit ›Winnetou‹ und ›Winnetah‹? Oder dürft Ihr es nicht sagen? Ist es ein Geheimnis?«

Er schloß für kurze Zeit die Augen. Dann öffnete er sie wieder und antwortete:

»Es ist kein Geheimnis. Jedermann darf es hören. Ja, wir wünschen sogar, daß alle Welt es erfahre und dasselbe tue wie wir. Aber soll ich grad hier davon sprechen und grad jetzt?«

Während dieser Worte berührte sein Blick die beiden Enters. Ich verstand ihn und erwiderte:

»Warum nicht? Es gibt kein Hindernis.«

»So sei es!«

Er schloß die Augen wieder und dachte nach. Dann begann er:

»Ich wollte, ich dürfte in der Sprache der Apatschen zu euch reden; denn diese Sprache bildet das Gewand, in welchem das, wovon ich spreche, mir in das Herz gestiegen ist. Die Sprache der Bleichgesichter wirft häßliche Falten um diese Gestalten meines Innern.«

Er hatte die Augen noch geschlossen gehalten. Jetzt schlug er sie auf und fuhr fort:

»Es gibt in weiter, weiter Ferne von hier ein Land mit dem Namen Dschinnistan. Nur uns, den roten Männern, ist es bekannt, den Weißen aber nicht.«

Man kann sich meine Überraschung denken, als ich diesen Namen und diese Worte aus diesem Mund hörte. Dem Herzle ging es ebenso. Sie griff rasch nach meiner Hand, als ob sie eine Stiitze brauche, um nicht schnell mit der Mitteilung herauszuplatzen, daß er sich über unsere Unwissenheit in hohem Grad irre.

»Dschinnistan?« fragte ich. »Ist dieses Wort aus der Sprache der Apatschen?«

»Nein, sondern aus einer hier vollständig unbekannten Sprache. Es sind viele, viele tausend Jahre her, da war Amerika noch mit Asien verbunden. Es gab im hohen Norden eine Brücke von dort nach hier herüber. Diese Brücke ist jetzt in einzelne Inseln zerrissen und zerfallen. Zu dieser Zeit, also vor Tausenden von Jahren, kamen große, herrliche Menschen, die körperlich und geistig wie Riesen gestaltet waren, über diese Brücke zu unsern Ahnen herüber und brachten Grüße von ihrer Herrscherin, der Königin Marimeh.«

Wieder drückte das Herzle mir heimlich die Hand. Sie fühlte ebenso wie ich, daß unsere Marah Durimeh gemeint sei. Der »junge Adler« fuhr fort:

»Ihre Boten hatten köstliche Geschenke zu überreichen. Es war ihnen verboten, Gegengeschenke zu nehmen, denn eine Gabe, die erwidert werden muß, ist kein Geschenk, sondern eine Erpressung. Die Gesandten Marimehs erzählten von dem hochgelegenen Reich Dschinnistan. In diesem gibt es nur ein einziges Gesetz, welches das ›Gesetz der Schutzengel‹ heißt. Darum wird Dschinnistan auch das ›Land der Schutzengel‹ genannt. Nämlich ein jeder Untertan dort hat im Stillen der unbekannte Schutzengel eines andern Untertanen zu sein. Wer sich entschließt, der Schutzengel seines eigenen Feindes zu sein, der gilt als Held, denn er hat sich selbst überwunden. Das gefiel unseren Urvätern, denn sie waren ebenso edel wie die Bewohner des Erdteiles Asien. Sie baten die Gesandten der Königin Marimeh, ihnen zur Einführung dieses Gesetzes hier in Amerika behilflich zu sein. Diese waren gern bereit. Sie taten, um was man sie gebeten hatte, und zogen dann wieder heim.«

»Kamen sie wieder?« fragte das Herzle.

»Dieselben nicht, aber andere. Nach jedem Menschenalter kam eine Gesandtschaft, um Geschenke zu bringen und nachzusehen, ob das Gesetz auf dieser Seite der Erde noch gelte. So vergingen mehrere Jahrtausende. Der Himmel wohnte auf Erden. Das Paradies stand weit geöffnet. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen Engel und Mensch, weil jeder Mensch ein Engel war, nämlich der Schutzengel eines andern. Da plötzlich blieb die Gesandtschaft aus, die nächste, die übernächste auch. Man erkundigte sich, man schaute nach. Die Brücke von Asien nach Amerika war eingestürzt. Nur noch die Pfeiler standen, die von einer wilden See umtobten Inseln.«

»Wenn ich mich nicht irre, stehen sie heute noch«, fiel Pappermann ein. »Ich glaube, man nennt sie die Aleuten.«

»Das stimmt«, nickte das Herzle. »Ihr seid ein guter Geograph, Mr. Pappermann!«

»Oh, das will gar nichts sagen«, lachte er. »Als ich in die Schule ging, drüben in Deutschland, da kannten wir die Aleuten und die Behringstraße besser als unsere eigenen Städte und unsere eigenen Gassen!«

»Es vergingen viele, viele Menschenalter, ohne daß sich eine Gesandtschaft sehen ließ«, fuhr der »junge Adler« fort. »Die Verbindung blieb unterbrochen.«

»Konnte man nicht versuchen, sie wieder anzuknüpfen?« fragte meine Frau.

Der Gefragte lächelte trübsinnig.

»Von unserer Seite geschah nichts hierzu«, antwortete er. »Wir waren ja Rote! Wir waren Indianer! Wir wollten glücklich und selig sein, doch ohne Mühe und Anstrengung. Das hielten wir für unser gutes Recht. Ein erkämpftes Glück war uns zu teuer. Wir glaubten, es billiger haben zu können. Wir ahnten nicht, daß der große, allweise Manitou uns prüfte, daß das Ausbleiben der Gesandtschaft von ihm verordnet war, um uns aufzurütteln und zur eigenen Tätigkeit zu spornen. Unsere Ahnen aber regten sich nicht; sie blieben sitzen. Sie hatten keinen Dank für das Gesetz von Dschinnistan. Sie hatten keine entgegenkommende Tat für Manitou, für die Königin Marimeh, für die Erhaltung ihres Paradieses, ihrer Seligkeit, ihres Glückes. Das ist die große, die unverzeihliche Sünde unserer Ahnen, deren Folgen wir zu tragen haben bis auf den heutigen Tag!«

Da stöhnte Sebulon leise:

»Die Ahnen – die Ahnen – die Väter!«

»Schweig, und störe nicht!« bat sein Bruder.

Der junge Apatsche fuhr fort:

»Dem Gesetz von Dschinnistan fehlte die bisher von Generation zu Generation bewirkte Erneuerung der Heimatkraft. Es wurde schwach; seine Wirkung ging verloren. Die Engel wurden wieder zu Menschen. Der Himmel verließ die Erde. Das Paradies verschwand. Die Liebe starb. Der Haß, der Neid, die Selbstsucht, der Hochmut begannen wieder, zu regieren. Das eine, große Reich mit dem einen, großen Gesetz fing an, zu wanken. Der einen großen Rasse, die sich an dem einen, großen Gesetz aufgerichtet und emporgebildet hatte, ging diese Stütze, dieser Pfeiler verloren. Sie fiel in sich zusammen, zwar langsam, langsam, Jahrhunderte hindurch, aber sicher. Die Herrscher wurden zu Despoten, die Patriarchen zu Tyrannen. Hatte es erst nur ein Gesetz der Liebe gegeben, so regierte nun nur noch ein Gesetz des Zwanges. Was vorher segnete, das fluchte; was vorher zusammenstrebte, das bestand jetzt darauf, sich zu meiden. Die einzig mögliche Rettung schien in der Hand der Macht, der schonungslosen Strenge zu liegen. Und sie kamen, die Bedrücker, die Zuchtmeister, die Gewaltherrscher. Sie regierten mit eisernen Fäusten, aber nur einige wenige Jahrhunderte lang. Jeder Druck, auch der Tyrannendruck, erzeugt Gegendruck, erzeugt Wärme, erzeugt innere Hitze, die nach außen und sich zu befreien strebt. Dieser Druck der nur durch Gewalt zusammengehaltenen Wasser wuchs, bis die Ufer nicht mehr widerstehen konnten. Das Gewicht der verflossenen Jahrtausende begann, zu wirken. Ich bediene mich eines geographischen Bildes zur Verdeutlichung dieser geschichtlichen Tatsache: Der obere See drängte auf den Michigansee, dieser auf den Huronensee und dieser auf den Eriesee. Von dieser ungeheuren Schwere mußten selbst Felsenufer brechen. Und sie brachen! Der Niagara bildete sich. Erst der Fluß, dann der Fall, der fürchterliche, der entsetzliche, der unaufhaltsame Fall, durch den die rote Rasse in Atome zerstäubte und noch weiter zerstäubt, wenn nicht aus der Tiefe dieses Sturzes sich ein großer, rettender Gedanke erhebt, in dem die Macht verborgen liegt, die Stäubchen, Tropfen, Wellen und Wasser zu sammeln und im zukünftigen Ontario zur Einheit zurückzubilden. Dieses Bild wird euch fremd und also nicht geläufig sein – – –«

»Es ist uns geläufig«, fiel das Herzle schnell ein. »Es hat sich auch in uns selbst, ohne Zutun Anderer, gebildet. Wir haben oft, sehr oft darüber gesprochen, daheim und auch hier im Land. Das letzte Mal am Niagara selbst, mit Athabaska und Algongka, den Häuptlingen der – – –«

»Mit Athabaska?« fuhr der »junge Adler« in froher Überraschung auf.

»Ja.«

»Und mit Algongka?«

»Auch mit ihm.«

»Zu gleicher Zeit?«

»Zur gleicher Zeit. Sie waren beisammen.«

Diese Nachricht ließ ihn von seinem Sitz aufspringen. Seine Freude war so groß, daß er gar nicht daran dachte, daß ein Indianer sich weder vom Schmerz noch von der Freude überwältigen lassen darf.

»Sie waren beisammen, beisammen!« rief er aus. »Der Eine hat die mühselige, weite Reise zu dem Andern gemacht! Dann sind beide nach dem Niagara gekommen, dem großen, erschütternden Bild unserer Vergangenheit und Gegenwart. Und dann – – dann – –. Wißt Ihr, wohin sie von dort aus wollten?«

»Nach dem Mount Winnetou.«

»Ist das wahr? Wißt Ihr das gewiß und wirklich, Mrs. Burton?«

»Gewiß und wirklich!« versicherte das Herzle, und ich bestätigte es.

Da legte er die Hände zusammen, hob den Blick empor, als ob er beten wolle, und sagte im Ton einer tief, tief innerlichen Freude:

»Nach dem Mount Winnetou! Gerettet – – gerettet – – gerettet!«

»Was ist gerettet, was?« fragte meine wißbegierige Gattin, die Klara, nicht das Klärchen.

Er zögerte mit der Antwort, gab sie aber doch, indem er sich langsam wieder niedersetzte:

»Der große Gedanke, der aus der Tiefe des Niagara sich erheben soll, ist gerettet.«

»So ist er also schon da? Ist schon gefunden?«

»Er brauchte nicht gefunden zu werden. Er ist schon längst, schon seit Jahrtausenden da. Er wurde mit in das Verderben, in den Sturz, in den Strudel des Niagara gerissen. Aber er wurde nicht zerschmettert und nicht zermahlen und nicht zermalmt wie wir, sondern grad als ihn die Wasser für immer verschlungen zu haben schienen, tauchte er rein, klar und wie ein Wunder glänzend aus ihren Wirbeln auf, um von den Nachkommen Derer erfaßt und festgehalten zu werden, die es einst der Mühe nicht für wert erachteten, ihn, den Gast aus Dschinnistan, in bleibenden Schutz zu nehmen.«

Er hatte in schöner, lieber Begeisterung gesprochen. Man sah und hörte ihm an, daß er mit seinem ganzen Denken und Fühlen bei dieser Sache war. Auch die neugierige Klara wurde wieder zum Klärchen, ja, zum Herzle, indem sie, ebenso enthusiasmiert wie er, ausrief:

»Ich weiß, was Ihr meint! Ich kenne ihn, diesen großen, rettenden Gedanken!«

»Das ist fast unmöglich«, warf er ein.

»O nein, o nein! Wir kennen diesen Gedanken wahrscheinlich schon eher, viel eher als Ihr! Ihr meint doch das Gesetz von Dschinnistan, nichts anderes: Ein jeder Mensch soll der Engel eines andern Menschen sein! Habe ich recht?«

Ein tiefes, aber frohes Staunen ging über sein Gesicht. Er rief aus:

»Wirklich, wirklich, Ihr habt mich begriffen! Wie ist das möglich, Mrs. Burton?«

»Weil wir dieses Gesetz, wie ich Euch schon sagte, ebenso kennen wie Ihr«, antwortete sie. »Und weil – – paßt auf, was ich Euch sage – – – weil wir Dschinnistan kennen und auch die Königin Marimeh, obwohl Ihr behauptet, daß nur die Roten das wissen, die Weißen aber nicht.«

Er wußte zunächst nicht, was er hierauf sagen sollte. Er sah mich fragend an.

»Sie hat recht«, bestätigte ich. »Wir wissen sogar den richtigen Namen der Königin. Sie heißt nicht Marimeh, sondern Marah Durimeh. Diese fünf Silben wurden im Laufe der Zeit von euch in drei zusammengezogen.«

»Wenn Ihr es sagt, Ihr selbst, dann muß ich es glauben«, erwiderte er. »Wie froh ich darüber bin, wie froh! Ihr kennt die Königin; ihr kennt Dschinnistan, und ihr kennt auch das große, das wunderbar einfache und doch allumfassende Gesetz dieses Landes. Da seid Ihr uns ja eine viel, viel größere und eine viel, viel wirksamere Hilfe als Athabaska und Algongka, die Ihr auch schon kennenlerntet! Wissen sie, wer Ihr seid?«

»Nein. Ich verschwieg es ihnen. Wir waren Mrs. und Mr. Burton, weiter nichts.«

Da strahlte sein sonst so ernstes Gesicht vor Vergnügen förmlich auf.

»Wie mich auch das erfreut, auch das!« sagte er. »Welch eine Überraschung, wenn man euch erkennt! Welch ein tiefer, schöner und beglückender Eindruck auf Tatellah-Satah, meinen geliebten Meister, wenn er erfährt, daß Old Shatterhand nichts Anderes will als er! Ihr wurdet gewünscht, aber doch gefürchtet, Mr. Burton!«

»Warum gefürchtet?«

»Weil Tatellah-Satah Euch äußerlicher ninmt, als Ihr seid. Weil er befürchtet, daß Ihr dem geplanten Denkmal, diesem Prunkwerk oberflächlicher und kurzsichtiger Denker, beistimmen werdet. Eure Stimme wiegt schwer; das weiß er, und das wissen wir alle. Fällt sie auf die Seite der Prahler, so erwartet uns anstatt der ersehnten Neugeburt die völlige Vernichtung. Die Seele unserer Nation, unserer Rasse ist erwacht. Sie streckt sich; sie bewegt sich. Sie beginnt zu denken. Sie will ihre Glieder als ein Einiges, als ein Zusammengehöriges, als ein großes Ganzes empfinden. Alle Einsichtigen streben nach diesem beseligenden, Stärke verheißenden Einheitsgefühl. Nun aber seht die Sioux, die Utahs, die Kiowas, die Komantschen! Sie greifen zu den Waffen, nicht gegen die Weißen, sondern gegen sich selbst, gegen ihre eigene Seele. Sie stehen bereit, diese Seele, die soeben erst im Erwachen ist, wieder niederzutreten, sie für immer zu vernichten. Warum?«

Er wollte diese seine Frage wohl selbst beantworten, aber das Herzle kam ihm schnell zuvor:

»Weil Old Surehand, Apanatschka, ihre Söhne und ihr Anhang das wahlberechtigte Nationalgefühl dieser Stämme verletzen, indem sie im Begriff stehen, dem Häuptling der Apatschen eine beispiellos überschwängliche Ehre zu erweisen, die ihm nicht gebührt.«

Da warf er einen erstaunten, ja fast erschrockenen Blick zunächst auf sie und dann auf mich. Es war, als ob er glaube, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.

»Wie sagte Mrs. Burton?« fragte er. »Sie nennt diese Ehre eine beispiellos überschwängliche?«

»Ja, das tue ich!« antwortete das Herzle.

»Und daß diese Ehre ihm nicht gebühre?«

»Auch das behaupte ich!«

»Und Ihr liebt unsern Winnetou, Mrs. Burton? Und Ihr achtet ihn?«

Er war sehr ernst geworden. Er hatte in diesem Augenblick das Aussehen, als ob sein Gesicht aus Marmor gehauen sei. Denselben Ernst zeigte auch meine Frau. Sie erwiderte:

»Ich liebe ihn, und ich achte ihn, wie außer meinem Mann keinen anderen Menschen!«

»Und doch sprecht Ihr von Ueberschwang und von Unverdienst?«

Er stand langsam wieder von seinem Sitze auf. Das Herzle tat ebenso. Das Gefühl, daß der gegenwärtige Augenblick ein hochwichtiger sei, ließ Beide nicht sitzen bleiben. Auch ich erhob mich von der Erde. Ich hatte nicht nur dieselbe Empfindung, sondern mir war sogar, als ob in diesem Augenblick eine Vorentscheidung getroffen werde, von welcher Vieles und Großes abhängig sei. Ich war dreimal älter als dieser junge Mann, aber es fiel mir trotzdem nicht ein, mich nun auch für dreimal klüger zu halten. Für mich personifizierte sich in ihm nicht nur die soeben beginnende Bewegung, die mit dem Wort »Jungindianer« bezeichnet worden war, sondern das Schicksal und die Zukunft der ganzen indianischen Rasse. Er war vier Jahre lang bei den Weißen gewesen und hatte es da, wie es schien, zu ungewöhnlichen Erfolgen gebracht. Er kannte Athabaska und Algongka. Er korrespondierte mit Wakon, dem Berühmten. Er war der Schüler und, wie ich vermutete, der Liebling von Tatellah-Satah, also der Nachfolger meines Winnetou im Herzen und in der Seele des größten Medizinmannes aller roten Nationen. Da mußte ich wohl bescheiden sein. Da hatte ich mich zu hüten, mich zu überheben. Er stand trotz seiner Jugend vollständig geistig ebenbürtig vor mir. Darum entließ ich meine Frau aus dem Gespräch und antwortete an ihrer Stelle:

»Grad weil wir ihn in dieser Weise lieben und in dieser Weise achten, darf und kann ich nicht dulden, daß man ihn mir für die Nachwelt lächerlich macht. Man baue sein Monument noch so hoch, in Wahrheit steht er noch höher! Man zeichne sein Abbild noch so schön, er selbst war tausendmal schöner! Wer ihm ein sichtbares Denkmal setzt, der erhöht ihn also nicht, sondern der zwingt ihn, herabzusteigen. Er entehrt ihn, anstatt ihn zu ehren. Winnetou war weder Gelehrter noch Künstler, weder Schlachtensieger noch König. Er besaß kein einziges öffentliches Verdienst. Wofür also ein Monument? Und wozu ein so beispiellos seltsames und kostspieliges? Ein so beispiellos schreiendes? Womit hat unser unvergleichlich edler Freund eine solche Kränkung, eine solche Beleidigung verdient? Es ist wahrlich keine Herabsetzung, wenn ich von ihm behauptete, er sei nicht Gelehrter oder Künstler, nicht Schlachtensieger oder König gewesen, denn er wahr mehr als das Alles: Er war Mensch! Er war Edelmensch! Und er war der erste Indianer, in dem die Seele seiner Rasse aus dem Todesschlaf erwachte. In ihm wurde sie neu geboren. Darum war er nur Seele und wollte nur Seele sein! Und darum hat er nur Seele zu sein und Seele zu bleiben! Weg also mit allen Monumenten! Er hat in unserem Herzen gewohnt und soll diese Wohnung behalten! Wer da glaubt, ihn uns aus dem Herzen reißen und in Metall oder Stein begraben zu können, der bekommt es mit uns zu tun! Verstanden? Er soll leben und leben bleiben, in mir, in uns, in Euch, in seinem Volke, in – – – der Seele seines Volkes, die in ihm zu neuem Bewußtsein kam, und zwar zu dem Bewußtsein, daß für eine dem Untergang geweihte Nation das große Gesetz von Dschinnistan der einzige Weg ist, sich von diesem Untergang zu retten. Er hätte sich gar wohl als Held, als Feldherr aufspielen können. Er verzichtete darauf, denn er erkannte, daß dies das Ende nur beschleunigt hätte. Er riet zum Frieden, und wohin er nur kam, da brachte und gab er nur Frieden. Er war der Engel der Seinen! Er war der Engel eines jeden Menschen, der ihm begegnete, ob Freund, ob Feind, ganz gleich! Als die Seele seines Volkes in ihm erwachte, erwachte sie notwendigerweise zum Bewußtsein jenes Engelsgesetzes, in dessen letzten Tagen sie einst eingeschlafen und hingeschwunden war. Winnetou war also der seelisch direkte Nachfolger des letzten, großen, altindianischen Herrschers, zu dem die Gesandten der Königin Marimeh kamen, um dann nicht wieder zu erscheinen. Habt ihr das begriffen, ihr, seine roten Brüder? Habt ihr begriffen, daß es keinem Volk erlaubt ist, Kind zu bleiben? – Daß ihr einst Kinder waret und nur darum dem Untergange zugetrieben wurdet, weil ihr nicht aufhören wolltet, Kinder zu sein? Habt ihr begriffen, daß ihr als Kinder eingeschlafen seid, um nun nach schweren Niagaraträumen als Männer zu erwachen? Habt ihr begriffen, daß ihr nun, wenn ihr nicht Männer werdet, für immer verloren seid? Habt ihr begriffen, was es heißt, ein Mann zu werden? Eine Persönlichkeit, die aus eigener Energie zu tun und zu handeln beliebt, ohne mit sich handeln zu lassen? Eine Persönlichkeit, die ihre Ziele kennt und nach ihnen strebt, ohne nach irgendeiner Seite abzuweichen? Habt ihr begriffen, wie es gesühnt werden muß, wenn Hunderte von kleinen und immer kleineren Indianernationen und Indianernatiönchen sich tausend Jahre lang untereinander bekämpfen und vernichten? Daß es ein millionenfacher Selbstmord war, an dem ihr zugrunde gegangen seid? Daß der Blut- und Länderdurst der Bleichgesichter nur eine Zuchtrute in der Hand des großen, weisen Manitou war, deren Schläge euch aus dem Schlaf zu wecken hatten? Daß ihr nur durch Liebe sühnen könnt, was ihr durch Haß verschuldet? Daß der Himmel eurer Ahnen verlorenging, sobald ein jeder rote Mann zum Teufel seines Bruders wurde? Und daß dieser Himmel sich nur dann wieder zur Erde neigt, wenn jeder rote Mann sich bestrebt, der Engel seiner Brüder zu sein, wie es war zu jener Zeit, in welcher Marimeh, die Königin, noch nicht gezwungen war, euch aufzugeben?«

Das war ein langer, langer Satz, den ich gesprochen hatte, fast so, als ob eine ganze Menge von Zuhörern vorhanden sei, und doch waren ihrer so wenige. Aber es stand in Winnetous Brief, daß in meinem Herzen von heute an sein Puls mit dem meinigen schlagen werde, und so kamen mir Gedanken und Worte über die Lippen, die ich sonst vielleicht zurückgehalten hätte. Der »junge Adler« stand vor mir, als ob sein Blick mir jedes einzelne Wort vom Mund nehmen wolle. Ich sah, daß er staunte und daß dieses Staunen wuchs. Kaum hatte ich das letzte Wort ausgesprochen, so erklang seine verwundene Frage:

»Sagt, Mr. Burton, waret Ihr wirklich noch nicht bei Tatellah-Satah?«

»Niemals«, antwortete ich.

»Was habt Ihr aus seiner großen Büchersammlung gelesen?«

»Nichts. Kein einziges Buch jemals gesehen, viel weniger gelesen.«

»Sonderbar, höchst sonderbar! Auch von Winnetou könnt Ihr das nicht haben!«

»Was?«

»Die Gedanken, die Ihr soeben in Worte kleidet.«

»Ein jeder Mensch hat seine eigene Gedankenwelt. Ich stehle nicht aus andern Welten. Auch die Fragen, die ich Euch vorlegte, gehören mir. Es steht Euch frei, sie zu beantworten oder nicht.«

»Ich antworte gern. Nicht nur durch das Wort, sondern auch durch die Tat. Ihr fragtet mich, ob wir begriffen haben. Vielleicht nicht Alles, aber doch wohl das meiste. Der Beweis liegt hier.«

Er deutete auf den zwölf strahligen Stern auf seiner Brust und fuhr f ort:

»Mrs. Burton wünscht zu wissen, was das zu bedeuten hat, und ich antworte: Daß wir bereit sind, die Vergangenheit zu sühnen. Daß wir nicht länger hassen, sondern lieben wollen. Daß wir aufgehört haben, die Teufel unserer Brüder zu sein, und uns bemühen, des verlorenen Paradieses würdig zu werden. Kurz, das Gesetz von Dschinnistan soll wieder bei uns gelten. Wir wollen innig verbunden sein, nicht länger auseinander streben. Wir wollen uns umschlingen, so eng, daß keine Macht dazwischen, treten, dazwischen greifen kann. Wir haben keinen Herrscher, der uns das befehlen könnte; wir befehlen es uns selbst. Von Tatellah-Satah, dem Meister, ging dieser Gedanke aus. Ich war der erste, den er zum ›Winnetou‹ ernannte. Bald wurden es zehn, dann zwanzig, fünfzig, hundert; jetzt zählen sie schon auf tausende.«

»Warum gabt ihr euch grad Winnetous Namen?« fragte das Herzle.

»Gab es irgendwo einen lieberen oder besseren? War Winnetou nicht ein Vorbild in der Erfüllung aller unserer Gebote und Verpflichtungen? Hatte er nicht alle diese Gebote erfüllt, ohne hierzu verpflichtet zu sein? Und vor allen Dingen die Hauptsache: Sind die Namen Winnetou und Old Shatterhand nicht bei der roten Nation zum Sprichwort geworden? Zum Symbol der Freundes- und der Menschenliebe, der Hilfsbereitschaft und der Aufopferung sogar bis in den Tod? Gab es jemals, so weit die Geschichte reicht, zwei aufrichtigere und treuere Freunde als diese Beiden? Wo ist das Wort, daß einer der Schutzengel des Anderen war, wohl richtiger als bei ihnen? Was wir getan haben, ist nichts Besonderes. Wir haben einen Clan, einen neuen Clan gegründet, wie es deren so viele gab und heut noch gibt bei den roten Männern. Ein jedes Mitglied verpflichtet sich, der Schutzengel eines andern Mitgliedes zu sein, das ganze Leben hindurch, bis in den Tod. Wir hätten diesen Clan also den Clan der Schutzengel heißen können, haben ihn aber den Clan Winnetou genannt, weil dies bescheidener und praktischer klang. Wir treffen damit das Richtige, und wir ehren dadurch zu gleicher Zeit das Andenken des besten und geliebtesten Häuptlings aller Zeit und aller Apatschenstämme. Aber wir wollen bei der Wahrheit bleiben. Wir wollen nicht übertreiben. Es soll dies das einzige Denkmal sein, welches ihm die rote Rasse setzt. Es gibt kein besseres und kein wahreres. Ein Denkmal von Gold oder Marmor, in Riesengröße, auf herrschender Bergeshöhe, weit über Land und Volk hinschauend, würde Lüge, würde Ueberhebung sein. Ueberhebung und Lüge von uns, nicht aber von Winnetou. Er log nie, und er war bescheiden. In dieser Wahrhaftigkeit und Bescheidenheit haben wir ihm zu gleichen. Er soll unsere Seele werden, unsere Seele sein. Dann steht er höher als der höchste Punkt der Felsenberge! Und dann ist er größer, unzähligemal größer als die Kolossalstatue, die ihm kleine Menschen jetzt errichten wollen! Es macht mich glücklich, gehört zu haben, daß Old Shatterhand derselben Meinung ist. Ich wünsche, daß Tatellah-Satah dies so bald wie möglich erfährt. Erlaubt ihr mir, es ihm durch einen Boten sagen zu lassen?«

»Sehr gern. Aber wer soll dieser Bote sein?« fragte ich.

»Keiner von uns. Ich rufe ihn.«

Er wendete sich vom Feuer ab, nach Süden, legte die Hände an den Mund und ließ die drei Silben »Win – – ne – – tou!« erschallen, nicht überlaut, aber dennoch weit hinausgetragen.

»Win – – ne – – tou!« klang es zurück.

»Ist das ein Echo?« fragte das Herzle.

»Nein«, antwortete der »junge Adler«. »Es ist ein Winnetou.«

Es war Nacht. Die Sterne leuchteten. Bei ihrem Schein sahen wir nach kurzer Zeit eine Gestalt sich unserem Feuer nähern, langsam, mit sicherem Schritt und ohne Eile. Sie trug den gleichen Lederanzug wie einst mein Winnetou. Ihr Haar war oben in einen Schopf gewunden und hing dann weit auf den Rücken herab. Waffen trug sie nicht. Sie blieb still vor uns stehen. Nun traf der Schein des Feuers ihr Gesicht. Wir sahen, daß es ein Mann im Alter von vielleicht vierzig Jahren war.

»Du bist der Beschützer des Nugget-tsil?« fragte der »junge Adler«.

»Ich bin es«, antwortete der Andere.

»Sende sofort einen Boten an Tatellah-Satah. Laß ihm sagen, daß der ›junge Adler‹ zurückgekehrt ist und seine Aufgabe löste. Laß ihm ferner sagen, daß auch Old Shatterhand gekommen ist und Winnetous Nachlaß fand. Und laß ihm endlich sagen, daß er sich im Denkmalskampf auf Old Shatterhand verlassen kann wie auf sich selbst!«

Dies wurde selbstverständlich in der Sprache der Apatschen gesagt. Hierauf machte der »junge Adler« eine Handbewegung des Grußes, worauf der Winnetou sich entfernte, ohne ein weiteres Wort zu sprechen.

»Wie seltsam!« sagte das Herzle zu mir.

»Nicht seltsam, sondern im Gegenteil sehr leicht erklärlich«, entgegnete er. »Ihr werdet bei Tatellah-Satah, also am Mount Winnetou, die Organisation unseres Clan genau kennenlernen und an ihr keine Spur von Seltsamkeit entdecken.«

»Dürfen wir nicht schon jetzt Eingehendes erfahren?« fragte sie.

»Ich bin ein Heimkehrender, also kein zuverlässiger Belehrer. Zwar stand ich auch in der Ferne mit dem Mount Winnetou im Verkehr, aber nur in Beziehung auf Hochwichtiges und Algemeines. Um Auskunft zu erteilen, bin ich jetzt selbst nicht unterrichtet genug.«

Die beiden Enters hatten sich bisher vollständig schweigsam verhalten. Es fiel uns also auf, daß Hariman sich grad in diesem Augenblick hören ließ, indem er sagte:

»Aber diese Sache ist doch unendlich interessant für mich! Darf man nicht wenigstens erfahren, ob auch Weiße Mitglieder dieses Clan Winnetou werden können?«

Der Gefragte antwortete:

»Er wurde ursprünglich nur für Indianer gegründet, doch würde es gegen seinen Grundgedanken sein, die Weißen auszuschließen. Wir wünschen, daß die Nächstenliebe, nach der wir streben, nicht nur uns, sondern die ganze Menschheit vereine.«

»Könnte man uns wohl verbieten, für uns einen besonderen Clan Winnetou zu gründen?«

»Kein Mensch besitzt das Recht zu diesem Verbote.«

»Kann ein jedes Mitglied sich das andere Mitglied wählen, welches es beschützen will?«

»Nein. Es hat seine Wünsche zu melden, und es wird ihnen, wenn es möglich ist, Rechnung getragen. Aber wenn einem Jeden die Wahl seines Schützlings freistünde, so würde es bald sehr viele Personen geben, welche zahlreiche Beschützer haben, und ebenso viele, die gar keinen Schutzengel besitzen. Jemand, den man liebt, zu beschützen, ist kein Verdienst. Aber der Engel eines Verhaßten oder gar Verachteten zu sein, das ist ein schwerer, steiler Weg zur edlen, wahren Menschlichkeit empor.«

»Und kennt man öffentlich den Beschützer und seinen Beschützer?«

»Nein. Das ist Geheimnis. Nicht einmal der Beschützte kennt seinen Beschützer.«

»Auch später nicht?«

»Doch! Nämlich nach dessen Tod. Beide werden eingeschrieben. Und jeder Beschützer trägt den Namen seines Schützlings auf der Innenseite des Sternes auf seiner Brust. Läst man nach seinem Tod diesen Stern vom Gewand los, so sieht man, wessen Engel er gewesen ist.«

» Well! Das soll man auch bei mir sehen!«

»Bei dir?« fragte sein Bruder erstaunt.

»Ja, bei mir!« antwortete Hariman in sehr bestimmtem Ton.

Da lachte Sebulon auf und fragte:

»Bist du etwa auch ein Winnetou, nämlich ein verkappter?«

»Nein, aber ich will einer werden!«

»Laß dich nicht auslachen! Meinst du, daß man dich, grad dich, als ersten Weißen zulassen würde?«

»Nein. Das bilde ich mir nicht ein. Aber ich werde trotzdem und trotzdem ein Winnetou sein. Die Sache gefällt mir; sie gefällt mir sogar außerordentlich. Ich will sie zu der meinigen machen. Und da es mir unmöglich ist, ein roter Winnetou zu werden, so werde ich ein weißer!«

»Auf welche Weise?«

»Auf die einfachste Weise, die es gibt: Ich gründe einen Clan für weiße Winnetous.«

»Wann?«

»Heut, hier, jetzt, sogleich!«

»Verrückter Kerl.«

Er machte bei diesem Ausruf eine geringschätzige wegwerfende Handbewegung. Hariman aber ließ sich nicht irremachen. Er sagte:

»Lach, wie du willst! Und spotte darüber! Ich tue es doch! Ich muß, ich muß! Und du wirst wohl auch noch müssen!«

»Ich? Müssen? Fällt mir nicht ein!«

»Ob es dir einfällt oder nicht, ist Nebensache. Mir ist es auch nicht eingefallen. Es kommt, ohne daß man es will. Und wenn es da ist, hat man zu gehorchen. Also, ich gründe jetzt einen Clan Winnetou für Weiße. Ob ich das erste und einzige Mitglied dieses Clans bin und bleibe, darauf kommt in diesem Augenblick nichts an. Und ob ich mich damit lächerlich mache, ist mir gleichgültig. Ich wünsche aber, daß wenigstens noch Einer beitritt, und dieser Eine bist du, Sebulon!«

»Darauf rechne nicht, ja nicht!« antwortete dieser.

»Ich rechne dennoch darauf, dennoch, und du wirst sehen, daß du mußt – daß du mußt! Mrs. Burton, Ihr seid eine Dame, und darum vermute ich, Ihr habt Nähzeug mit?«

»Allerdings«, antwortete das Herzle.

»Ich bitte um eine Nähnadel und um einen Faden guten, schwarzen Zwirn! Auch um eine Schere!«

»Das sollt Ihr haben«, sagte sie und ging nach dem Zelt, um das Gewünschte zu holen.

»Und Ihr, Mr. Burton, seid Schriftsteller«, wendete er sich an mich. »Ihr habt also wahrscheinlich Tinte und Feder, sogar hier, so tief im Westen?«

»Ein Reiseschreibzeug ist da«, erklärte ich.

»So bitte, gebt mir eine Feder und einige Tropfen Tinte! Papier habe ich selbst.«

»Meine Frau wird Beides mitbringen.«

»Was willst du mit Tinte und Feder?« fragte Sebulon.

»Den Namen der Person aufschreiben, die ich beschützen will.«

»Wahnsinn, wirklich Wahnsinn! Darf ich nicht wenigstens wissen, wer diese Person ist?«

»Nein! Kein Mensch soll es wissen! Du am allerwenigsten!«

Nachdem das Herzle die gewünschten Gegenstände gebracht hatte, schnitt Hariman aus dem Fell des heut verzehrten Hasen einen kleinen, zwölfstrahligen Stern heraus, von dem er mit Hilfe seines scharfen Messers die Haare schabte. Dann schnitt er sich ein Stückchen Papier zurecht und schrieb, es auf sein Knie legend, in langsamen, sorgfältigen Zügen den betreffenden Namen darauf. Hierauf bezeichnete er die betreffende Stelle auf der Brust seines Rockes, zog ihn aus und schickte sich an, den Stern dort festzunähen. Sebulon folgte jeder dieser seiner Bewegungen mit mehr als gespannten Blicken. Auf seinem Gesicht wechselte der Ausdruck des Spottes mit dem eines tiefen, ängstlichen Interesses. Hariman hatte kein Geschick zum Nähen. Schon nach den ersten Stichen trennte er sie wieder auf. Das wiederholte sich. Er wurde ungeduldig.

»Es ist, als ob es nicht sein sollte; ich tue es aber doch!« zürnte er.

Da fragte meine Frau:

»Wollt Ihr nicht mir erlauben, den Stern festzunähen? Ich bringe das wohl leichter und schneller fertig.«

»Wollt Ihr wirklich, Mrs. Burton? Wie lieb Ihr seid, wie lieb! Ja, da habt Ihr den Rock, den Stern, das zusammengeschlagene Papier, welches unter den Stern zu liegen kommt, die Schere, die Nadel und Alles! Aber bitte, schlagt das Papier ja nicht etwa auf, um es zu lesen!«

Sie legte das Papier an die bezeichnete Stelle des Rockes, den Stern darauf und begann, die Arbeit in sehr sorgfältiger Weise auszufahren. Zwölf Strahlen erforderten viele, viele Stiche.

»So große Mühe hätte ich mir nun freilich nicht gegeben!« gestand Hariman. Und nach einer Weile fügte er, wie zu sich selbst sprechend, hinzu: »Es ist doch eigentümlich, ganz, ganz eigentümlich mit dieser Sache! Als ich den Namen schrieb, war es mir, als unterschriebe ich mein Todesurteil. Und doch war es mir so leicht und so wohl dabei!«

Auch Sebulon paßte auf. Er verwandte fast keinen Blick von meiner Frau. Aber seine Aufmerksamkeit hing mehr an ihrem Gesicht als an ihrer arbeitenden Hand. Zuweilen schloß er die Augen, als ob ihm etwas darin wehe tue. Und – – was war denn das? – – ich sah einen Tropfen von seiner Stirn rinnen, und noch einen und wieder einen! Schwitzte er? Seine Hände zuckten nach dem Hasenfelle. Er schien nicht zu wollen, ergriff es aber doch. Dann nahm er die Schere und schnitt, ganz wie vorhin sein Bruder, einen zwölfstrahligen Stern daraus. Das geschah so zögernd, so widerwillig, fast wie im Traum. Dann schabte er die Haare herunter, schob dem Herzle den Stern zagend hin und ersuchte sie:

»Bitte, Mrs. Burton, mir dann auch!«

»Annähen?« fragte sie.

»Annähen«, nickte er.

»Mit einem Papier?«

»-ja, mit einem Papier und dem Namen. Den schreibe ich jetzt.«

»Also doch! Habe ich es nicht gesagt?« rief Hariman aus.

»Schweig!« fuhr sein Bruder ihn an. »Ich tue es nicht, weil du es wolltest, sondern weil ich es will! Ich kann auch beschützen! Verstanden?«

»Aber wen?« fragte Hariman.

»Das ist mein Geheimnis! Hast du mir etwa den von dir geschriebenen Namen gesagt? So erfährst also auch du den nicht, den ich schreiben werde!«

Er griff zu Feder und Papier und schrieb. Es handelte sich nur um einen kurzen Namen, also um eine Arbeit von wenigen Silben; aber er brachte doch längere Zeit damit zu. Er unterbrach sich mehrere Male. Er holte tief, tief Atem. Endlich war er fertig, ließ die Schrift trocken werden, legte das Papierchen dann mehrfach zusammen und schob es dem Herzle hin.

Was die Brüder da taten, das war eigentlich ganz und gar nichts Außergewöhnliches. Wohl mancher an meiner Stelle hätte es als Kinderei, als Spielerei bezeichnet. Und doch wäre es mir vollständig unmöglich gewesen, darüber zu lächeln. Ich hatte das Gefühl, als ob dabei ein innerer Zwang vorhanden sei, dem weder der Eine noch der Anderere widerstehen konnte.

Als das Herzle mit der Arbeit fertig war, zogen die Brüder ihre Röcke wieder an. Sie betrachteten einander, erst ernst, fast feindselig, dann freundlicher und immer freundlicher. Endlich lachte Hariman; Sebulon aber lächelte nur.

»Weißt du nun, was du bist?« fragte der Erstere.

»Ein Winnetou«, antwortete der Letztere.

»Ja. Aber weißt du auch, was das bedeutet?«

»Daß ich der Engel eines Andern bin, den ich zu beschützen habe.«

»O, nicht nur das! Das meine ich überhaupt gar nicht, denn das versteht sich ganz von selbst. Sondern du führst jetzt den Namen dessen, den wir gehaßt haben, wie man eigentlich keinen Menschen haßt, sondern nur Bestien und Teufel!«

»Du doch ebenso!«

»Freilich wohl! Aber hast du dir überlegt, daß es nun mit diesem Haß zu Ende ist? Zu Ende sein muß – muß?«

»Nichts, gar nichts habe ich mir überlegt!« brauste Sebulon auf. »Ich tue das, was ich will! Das überlegen bringt nur fremden Willen. Ich bin ein Winnetou geworden, und – – –«

»Nein, Ihr seid keiner geworden«, fiel der »junge Adler« ein. Es war das erste Mal, daß er freiwillig zu Sebulon sprach.

»Nicht?« fragte dieser. »Fehlt etwa noch etwas daran?«

»Ja.«

»Was?«

»Der Schwur.«

»Der Schwur? Man hat zu schwören? Etwas zu beeiden? Was?«

»Daß man seiner Schutzengelpflicht getreu sein will bis in den Tod. Die roten Männer brauchen keinen Schwur. Bei ihnen genagt der Handschlag, denn er ist ihnen ebenso heilig wie der Eid.«

»Uns auch!« rief Hariman.

»Ja, uns auch!« rief Sebulon.

»So steht auf!« gebot er ihnen.

Sie taten es. Auch er erhob sich von seinem Sitz. In diesem Augenblick warf Pappermann ein großes, harziges Holzstück in das Feuer. Die Flamme loderte auf. Sie züngelte nach allen Richtungen. Da schien sich der Wald mit geistergleichen Wesen zu beleben. Die nächtlichen Schatten der Bäume und Sträucher bewegten sich. Sie huschten hin und her. Sie sprangen empor und sanken zu Boden.

»Reicht euch die Hände!« befahl der junge Indianer.

Sie gehorchten. Da trat er ganz zu ihnen heran, legte seine Hand auf die ihrigen und forderte sie auf:

»Sprecht mir die Worte nach: ›Unsern Schützlingen treu bis in den Tod!‹«,

»Unsern Schützlingen treu bis in den Tod!« erklang es vereint aus ihrem Munde.

»Dieses Wort ist unser Schwur! Sprecht das nach!«

»Dieses Wort ist unser Schwur!« fügten sie hinzu.

»So! Nun erst könnt ihr behaupten, Winnetou geworden zu sein. Denn nicht der Stern tut es, sondern der Wille. Und diesen Willen habt ihr kundgegeben. Des bin ich Zeuge. Gebt auch mir, dem Zeugen, eure Hände!«

»Hier ist die meine«, sagte Hariman, indem er sie ihm gab.

»Und hier die meine«, sprach Sebulon.

Der junge Apatsche ergriff beide, die eine mit seiner Rechten, die andere mit seiner Linken und fragte.

»Seid ihr euch der Wichtigkeit dieses Augenblicks bewußt?«

Keiner antwortete. Da fuhr er fort.

»Was ihr nicht wißt, weiß Manitou, und was ihr nicht könnt, kann er. Wer Andere beschützt, beschützt sich selbst. Indem ihr euch vorgenommen habt, die Engel eurer Schützlinge zu sein, sind in Wirklichkeit sie eure Engel geworden. Bleibt euch und ihnen treu! Das ist der einzige Dank, den sie von euch verlangen!« – – –


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