Karl May
Und Friede auf Erden!
Karl May

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wahnsinn

Am nächsten Morgen war, als ich erwachte, mein erster Gedanke natürlich Waller. Den Andern erging es ebenso. Ich meine den Governor, Raffley und den Priester. Sie saßen, als ich zu John hinüberkam, schon längere Zeit bei ihm, um auf mich zu warten, weil ausgemacht worden war, das Frühstuck gemeinschaftlich einzunehmen. Sejjid Omar wurde beauftragt, es uns zu bringen. Er war sehr stolz darauf, zeigen zu können, daß er nicht nur ausschließlich zu meiner Bedienung ausreiche, sondern auch noch eine ganze Menge anderer Personen mit einem Male zu speisen und zu tränken vermöge. Und er tat dies in einer so fürsorglichen und tief eingehenden Weise, daß wir ihn bitten mußten, doch auch uns etwas dabei tun zu lassen, sonst hätte er uns in seinem Uebereifer den Honig auf den Schinken gestrichen und den hier gebräuchlichen Arrak in die Milch gegossen. Er war also genötigt, sich zurückzuziehen, warf uns aber dabei einen so bedauernden Blick zu, als ob er überzeugt sei, daß nun unsererseits von einem wahren Genusse keine Rede sein könne.

Selbstverständlich machte es uns die Anwesenheit des Malaien unmöglich, über das gestrige Ereignis in der Weise zu sprechen, wie wir es ohne ihn getan hatten. Er selbst erwähnte kein Wort davon, und so konnte auch das, was wir sagten, nur in kurzen, meist einsilbigen Aeußerungen bestehen, durch welche wir zwar unsere Gefühle, aber nicht unsere weiterfragenden Gedanken dokumentierten. Er mußte heut schon wieder fort und sagte uns, daß er gleich nach dem Frühstücke zu dem holländischen Mijnheer gehen werde, um sich für die genossene Gastfreundschaft zu bedanken.

Wir waren noch nicht fertig, so erschien zu unserer Genugtuung Tsi. Er hatte noch nichts genossen, erklärte aber, höchstens ein kleines Brötchen nehmen zu können, weil es ihm ganz unmöglich sei, jetzt an sich selbst zu denken. Er war nur gekommen, um uns in Beziehung auf Waller so viel, wie die Umstände erlaubten, zu beruhigen.

»Er lebt,« sagte er. »Das heißt, der Körper ist nicht tot. Puls und Atmung sind vorhanden, wenn auch nur sehr schwach. Er liegt noch genau so, wie wir ihn gestern abend hingelegt haben. Sein Inneres aber, also das, was Ihr als Geist und Seele bezeichnet, hat sich noch nicht wieder geregt. Hier liegt der Fragepunkt, wenn nicht für jetzt, so doch für später. Denn die gestrige Katastrophe war keine leibliche, sondern eine geistige. Nicht sein Körper brach unter ihr zusammen, denn diesem gebrach es schon vorher an aller Kraft, sondern etwas ganz Anderes, was, wie ich hoffe, sich niemals wieder erheben wird. Dennoch habe ich es zunächst nur mit dem äußeren Leben zu tun. Es ihm zu erhalten muß für heut und die nächsten Tage mein ganz ausschließliches Bestreben sein. Ich darf ihn nicht verlassen, und es macht mir ein böses Gewissen, daß ich ihn schon drei Minuten aus dem Auge gelassen habe, indem ich hier bei Euch sitze. Miß Mary ist gefaßt. Sie bereut ihre gestrige Regung keinesfalls. Sie würde auch heut und allezeit und genau wieder so um den Segen bitten, selbst wenn ihr Vater in voller Rüstigkeit dabeistände. Das hat sie mir gesagt, um mich und Euch, wahrscheinlich auch sich selbst zu beruhigen. Sie beauftragte mich, ihr Eure Verzeihung zu bringen, daß sie von ihrer Pflicht verhindert wird, Euch heut persönlich zu sehen, und ich schließe mich auch in Beziehung auf mich diesem Wunsche an, weil meine ärztliche Pflicht jedenfalls nicht geringer als diejenige der Tochter ist!«

»Aerztliche Pflicht und Kindespflicht!« meinte da der Governor. »Ich meine, es gibt noch eine dritte, die sich wohl auch mit beizugesellen hat, nämlich die Menschenpflicht, oder, nennen wir sie hier in diesem Falle die Freundespflicht! Wir können zwar weder mit dem Arzte medizinieren, noch dem Patienten die liebevolle Aufmerksamkeit der Tochter ersetzen. Aber Ihr erlaubt es uns vielleicht, mit zu wachen, abwechselnd für die Nacht. Und außerdem versteht es sich ganz von selbst, daß wir Euch drei Leuten auch in jeder anderen Hinsicht zur Verfügung stehen und zur Verfügung bleiben. Ich verspreche Euch, daß wir Kota Radscha nicht eher verlassen werden, als bis wir Waller mitnehmen können, hoffentlich nicht tot, sondern geheilt!«

»Versprecht noch nichts, Mylord!« antwortete der Chinese. »Es ist nämlich möglich, daß ich Euch sogar bitte, diesen Ort ohne ihn zu verlassen, wenn auch nur für einige Zeit. Es handelt sich zunächst nur um Leben oder Tod im allgemeinen. Dabei könnt Ihr alle gar nichts tun, als höchstens ruhig warten. Bleibt ihm das Leben erhalten, so vermute ich, daß ein wochenlanges, körperliches Stilliegen folgt, während dessen seine Psyche sich wieder einzustellen und zu entwickeln hat. Dann könntet ihr Euch wohl beteiligen, an seinem Lager zu wachen. Für die vorhergehende Zeit aber muß ich ein solches Opfer als überflüssig erklären, wahrscheinlich sogar als bedrückend für die Tochter, wie ich Euch in aller Aufrichtigkeit sage. Der Gedanke, Euch ihret- oder ihres Vaters wegen so ganz untätig hier in Kota Radscha zu wissen, müßte sie beunruhigen, ihr peinlich werden. Darum bitte ich, zu überlegen, ob es nicht vielleicht einen Ausweg gibt, dies zu vermeiden!«

Da drückte ihm der Uncle die Hand und sagte:

»Da habt Ihr zwar sehr aufrichtig, aber auch sehr vernünftig gesprochen, junger Mann! Wir werden also überlegen. Vielleicht machen wir einen Ausflug nach irgendwo in der Nähe von Sumatra, denn in dem Lande selbst herumsteigen, das halte ich nicht für passabel. Aber keineswegs eher, als bis es sich entschieden hat, ob Waller stirbt oder nicht.«

»Das hoffe ich, Euch schon morgen, spätestens übermorgen sagen zu können.«

Er stand auf, um zu gehen, wendete sich aber, ehe er es tat, noch an den Malaien, zwar in englischer Sprache, um nicht unhöflich gegen uns zu sein, aber doch in der brüderlichen Weise, wie die »Shen« es ihm gebot:

»Und du, mein Freund? Für welche Zeit ist dein Aufenthalt hier berechnet?«

»Für nur noch eine Stunde,« antwortete der Gefragte, indem er sich auch erhob. »Meine Sendung ist erfüllt. Ich kehre nach meinem entlegenen Kampong zurück, entlegen von der Welt, doch nicht vom Menschentum. Ich tat nur meine Pflicht; gerne aber täte ich noch mehr. Was aber könnte das sein? Ich bin arm. Ich habe nichts, als himmelwärts mein Gebet und erdenwärts meinen Segen. Den Segen gab ich schon. Wohlan, so sag ihnen beiden, dem Vater ebenso wie der Tochter, daß ich auch für sie beten werde, so oft ich ihrer gedenke. Wir werden einen neuen Tempel bauen, und mein Fuß wird der erste sein, der ihn betritt, in stiller Einsamkeit, begleitet von keinem andern. In früher Morgenstunde, wenn die Finsternis der Nacht versinkt und das Licht des Tages steigt. Wenn ich dann denke, daß auch ein anderes Dunkel zu verschwinden und eine Klarheit zu erscheinen habe, werde ich meine Knie beugen, um zu beten für den Mann, der uns den alten Tempel zerstörte, weil er nicht wußte, daß Himmelsgedanken niemals vernichtet werden können, sondern aus der vermeintlichen Unterdrückung nur um so reiner und um so höher emporzustreben haben. Grüße mir sie, und grüße mir auch ihn, sobald er zu neuem Leben erwacht! Möge es seinem Herzen diejenige Güte bringen, welche nie vergißt, daß andere Menschen auch nicht ohne Herz und auch nicht ohne Empfindung sind für das, was man ihnen tut!«

Er ging hinaus, und Tsi schloß sich ihm an, denn sie hatten wohl noch miteinander zu sprechen. Da schlug der Governor mit der Hand auf den Tisch und sagte:

»Das, das ist der Schluß, ja, der Schluß, wie er gar nicht anders kommen konnte, wenigstens für mich! Zu dem Araber und dem Chinesen nun auch noch der vorhergesagte Dritte, der Malaie! Nun muß ich allerdings erklären, daß ich mich zu schämen habe, vor ganz Asien zu schämen habe! Ich fühle mich vor den großen, erhabenen herrlichen Gestalten der Nächstenliebe und Menschheitsethik, welche Christus lehrte, als vollständig heruntergekommene Persönlichkeit! Ich setzte nicht die Menschheit und die Menschlichkeit, sondern mich selbst obenan. Nicht ich wollte ihr dienen, sondern sie hatte mir alle möglichen Ehren zu erweisen, vor mir im Staube zu kriechen und für die Erfüllung meiner unvernünftigen, maßlos selbstsüchtigen Wünsche zu sorgen. Ich wollte sie, die Unzählbare, zwingen, das für absolut wahr zu halten, was ich, der törichte Einzelne, ihr vorzudeklamieren wagte. Ich verbot ihr, anders zu denken, zu fühlen und zu tun als ich. Ich dünkte mich, das Muster, das Vorbild zu sein, dem sie in allen Dingen, irdischen und überirdischen, nachzustreben habe. Kurz, ich gebärdete mich als Summa aller vorhandenen Klugheit und Gerechtigkeit und rasselte sofort mit Säbeln, Flinten und Kanonen, wenn irgend ein Anderer die Kühnheit besaß, mir zu sagen, daß ich verpflichtet sei, auch seine Menschenrechte anzuerkennen! Das habe ich nun sechzig Jahre lang getrieben und mich von Niemand irremachen lassen. Kein Kaiser und kein König hätte mich überzeugen können, daß ich Unrecht habe. Da kommt ein arabischer Eseltreiber und entwickelt sich vor meinen Augen zum lebenden Vorwurf seiner ganzen Rasse. Ich kann den stolz auf mich gerichteten, vorwurfsvoll fragenden Blick dieses Mannes nicht aushalten, muß ihm ausweichen, mich mit dem meinigen verkriechen! Zu ihm gesellt sich ein Chinese, ein zopfiger Kerl, von dem ich glaubte, ihn nicht einmal erreichen zu können. Aber schon nach wenigen Stunden stellt sich heraus, daß er mir über ist, in allen Dingen über, ganz besonders aber in Hinsicht auf die Höflichkeit und Rücksichtsnahme, die wir allen Menschen schuldig sind. Er schlägt mich Wort für Wort und Tat für Tat, und zwar ganz unbegreiflicher Weise so, daß ich ihn nicht etwa dafür hassen, sondern liebgewinnen muß und obendrein ihm auch noch dankbar bin! Dieser Tsi ist doch, fast möchte ich sagen, das Ideal von einem Menschen! Was mag da erst sein Vater für eine Persönlichkeit sein, sein Vater, der jedenfalls noch reiner Abgeklärte, der einer der hervorragendsten Leiter der »Shen« zu sein scheint!«

Er machte eine Pause, um einen Schluck Wasser zu nehmen und dann fortzufahren. Da sagte Raffley:

»Ihr seid mit Euren Bekenntnissen noch nicht fertig, dear Uncle. Ich weiß, Ihr wollt den Malaien auch noch bringen. Aber bitte, quält Euch nicht weiter, und denkt auch daran, daß Ihr nicht der Einzige seid, den Eure Anklagen treffen!«

»Was! Ihr meint, daß ich mich schonen soll? Oder etwa gar die Anderen? Jawohl, einen Araber und einen Chinesen läßt man sich noch gefallen! Denn die Araber haben doch wenigstens in Wissenschaft et cetera einst mitgemacht, und von den Chinesen wissen wir sogar noch mehr, als bloß nur das. Aber wenn ich nun gar auch noch einen Malaien bringe, der besser war und edler dachte als wir, da schüttelt man nicht etwa nur die Köpfe, sondern man lacht mir laut in das Gesicht! Doch sagt erstens einmal, Charley, sind die Malaien denn wirklich so ganz bildungslose Barbaren, wie man bei uns daheim behauptet und in den Schulen lehrt?«

»Keineswegs, Sir,« antwortete ich. »Von den malaischen Büchern, die ich selbst besitze, will ich gar nicht sprechen. Aber die Literatur dieser Rasse ist eine sehr selbständige und vielseitige. Es gibt ganz ausgezeichnete Schriften in den Sprachen, welche wir als Tagala, Pampanga, Iloco, Vicol, Ibanak, Visaya, Favorlang, Atschin, Battak, Lampong, Dayak, Java, Sunda, Alfurisch, Makassarisch und Malagasi bezeichnen. Ich könnte sogar noch mehr nennen. Von diesen Werken will ich nur einige erwähnen. Die große Kunstdichtung Bidasari, die fünf Pandawa, Ken-Tambuhan, Indra Laksana, Kalila und Dimnah, Panschatantra, Ardjuna-Sasrabahu, Bharata yuddha, Wiwaha, die kosmogonische Manik-Maya, Padjadjaran, Kartasura, Mataram, Demak, Tana, Djawi, Giranti, Adji, Saka, Damar Wulan, Djaja lenkara, Menak, Radja, Pirangon, Pandji, Lampahlampahannipun – – –«

»Haltet ein, haltet ein, Charley!« rief bei diesem langen Worte der Governor aus. »Ich habe genug gehört, mehr als genug, um nun zu wissen, wie sehr ich mich in diesen Malaien irrte, die ich bisher für geradezu dumm, für bildungsunfähig gehalten habe!«

»Dumm?« fragte ich. »Ich sage Euch, daß sie sogar Bücher über die "Seerechte" besitzen, welche bis achthundert Jahre zurück in die Vergangenheit greifen! Das ist eine rechtliche, eine juridisch geschichtliche Materie, also Prosa. Was die Kunstleistung, also die Poesie betrifft, so steht sie hinter der Prosa keineswegs zurück. Es gibt da berühmte Werke, welche sogar in abendländische Sprachen übersetzt worden sind. Eigentümlich ist, welche Worte der Malaie für Prosa und Poesie besitzt. Im Umgang unterscheidet er sehr streng zwischen der "vertraulichen" und der "höflichen" Rede. Die vertrauliche oder "duzende" heißt Ngoko und die höfliche Krama. Die Prosa ist Ngoko und die Poesie Krama. Nur bei den erzählenden oder beschreibenden Stellen darf die Poesie sich der ,duzenden' Redeweise bedienen.«

»Sonderbar! Mir kommt das so allerliebst, so kindlich naiv, so natürlich vor! Im Gegensatz zu unsern tausend Regeln, welche die Pedanten den Dichtern wie Daumenschrauben anlegen, sobald einer der Letzteren die Feder in die Hand genommen hat! Und das ist das zweite, was ich meinte, als ich vorhin "erstens" sagte: Nämlich die Malaien haben also auch ihre Literatur, ihre Wissenschaft, ihre Kunst und Poesie. Aber selbst, wenn sie das nicht hätten, würde ich doch fragen, ob dieser Mangel sie unbedingt hindern müßte, edel zu denken und edel zu handeln! Ist etwa jeder "Gebildete" ein edler und jeder "Ungebildete" ein unedler Mensch? Ich meine, das, was wir edel nennen, wächst weniger aus dem Wust von Kenntnissen als vielmehr aus der Einfachheit des Herzens heraus. Wenn das nicht falsch ist, so kann der malajische Sundainsulaner wenigstens ebenso leicht ein guter, wohlmeinender Mensch sein wie der hochgelehrte Misanthrop in London, Paris, Berlin oder Wien, der sich von der wahren, kindlich einfachen Menschlichkeit so unendlich weit fortgedüftelt hat, daß sie für ihn überhaupt nicht mehr vorhanden ist. Ich war gar nicht allzuweit davon entfernt, auch so ein "Mis- – –" zu werden, glücklicherweise aber hat mich das "Ich bin Sejjid Omar!" des Arabers beim Arm gepackt und wieder nach der richtigen Seite herumgezogen! Sagt, wie wird die Krankheit Wallers genannt? War es nicht Dysenterie?«

»Ja,« nickte Raffley.

»Well! Ich litt auch daran, wenn auch nicht mein äußerer, so doch mein anderer Körper, der eigentliche Mensch in mir! Den hatte man vernachlässigt, ihn mit unreifem, aber wohl überzuckertem Obst gefüttert und ihm dadurch die Kraft genommen, den Erregern dieser Krankheit zu widerstehen. Ich trat in das öffentliche Leben und stieg von Stufe zu Stufe. Bei jedem Schritt empor, stieß ich die Menschheit hundert Schritte tiefer. Warum? Die "Shen" in mir war krank! Sie litt immer mehr und mehr, bis sie sich nicht mehr regte. Schließlich war ich nur noch ich, Oberhaupt meiner Familie, Engländer und Kaukasier, nebenbei auch Christ, weiter aber nichts! Alles Uebrige war der Dysenterie verfallen. Nachdem ich das Uebel erkannt habe, meine ich, daß es ungeheuer ansteckend ist. Ich habe, ohne es zu wissen, inmitten einer großen, entsetzlichen Epidemie gelebt. Der Ansteckungsstoff heißt Vorurteil; der Heidenpriester hatte recht! Kinder, mir wird angst! Suchen wir nach einem Mittel, ihr entgegenzutreten, damit sie wenigstens nicht weiter um sich greife! Wißt Ihr, was ich tue? Ich gehe Ko-su holen! Indem ich den verachteten Chinesen bediene und unterstütze, finde ich zugleich das heilende Ko-su für mich selbst!«

Er ging hinaus. Raffley sah ihm gerührt und mit liebevollen Augen nach.

»Nur noch eine kleine Schar so prächtiger Menschen!« sagt er. »So begeistert, so impulsiv, so aufrichtig, so opferfähig und in ähnlicher Lebensstellung wie er, dann würden dieser häßlichen Epidemie bald engere Grenzen gezogen werden! Aber wie Vielen sind diese hohen Gaben verliehen? Und wer sie besitzt, dem hängt sich jenes Vorurteil der Uebrigen an beide Hände und Füße! Sklaven, Sklaven, Sklaven!«

Bei diesen Worten stand er auf und ging im Zimmer hin und her. Auch ich verließ meinen Sitz und trat an die Fenstertür. Da sah ich die malajische Sänfte draußen stehen und die zu ihr gehörigen Leute. Zu gleicher Zeit klopfte es bei uns an, und der Priester kam herein, um sich von uns zu verabschieden. Er hatte den Mijnheer nicht sprechen können, da er nicht zu Hause sei. Darum versprachen wir, den Dank gewissenhaft auszurichten. Er reichte zunächst mir die Hand. Wie kam es doch, daß ich sie an meine Lippen zog? Dann wendete er sich zu John und sagte:

»Ich gehe fort; Ihr aber bleibt. Noch einige Zeit, so werdet Ihr es sein, der fortgeht, während dann ich zu bleiben habe. So geht der Bleibende, und so bleibt der Gehende, denn es Bibt keine – – Zeit! Ob du oder ich, ob hier oder dort, das ist kein Unterschied, denn es gibt auch keinen – – Ort! Dies aber nur dann, wenn wir Alle, die wir Menschen sind, der Liebe angehören, die Zeit und Raum umfaßt im Kreis der ganzen Erde. So fragte ich also nicht, ob wir uns wiedersehen werden. Des Leibes Auge erfaßt nur das, was in der Nähe liegt; für das Weitere ist es blind. Jene Liebe aber leiht uns ihren Blick für die Unendlichkeiten. Dann sieht die "Shen", was sonst verborgen liegt. Ich werde Eurer harren. Und steigt in meines Lebens Abendröte von Westen her ein lieber Gruß empor, umsäumt vom goldenen Lichte dessen, was ich wünsche, so ist es kein Abschied gewesen, den wir jetzt hier nehmen, sondern Ihr seid bei mir geblieben in Eurer Liebe, wie ich Euch begleitet habe mit der meinigen. Vergeßt nicht diese meine Worte, und laßt den Gruß mir steigen! Ich möchte ihn so gern noch sehen, bevor mein Abendrot zur Morgenröte wird!«

Er nahm Raffleys rechte Hand in seine linke, legte ihm die Hand auf das Haupt und schaute ihn mit einem unbeschreiblichen Blicke tief, tief in die Augen. Dann wendete er sich ab und ging hinaus, gleich durch die Fenstertür, die ich ihm öffnete.

Da kam von der anderen Seite mein Sejjid Omar. Er hatte erfahren, daß die Malaien fort wollten, und war zum Händler geeilt. Nun brachte er sein ganzes, hoch aufgerafftes Oberkleid voll Früchte, die er unter sie verteilte. Er, der früher so strenge Moslem, der keinen Heiden auch nur anrühren wollte, hatte sie liebgewonnen und wollte ihnen dies durch seine Gabe zeigen. Sie waren hierüber so erfreut, daß sie ihm ihren Dank in fröhlicher Weise brachten. Nämlich sie faßten ihn, schoben ihn mitsamt seinen Früchten in die Sänfte, trugen ihn unter Absingen eines malajischen Liedes dreimal rundum und dann im Triumph zum Tore hinaus.

Der Priester folgte ihnen langsamen Schrittes, ohne sich noch einmal umzuschauen. Er ging ja doch nicht fort, denn sein Segen blieb zurück!

»Kommt, Charley!« sagte John. »Im Zimmer zu bleiben, das ist mir jetzt unmöglich. Wir wollen gehen, um zu sehen, ob wir den Uncle finden.«

Wir machten einen stundenlangen Spaziergang, entdeckten aber den Governor nirgends in der Nähe. Als wir heimkamen, war er noch nicht da. Wir wollten Sejjid Omar nach ihm fragen; aber auch dieser fehlte. Er war seit seinem Triumphzuge nicht in den Kratong zurückgekehrt. Das brachte uns auf die richtige Spur. Wir gingen vor die Festung hinaus und fragten den Posten, der an dem Punkte der Außenlinie stand, wo die Malaien vorübergemußt hatten. Richtig! Der Uncle war hierhergekommen und hatte da auf sie gewartet. Man hatte die Sänfte niedergestellt, um Omar aussteigen und seine Früchte verteilen zu lassen. Dann war man weitergegangen, der Araber mit den Malaien und hinterdrein der Governor mit dem Priester. Wir beschlossen, ihnen zu folgen.

Nachdem wir ungefähr eine halbe Stunde gegangen waren, sahen wir die beiden Vermißten kommen. Omar hatte sein weites, faltenreiches Oberkleid ausgezogen und etwas hineingewickelt, was er auf dem Rücken trug, einen großen, runden Pack. Der Uncle lachte uns schon von weitem vergnügt entgegen.

»Sorge gehabt um mich?« fragte er, als er uns erreichte. »Bin immer unentbehrlich; das weiß ich ja!«

»Richtig! Ungeheure Angst um Dich!« stimmte ihm der Neffe scherzend bei. »Aber da fällt mir jetzt nachträglich ein, daß der Priester gar nicht nach Dir fragte, als er sich von uns verabschiedete. Wußte er, daß Du ein Stück mit ihm gehen würdest?«

»Nein. Als ich von Euch fortging, traf ich ihn, grad als er von dem Mijnheer kam, der aber nicht daheim gewesen war. Da nahm er Abschied von mir und ging dann zu Euch. Habt die Güte und lacht mich nicht aus, wenn ich Euch später einmal aufrichtig gestehe, daß – – daß – – nun, daß ich ihn in meine Arme genommen und geküßt habe, fast wie einen Bruder! Dabei sah ich, daß seine Augen naß wurden, und das, das kann ich nicht ersehen; das geht mir in das Herz! Da lief ich fort, spornstreichs fort, hinaus, den Weg entlang, den er dann gehen mußte, und wartete auf ihn. Da kamen sie. Sie brachten hier diesen Muhammedaner getragen, der aber ein Heide geworden zu sein scheint, denn wenn er seinen Sihdi nicht hier hätte, so wäre er mit ihnen in alle Berge gelaufen und niemals wiedergekommen. Der Priester freute sich, mich noch einmal zu sehen. Wir haben uns bei den Händen gefaßt und gar nicht wieder losgelassen. Wir haben wieder und immer wieder Abschied voneinander genommen und sind aber trotzdem weiter und immer weiter mit einander gelaufen! Bis er endlich stehenblieb und mir versicherte, daß Ihr in Sorge um mich sein würdet. Da – – da – – na, da mußte es denn notgedrungen geschehen! Und es ist geschehen! Aber ich sage Euch: Wenn mir wieder einmal so ein Heide kommt, so gebe ich mich lieber gleich gar nicht mit ihm ab! Denn wenn er wieder geht, dann, dann – – wie drücke ich mich doch nur richtig aus? Dann – – dann fühlt man, daß er gar kein Heide ist, daß man ihn liebgewonnen hat, daß man ihn braucht, ja, daß man mit ihm in alle Berge laufen möchte, grad wie der Sejjid Omar da, der mein Ko-su in seinen Kaftan gepackt und auf den Rucken genommen hat!«

»Das ist Ko-su? Diese große, große Menge?« fragte John, beinahe lachend.

»Was denn sonst? Die Malaien haben ja alle mitpflücken müssen, unterwegs, wo solches stand! Und ich auch, und der Priester auch, indem wir Abschied nahmen und aber immer wieder neues fanden! Jetzt aber kommt! Wir müssen heim! Es ist viel Gras und anderes Kraut dabei. Das muß ausgelesen werden, sortiert, und Ihr helft mit!«

Wir kehrten also nach dem Kratong zurück, um zuerst zu Mittag zu speisen. Dann ließ der Governor uns keine Ruhe; wir mußten uns zu ihm in sein Zimmer setzen und ihm helfen, das Ko-su zu sortieren. Das hieß eigentlich: Wir hatten diese Heilpflanzen aus einem ganzen, großen Haufen von Gras und Unkraut auszusuchen. Der Uncle entwickelte bei dieser Arbeit eine sehr anerkennenswerte Geduld, denn es war ihm wirklich Gewissenssache, sich selbst zu erziehen. Raffley aber sprang schon nach kurzer Zeit von seinem Stuhle auf und rief lachend aus:

»Zwei englische Lords, mit der Herzogskrone am Stammbaume, als Kräutergewölbelehrlinge die Dornen von den Disteln scheidend! Ist das die Gleichstellung aller Menschen, welche Euch am Herzen liegt, dear Governor? Spendet eine kleine Kupfermünze daran, so macht Euch für diesen Lohn jeder Malaie diese Arbeit viel besser und viel schneller, als wir es können. Einen so jähen und so tiefen Stoß von meiner Würde herab verlangt die "Shen" wohl nicht. Ich reiße aus!«

Er schüttelte sich den anhaftenden Wurzelschmutz von den Kleidern und lief fort. Der Uncle aber sah ihm mit vorwurfsvollem Blicke nach und sprach das große Wort:

»Dem scheint es mit dem Ko-susortieren nicht ganz ernst gewesen zu sein. Es ist also sicher, daß er nicht die geringste Befähigung besitzt, ein Mitglied der "Shen" zu werden!«

Der Schalk in meinem Nacken nickte zustimmend; ich aber dachte mir grad das Gegenteil.

Als wir dann fertig waren, machten wir aus dem Ko-su ein Paket und beauftragten Sejjid Omar, es zu Tsi hinüberzutragen. Wir aber gingen, um uns nach John umzusehen. Er war zum Mijnheer gegangen und von diesem eingeladen worden, sich an einem Spazierritte zu beteiligen.

»Das ist gut; das freut mich!« sagte der Uncle. »Denn nun ist er abgehalten, uns zu überraschen!«

»Wobei?« fragte ich.

»Das sollt Ihr hören und sehen. Hören unterwegs, und sehen auf der Jacht.«

Er führte mich nach dem schon einmal erwähnten Hotelplatze, wo er einen Wagen nahm, um nach Uleh-leh zu fahren. Unterwegs fragte er mich scherzend und doch zugleich auch ernst:

»Fürchtet Ihr Euch vor Spukgestalten, lieber Charley?«

»Nur am Tage, des Nachts aber nicht,« scherzte da auch ich.

»Das ist schlimm! Denn es ist Tag, und ich will Euch nach einem Orte führen, wo es spukt, bei Tage sogar noch deutlicher als bei Nacht.«

»Ah, wohl Euer Gespenst?«

»Ja.«

Hierauf war er still. Ich auch. Nach einiger Zeit begann er wieder:

»Warum schweigt Ihr? Warum fragt Ihr mich nicht? Glaubt Ihr, ich wisse nicht, was Ihr denkt? Es ist zwar sehr höflich und sehr rücksichtsvoll von Euch, mich nicht mit etwas belästigen zu wollen, was Euch an mir unbegreiflich ist, aber da ich es Euch doch nun einmal zu sagen habe, so wäre es mir lieber, Ihr hättet mich gefragt. Das macht nämlich das Sprechen leichter.«

»So? Nun, da will ich Euch also fragen: Ihr seid so lange Zeit auf der Jacht gewesen und hattet also hundertmal Gelegenheit, das Bild der »Yin« in Johns Zimmer zu sehen. Warum seid Ihr nicht hineingegangen? Offen und ehrlich? Warum wollt ihr es jetzt sehen! Hinter seinem Rücken?«

»Ganz recht! Diese Frage habe ich erwartet! Sie ist begründet, für jeden andern Menschen, doch eigentlich nicht auch für Euch. Wer so wie Ihr in der Welt herumläuft, um Rassen, Völker und Einzelmenschen auf ihre Psychologie hin anzusehen und sie dann, ihrer sichtbaren Körper entkleidet, in ganz anders gemeinten Gestalten zu beschreiben, der sollte wohl so klug sein, daß er nicht eine so unpsychologische Frage an mich zu richten braucht!«

»Sir!« rief ich da überrascht aus. »Woher kommt Euch diese Ansicht über mich und meine Bücher? Sie ist richtig, vollständig richtig! Aber noch keiner von allen, die mich lesen, ist so scharfblickend gewesen, es zu entdecken!«

»O, doch wohl Einer!«

»Wer?«

»John. Er hat mir von Euch vorgelesen, zuweilen, vielleicht gar oft. Da kamen Stellen, von denen ich dachte, daß sie sehr unwahrscheinlich, sogar ganz unmöglich seien. Ich sagte ihm das. Er aber lachte mich aus und begann, es mir zu erklären. Ja, das war dann etwas ganz Anderes! Zum Beispiel Euer Sejjid Omar! Er lebt; er ist da; er ist Euer Diener. Ihr macht keine Lüge, wenn Ihr das in Euern Büchern schreibt. Und was Ihr von ihm erzählt, ist wahr, ist wirklich geschehen. Aber Ihr habt es nicht auf seinen Körper abgesehen, sondern auf das, was diesen Körper aus der Rasse, dem Stamm und der Familie heraus zum Sejjid Omar gebildet hat. Das ist der Geist, die Seele, also der innere Mensch, der innere Araber, der innere Sejjid Omar. Arabische Körper kann man zu Tausenden sehen. Um aber grad diesen Sejjid herausfinden zu können, hat der Körper zu verschwinden. Dann erscheint Omar sofort in seiner ganz besonderen, nur ihm eigentümlichen Gestalt. Und diese, nur diese Gestalt, die geistige, die innere, wird von Euch für die Leser Eurer Bücher materialisiert. Ihr lauft dabei allerdings Gefahr, als Phantast, sogar als Lügner bezeichnet zu werden, aber nicht der Körper, sondern diese materialisierte Gestalt ist der eigentliche, wirkliche Sejjid Omar, und Ihr seid also hundertmal wahrer und tausendmal naturgetreuer als diejenigen, die Euch diese Vorwürfe machen.«

»So! Also das habt Ihr von John! Ja, er ist einer der Scharisinnigsten, die es gibt. Aber warum sagt Ihr mir dies grad jetzt, grad hier?«

»Fragt doch nicht! Ihr müßt es wissen! Oder habt Ihr nur in Omar geschaut, nicht auch in mich hinein? Auch mein Körper ist Euch Nebensache; das weiß ich ganz genau. Solltet Ihr da meinen innern Menschen so wenig kennen, daß Ihr nicht wißt, warum ich mich bisher gescheut habe, das zwischen John und seiner Familie aufgetauchte Gespenst in Augenschein zu nehmen?«

»Sagt mir die Gründe, weshalb die »Yin« für Euch ein Gespenst ist; dann will ich Euch antworten. Ich kenne nur ihr Bild, nicht aber sie selbst. Ebenso ist es mir vollständig unbekannt, in welchem Verhältnis sie zu John, zu Euch und zu Eurer Familie steht. Es ist also weder für mein äußeres noch für mein inneres Auge das vorhanden, was Ihr vorauszusetzen scheint. Und aber dennoch könnte ich Euch eine Antwort geben, und zwar die richtige, wenn Ihr mich dazu drängtet.«

»Nun, welche?«

»Soll ich? Wirklich?«

»Ja. Ich bitte!«

»Nun also: Ihr fürchtet Euch!«

»Fürchten?« fuhr er fort. »Wo wäre der Mensch, der mich schon einmal furchtsam gesehen hätte! Es ist ein großer, ein ungeheurer Irrtum von Euch, zu meinen, daß ich – – –«

Er unterbrach sich mitten in seinem Satze. Wahrscheinlich verhinderte ihn der Blick, mit dem ich ihn betrachtete, weiterzusprechen. Er ließ den Kopf sinken und dachte nach. Dann, eben als wir aus der Hauptstraße schon nach dem Hafen einbogen, sagte er:

»Ehrlichkeit, nur Ehrlichkeit! Gegen sich selbst und gegen Andere! Es muß heraus: Ihr habt Recht, Charley. Ich habe mich gefürchtet. Vor wem oder was, das braucht hier nicht erörtert zu werden; aber ich habe Furcht gehabt; das ist richtig! Und warum bin ich jetzt nicht allein gefahren? Warum habe ich Euch mitgenommen ? Furcht, nichts als Furcht! Aber das ist nun nicht zu ändern, denn wir sind schon da!«

Der Wagen hielt an der Landebrücke, und wir nahmen ein Boot, um uns nach der Jacht rudern zu lassen. An Bord angekommen, fanden wir nur Bill mit zwei Matrosen und der weiblichen Bedienung anwesend. Tom war an das Land gegangen, um Proviant einzukaufen, und die andern Hands hatten Urlaub genommen, um den Bewohnern des Hafenortes Etwas »vorzureiten« und dafür sehr wahrscheinlich ausgelacht zu werden. Für Seeleute dieses Stiles ist nämlich das Reiten selbst dann das schönste und beste aller Vergnügen, wenn man alle hundert Schritt zehnmal auf der einen Seite vom Pferde rutscht, um sich auf der andern Seite höchst ritterlich wieder aufzuschwingen.

Der Uncle tat so, als ob wir gekommen seien, uns noch mit einigen notwendigen, aber vergessenen Kleinigkeiten zu versehen, und diese Gelegenheit ergreifen wollten, den Nachmittagstee hier an Bord zu trinken. Daß er die Absicht habe, Raffleys Kajüte zu betreten, sollte Niemand wissen. Er behandelte diese Affaire so wichtig und so schwer, als ob sie eine höchst bedeutende Staatsaffaire sei.

Die Chinesin ging in die Küche, um den Tee zu bereiten. Bill wurde mit den beiden Matrosen in den Packraum geschickt, um da irgend Etwas zu suchen, was sich gar nicht dort befand. So waren wir also ganz allein auf dem Deck und gingen nach der Kajüte.

»Warum das Alles so heimlich?« fragte ich. »Es würde ja gar nicht auffallen, wenn wir es ganz offen täten?«

»Weil John unbedingt zu glauben hat, daß es mir gar nicht einfällt, auch nur einen einzigen Blick auf das Bild zu werfen. Die Tür ist natürlich verschlossen, aber ich weiß, wie man sie auch ohne Schlüssel öffnen kann. Er hat davon gesprochen.«

Er drehte den Drücker auf und dann in besonderer Weise wieder zu; es gelang. Wir traten ein. Er blieb zunächst vorn stehen und schaute sich in einer Weise um, als ob er sich in dem Heiligtum einer ihm nicht bloß fremden, sondern auch unsympatischen Verehrung befinde. Hierauf näherte er sich langsam, Schritt um Schritt, beinahe ängstlich, dem Bild und sah es lange, lange an. Dann ging er, ohne ein Wort zu sagen, zum Eingange zurück, wo ich stehengeblieben war, schob mich hinaus, schlug die Tür hinter sich zu, holte tief, tief Atem und sagte, als er sah, daß man soeben den Tee servierte:

»Trinkt ihn allein, Sir! Mir ist aller Appetit vergangen. Ich habe jetzt mehr, viel mehr zu verdauen als Tee mit Toasts!«

Ich setzte mich also an den Tisch und ließ es mir schmecken. Er aber ging gesenkten Kopfes und mit langen Schritten auf dem Deck hin und her. Grad als ich fertig war, kam Bill mit den beiden Matrosen nach oben und meldete, daß alles Suchen vergeblich gewesen sei. Nun ließen wir uns an das Land setzen und stiegen wieder in den Wagen, um heimzufahren. Er gab dem malajischen Kutscher den Befehl, dies nicht direkt, sondern auf einem Umwege zu tun, da es sich um eine Spazierfahrt handle. Dann, als wir so eng und traulich nebeneinander saßen, ergriff er das Wort:

»Charley, was haltet Ihr von Bildern?«

»Sir, was haltet Ihr von Büchern?« antwortete ich.

»Sonderbare Frage!«

»Ganz so wie die Eure!«

»Aber wie Ihr die Frage stellt, kann man sie gar nicht beantworten! Sie ist zu unbestimmt.«

»Habt Ihr bestimmter gesprochen?«

»Hm! Allerdings nicht! Wie konnte ich also eine Antwort verlangen; es ist ja keine möglich!«

»O, doch! Eure Frage war nämlich gar keine Frage, sondern der Angstruf Eures inneren Menschen, der sich bisher gefürchtet hat, das Bild zu betrachten. Nun habt ihr es aber doch getan, und da schreit er auf, weil er die Folgen kommen fühlt.«

Da wandte er sich mir zu, sah mich betroffen an und fragte:

»Bin ich etwa durchsichtig?«

»Ja!«

»Halloh! Das ist stark! Glaubt Ihr, durch mich hindurchschauen zu können?«

»In dieser Beziehung allerdings.«

»Und was seht Ihr da?«

»Die "Yin".«

»Oho!«

»Jawohl! Ganz gewiß die "Yin", obgleich Ihr vielleicht versucht, Euch hierüber zu täuschen. Diese "Yin" ist nämlich etwas ganz Anderes, als Ihr denkt; sie besitzt eine Euch vollständig unbekannte und unbegreifliche Macht. Mit dieser Macht hat sie Euch gepackt. Ihr seid ihr Eigentum geworden und werdet es auch bleiben!«

»Entsetzlicher Mensch!«

Wer?«

»Ihr! Ich habe nämlich nicht gewußt, was mich so – – so – – nun, auf eine bisher so unbekannte Weise beunruhigt, seit ich in der Kajüte gewesen bin. Es ist nicht Furcht, nicht Angst, nicht Reue. Es ist auch nichts Betrübendes oder gar Häßliches, sondern es scheint im Gegenteile etwas Gutes, etwas Wünschenswertes zu sein. Und dennoch quälte es mich! Es bohrte in mir. Da kommt Ihr mit Eurer Behauptung, daß ich das Eigentum der "Yin" geworden sei, und richtig! In dem Augenblicke, als Ihr es sagt, da wird sie plötzlich in mir wach; da steigt sie in mir auf, und ich muß Euch sagen, daß ich sie nicht nur sehe, sondern in meinem ganzen Körper fühle, bis an die Fingerspitzen! Oder ist es nicht mein Körper, sondern der Geist, die Seele, und ich kann es nur nicht unterscheiden?«

»Es ist nicht Euer Körper, sondern der innere Uncle und Governor, ganz derselbe, den Ihr vorhin den inneren Sejjid Omar genannt habt. Wollt Ihr mich nun noch einmal fragen, was ich von Bildern halte, nämlich von solchen? Denn nur solche sind Bilder. Alles andere ist nur Malerei, oft sogar Schmiererei! Das deutsche Wort Bild kommt von "bilden" her. Versteht Ihr mich? Das hat mit dem Ausdrucke "nachbilden" nur den Klang der zweiten und dritten Silbe gemein, weiter nichts. Der wahre Künstler hat stets eigene Gedanken. Er bildet niemals nach, selbst wenn er porträtiert. Er schafft dem vorhandenen Körper Geist und Seele. Er zeigt am dümmsten Bauernkopf die in Wirklichkeit vollständig unsichtbare, aber dennoch vorhandene Intelligent. Er demonstriert am menschenfreundlich erscheinenden Gesicht des Eroberers die tief in ihm versteckte, stets kampfesfertige Bulldoggennatur. Und ist er nicht bloß Talent, sondern Genie, so schafft er auch die gegebene Gestalt vollständig um, ohne daß gewöhnliche Augen es bemerken, und läßt uns, einem Zauberer gleich, dann Wesen sehen, welche zwar vollständig berechtigt sind, der Wirklichkeit anzugehören, aber in der Sprache ganz anderer, höherer Welten zu uns zu reden. Diese Sprache ist für den Körper unvernehmbar. Sie klingt nur von Geist zu Geist, von Seele zu Seele. In ihr naht sich die Macht, die Euch ergriff, als Ihr vor der "Yin" standet und sie betrachtetet.«

»So glaubt Ihr, ein Genie habe dieses Bild erschaffen?«

»Unbedingt. Nur das Genie gibt neue Rätsel auf, während das Talent sich mit alten, längst vorhandenen beschäftigt. Und dieses Porträt der "Yin" ist ein Rätsel, ein neues, ein schönes, ein entzückendes Rätsel, an dessen Lösung ich mein Leben setzen würde, wenn ich Maler wäre. Ihr habt zu mir gesagt: "Ich will Euch nach einem Orte führen, wo es spukt, bei Tage sogar noch deutlicher als bei Nacht." Mein teurer Freund, diese "Yin" konnte für Euch nur so lange ein Spuk, ein Gespenst sein, als es Nacht in Eurem Innern war. Mir scheint, heut ist es Tag geworden. Wenigstens dämmert es bereits. In diesem Zwielicht erscheint sie bereits klarer, lichter, schöner, doch noch nicht ganz aus der Nacht gelöst, wie ich sagte: noch als Rätsel. Aber wartet nur, Sir; die Sonne wird kommen, ganz gewiß. Dann muß der Vorhang vom Bilde fallen, und das Geheimnis wird für Euch zur Offenbarung werden, denn jede wahre Kunst ist göttlicher Natur.«

»Das sagt Ihr so bestimmt?« schaltete er ein.

»Ja,« antwortete ich. »Ich kenne unsern John. Die ganze Jacht ist, sozusagen, ein Buch mit sieben Siegeln. Und das Bild ist sicher nicht das geringste dieser Siegel. Oder vergleiche ich die Jacht mit einem Gedichte, so erscheint mir das Bild sogar als die schönste und tiefste seiner Strophen. Glaubt Ihr, daß er, der Dichter, uns die Erklärung vorenthalten wird?«

»Nein. Aber alles das, was Ihr mir da sagt, hat mich nicht klüger gemacht, als ich vorher war. Ich fühle mich im Gegenteile nur noch yerworrener. Bitte, laßt mir Zeit; ich habe nachzudenken!«

Er legte sich in die Lehne zurück und fiel in andauerndes Schweigen. Auch als wir oben in Kota Radscha angekommen waren und am Kratong aus dem Wagen stiegen, bezahlte er den Kutscher, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und zog sich sogleich in sein Zimmer zurück.

Raffley kam erst zur Zeit der Dämmerung von seinem Spazierritte heim und teilte uns dann beim Abendessen mit, daß der Mijnheer zwar ein Holländer sei, aber dennoch ein Gentleman durch und durch. Sogar wetten habe er wollen, sei aber natürlich abgewiesen worden. Uebrigens scheine sich da oben in den Bergen etwas Kriegerisches vorzubereiten, um die Malaien endlich einmal gründlich zu Raison zu bringen. Der Mijnheer habe ihm einige Züge von Grausamkeit erzählt, die man allerdings nicht in Schutz nehmen dürfe.

Da fiel ihm der Governor sofort in die Rede, um die Malaien zu verteidigen. Er tat dies in der ihm eigenen Weise, die ihn verführte, wiederholt über das Ziel hinauszuschießen, und kam dabei immer wieder auf seinen »Freund, den Heidenpriester« zurück, wie er ihn nannte. John ließ ihn vollständig aussprechen und antwortete aber dann:

»Alles, was Ihr sagt, in Ehren, dear Uncle; aber ich bitte, laßt Euch von Eurem guten Willen nicht verführen, weiter zu gehen, als Ihr dürft. Ihr könnt doch unmöglich behaupten wollen, daß diese Rasse auf gleicher Bildungsstufe mit der unserigen stehe! Und Ideale sucht man doch nicht unten, sondern oben. Ihr kennt meine Ansicht über die Menschenrechte zur Genüge; aber nicht das Gefühl allein, sondern auch der Verstand hat zu Worte zu kommen. Sollen Kinder mitbestimmen dürfen, auf welche Weise sie zu erziehen sind? Habt sie lieb; hebt sie empor und macht sie zu Männern! Sind sie das geworden, so mögen sie mit raten und mit tun; eher aber nicht! Es ist stets gefährlich den Unmündigen eine Macht zu gewähren, deren Ausübung klar und überlegt denkende Kopfe verlangt!«

»Well! Zugegeben!« gestand der Governor ein.

»Gut, so sind wir einig! Ihr rühmt das Verhalten der Malaien gegen Waller. Ja, sie haben ihm verziehen, ihn nicht bestraft; aber sind sie nicht um so grausamer gegen seine unschuldige Tochter gewesen, welche von ihnen unter so peinlichen Umständen hinüber nach Penang gebracht wurde? Wie hätte sich diese ganze Angelegenheit wohl gestaltet, wenn der Priester nicht ein so hochdenkender Mann gewesen und unser Tsi nicht ganz zufälligerweise dazugekommen wäre? Nur das richtige Maß, das richtige Maß bitte ich!«

Da wurde der Uncle für einige Zeit still; dann sagte er in rührender Aufrichtigkeit:

»Kinder, mir scheint, ich werde immer törichter anstatt klüger. Was früher für mich schwarz gewesen ist, das möchte ich nun gleich vollständig weiß erscheinen lassen. Und was ich bisher verachtet habe, das will ich jetzt im Handumdrehen bewundern lassen. Ich sehe, ich bin auch noch ein Kind, wenn auch ein ziemlich altes. Habt mich also lieb; hebt mich, und macht mich zum Manne! Das war es ja, was Ihr sagtet, lieber John. Wie Ihr das anfangt, das ist Eure Sache. Ich verschwinde!«

Er wollte fort.

»Halt!« rief da John. »Habe Euch noch mitzuteilen, daß der Mijnheer unsere Jacht gern einmal sehen will. Ich schlug ihm für morgen eine Spazierfahrt vor, und er hat angenommen. Die Wagen nach dem Hafen sind für sechs Uhr früh bestellt. Ihr macht doch mit?«

»Selbstverständlich! Kinder fahren immer gern spazieren. Gute Nacht!«

Wir waren infolgedessen am nächsten Tage nicht in Kota Radscha und kehrten erst am Abende heim. Da brachte Tsi uns die frohe Botschaft, daß er überzeugt sei, den Missionar retten zu können. Er brachte hierbei den Gedanken an einen Ausflug wieder in Anregung und holte Mary Waller, um diesen seinen Vorschlag von ihr unterstützen zu lassen. Sie sah sehr angegriffen, aber doch nicht körperlich leidend aus und freute sich, als wir den Entschluß faßten, für eine Woche oder auch noch etwas länger hinüber nach den Nikobareninseln zu dampfen, für welche wir uns noch von früher her lebhaft interessierten. Dann kehrte sie mit Tsi zu dem Kranken zurück. Wir Drei aber blieben noch länger beisammen.

Ich wollte natürlich den Sejjid mitnehmen, nicht darum, weil ich ihn während dieser Spazierfahrt zu meiner persönlichen Bedienung brauchte, sondern damit er möglichst viel sehen und nützliche Erfahrungen mit heimbringen möge. Ich wollte ihn nicht ausnützen, sondern in ihm den Grund zu einer besseren Zukunft legen. Aber als ich ihm sagte, was ich beabsichtigte und daß er sich mit einzuschiffen habe, bat er mich, bleiben zu dürfen. Nach dem Grunde dieses Wunsches gefragt, antwortete er:

»Wir reisen doch nach China, Sihdi, und da habe ich mich um die Sprache dieses Landes zu bekümmern, wozu ich aber unterwegs auf dem Schiffe wohl keine Gelegenheit finde. Hier in Kota Radscha gibt es einige chinesische Kulis, welche englisch sprechen, und wenn ich während dieser Zeit mit ihnen verkehre, kann ich ihnen zeigen, daß es außer der deinigen und der meinigen keine weitere, ganz vollkommene Sprache gibt.«

Ich hatte nichts dagegen. Es war ja kein Unglück, wenn zu dem babylonischen Gewirr in seinem Kopfe, aus welchem er aber gegebenenfalls stets das Nötige herauszufinden wußte, auch noch ein Beitrag kam, der auf »ing« und »eng« zu enden hat.

Die Vorbereitungen nahmen den nächsten Vormittag in Anspruch. Am Nachmittag gingen wir in See. Erst als wir die Küste nicht mehr sahen, kam mir ein peinigender Gedanke, den ich John mitteilte. Ich wurde aber beruhigt. Er, der ebenso gütig war, wie er umsichtig zu sein pflegte, hatte, bevor wir Kota Radscha verließen, dafür gesorgt, daß den zurückgelassenen Freunden nichts von dem fehlte, was sie voraussichtlich nötig hatten. Ich war schon früher sehr oft in der Lage gewesen, ihn in dieser Beziehung im Stillen mit einer liebevoll besorgten Mutter zu vergleichen.

Wir hatten damals, als wir auf Ceylon miteinander bekannt geworden waren, auf seiner Jacht »Swallow« eine Fahrt nach den Nikobaren unternommen und dort so Interessantes erlebt, daß der Wunsch, diese Erinnerungen bei der jetzigen Gelegenheit wieder aufzufrischen, ein ganz selbstverständlicher war. Da sich aber auf diesem Ausfluge nichts ereignete, was sich auf die vorliegende Erzählung bezieht, will ich nur erwähnen, daß wir, sehr von ihm befriedigt, erst nach vollen zwei Wochen wieder nach Uleh-leh zurückkehrten.

Dieses Mal gab es auf der Landungsbrücke und den in ihrer Nähe liegenden Straßen mehr Leben als bei unserer ersten Ankunft. Es lagen mehrere Dampfer im Hafen, von denen einer Passagiere gelandet hatte und dafür andere zur Reise nach Batavia an Bord nahm.

Wir fuhren nicht mit der Bahn, sondern per Wagen nach Kota Radscha hinauf. Als wir ankamen, war der erste Mensch, den wir sahen, mein Sejjid Omar. Als er uns erblickte, rief er uns vor Freude überlaut entgegen:

»Hamdulillah! Ni tschi la fan la mei yo?«

Hamdullah ist arabisch und heißt »Gott sei Dank!«. Das Andere aber war chinesisch und heißt: »Haben Sie schon Ihren Reis gegessen?« Eine sehr beliebte Begrüßungsformel im ganzen Reich der Mitte. So sehr er sich freute, uns wieder zu haben, so groß war aber auch sein Verlangen, uns möglichst schnell zu zeigen, wie tief er während der verflossenen vierzehn Tage in die Sprache der Chinesen eingedrungen sei.

Wir fanden unsere Wohnungen genau so vor, wie wir sie verlassen hatten. Sie waren nicht belegt worden, obgleich es wiederholt Besuch im Kratong gegeben hatte, besonders Offiziere. Das hing wohl mit den kriegerischen Unternehmungen zusammen, von denen ich bereits gesprochen habe. Grad als sich Jeder von uns in sein Zimmer begeben hatte, stellte Tsi sich ein, um uns zu begrüßen und über Waller Bericht zu erstatten.

»Er ist gerettet,« sagte er, »aber allerdings einstweilen nur erst körperlich. Und selbst da kann mein Urteil noch kein endgültiges sein. Das Ko-su hat geradezu Wunder getan; aber diese fürchterliche Krankheit pflegt schon bei gewöhnlichem Auftreten innere Zerstörungen zurückzulassen, welche später noch verhängnisvoll werden können, und hier hatte sie ja in einer Weise um sich greifen dürfen, welche selbst mich, den immer Zuversichtlichen, am Erfolge fast verzweifeln ließ, obgleich ich das nicht sagte. Aber der Geist, der Geist! Vielleicht ist es ebenso richtig oder noch richtiger, wenn ich sage, die Seele, die Seele! Ich stehe da vor einem Zustande, von dem ich zwar gehört und auch gelesen habe, der mir aber noch niemals vorgekommen ist. Der Psycholog befindet sich da in einer Lage, die ihn mit den Anschauungen und Behauptungen der Wissenschaft in den allerernstesten Konflikt geraten läßt. Jeder abendländische Arzt würde mit der größten Ueberzeugung sagen, daß Waller wahnsinnig geworden sei. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich dies Miß Mary verschweige, zumal ich dieser Ansicht ganz unmöglich beizustimmen vermag. Er spricht nämlich grad während der sogenannten Wahnsinnsanfälle überaus klar und richtig. Ja, seine Logik kommt mir dann so scharf, so unwiderstehlich, so erhaben, fast überirdisch vor. Es ist nichts Monomanes, nichts Gestörtes, nichts krankhaft Unsicheres dabei. Diese Anfälle wirken auf sein körperliches Befinden vorteilhaft, anstatt es zu deprimieren. Er scheint in eine Duplizitat oder gar Triplizität gespalten zu sein. Jetzt spricht er selbst, mit seiner eigenen Stimme und in seiner gewöhnlichen, uns Allen bekannten Weise. Plötzlich ändert sich sein Ton. Er redet nicht mehr englisch, sondern deutsch. Sein Ausdruck ist ein höherer geworden. Er bringt sogar Reime, die tadellosesten Reime, die man sich denken kann. Und sie klingen sanft, zart, weich, wie aus einem liebevollen, bittenden Frauenmunde. Und ebenso plötzlich fällt ihm ein tiefer, starker Baß in die Rede, während seine Stimmlage doch fast noch höher als Bariton ist. So ist es, als ob er aus sich selbst und noch zwei andern Wesen bestehe, welche sich um sein Denken und Fühlen mit einander streiten. Es ist dies im höchsten, im allerhöchsten Grade interessant. Glücklicherweise stehe ich da nichts Unbekanntem gegenüber. Unsere chinesische Psychologie erklärt uns das mit größter Leichtigkeit als sehr natürlich. Die abendländische Wissenschaft aber besitzt, vermute ich, kein einziges Werk oder Buch, welches diesen Zustand kennt und sich in eingehender Weise und erklärend mit ihm beschäftigt. Darum – –«

Er hielt inne, weil Mary in das Zimmer trat, um uns auch zu bewillkommnen. Sie sah wieder ganz wohl und hoffnungsvoll aus. Die Versicherung des Arztes, daß ihr Vater gerettet sei, hatte ihren Augen den früheren Glanz und ihren Wangen die jugendliche Röte zurückgegeben. Ihr Gemüt war zwar noch nicht frei von jeglicher Sorge, aber doch nicht mehr so schwer bedrückt wie vorher.

Der Missionar war soeben in einen tiefen, festen Schlaf gesunken, und so konnte seine Tochter längere Zeit bei uns bleiben. Es erleichterte sie, uns erzählen zu können, wie angstvoll allerseits der Kampf mit dem drohenden Tode gewesen sei und wie glücklich sie sich jetzt fühle, zu wissen, daß der Vater sich erholen werde. Sie vermied es sorgfältig, hierbei zu erwähnen, mit welcher aufopfernden Hingebung Tsi sich des Kranken angenommen hatte, aber ihre Augen sprachen um so deutlicher von dem Dank, den sie für ihn im tiefsten Herzen fühlte. Indem ich dies beobachtete, fiel es mir erst auf, wie hager er geworden war. Und später erfuhr ich von ihr direkt, daß er im Sorgen und Wachen gewiß noch mehr geleistet habe wie sie selbst.

Als beide, Mary und Tsi, diesen ihren Besuch beendet hatten und ich in mein Zimmer ging, um zu schreiben, fand ich, daß mein Papiervorrat fast ganz zu Ende gegangen war. Ich begab mich infolgedessen nach dem mit dem Hotel verbundenen Verkaufsladen Rosenberg, um das Fehlende zu ergänzen. Nachdem dies geschehen war, setzte ich mich auf die Veranda, um ein Glas Bier zu trinken, »Pilsener« aus Hamburg natürlich. Ich war noch nicht lange da, so kam ein Malaie, welcher die Absicht hatte, vorüberzugehen. Er schien nach der Zitadelle zu wollen. Er war jetzt ganz anders gekleidet; ich erkannte ihn aber doch als den, welcher mit uns über die Auslieferung Wallers verhandelt hatte. Er trug ein kleines Paket in der Hand. Ich rief ihn an. Er kam zu mir her, und ich sah ihm an, daß er auch mich erkannte

»Wo willst du hin?« fragte ich.

»Nach dem Kratong,« antwortete er.

»Zu wem?«

»Zum kranken Tuwan und auch zum Tuwan Governor. Dem Kranken soll ich sein Buch geben und dem Governor einen Brief, den ich in der Tasche habe.«

»Was ist das für ein Buch?«

»Wir haben es auf der Brandstätte unseres Tempels gefunden, in welchem Euer Missionar wohnte. Als wir die Asche fortschafften und die Trümmer auseinander räumten, war der steinerne Altar eingefallen, und unter diesen Steinen lag, von ihnen beschützt, das Buch, so daß es nicht mit verbrennen konnte. Ist das nicht wie ein Wunder? Der Priester hat es sofort sorgfältig eingepackt und einen Brief geschrieben. Ich aber mußte mich auf die Reise machen, um Euch beides zu bringen.«

Er hob das Päckchen empor, um es mir zu zeigen. Da kam mir ein Gedanke. Ich dachte an das Gedicht »Tragt Euer Evangelium hinaus!« Nichts konnte mir da passender sein als das Erscheinen dieses Eingeborenen mit dem Buche. Das war ja die beste Gelegenheit, der ersten Strophe jetzt die zweite hinzuzufügen! Uebrigens war die Sendung dieses Boten ein abermaliger Beweis der fast beispiellosen Ehrlichkeit der heidnischen Bergmalaien.

»Zeig es einmal her!« forderte ich ihn auf.

Er gab es mir. Es war in große, papierähnliche Pflanzenblätter gewickelt und mit einer Bastschnur fest umwunden. Als ich es geöffnet hatte, sah ich, daß es ein Neues Testament in englischer Sprache war. Ein blauseidenes, miteingeheftetes Band, das Einzeichen bildend, lag bei dem dreizehnten Kapitel des ersten Korintherbriefes, welches bekanntlich beginnt:

»Wenn ich mit den Zungen der Menschen und der Engel redete und hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich wie ein tönendes Erz oder wie eine klingende Schelle« u. s. w.

Ich hatte die auf Seite 219 dieses Buches bereits angeführten acht Zeilen in meinem Notizbuch stecken, nahm dieses Papier heraus und ließ mir von dem Kellner Tinte und Feder geben. Das Einzeichen ließ mich vermuten, daß die angegebene Bibelstelle diejenige sei, welche man entweder zuletzt gelesen habe oder überhaupt gern aufzuschlagen pflege. Zudem paßte sie wie fast keine andere zu dem Inhalte des Gedichtes. Darum probierte ich die Tinte auf ihre gleiche Schwärze und gab der Strophe die Ueberschrift »1. Korinther 13.« Als es trocken geworden war, legte ich das Papier in dieses Kapitel und hüllte dann das Neue Testament genau wieder so ein, wie es gewesen war, hierauf gab ich es dem Malaien zurück, fügte ein Trinkgeld hinzu, um seine Verschwiegenheit zu belohnen, und sagte:

»Du kannst den Tuwan nicht sprechen, denn es darf Niemand zu ihm, weil er krank ist. Aber du wirst nach seiner Tochter fragen und ihr das Buch geben, nur ihr, keiner andern Person. Verstanden?«

»Ja,« nickte er.

»Es darf Niemand erfahren, daß ich Etwas in das Buch gelegt habe. Du wirst also weder ihr noch einem andern Menschen sagen, daß du mich hier gesehen oder gar mit mir gesprochen hast!«

Er steckte das Trinkgeld ein und versicherte:

»Ich schweige wie ein toter Baum, der keine Blätter mehr hat. Er kann nicht einmal mehr flüstern!«

»Du wirst mich überhaupt gar nicht erwähnen, auch gegen den Tuwan Governor nicht, wenn du ihm den Brief deines Priesters gibst. Und dann, wenn du deine Botschaft ausgerichtet hast, kommst du wieder hierher, um noch eine zweite Belohnung zu erhalten. Ich muß wissen, ob du Alles genau so hast tun können, wie ich es wünsche.«

»Werde ich auch den großen Sahib aus China treffen, dem wir so gern gehorchen, weil wir seinen Vater lieben?«

»Wenn du es wünschst, ja. Aber auch er darf nicht erfahren, daß du hier bei mir gewesen bist und wieder zu mir kommen wirst!«

»Du brauchst keine Sorge zu haben. Ich weiß von unserem Priester, daß Ihr gute Menschen seid, die absichtlich Böses niemals tun. Es ist also nur Erlaubtes, was du von mir verlangst, und ich werde es genau so tun, wie du gefordert hast.«

Er verbeugte sich tief und ging. Es dauerte fast ein Stündchen, ehe er zurückkehrte. Aber er kam nicht allein, sondern mit meinem Sejjid Omar. Sie führten sich Hand in Hand wie Brüder. Er machte ahnen, was ich dachte, und sagte darum schnell:

»Zürne nicht im voraus, sondern höre erst, was ich sage! Dieser mein Freund hat nichts erfahren, gar nichts, kein Wort. Er sieht erst jetzt, daß du dich hier befindest. Er ist dein Diener, und er ist dir treu; das weiß ich ganz gewiß. Dennoch werde ich auch weiter zu ihm schweigen. Aber ich bitte dich, für jetzt mit ihm zusammenbleiben zu dürfen. Mein Weg war weit; ich habe mich auszuruhen, und er will mir dabei Gesellschaft leisten. Dein Wille ist geschehen, ganz genau so, wie du es mir sagtest.«

»So soll auch der deinige geschehen. Ich sehe, daß ihr eines Herzens seid, und finde es also begreiflich, daß deine Reise meinen Sejjid Omar ebenso ermüdet hat wie dich selbst. Ihr mögt Euch also miteinander stärken.«

Ich reichte ihm das versprochene zweite Backschisch in fürsorglicher Verdoppelung hin, und er steckte es zu sich. Omar aber erklärte:

»Hier brauchst du es nicht, sondern du nimmst es mit heim. Du bist mein Gast, denn ich bin Sejjid Omar, und ich liebe dich!«

Dann schritten sie Hand in Hand mit einander von dannen. Als sie sich entfernt hatten, ging ich nach Hause, wo ich mich bis zum Abendessen mit den erwähnten schriftlichen Arbeiten beschäftigte. Es war Alles still. Keiner der Freunde ließ sich sehen, obgleich doch anzunehmen war, daß die Uebersendung des Buches und des Briefes irgend eine Wirkung hervorgebracht haben müsse. Der Grund lag darin, daß man sich die Mitteilung bis zum Essen vorbehalten wollte, weil wir da Alle beisammen waren.

Tsi kam auch. Nur Mary fehlte. Sie zog es auch jetzt noch vor, sich selbst während des Mahles nicht von dem kranken Vater zu entfernen.

Sobald wir uns an den Tisch gesetzt hatten, bemerkte ich, daß die Freunde innerlich beschäftigt waren. Doch schwiegen sie jetzt noch. Sie wollten das, was sie mitzuteilen hatten, nicht gleich bei Reis und Fleisch, sondern erst später bringen. Aber noch waren wir nicht bei dem letzten Gange, den Früchten, angelangt, so konnte der Governor es nicht länger aushalten. Er sagte:

»Ich hatte Besuch, ganz unerwarteten Besuch. John weiß es schon. Dem habe ich es mitgeteilt. Ihr Andern würdet es nicht erraten. Darum will ich es lieber gleich sagen. Nämlich der malajische Bote war bei mir, welcher die Betelnuß nach dem Hotel Rosenberg brachte und dann auch mit der Sänfte wiederkam. Er hat mir einen Brief von meinem guten Freunde, dem Heidenpriester, gebracht und ist dann gleich wieder fortgegangen, ohne zu fragen, ob er Antwort mitnehmen soll.«

»Was hat der Freund geschrieben?« erkundigte ich mich, weil keiner der Andern etwas sagte.

»Das weiß ich noch nicht ganz genau, doch hoffe ich, es hier zu erfahren. Der Brief ist malajisch geschrieben, und in Beziehung auf diese Sprache bin ich Analphabet. Darum ging ich mit ihm zu John. Der hat herausgebracht, daß von unserm Christus die Rede ist, von Gold, von Weihrauch, von armen Hirten und von dem Frieden, den die Engel auf den Fluren von Bethlehem verkündet haben. Aber wirklich fließend konnte er die Zeilen auch nicht lesen. Es sind Worte und Wendungen darin, welche er nicht kennt. Sonderbarerweise ist der Brief nicht Prosa, sondern ein Gedicht. Denkt Euch, ein malajischer Heidenpriester, welcher dichtet! Ist das nicht fast unbegreiflich?«

»Warum unbegreiflich? Gibt es nicht auch christliche Priester, welche Dichter sind? Der Priesterstand meint doch wohl, Gott am allernächsten zu stehen, und die Poesie ist göttlicher Natur. Die Kunst, die wahre, christliche Kunst, ist die edle Schwester des Glaubens. Aus welchem Grunde sollte diese Schwester grad die bevorzugten Jünger ihres Bruders mit Verachtung von sich stoßen?«

»So habe ich es nicht gemeint, sondern anders!« entschuldigte sich der Uncle.

»Anders?« lächelte der Chinese. »So habt Ihr also nicht den Priester, sondern den Heiden betont wissen wollen? Klingt das vielleicht freundlicher, besser? Was würde wohl die "Shen" hierzu sagen, Mylord? Also, daß ein Heide Dichter sein könne, ist Euch unbegreiflich? Denkt doch einmal an Eure alten Griechen, die für Euch noch jetzt die allerhöchsten Ideale sind und Euer ganzes, geistiges Leben in einer Weise beeinflussen, welche man vom christlichen Standpunkte aus doch eigentlich zu beklagen hätte? Wem anders als diesen alten, heidnischen Griechen hat Euer England es zu verdanken, daß es den größten aller späteren Dramatiker besitzt? Wird nicht die Sprache, die Philosophie, die Geschichte dieser Heiden in allen Euern höheren Schulen derart begünstigt, daß Eure Gymnasiasten und Studenten fast alle der Meinung sind, wer nicht Griechisch und Latein getrieben habe, dürfe sich nicht zu den gebildeten Menschen rechnen? Selbst Eure Prediger und Priester müssen diese heidnischen Sprachen verstehen und diese heidnischen Dichter studiert haben, sonst würden sie keine christliche Kanzel und keinen christlichen Altar betreten dürfen! Wie sonderbar klingt das zu dem, was Ihr "fast unbegreiflich" nennt! Ich bitte Euch, Sir, öffnet doch die Augen! Ich habe mich sowohl bei den Christen als auch bei den Heiden umgesehen, und zwar bei beiden mit offenen, freundlichen, vorurteilslosen Augen. Hätte der Himmel mir die Gabe verliehen, das beschreiben und veröffentlichen zu können, was ich da beobachtet habe, so würde ich zwei Bücher schreiben, nichts weiter, denn das wäre genug. Das eine Buch würde betitelt sein: "Das Heidnische im Christentum" und das andere: "Das Christliche im Heidentume". Ihr habt, da wir von malajischen Dichtern sprachen, wahrscheinlich keine Ahnung, wie nahe verwandt und wie oft sogar ebenbürtig sie Euern christlichen Dichtern sind. Man staunt zuweilen über diese Gleichheit des geistigen Pulsschlages. Und was besonders den Mann betrifft, von welchem hier die Rede ist, so muß – – – ah, daß ich mich unterbreche, wißt Ihr denn nicht, daß er noch etwas ganz Anderes ist als bloß nur Oberpriester seiner Malaien?«

»Nein,« antwortete der Uncle.

»Hat er es Euch nicht gesagt, nicht wenigstens angedeutet?«

»Nein, mit keinem Worte.«

»So! Wie mich das freut! Das ist die wahrhaft königliche Bescheidenheit der wahren Menschengröße! Hätte er wohl ebenso geschwiegen, wenn er ein Europäer gewesen wäre? Er ist nämlich der anerkannt größte der gegenwärtigen malajischen Dichter, eine Berühmtheit, soweit die malajischen, chinesischen und indischen Zungen klingen. Grad darum war er es, der von meinem Vater auserwählt wurde, zu uns zu kommen, um unsere "Shen" zu studieren. Er war der beste und der passendste Mann dazu im ganzen indischen und polynesischen Archipel. Ich bin stolz, ja stolz darauf, daß dieser Mann mich achtet. Der Segen, den er auf das Haupt unserer Freundin Mary legte, war nicht der Segen eines gewöhnlichen Menschen, sondern eines Auserwählten, der nicht bloß leere Worte spendet, sondern wirklich das besitzt, was er geben will, wenn er segnet! Und hat er Euch ein Gedicht geschickt, so ist das sicher keine gering zu achtende Gabe. Er tut das nicht, um Euch nachträglich doch noch zu zeigen, wer und was er ist, sondern aus höheren, reineren Gründen. Er hat über Euch nachgedacht und über Alles, worüber er mit Euch sprach. Wahrscheinlich gibt er Euch nun das Resultat dieses seines Nachdenkens, und wenn Ihr es wünscht, so bin ich gern bereit, es Euch zu übersetzen.«

»Aber natürlich wünschen wir das!« rief er Uncle begeistert aus. »Also ein Dichter, ein großer, ein berühmter Mann ist dieser mein guter Freund, der Heidenpriester! Das wundert mich eigentlich nicht, denn das lag mir schon gleich in den Gliedern; es wird mir nur jetzt erst klar. Hier ist der Brief. Bitte, ihn uns vorzulesen!«

Er gab ihn dem Chinesen hin. Dieser las ihn still für sich durch, nickte dann langsam und wiederholt mit dem Kopfe und sagte, indem er lächelnd zu uns herüberschaute:

»Es ist so, wie ich dachte: Eine Dichtergabe. An Inhalt reich und an Gedanken schwer. Ein abschließender Strich unter das, was er hier bei Euch erlebte, und dann die Summe, das geistige Resultat, in großen, runden Ziffern. Wie jammerschade, daß ich kein Dichter bin! Die Wiedergabe in Prosa zerstört ganz unbedingt den Wert und ebenso die Wirkung. Gabe es doch Einen unter uns, der wenigstens Reime machen könnte, so wäre, wenn auch nicht Alles, so doch die dichterische Form gerettet!«

Da blinzelte Raffley mir von der Seite her mit den Augen zu und sagte:

»Wie steht es mit Euch, lieber Charley? In Euren deutschen Schulen wird ja schon in den untersten Klassen Unterricht über Literatur, Dichtkunst und jede Art von Versfabrikation gegeben. Auch habt Ihr schon einmal ein Buch über Astronomie verbrochen. Zwar gibt mir das noch keine Veranlassung, Euch selbst für einen Stern zu halten, aber vielleicht steht es Euch aus Eurer Jugendzeit noch in Erinnerung, wie man die Worte zu wenden und zu drehen hat, um einen Reim fertigzubringen?«

»Hm!« brummte ich nachdenklich. »Ich habe allerdings schon als Junge gereimt, nämlich zu Vaters oder Mutters Geburtstag und zum neuen Jahre; aber es war auch danach! Dann später baute ich an einer großen, gewaltigen Ballade. Die hieß "Der Saïstempel" und ist mir über alles Erwarten gut gelungen, denn sie fiel noch viel, viel dunkler aus, als die ganze Saïsgeschichte an und für sich schon ist. Und wenn ich mir Mühe gebe, so ist es mir vielleicht möglich, aus dieser allgemeinen Finsternis einige Reime für heut zu retten.«

»Gut, schon, vortrefflich!« lachte da Tsi. »Versuchen wir es! Es ist eine Versündigung an dem Dichter, seine Gedanken in nüchterne, empfindungslose Worte zu kleiden. Suchen wir also nach einem poetischen Gewande. Finden wir es nicht, so haben wir wenigstens unsere Schuldigkeit getan. Ich werde die Uebersetzung wörtlich zu Papier bringen. Sehen Sie dann, was Sie daraus fertig bringen; aber bitte, deutsch, weil dies Ihre Muttersprache ist, die wir ja alle kennen. In der Muttersprache ist eine solche Aufgabe nicht halb so schwer wie in jeder anderen.«

»Das ist richtig!« stimmte Raffley bei. »Und während hier die Uebersetzung gemacht wird, laufe ich hinüber zum Mijnheer. Da liegt ein Buch, welches "Nieuw Hollandsch-Maleisch, Maleisch-Holandsch Woordenboek" heißt. Das hole ich herüber, um Charley damit zu unterstützen.«

Er stand auf, um wirklich zu gehen.

»Bitte, sitzenbleiben!« bat ich ihn. »Dieses Woordenboek würde mich nur irre machen. Ich verzichte also darauf.«

Das Gedicht war kurz und Tsi also rasch fertig.

Ich nahm beides, Original und Uebersetzung, und ging damit nach meinem Zimmer, um ungestört zu sein. Tsi durfte meine eigentliche, deutsche Handschrift nicht sehen, weil sonst der Dichter von "Tragt Euer Evangelium hinaus" sofort verraten gewesen wäre. Ich wählte also eine recht schlechte, abgenutzte Feder und schrieb einen sehr hohen, von links nach rechts hinüberliegenden, lateinischen Duktus. Es gelang. Als ich wieder hinüber kam, gab ich es Tsi. Er las, wieder erst nur für sich allein. Dann warf er einen langen, nachdenklichen Blick zu mir herüber, sagte aber nichts und las die zwölf Zeilen hierauf zum zweiten Male durch.

»Nun?« fragte der Governor. »Wohl schlimme Reimerei, die wir nicht gebrauchen können? Bitte, doch vorzulesen!«

»Sonderbar, höchst sonderbar!« sagte Tsi so vor sich hin. »Es liegt hier Etwas vor, was ich nicht begreifen kann; ich hoffe aber, es doch noch zu erfassen.«

Und nun las er vor, langsam, laut und mit der erforderlichen Betonung:

»O komm, sei wieder Gast auf Erden,
Du gottgesandter Menschheits-Christ.
Dein Stern soll nie zur Flamme werden,
Die das verzehrt, was heilig ist.
Wohl mögen Könige und Weise
Sich dir mit Gold und Weihrauch nahn.
Du aber hast dich nur dem Kreise
Der armen Hirten kundgetan.
Der Habsucht sei das Gold beschieden,
Der Weihrauch dem, der Weihrauch liebt,
Uns Armen aber gib den Frieden,
Den uns kein Fürst, kein Weiser gibt!«

Als er geendet hatte, schob er das Blatt vor sich hin auf den Tisch, faltete die Hände, legte sie darauf, schaute über uns hinweg, wie in weite Fernen, und sprach:

»Das, das ist es, was der Dichter, der zugleich auch Priester ist, hat sagen wollen! Gibt es Einen unter uns, der irgend Etwas hinzuzufügen oder irgend Etwas hinwegzustreichen hat? Wenn uns kein irdischer Herrscher und keine irdische Weisheit den Frieden gewährt, den der Himmel uns verkündete, so kann nur Der allein uns helfen, der diese Engel sandte! Sie waren die ersten, die allerersten christlichen Missionare. Dank sei der ewigen Liebe, die ihr Evangelium durch diese, durch solche Boten sandte!«

Hierauf erhob er sich von seinem Platze und trat unter die offene Fenstertür, als ob er das Bedürfnis habe, freie, reine Lüfte zu atmen. Er hatte fast wie betend gesprochen. Wir saßen unter dem Eindrucke seiner Worte still, ganz still. Und als der Governor nach einiger Zeit das Schweigen brach, sprach er nicht laut, sondern flüsternd:

»Mir ist, als ob mein Freund, der Priester, hinter mir stehe, zwar unsichtbar, aber doch deutlich zu fühlen. Es weht und wallt mir vom Kopfe aus über den Nacken und über die Schultern herab, als ob sein langes, silbernes Haar das meinige geworden sei, so lind, so weich, wie das süßeindringliche Flehen eines Kindes, in dessen Augen die Tränen stehen, wahrend es, Wange an Wange, den Vater umarmt, um seine krause Stirn unter zornstillenden Locken zu verbergen. Wie das nur kommt? Ich war noch nie im Leben so friedlich, so fügsam und so demütig gestimmt wie jetzt in diesem Augenblicke!«

Raffley antwortete, ganz unwillkürlich, ebenso leise:

»Welcher gute Mensch könnte jetzt wohl anders als nur friedlich fühlen! Auch ich habe eine ganz eigene Empfindung. Wenn ich jetzt nach meinem Kopfe griffe, wurde es mich gar nicht wundern, die Hand Eures Freundes zu fassen, die er mir aufgelegt hat, wie er es bei Miß Mary tat. Uncle, Uncle, wir Menschen sind vielleicht doch etwas andere Wesen, als wir denken!«

Da kehrte Tsi zu uns zurück, setzte sich wieder nieder und sagte:

»Das war die eine Botschaft, welche der Malaie brachte. Er hatte noch eine zweite, nämlich an Waller. Ich konnte ihn natürlich nicht zu dem Kranken lassen und habe ihn deshalb zur Tochter geschickt. Der Auftrag, den er auszurichten hatte, besaß an sich gar nichts Wunderbares, zeigte sich aber mit einem Nebenumstande verbunden, den ich fast unglaublich nennen möchte. Man hat nämlich in den Trümmern des niedergebrannten Tempels ein Buch gefunden, welches dem Missionar gehört, ein Neues Testament in englischer Sprache, vollständig unversehrt. Das brennend zusammenstürzende Gebälk hat den steinernen, leicht emporstrebenden Altar zusammengeschlagen, und unter diesen zerbrochenen Platten lag das Buch. Wie ist es dorthin gekommen? Das wird nur Waller erklären können. Mir ist, als ob ich ihn dabei schon sagen hörte: »Dieses Wunder spricht für mich. Grad durch das zusammenbrechende Heidentum wurde das christliche Evangelium beschützt!« Für mich aber liegt das Unbegreifliche nicht hierin, sondern anderswo. Ich erinnere an das geheimnisvolle Gedicht, dessen erste Zeilen Miß Mary vom Wind zugeweht wurden, während sie die folgenden dann in dem Täschchen fand, welches sie bei dem amerikanischen Professor vergessen hatte. Denken Sie sich: Nun hat sich auch die zweite Strophe eingestellt!«

»Wo?« fragte John Raffley schnell.

»In dem erwähnten Neuen Testamente. Erst ein Windstoß in Kairo; dann ein Brief eines Professors aus Philadelphia und heut ein Paket, auf das Sorgfältigste verschnürt, aus den Bergen von Sumatra! Das sind die drei Boten, welche dieses Gedicht für Miß Mary oder, vielleicht noch richtiger, für ihren Vater zusammengetragen haben!«

Er sah uns hierbei der Reihe nach an, um sich an unsrem Erstaunen zu weiden. Darum sagte ich einige Worte, in denen ich auch mich verwundert zeigte. Dann fuhr er fort:

»Man könnte fast an ein Mirakel glauben; aber grad darum, weil ich dies nicht tue, fühle ich mich für diesen geheimnisvollen Vorfall doppelt enthusiasmiert. Das Zusammenfinden der ersten Strophe wäre vielleicht zu erklären. Wie aber kommt die zweite hinauf in den so weltentlegenen, malajischen Kampong? Das Buch ist unbedingt Wallers Testament, nicht etwa ein fremdes. Seine Tochter hat noch oben im Tempel darin gelesen, und zwar das berühmte »Kapitel der Liebe« im ersten Korintherbriefe. Sie hatte es ganz absichtlich aufgeschlagen, gedrängt von dem Gedankengange, daß die bei den braven Malaien gefundene Güte und Liebe sie verpflichtete, ihrerseits dieselbe Liebe zu üben. Sie weiß genau, daß dieses Papier da nicht im Buche gewesen ist. Und nun, heut, liegt es grad bei diesem Kapitel, und nicht nur das, sondern es tragt auch die Aufschrift desselben! Es ist die Handschrift, das Versmaß, der Reim, der Geist, die Seele desselben Dichters, und doch hat sich außer Waller kein Europäer, kein Deutscher dort oben im Malaiendorf befunden. Ich frage, gibt es Jemand, der eine Erklärung hat?«

»Ich nicht!« gestand der Governor aufrichtig.

John Raffley sah still vor sich nieder; ein leises Lächeln spielte um seine Lippen. Dann hob er den Kopf, wobei sein Auge mich mit einem schnellen Blicke streifte, und sprach:

»Dieser Dichter scheint entweder allwissend und allgegenwärtig, vielleicht auch unsichtbar, auf alle Fälle aber ein außerordentlich pfiffiger Patron zu sein! Wenn es sich später fügt, daß man ihn kennen lernt, muß man ihm fleißig auf die Finger sehen!«

»Das sagen Sie natürlich scherzend,« fiel Tsi schnell ein. »Ich weiß, daß ich die Erklärung nicht zu finden vermag, und will mich darum nicht mit vergeblichen Gedanken quälen, sondern die Sache nehmen, wie sie ist. Und wie ist sie? Sie sollen es hören. Die Lady hat mir das Gedicht für Sie anvertraut.«

Er nahm das von mir geschriebene Blatt aus seiner Tasche und las:

»Tragt Euer Evangelium hinaus,
Indem Ihr's lebt und lehrt an jedem Orte,
Und alle Welt sei Euer Gotteshaus,
In welchem Ihr erklingt als Engelsworte.
Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein;
Laßt ihren Puls durch alle Länder fließen;
Dann wird die Erde Christi Kirche sein
Und wieder eins von Gottes Paradiesen!«

Er schaute uns der Reihe nach an, um zu sehen, welchen Eindruck die Vorlesung auf seine Zuhörer gemacht habe. Dann fuhr er fort:

»Mir kommt es vor, als habe ich den Dichter jetzt entdeckt, oder vielmehr die Dichterin, nämlich unsere "Shen", die Menschlichkeit, welcher der Friede auf Erden höher steht als jedes andere, vergängliche Interesse. Aber der Verfasser ist jedenfalls ein Deutscher, welcher von dem Vorhandensein der "Shen" nicht die geringste Ahnung hat. Oder doch? Gibt es auch für ihn eine "Shen"? Eine unsichtbare, überirdische, in deren Geist die unserige, die irdische hier waltet?«

Indem er das Blatt jetzt wieder zusammenfaltete, schien es, als ob sein Gesicht ein ganz anderes geworden sei. Es gibt seelische Feinheiten, zu deren Bezeichnung oder Beschreibung selbst das zarteste Wort noch zu plump sein würde. Mit fehlt der Ausdruck für das, was aus dem Gesichte dieses jungen Chinesen jetzt zu uns sprach. Es war eine Klarheit, eine Innigkeit, ein Enthusiasmus, eine Glückssehnsucht und zugleich schon Glücksahnung, es war – – – wahrscheinlich doch er selbst, sein ganzes Wesen, sein Fühlen und sein Denken, aber verklärt, verschönt und vergeistigt durch etwas Anderes, was nicht zu ihm gehörte, sondern von außen her zu ihm gekommen war.

»Ich bin so froh,« sagte er weiter, »so herzlich froh über das, was ich Ihnen da vorgelesen habe. Wären doch wir es nicht allein, wir wenigen Personen, die es kennen lernen! Könnte es doch von jedem Munde zu jedem Ohre klingen! Möchte es doch nicht nur allein gehört, sondern auch verstanden und beachtet werden!«

Da antwortete John, indem ein halb verstecktes Lächeln um seinen Mund spielte:

»Das ist freilich zu wünschen, und ich denke auch, daß wir nicht die Einzigen sein werden, die es kennen lernen. Es hat schon Mancher weit schlechtere Gedichte gemacht, als dieses ist, und dann sofort den Drucker aufgesucht, um sich in einer Auflage von Zweihundert zu verewigen. Es soll auch Dichter gegeben haben, welche diese Auflage nicht selbst zu bezahlen brauchten, sondern sogar noch Honorar dafür bekamen. Um so weniger brauchen wir uns in Beziehung auf den Mann zu sorgen, um den es sich hier in diesem Falle handelt. Wer seine Gedichte auf so ganz ungewöhnlich schwierigen Wegen in Aegypten, Indien und sogar hier auf den Sundainseln an den richtigen Mann zu bringen weiß, der findet wohl auch anderwärts die gewünschte Zahl von Lesern, wenn er will. Wie es scheint, dichtet er nicht, um seinen kleinen, irdischen Namen bekannt zu machen, oder gar zu verewigen, sondern um Gedanken zu verbreiten, die er aus den geistigen Strömungen der Gegenwart herausgreift. Was er sagt, hat er also nicht etwa sich selbst zu verdanken; aber wie und wem er es sagt, das ist von ihm erdacht. Habe ich da Recht, lieber Charley?«

»Gewiß! Vollständig recht!« antwortete ich. »Wer da glaubt, der Dichter sei eine kompakte, imporöse Persönlichkeit, die von nichts Fremdem berührt und durchdrungen werden dürfe, der hat vielleicht einmal gereimt, aber sicher nicht gedichtet. Selbst der edelste der Steine, der Diamant, strahlt nicht in seinem eigenen, sondern in geliehenem Lichte, und wer eine Biographie über irgend einen berühmten Dichter schreibt, sollte vor allen Dingen nach den jeweiligen Quellen der Ausstrahlungen dieses Edelsteines suchen und weder den Geburts- oder Fundort und die Fabrik, in welcher er geschliffen wurde, in der Weise betonen, wie es fast stets geschieht. Es stammt gar manche Geistesgröße aus so geistig winzig kleinen Verhältnissen, und es hat so mancher hochberühmte Mann auf Gymnasium und Universität so wenig geleistet, daß man die Wege, auf denen der Genius zu ihm kam und ihn an jedem Tage von neuem besucht, doch endlich einmal nicht mehr in sein Heimatsdörfchen oder in die später durchlaufenen Semester verlegen sollte! Darum wird jeder wahre Dichter viel mehr nach oben als nach unten dankbar sein. Er weiß recht wohl, daß er durch die äußeren Verhältnisse zwar Harfe mit so und so viel Saiten geworden ist, daß es aber wohl keine Harfe gibt, die sich selbst zu spielen vermag.«

Da sah Tsi, der Chinese, mich ganz eigentümlich an.

»Harfe!« sagte er. »Dann kommt der Genius, der jede Zeit hoch überragt, mit seinen tausend Engeln und läßt bald hier, bald dort, bald diese und bald jene Saite rühren. Darum kann das geheimnisvolle Gedicht, von dem wir sprachen, und dessen Quell in Deutschland zu liegen scheint, fast ganz genau dieselben Gedanken haben und desselben Sinnes sein wie das, was der Oberpriester der Malaien schrieb! Wären es doch überall nur solche Engelshände und leider nicht auch andere! – – Doch, ich muß mich verabschieden. Ich habe heut zu wachen, bis morgen früh, bei Waller.«

»Ist das unbedingt nötig?« fragte ich.

»Jetzt noch, ja. Wir wechseln ab, Miß Mary und ich.«

»Darf Keiner von uns sich beteiligen? Es würde mir nichts, wirklich gar nichts tun, einmal eine Nacht nicht zu schlafen. Bitte, lassen Sie mich heut Ihre Stelle einnehmen!«

Mein Wunsch schien ihm nicht ganz unwillkommen sein, doch er erst nach einigem Zögern:

»Ich nehme Ihr Opfer an, weil ich weiß, daß es für Sie von großem Interesse ist, an meinen psychologischen Beobachtungen teilzunehmen. Kommen Sie noch vor zehn Uhr zu mir! Es ist nötig, daß ich Sie vorbereite.«

Er ging.

Als er fort war, stellte John sich hoch und breit vor mich hin, sah mir mit listigem Augenzwinkern in das Gesicht und fragte mich:

»Es ist Euch doch wohl ein "Sihdi, welcher Gedichte macht", bekannt, Charley?«

»Freilich!« lachte ich.

»Kann dieser Sihdi auch solche Reime machen, wie wir vorhin gehört haben?«

»Er hat sich vorgenommen, es zu versuchen.«

»Ihr wollt mir entweichen. Also gerade und glatt heraus: Hat dieser Sihdi jenes Gedicht gemacht?«

»Nein!« behauptete ich.

»Halloo! Ich kenne Euch als einen streng wahrheitsliebenden Mann; Jetzt aber scheint Ihr doch eine Ausnahme machen zu wollen! Ich möchte diese Verse keinem Andern als nur Euch zuschreiben!«

»Nehmt Herzensdank für die gute Meinung, die Ihr von mir habt! Aber ich sagte soeben, daß man zwischen Harfe und Spieler zu unterscheiden habe. Wenn sich der Betreffende nicht nennt, so tut er das jedenfalls aus Gründen, die wir achten müssen. Warum also nach ihm forschen und fragen?«

»Well! Ihr habt in einem so bestimmten Tone "Nein!" gesagt, daß – – –«

»Bitte,« unterbrach ich ihn; »diese Antwort galt nicht Eurem Fragegedanken, sondern Eurer Ausdrucksweise. Ihr fragtet, ob dieser Sihdi jenes Gedicht "gemacht" habe. Es gibt freilich tausende und abertausende von Gedichten, welche "gemacht" worden sind; sie werden für Gedichte ausgegeben, sehen ihnen auch ähnlich, sind aber keine Gedichte. Wahre, wirkliche Gedichte werden nicht gemacht, wenigstens nicht hier bei uns; sie entstehen in jenen Sphären, aus denen die Inspiration auf Engelsflügeln niederschwebt, um dem nach oben lauschenden Poeten die Stirn zu küssen und ihm das Auge und das Ohr für eine Welt zu öffnen, die Anderen verborgen bleibt. Der Dichter ist darum zugleich auch Seher. Das ist das untrüglichste Erkennungszeichen. Wer nicht Seher ist, kann auch nicht Dichter sein! Schaut in die Heilige Schrift! Wie oft beginnen die Reden der Propheten: "Und ich sah" oder "Und ich hörte eine Stimme." Sie waren Seher, und lest nun ihre Worte, so werdet Ihr erkennen, daß sie als Seher Dichter waren. Das Eine ist nicht von dem Andern zu trennen! Dem wahren Dichter kommt aus einer Welt, die mit der unsrigen zusammenhängt, auf leisen Schwingen schöngebor'ne Kunde; er nimmt sie auf; er gibt sie weiter fort, und wer sie hört, der wird von ihr berührt, als sei sie ein Gedicht aus Engelsmund. Das ist die Poesie, die aus dem Himmel stammt; kein Geist, kein Mensch kann sie uns niederbringen; dort oben, wo das Meer des Lichtes flammt, muß jeder Strahl in goldenen Reimen schwingen. Und steigt er nieder, nimmt er Formen an, um sich dem Menschensinn zu offenbaren, und diese Formen, sie bestehen dann für unsre Nachwelt noch nach tausend Jahren!«

Raffley und der Governor standen da und sahen mich aus großen Augen an. Es war wie eine Begeisterung über mich gekommen, und ich hatte gesprochen, ohne vorher zu überlegen oder gar die Worte metrisch abzuwägen.

»Wißt Ihr nun, was ein Gedicht ist?« fragte ich. »Und wißt Ihr nun, wer eigentlich das Recht besitzt, sich einen Dichter zu nennen?«

Da antwortete der Neffe:

Ich habe es nicht mit der Heimat der inspirierenden Kräfte zu tun, sondern mit der von ihnen auserwählten Persönlichkeit, und diese ist für mich der Dichter. Sagt mir nun noch hundert- oder tausendmal Alles, was ihr wollt, aber das Gedicht, von dem die Rede ist, wird doch mit keinem andern Namen, als nur mit dem Eurigen gedruckt! Ich bitte, mir dann mitzuteilen, in welchem Werke; es muß sofort in meine Bücherei!« –

Es war halb zehn Uhr, als ich zu Tsi ging. Er befand sich in seinem Zimmer und sagte mir, er habe Mary mitgeteilt, daß ich wachen wolle, und sie sei damit dankbar einverstanden gewesen. Dann fuhr er fort:

»Ich hatte die Absicht, Ihnen eine ausführliche Erklärung des Krankheitszustandes zu geben, und dann wollte ich Ihnen für jeden in der Nacht möglichen Fall die betreffenden Verhaltungsmaßregeln vorschreiben; aber ich will doch lieber davon absehen, dies zu tun. Sie sollen Ihres heutigen Amtes in möglichster Unbefangenheit walten. Sie sollen diesen scheinbar Geisteskranken nicht von meinem Standpunkte, sondern von dem Ihrigen aus betrachten, und dann werden wir sehen, welche Differenzen sich zwischen beiden ergeben. Kommen Sie also! Ich führe Sie nach der Krankenstube!«

Er ging voran und öffnete die Tür. Das Zimmer war groß; der schöne Abendhauch hatte ungehindert Zutritt. Auf dem Tische brannte eine halb verhangene Lampe. Der Kranke lag unter einer leichten Decke lang ausgestreckt im Bett, an welchem Mary saß. Als sie mich sah, stand sie auf.

»Wie recht, daß Sie kommen!« sagte sie leise. »Sie werden ihn kaum wieder kennen; aber ich bin nicht mehr traurig, sondern froh, denn Herr Tsi hat mir versichert, daß Vater gerettet sei. Er kennt mich noch nicht, ist aber in den Zwischenräumen tiefer Apathie geistig ungemein beschäftigt. Womit, das werden Sie nicht erraten. Kommen Sie; nehmen Sie Platz!«

Tsi schob mir einen Stuhl an die Seite des ihrigen. Waller hatte allerdings ein fast leichenhaftes Aussehen. Das Gesicht war zum Erschrecken eingefallen. Ich sah das Skelett eines Kopfes vor mir, und die Hände bestanden auch nur bloß aus Knochen, um welche sich die Haut in lockeren Falten legte. Wir sprachen nicht. Es wäre mir schwer geworden, bei diesem Anblicke Worte zu machen.

Der leise, nicht unangenehme Duft des Ko-su erfüllte den Raum, so ähnlich, wie wenn Weihrauch durch die Halle einer Kirche getragen worden ist, und wie dieser Gott geweihte Ort an andere, höhere Welten mahnt, so zog auch hier das Ringen einer zwischen dem Diesseits und dem Jenseits schwebenden Menschenseele unser Denken und Empfinden nach der Grenze hin, an welcher Alles aufzuhören scheint, weil Alles dort beginnt. Seelenäußerungen, an dieser Grenze für die zurückliegende Erde in Menschenworte gekleidet, sollen dem, der diese Worte hört, nicht anders als nur heilig sein!

Es herrschte tiefe Stille im Zimmer; auch draußen regte sich nichts; der Kranke lag wie tot. Nach einiger Zeit gab Mary mit der Hand ein Zeichen. Ich sah, daß er die Lippen bewegte. Dann klang es langsam und leise zwischen ihnen hervor:

»Ich sehe dich und höre dich, mein Lieb! Du bist nicht tot, du bist in meiner Seele. Du hast es mir gesandt, weil ich's vergessen hatte.«

Er hatte seine Stimme bei diesem letzten Satze in der Weise erhoben, wie man vor einem Doppelpunkte zu lesen pflegt, und fügte nun mit stark und voll niedersinkender Stimme hinzu:

»Tragt Euer Evangelium hinaus,
Doch ohne Kampf sei es der Welt beschieden.«

Hier hielt er inne; das also halte Mary gemeint, als sie sagte: »Womit, das werden Sie nicht erraten.« Er bog nach diesen Worten den Kopf zur Seite, als ob er auf etwas lausche, und sprach dann ebenso langsam und ebenso leise wie vorher weiter:

»Vergib! Ich war vom Antichrist betört! Er tat, als, ob er unser Jesus sei! Ich habe nur auf ihn, auf ihn gehört und glaubte mich von allem Irrtum frei. Du warntest mich; du hattest ihn durchschaut, sahst ihn in seiner ganzen Häßlichkeit; in deiner Stimme ward mein Engel laut, der Engel unserer ganzen Christenheit – – –«

Mary hatte, vielleicht es gar nicht wissend, ihre Hand auf die meine gelegt.

»Er spricht mit Mama,« flüsterte sie mir zu. »Er tat es schon vorhin.«

Sie nahm meine Hand fester, als ob sie für das nun Folgende nach einem Halte suchen müsse. Ihr Vater sprach nach dieser Pause weiter:

»Du gingst von mir – – ich war mit ihm allein, mit ihm, vor dem du mich so oft gewarnt, und darum konnte es nicht anders sein: er hat mich vollends, durch mich selbst, umgarnt. O glaube mir, ich hab es nicht gedacht, daß Christi Wege andere Wege sind; der fromme Dünkel hat mich irr gemacht; er ist der Hölle größtes Lieblingskind – – –«

Hier holte er zum erstenmal tiefer Atem, so daß man seine Brust sich bewegen sah. Seine Züge waren bisher während des Sprechens unverändert geblieben; nun wurden sie von dem Ausdrucke seelischer Pein bewegt, als er fortfuhr:

»Und seht Ihr irgendwo ein Gotteshaus,
So stehe es für Euch im Völkerfrieden!«

Nach diesen Worten schlug er die hagern Hände zusammen, riß die Augen auf, starrte über sich empor und sprach, lauter und schneller als bisher:

»Ich sehe, wie die Flamme aufwärts steigt, die ich, entfacht mit frevlerischer Hand. Ich sehe, daß sich weinend zu mir neigt der Engel, den du mir herabgesandt. Ich sehe dich; ich seh dein teures Haupt. Wie trauert doch dein liebes Angesicht! Was tat ich doch! Was habe ich geglaubt! Ist Feuerbrand denn wirklich Christenpflicht?«

Jetzt nahmen die scharfen Züge des Missionars einen freundlicheren Ausdruck an; die ängstlich verschlungenen Hände lösten sich, und es erklang in ruhigerem Tone aus seinem Munde:

»Ich danke dir; ich danke dir wie sehr, daß du mir nahst, du lichtes Himmelsbild. O komme doch, o komme zu mir her und schau mich an wie früher, warm und mild. Bring mir den Segen, den der Himmel gibt, und sage doch, daß mir verziehen ist. Lehr' so mich lieben, wie der Herr uns liebt – – –«

Er hielt inne. Indem er tief, tief Atem holte, bereitete sich ein schönes, glückliches Lächeln über sein Antlitz, und mit froh erhobener Stimme fügte er hinzu:

»Dann bin ich, was ich niemals war – – ein Christ!«

Hierauf schloß er die Augen, faltete die Hände auf der Brust und sprach nicht weiter. Er schien zu schlafen. Darum entfernten sich nun die beiden Andern, und ich blieb mit ihm allein.

Ich setzte mich hinaus auf die Veranda. Es war schön sternenhell. Nächtlich sich erschließende Blumen sandten mir ihre Düfte zu. Ringsumher lag tiefe Stille. Ich saß hier nur fünf Grade vom Aequator entfernt; wie weit von der Heimat und wie ihr so nahe! Die Heimat des Körpers ist das Grab; der andere, edlere Teil des Menschen aber ist im Jenseits daheim, aus welchem er stammt. Irdische Orte können ihm, falls er dort Liebe findet, zu einem vorübergehenden Heime werden, doch nur für hier, nicht aber auch für dort. Oder doch vielleicht? Wo habe ich mir dieses Hier und wo jenes Dort zu denken? Sollte es trotz alledem möglich sein, daß der »sogenannte« Tod nicht die Macht besitzt, dem wirklichen Leben Grenzen zu setzen? Weder räumliche noch zeitliche? Hatte nicht soeben da drin im Zimmer Waller mit seiner Frau gesprochen? Ein Lebender mit einer Verstorbenen? Oder war das nicht Wirklichkeit, sondern nur Traum, nur Fieber, nur Wahnsinn?

Da horch! Es gab drin im Gemache ein Geräusch. Ich ging leise hinein. Der Kranke lag im Schatten, doch konnte ich seine Gesichtszüge unterscheiden. Er sprach sehr, sehr leise mit sich selbst. Da setzte ich mich an den Tisch und lauschte. Das Flüstern wurde vernehmbarer. Ich konnte einzelne Worte, dann aber bald ganze Sätze verstehen. Für mich waren sie ohne Zusammenhang, wohl aber nicht für ihn. Doch plötzlich rief er so laut und so deutlich, als ob es viele, sehr viele hören sollten:

»Gebt was Ihr bringt, doch bringt mir Liebe mit,
Das andere alles sei daheim geblieben!«

Woher hatte er diese Zeilen? Natürlich von seiner Tochter! Aber auf welche Weise? Kann ein Mensch, der ohne Besinnung liegt, sehen oder hören und sich sogar auch merken, was Andere lesen? Indem ich mich dies fragte, fuhr er mit wieder gesunkener Stimme fort:

»Du stehst bei mir; ich sehe dich im Licht, wie ich dich nie vorher so licht gesehn. Bist du die Liebe? Bist du dies Gedicht? Was ist mit dir, was ist mit mir geschehn? Hab ich an dich, die Liebe, denn gedacht, als meine Seele noch am Eifer hing? O sag, wer hat dich zum Gedicht gemacht, grad als ich mich so schwer an dir verging?«

Er schloß in leisem, klagendem Tone, langsam und ruhig sprechend; nun aber fuhr er hastig fort:

»Wer drückte Petri Schwert mir in die Hand, vor welchem nur der Knecht den Nacken beugt? Wer machte es in ihr zum Feuerbrand, der gegen meinen eigenen Glauben zeugt? Wer gab mir aus der Heimat Alles mit, was christlich heißt und doch nicht christlich ist – – –? War's der etwa, der an dem Kreuze litt – – –?«

Er hob die dürre, skelettartige Hand empor, als ob er eine Vision vor sich habe, und schloß, schwer und wieder langsam sprechend:

»Sag mir, o Christus, sag, ob du es bist!«

Die Hand blieb einige Zeit erhoben; dann sank sie ruckweise, wie zögernd, nieder. Ueber seine soeben noch erregten Züge glitt ein helles, warmes Lächeln; er schüttelte wenn auch nur schwach, doch bemerkbar den Kopf und sprach, sich selbst beantwortend:

»Grad weil sie einst für Euch den Tod erlitt,
Will sie durch Euch nun ewig weiter lieben.«

Hierauf legte er die Hände zusammen wie ein Kind, welches sich über Etwas freut, und sprach in frohem Tone weiter:

»O nein, o nein; soweit der Himmel reicht, erklingt noch heut dein großes Liebeswort, und jeder Tag, der aus dem Morgen steigt, verkündet es der Menschheit weiter fort. Du hast gelebt – – zu unserer Seligkeit; du hast geliebt – – geliebt die ganze Welt; im Leben der Geringste deiner Zeit, bist du im Lieben ewig, ewig Held!«

Trotz seiner großen Schwäche hatte er seine Stimme zum Tone der Begeisterung erhoben. Das schien ihn angegriffen zu haben; er schloß die Augen, welche er offen gehabt hatte, und lag längere Zeit ohne Wort und Bewegung da. Dann sah ich, daß er die Hand erhob und sie bewegte, als ob er Jemand zu sich herwinke. Dabei sagte er:

»Gib mir die Hand! Ich will dein Eigen sein; du hast mich früher ja so oft geführt. Ich handle falsch, ich gehe irr allein; das hab ich, als du fehltest, ja gespürt. Du gingst zwar fort, in jenes Christenland, wo auch die seligen Heiden Christen sind, doch ist dir ja der Weg zu mir bekannt; o komm, o komm, du lichtes Himmelskind!«

Wer war es, der ihm in Gestalt seiner Frau vorschwebte? Ein Truggebilde, ihm vom Traume, vom Fieber, vom Wahnsinn vorgetäuscht? Er sprach mit diesem Wesen in kurzen, abgebrochenen Sätzen und so leise, daß ich nichts verstehen konnte. In den Zwischenpausen lauschte er, als ob er Antwort höre. War es die Hand des Traumes, des Fiebers, des Wahnsinnes, welche alle Spuren der Qual, des Leides aus dem armen, eingefallenen Gesicht strich? Es lag so rührend ergeben, so zufrieden lächelnd da, fast selbst wie eine Vision, auf dem hellen, weichen Kissen! Erst nach längerer Zeit verstand ich wieder, was er sagte, ein bittendes Wort:

»O, falte mir die Hände jetzt; ich will zum Vater treten. Ich habe sein Gebot verletzt und muß um Gnade beten.«

Ich sah gespannt zu ihm hin. Seine Hände näherten sich einander; sie falteten sich, aber nicht als ob er dies selbst tue, sondern als ob sie ihm, Finger um Finger, von einer mir unsichtbaren Person zusammengelegt würden. Dann flüsterte er:

»Ich danke dir; es ist geschehen; du gabst mir frommes Zeichen und sollst, um beten mich zu sehn, mit mir zum Himmel steigen!«

Nach diesen Worten war es mir, als müsse ich das Flügelrauschen Derer vernehmen, welche, von mir ungesehen, herbeischwebten, um sein Gebet in Empfang zu nehmen und dorthin zu tragen, wo alle Gebete der Menschenkinder zum Herzen des Vaters klingen, um in demselben für ewig aufbewahrt zu werden. Auch ich faltete meine Hände, denn es war ein heiliger Augenblick, so unwiderstehlich ergreifend, daß gewiß auch jeder Andere an meiner Stelle ganz dasselbe getan hätte, was zu unterlassen mir unmöglich war.

»Amen!« erklang es nach einiger Zeit. Er fügte noch ein zweites, lauteres »Amen!« hinzu, und dann – – – habe ich nie in meinem Leben ein Gesicht gesehen, auf welchem der innere Friede sich schöner und deutlicher ausgedrückt hätte als auf dem seinigen. Von jetzt an lag er still, und die ruhigen, regelmäßigen Atemzüge ließen vermuten, daß er eingeschlafen sei.

Es herrschte die tiefste Stille im Zimmer; auch draußen regte sich nichts; Waller lag wie tot. Auf dem Tisch, an dem ich saß, lag ein Buch. Es war mein »Am Jenseits,« welches John Raffley für Miß Mary von der Jacht mitgebracht hatte. Sie hatte hier während des Wachens sehr oft darin gelesen und, wie ich bald erfuhr, Tsi auch. Ich schlug es auf, denn es gab ja sonst nichts weiter zu tun, und las.

Diese Lektüre versetzte mich in jene meinen Lesern wohlbekannte Wüstennacht, in welcher wir den geheimnisvollen »Sohn des Lichtes« zu uns sprechen hörten. Ich las mich nach und nach vollständig in die Stimmung hinein, aus welcher heraus ich dieses Buch geschrieben hatte. Auch die damalige Szenerie tauchte in meinem Innern auf. Ich las und sah und hörte zu gleicher Zeit, daß der blinde Münedschi mich aufforderte, mit ihm zu gehen; er habe mich zu führen. Ich folgte ihm. Mein Hadschi Halef und der persische Basch Nazyr gingen mit. Von einem Nichtsehenden und aber doch viel mehr als wir selbst Sehenden wurden wir vom Lagerplatze hinaus in die Wüste geführt, auf eine aus ihr aufragende, unwegsame Felseninsel. Oben angekommen, sagte er zu mir:

»Setze dich auf diesen Stein! Ich werde stehen bleiben, denn nur der Leib ermüdet, der Geist aber kennt keine Verringerung seiner Kraft, und nicht mein Körper, sondern dieser mein Geist ist es, den du jetzt zu dir sprechen hören wirst!«

Ich folgte dieser Aufforderung, und Hadschi Halef und der Basch Nazyr ließen sich auch, und zwar eng neben mir, nieder. Hierauf stand der Blinde eine ganze Weile hoch aufgerichtet und unbeweglich da, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, als ob er in die Ferne lausche. Wir befanden uns in einer ganz ungewöhnlichen Spannung, der wir aber keine Worte gaben, denn in der ganzen Situation und wohl auch in uns selbst lag Etwas, was uns das Sprechen verbot. Da begann er:

»Seid mir gegrüßt, Ihr Pilger dieser Erde, gegrüßt in der Sprache dieser Eurer Welt! Wenn ich zu Euch in unserer Weise spräche, Ihr würdet nichts vernehmen, denn Euer Ohr hat nur Empfängnis für den Schall, durch Schwingungen der Luft zu Euch getragen; wir aber sprechen nicht durch dieses Mittel, und unser Wort ist kein Geräusch, ist Tat!«

Hier, grad bei dieser Stelle war ich im Lesen angekommen, da krachten hinter mir die Fugen von Wallers Lager. Ich stand rasch auf und drehte mich um. Er hatte sich aufgerichtet; er saß. Woher hatte er, der Todesschwache, die Kraft dazu erhalten? Er schaute starr vor sich hin, hob drohend die Faust empor und rief mit tiefdröhnender Baßstimme aus:

»Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Dieser soll dir den Kopf zertreten, du aber wirst ihn in die Ferse stechen!«

Er blieb fast eine ganze Minute so sitzen, mit geballter Faust und ausgestrecktem Arm. Dann fiel er hintenüber und lag mit geschlossenen Augen so still, wie er vorher gelegen hatte.

Was war das gewesen?! Woher die tiefe Stimme, dieser volle, schwere Baß, den Wallers Organ gar nicht besaß? Und woher plötzlich diese Lungenstärke, welche die Worte hinausgerufen hatte, als ob sie für eine große, weit ausgedehnte Menge von Zuhörern berechnet gewesen seien?

Ich ging leise zu ihm hin und lauschte. Sein Atem ging fast unhörbar, aber in regelmäßigen Zügen. Ich berührte ihn; er schien es nicht zu fühlen. Ich hob seinen Kopf ein wenig empor, um ihm das Kissen bequemer zu legen; es geschah ohne die geringste Lebensäußerung von ihm. Da kehrte ich an den Tisch zurück und las im Buche weiter.

Stunde um Stunde verrann. Mitternacht war längst vorüber. Die tiefe Stille begann, mich zu ermüden, und das gedämpfte Lampenlicht strengte meine Augen an. Ich stand also von meinem Stuhle auf und ging wieder hinaus auf die Veranda. Da setzte ich mich nieder und dachte über das Gelesene nach. Da, plötzlich erscholl im Zimmer drin dieselbe tiefe Stimme:

»Es ist vollbracht! Da neigte er sein Haupt und ging hinüber!«

Ich wartete ein Weilchen, ehe ich mich wieder in das Zimmer begab. Er hatte sich abermals aufgerichtet gehabt, denn er lag jetzt anders als vorher. Ich schob ihm das Kissen wieder unter, und er regte sich hierbei ebenso wenig wie bei dem vorigen Male. Er war wie tot, wenn auch nicht starr und steif. Da kehrte ich nach meinem Sitze in der Veranda zurück.

Noch glänzte der Sternenhimmel in seiner südlichen Pracht über mir; aber ich achtete heute weniger als sonst auf seine strahlenden Lichter. Warum? Ich dachte über Wallers Worte nach. Die erste biblische Verheißung – – – und dann das große Schlußwort des Erlösungswerkes! Welche unendliche Fernen liegen oftmals zwischen Beiden, und wie nahe gehören sie doch eigentlich zusammen! Das eine im verlornen Paradies, das andere auf Golgatha gesprochen! Zwischen beiden der Leidensweg aus dem Erdenreiche empor zum Himmelreiche! Wo ist dieses Himmelreich? Etwa im Jenseits erst? Hat Christus durch seine Gleichnisse gelehrt, daß es bereits hier auf Erden sei? Und wenn es so wäre, wo häte man es da wohl zu suchen? Auf welche Weise wäre es da zu erreichen und zu erlangen?

Eben legte ich mir diese Fragen vor, da hörte ich, daß Waller sich wieder bewegte, und dieselbe Stimme, die schon zweimal erklungen war, ertönte wieder

»Wahrlich, ich sage Euch, es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so könnt ihr das Reich Gottes nicht erlangen!«

Das war im höchsten Grade überraschend. Ein Anderer an meiner Stelle wäre vielleicht gar erschrocken. Eine so laute und sofortige Antwort auf meine nur im Stillen gedachte Frage! Oder lag dieser dritte Bibelvers in der Fortsetzung der logischen Linie, welche die beiden ersten verband? Wenigstens für Waller, in dessen Innern es arbeitete, während sein Körper nur an hervorragenden Stadien mit ergriffen und bewegt zu werden schien?

Ich ging zu ihm hinein. Er hatte sich auch dieses Mal wieder erhoben gehabt und lag nun so, daß sein Kopf weicher zu betten war. Als ich dies getan hatte, ging ich wieder hinaus und versuchte, mir den Gedankengang des Kranken zu erklären.

Die christliche Theologie pflegt das, was mich beschäftigen wollte, den »Heilsweg« zu nennen. Aber wer, wie ich, nicht Fachmann ist, der läßt solche Grübeleien am besten den sich dazu berufen Fühlenden über. Darum schob ich diese Gedanken bald wieder fort und beobachtete das Nahen des Morgens, der jetzt hell und immer heller zu werden begann und mich schließlich an die brennende Lampe erinnerte, welche drin auf dem Tische stand. Ich ging hinein, um sie zu löschen.

Waller hatte die Augen zu, doch schien er mich gehört zu haben, denn er bat mich mit schwachklingender Stimme um Wasser. Ich gab es ihm, zwar nur löffelweise, aber er trank doch ein ganzes Glas voll aus. Dann öffnete er die Augen und sah mich an, lange Zeit. Ich stand still und ließ es geschehen. Der Blick seiner Augen wurde immer klarer, aber er erkannte mich trotzdem nicht. Da flüsterte er mir zu:

»Sag, bin ich der Missionar Waller – – – oder bin ich noch der Knabe Waller? Ich weiß es nicht genau.«

Da ging es wie eine leuchtende Erkenntnis in mir auf, ganz plötzlich, wie die Sonne auf dem Meere aufzugehen pflegt, und ich antwortete, ohne mich weiter zu besinnen:

»Der Missionar ist umgekehrt. Hier liegt nur noch das Kind, der Knabe Waller.«

»Das Kind! Der Knabe!« lächelte er beglückt. »Ich danke dir, du lieber fremder Mann!«

Er wollte hierauf die Augen schließen, tat aber gerad das Gegenteil, indem er sie weit öffnete, denn soeben drang der erste Sonnenstrahl zur offenen Verandatür herein und überflutete das Krankenzimmer wie mit flüssig diamantenem Golde. Er schaute hinaus, hinaus ins Freie, faltete die hageren Hände und sprach, indem seine Stimme leiser und immer leiser wurde:

»Ein Knabe – – – ein Kind – – – in solchem Lichte! Ist dies das Leben – – –? Ist es der Tod – – –? Oder ist es beides – – –? So, so will ich sterben und dann leben – – – als Kind – – – in diesem Lichte – – – im goldenen Morgenglanz – – – im ersten Sonnenstrahl – – – als Kind, als Kind!«

Hierauf schloß er die Augen, tat einen tiefen, tiefen Atemzug und schlief ein. Das Lächeln des Glückes aber wich nicht von ihm; es spielte um seine Lippen weiter.

Bald darauf stellte Tsi sich ein. Er winkte mir, auf der Veranda zu bleiben, und kam leisen Schrittes zu mir heraus. Ich berichtete ihm, was geschehen war. Er sagte zunächst nichts, sondern schaute still nach dort hinüber, wo die aufgegangene Sonne stand.

»Wie richtig, wie richtig!« erklang es endlich von seinem Munde, indem er wiederholt bestätigend vor sich hinnickte.

»Was?« fragte ich.

»Daß Sie zu ihm gesagt haben, der Missionar sei umgekehrt. Ich glaubte, Ihnen heute früh eine Menge von Erklärungen geben zu müssen. Mit diesem einen Worte aber haben Sie mich all dieser Mühe enthoben. Wer so antworten kann, den brauche ich nicht erst noch zu unterrichten! Ja, der Missionar ist allerdings umgekehrt, wie es scheint. Oder, um dasselbe mit noch anderen Worten zu sagen, will ich mich eines biblischen Ausdruckes bedienen, welcher außerordentlich bezeichnend ist: Der Missionar ist zu seinen Vätern gegangen, zu den Ahnen, von denen er stammte! Wallers Vorurteil war das Vorurteil seiner Väter; das wissen Sie ja längst. Es ist zu ihnen zurückgekehrt.«

»Als der Letzte ihres Stammes,« fügte ich nachdenklich hinzu.

Da machte er eine Bewegung nicht zu verbergender Ueberraschung und fragte schnell:

»Was wissen Sie hierüber? Ich erstaune, diese Bemerkung aus dem Munde eines Europäers zu hören! Woher haben Sie erfahren, was es für dort bedeutet, hier der Letzte seines Stammes zu sein? Ich habe gedacht, Ihr glaubt, der Tod mache einen Strich nur unter das Leben jedes Einzelnen. Wie wahrhaft christlich, daß Sie diesen Einzelnen entlasten wollen, wenn auch nicht ganz! Und wie wahrhaft gerecht, Diejenigen herbeizuziehen, von Denen nicht nur die menschliche Form, der Körper stammt, sondern mehr, viel mehr! Wenn man im Abendlande doch endlich einmal ernstlicher und besser nachdenken wollte über das, was man so unsinnigerweise als unsern "Ahnenkultus" bezeichnet!«

Er machte mit der Hand eine Bewegung, welche bedeutete, daß er zwar gern hierüber weitersprechen möchte, es aber lieber doch nicht tue. Dann fuhr er fort:

»Wissen Sie, was Sie getan haben, als Sie Waller sagten, der Missionar sei umgekehrt?«

»Ja,« antwortete ich.

»Und glauben Sie, richtig gesprochen zu haben?«

»Ich glaube es nicht nur, sondern ich bin überzeugt davon. Der Mensch ist kein willenloses Stein-, Ziegel- oder Holzgebäude, welches sich gefallen zu lassen hat, wer in ihm wohnt und jeden Winkel für seine besonderen Zwecke auszunutzen trachtet. Wir haben unsern eigenen Willen und sind auch sonst nicht ohne allen Schutz, mein lieber Freund!«

»Ja, das ist es, das! Die Psyche ist etwas ganz Anderes als man denkt, und den Geist kennt man sogar noch weniger als sie. Und weil man sich der richtigen Erkenntnis verschließt, zieht sich durch unser ganzes Leben eine große, endlose Versündigung, welche ihre Kralle nach jedem neugeborenen Menschen ausstreckt, um ihn sich ja nicht etwa entwischen zu lassen. Sie haben heut Nacht Großes, wahrhaft Großes gehört. Es waren Bibelsprüche. Soll ich sie Ihnen auslegen? Nein! Ich bin ja Heide! Ein Anderer mag es tun, ein studierter christlicher Theologe, der sich hierzu ganz besonders berufen gefühlt hat, nämlich Waller selbst! Er mag Ihnen an seinem Körper, an seinem Geiste und an seiner Seele demonstrieren, was ich Ihnen nur in Worten sagen könnte, die unzulänglich sind. Also lassen wir jetzt alles Reden, alle Theorie, und beobachten wir die Tatsachen; ich meine das, was von nun an geschehen wird!«

»Sind Sie dessen so sicher, was geschehen wird?« fragte ich.

»Ja,« antwortete er. »Sie müssen bedenken, daß ich ihn schon volle zwei Wochen beobachtet habe, während Sie nur eine einzige Nacht bei ihm gewesen sind. Für jetzt nun wollen wir schließen. Schlafen Sie einige Stunden! Ich bleibe hier, bis Mary kommt.«

»Vorher noch eine Frage: Miß Mary sagte, ich würde wohl nicht erraten, womit sich ihr Vater in den Zwischenräumen tiefer Apathie beschäftigt. Was hat sie da gemeint?«

»Das geheimnisvolle Gedicht. Er bringt es sehr oft, natürlich, soweit er es kennt. Und da kann ich Ihnen eine psychologische Bemerkung machen, über die Sie sich wahrscheinlich wundern werden. Sie wissen, daß er offenen Geistes nur die vier ersten Zeilen gehört hat, damals in Kairo. Er interessierte sich für sie, las sie öfters durch und lernte sie auswendig. Die nächsten vier Zeilen fand sie bekanntlich in ihrem Taschenbuche, als wir auf der Veranda des Hotel Rosenberg saßen. Ihr Vater hatte also nicht die geringste Ahnung von ihnen. Er sprach im tiefsten, körperlichen Schlafe die erste halbe Strophe so häufig vor sich hin, daß ich anzunehmen hatte, sie beschäftige ihn fast immerwährend. Etwas Unvollendetes quält, besonders einen derartigen Kranken. Darum wartete ich, bis er die ersten Zeilen wieder einmal brachte, und fügte sofort und schnell die folgenden hinzu, indem ich sie vorlas, langsam und deutlich, doch nur ein einziges Mal. Sein Körper war wie tot. Ich bemerkte nicht das geringste Zeichen, daß ich gehört worden sei. Ich berührte ihn an verschiedenen Körperpunkten. Ich machte jede mögliche Probe, ob er wachend sei; doch er schlief, schlief fest und war nicht zu wecken. Aber als er dann einige Stunden später das Gedicht wieder brachte, kannte er die zweite Hälfte so genau wie die erste und hat auch seitdem kein Wort von ihr vergessen. Die eigentümlichen Umstände, unter denen er sie zu bringen pflegt, werden Sie noch kennenlernen. Nun aber gehen Sie! Ich wünsche, daß Sie schlafen, wenn auch nur für kurze Zeit.«

So mußte ich mich denn entfernen, obgleich ich noch einige weitere Fragen auf dem Herzen hatte, deren sofortige Beantwortung mir lieb gewesen wäre.

Es war nicht leicht, mir über das, was ich in dieser vergangenen Nacht gehört hatte, klar zu werden. Besonders störte mich der Umstand, daß er in Reimen gesprochen hatte. Er war kein Poet; aber von Mary erfuhr ich, daß ihre Mutter eine Dichterin gewesen sei und einen Band religiöser Gedichte veröffentlicht habe, nach denen Alles klinge, was ihr Vater jetzt in gebundener Rede sage.

Seine körperliche Genesung schien zwar langsam aber sicher voranzuschreiten, doch geistig blieb er, wie er war. Er kannte uns nicht und auch nicht seine Tochter. Er hatte Alles, Alles vergessen wußte nur noch das Eine, daß er nicht mehr der Missionar Waller, sondern der Knabe Waller sei.

Tsi vermied es, sich über diesen Zustand völliger Erinnerungslosigkeit näher auszusprechen. Er beantwortete hierauf gerichtete Fragen mit der kurzen Erklärung, daß sich diese Lücke nach und nach ganz von selbst ausfüllen werde; nur Ruhe sei vonnöten, weiter nichts.

Aber grad diese Ruhe erlitt jetzt Störungen, welche immer häufiger wurden. Die kriegerischen Vorbereitungen, von denen ich bereits gesprochen habe, brachten in neuerer Zeit Truppenzuzüge, welche die bisherige Stille in ihr gerades Gegenteil verwandelten. Das wirkte derart störend auf Waller, daß Tsi bedenklich zu werden begann. Als hierauf gar auch militärische Uebungen und Exerzitien vorgenommen wurden, bei denen es lauter als laut herging, konnte es unmöglich mehr in Frage stehen, daß wir nicht nur den Kratong, sondern Kota Radscha überhaupt verlassen müßten. Aber wohin? Unten in Uhleh-leh war es wenigstens ebenso schlimm wie hier oben; ja es trat da auch noch die Gefahr der fieberschwangern Küstenluft hinzu, was eine Verschlimmerung anstatt eine Verbesserung ergeben hätte. Es wurde also zu einer Beratung zusammengetreten, welche folgende Betrachtungen und das aus ihnen gezogene Resultat ergab:

Raffley mußte nach China; der Governor mußte nach China; Tsi mußte nach China; Waller mußte nach China; Mary mußte nach China. Und schließlich mußte auch ich nach China, denn ich hatte versprochen, mitzufahren. Es gab unter uns Keinen, der hier in Kota Radscha eigentlich etwas zu tun hatte; wir alle waren im Gegenteile sehr gern bereit, diesen Ort so bald wie möglich zu verlassen. Allein nur Wallers Krankheit hielt uns fest. Darum war es Tsi, der Arzt, von dem wir das entscheidende Wort zu erwarten hatten. Er sagte:

»Ich habe bei diesem Patienten mehr als sonstwo zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen zu unterscheiden. Von dem äußeren hoffe ich, daß er die Seereise wohl vertragen wird, denn ich habe gehört, daß er nicht die geringste Neigung zur Seekrankheit besitzt. Nur gute Nahrung, und zwar möglichst frisch, nichts Eingemachtes oder sonstwie Präpariertes. Den innern Menschen hätte ich gern noch länger hier zurückgehalten. Er braucht Stille, Ruhe, Einsamkeit, ungestörte Beschaulichkeit. Ist das auf der Jacht zu haben?«

»Gewiß,« antwortete Raffley. »Ich werde dafür sorgen, daß es ihm in dieser Beziehung an nichts mangelt.«

»Aber Seestürme, vielleicht gar ein Taifun? Bedenken Sie die Aufregung!«

»Wir haben grad jetzt die stille, von solchen atmosphärischen Ereignissen fast stets freie Zeit. Uebrigens arbeitet meine Maschine beinahe vollständig unhörbar, und die "Yin" liegt selbst bei hoher See so immerfort auf leichter, glatter Linie, daß man bei geschlossenen Augen fast nichts vom Wogengang verspürt. Sie ist eben grad in dieser Beziehung ein vollendetes Meisterstück des betreffenden Architekten.«

»Gut; so können wir es wagen. Welchen Kurs gedenken Sie zu nehmen?«

»Zunächst Singapore. Bitte, anzugeben, wenn wir die Anker heben können!«

»Nicht vor morgen vormittag. Ich kann noch nicht auf mein Ko-su verzichten, und da es nicht auf hoher See zu wachsen pflegt, so muß ich den heutigen Tag dazu benutzen, mir einen ausreichenden Vorrat anzulegen.«

»Ich sammele mit, denn ich habe schon die Uebung!« erklärte der brave Uncle schnell. »Aber den Sejjid darf man nicht mitnehmen, denn der rauft nur Gras!«

So war also unsere nächste Zukunft bestimmt, und wir rüsteten uns alle, morgen zur Abreise fertig zu sein.

Der heutige Nachmittag stand infolgedessen, was Tsi gesagt hatte, unter dem Zeichen des Ko-su. Ich wollte nach dem Mittagessen mich dem Governor anbieten, mit ihm Ko-su suchen zu gehen; er war schon fort. Ich klopfte bei John an; er war Ko-su suchen gegangen. Ich ging zu Tsi; er suchte Ko-su. Nun klingelte ich noch Sejjid Omar; er kam nicht, denn er hatte sich entfernt , um Ko-su zu sammeln. Da ging ich allein, selbstverständlich auch, um Ko-su zu entdecken.

Ich wanderte ein Stock über den äußersten Militärposten hinaus. Da sah ich zwei Personen, welche tief an der Erde hinkrochen, um Pflanzen zu sammeln. Tsi und Omar waren es. Sie schienen sich während dieser Arbeit in sehr heiterer Laune zu befinden; das hörte ich ihren lauten Stimmen an. Und jetzt richteten sich Beide aus ihrer gebückten Stellung auf und stimmten ein lautes und so herzliches Gelächter an, daß ich, der ich den Grund zu dieser Lustigkeit doch gar nicht kannte, fast auch mit lachen mußte. Aus ihren Gestikulationen dabei ersah ich, daß der Gegenstand des Juxes kein Gemeinsamer war, sondern daß Jeder von ihnen den Andern auslachte, der Chinese den Araber und der Araber den Chinesen. Da sahen sie mich, und indem ich mich ihnen schnell näherte, rief mir der Sejjid entgegen:

»Wie schön, daß du kommst, Sihdi! Da kannst du uns gleich sagen, wer eis besser versteht, er oder ich!«

»Was?« fragte ich.

»Das Reden! Er sagt, ich mache zuviel Arabisches in das Chinesische hinein. Und ich sage, daß sich das ja ganz von selbst verstehe. Wenn er das Chinesische so ausspricht, daß kein Mensch weiß, was er will, so muß ich ihm das doch arabisch sagen! Und das hält er für falsch! Denke dir, Sihdi, ich habe, während Ihr Eure Fahrt nach den Inseln machtet, beinahe die ganze, ganze chinesische Sprache auswendig gelernt! Wir haben nur dann in einer andern gesprochen, wenn diese Sprache nicht wußte, was arabisch, deutsch oder englisch war. Dann wird diese ihre Unwissenheit, wie du soeben gesehen hast, von uns beiden so herzlich ausgelacht, wie sie es verdient.«

Tsi hatte allerdings innerhalb der beiden vergangenen Wochen, teils seiner eigenen Unterhaltung und teils aber auch aus Interesse für Omars Eigenheiten, täglich einige Stunden mit ihm Chinesisch getrieben und in ihm einen in hohem Grade amüsanten Schüler gefunden. Auch er wunderte sich, wie er mir später sagte, über das außerordentliche Wortgedächtnis des Arabers, beklagte aber ebenso die unformale Weise, in welcher da Alles aufgestapelt wurde. In hohem Grade zutreffend, fügte er die Bemerkung bei:

»Ganz wie der Islam, seine Religion! Ein lieber, guter Mensch, im tiefsten Grunde ernst gestimmt, doch äußerlich stets heiter. Für das Hohe, Edle ungemein empfänglich, und doch stets mit dem Kleinen, Gewöhnlichen beschäftigt. Im Kopfe eine erstaunliche Fülle von Ausdrücken, von Worten, deren Sinn und Geist er aber nicht begreift. Fromm von Geburt – ich betone das ganz besonders –, religiös durch die Gewohnheit, würde er sehr leicht für den einzig wahren Glauben zu gewinnen sein, wenn dieser nicht in abendländisch enge, faltenlose Formen gekleidet wäre. Und wenn ich mich nicht irre, so befindet sich der Sejjid bei Ihnen auf dem rechten Weg dazu. Es sproßt und treibt in ihm. Stören Sie das nicht! Leben Sie ihm, wie bisher, das, was er werden soll, durch Ihr eigenes Beispiel vor! Er wird mit Ihnen bis an das Ende der Erde gehen, wenn Sie nicht von ihm verlangen, die Fäden, welche ihn mit seiner materiellen und geistigen Heimat verbinden, pietätlos zu vernichten. Ein derartiges Verlangen fordert, was unmöglich ist! Auch der Europäer weiß, daß der Mensch ein Kind seiner Scholle ist, nicht nur der Acker-, sondern auch der intellektuellen Flur, welche seiner Jugend Nahrung gab. Kann man, ohne ihn zu töten, ihm das nehmen, was diese Nahrung aus ihm machte? Nein! Nie! Jedermann ist davon überzeugt, sogar eure Buchstabengläubigen, aber freilich nur dann, wenn es sich um ihr eigenes, liebes Ich handelt. Sie verlangen den Mord aller Individualität, natürlich aller anderen, nur nicht der ihrigen! Gehen Sie doch hin in alle Welt, mein Freund, und sehen Sie die Zerstörungen, welche diese Forderung angerichtet hat! – – – Verzeihung! Ich bin auf untergegangene oder dem Untergange nahe Völkerindividualitäten gekommen und wollte doch nur von Ihrem Sejjid Omar, dem Muhammedaner, sprechen. Es war mir zu verführerisch, an seiner Person nachzuweisen, daß es eben nur des stummen Beispiels, nicht aber der Aggressivität bedarf, um aus einem sogenannten Ungläubigen das zu machen, was Omar unbedingt werden wird, wenn Sie nicht den unverzeihlichen Fehler begehen, seine Eigenart zur Gegenwehr zu zwingen!«

Wie fleißig mußte der Chinese während seiner Studienzeit in Europa gewesen sein; wie herrliche Gaben waren ihm verliehen, und mit welchen Vorbedacht und welcher Treue war diesen Studien daheim von seiten seines Vaters, seiner Erzieher vorgearbeitet worden! Vielleicht hatte das Schicksal den Händen dieses jungen Mannes Aufgaben anvertraut, welche nur auf dem Wege, den es ihn führte, zu lösen sind. Die Vorsehung pflegt sich stets im Stillen den rechten Mann heranzuziehen, um dann, wenn ihre Zeit gekommen ist, mit ihm am rechten Orte hervorzutreten.

Er fuhr im Laufe des Nachmittags mit Raffley hinunter nach der »Yin,« um dort Wallers Ankunft vorzubereiten, für welche aber erst der folgende Morgen bestimmt wurde.

Da wir hörten, daß der holländische Gouverneur am nächsten Tage nicht in Kota Radscha sein werde, so machten wir ihm noch heut unsere feierliche Dank- und Abschiedsvisite, bei welcher wir aber bald herausfühlten, daß dem einfachen, wackeren Mijnheer ein herzlicher Händedruck ohne alle Feierlichkeit viel lieber gewesen wäre. Den materiellen Dank, so was man Bezahlung zu nennen pflegt, in klingenden Münzen auszusprechen, das überließen wir John Raffley, weil er nicht nur das beste Talent, sondern auch mehr »Talente« als wir Anderen dazu besaß. In welcher Weise er dieser silbernen oder gar goldenen Verpflichtung nachgekommen war, das sahen wir, als wir am Morgen den Kratong verließen. Die ganze, allerdings nicht sehr imponierende Heeresmacht desselben hatte Aufstellung genommen, und auf jedem einzelnen Gesichte war mit größter Deutlichkeit der wehmütige Gedanke zu lesen: Wenn doch öfters so ein Dysenteriekranker mit solchen Begleitern käme! Die Dysenterie ist leider immer da; aber solche Lords, die sieht man wohl nicht wieder!

Das beste und tiefste Verständnis für dieses Bedauern schien mein Sejjid Omar zu empfinden. Er ging von Mann zu Mann, um Jedem die Hand zu drücken, und tat dies mit hoch aufgerichteter Gestalt und einem so herablassenden Mäcenaslächeln, als ob er sein ganzes, bei mir angesammeltes Diensteinkommen unter sie verteilt habe.

Wir hatten eine leichte Sänfte konstruiert, welche so lang war, daß der Kranke ausgestreckt in ihr liegen konnte. Acht Träger wechselten einander ab. So brachten wir ihn bequem und leicht bis auf den Landesteg, und da die See so ruhig war, wie wir nur wünschen konnten, ging auch die Einschiffung in einer Weise vonstatten, von welcher Waller nicht im geringsten angegriffen wurde.

An Bord angekommen, sah ich nun, was Raffley und Tsi mir noch gar nicht gesagt hatten. Nämlich John, der liebe, liebe, prächtige Mensch, hatte dem Kranken seine eigene Kajüte überlassen. Sie war ausgeräumt und in ein Pflegezimmer verwandelt worden, wie man es sich besser, bequemer und gesünder gar nicht denken konnte. Nur das Porträt mit seinem duftenden Blumenrahmen war geblieben, eine Aufmerksamkeit oder vielmehr ein Opfer, dessen Größe nur mit der Herzensgüte Raffleys zu vergleichen war. Wo dieser wohnte, sah ich jetzt noch nicht; wir Anderen aber hatten alle dieselben Räume wieder, in denen wir vorher untergebracht gewesen waren.

Als Tsi sich in Penang zu uns gesellt hatte, war nicht daran zu denken gewesen, daß er für eine längere Zeit der Gast der »Yin« sein werde. Er verlor kein Wort darüber, ob seine Bereitwilligkeit ihm Störungen bringe oder gar ihm Opfer auferlege, und bat nur darum, daß wir wieder drüben anlegen möchten, damit er für kurze Zeit an das Land gehen könne, um Briefe auf die Post zu geben und seine dortigen Angelegenheiten zu ordnen. Dieser Wunsch wurde ihm natürlich erfüllt; dann gingen wir sofort nach Singepore, wo eine reichliche Menge Masut, welches in Penang nicht zu haben gewesen war, für die Feuerung aufgenommen wurde. Hierauf ging es auf der Hongkong-Linie dem geheimnisvollen Norden zu.

Ich nenne ihn geheimnisvoll, weil er es für uns war. Außer Raffley wußte Niemand, wohin wir gingen, und dieser zeigte, gegen seine sonstige offene Art, keine Geneigtheit, uns Auskunft zu erteilen. Als Mary Waller zwei Tage, nachdem wir Singapore verlassen hatten, bei Tafel eine hierauf bezügliche Frage an ihn richtete, antwortete er:

»Bitte, Mylady, lassen Sie das für einstweilen noch mein Geheimnis bleiben! Ich werde gewiß dafür sorgen, daß Jeder von uns sein besonderes Ziel erreicht; vorher aber haben wir ein gemeinschaftliches, für welches wir hier wie von einer gütigen Fee zusammengeführt worden sind. Folgen wir ihr mit dem Vertrauen, auf welches solche höhere Wesen Anspruch haben!«

Sein Wunsch wurde natürlich beachtet und dieses Thema also nicht wieder als Gesprächsgegenstand behandelt. Um so mehr wendete sich unsere Aufmerksamkeit dem Befinden des Kranken zu, welches uns ganz selbstverständlich im höchsten Grade interessierte, zumal es sich dabei um ganz eigenartige, rätselhafte Zustände handelte. Nur der junge Arzt schien die Lösung dieser Rätsel zu kennen. Er war so froh, sie in seine Hand gelegt zu sehen, so heiter, so zuversichtlich; er kam mir fast wie eine glückliche Mutter vor, welche mit unendlicher Liebe das körperliche und geistige Werden ihres Kindes überwacht. Sein Vertrauen teilte sich auch Mary mit. Beide waren in der Pflege des Vaters eng vereint; sie schienen unzertrennbar zusammen zu gehören, und der Gedanke, daß sie einander früher nicht gekannt hatten, wollte mir mit jedem Tage fremder werden. Man spricht von Seelen, welche sich und seien sie räumlich noch so weit getrennt, ganz unbedingt auf Erden finden müssen, von Wesen, welche einst vereinigt waren und sich wieder zu vereinigen haben. Wer kann wohl sagen, ob das ein Aberglaube sei?

Es ist gewißlich wahr, daß um Genesende sich eine Atmosphäre bildet, welche ethisch reinigend und veredelnd wirkt. Es gab an Bord, selbst unter der Schiffsbemannung, keinen einzigen rohen Menschen, und doch fühlte Jeder von uns in sich das Streben, recht lieb und gut zu sein, als ob er es bisher noch nicht gewesen wäre. Ich sah einmal ein Gemälde, welches einen Rekonvaleszenten zeigte, hinter dem, von ihm und seiner Umgebung ungesehen, ein Engel stand, welcher sie alle segnete. Der Künstler hatte es verstanden, der von mir erwähnten Erfahrung so, wie die wahre Kunst es will, Gestalt zu geben. Eine solche segnende Engelshand schien auch über uns zu walten. Wir sahen sie nicht, aber ein Jeder wußte, daß der warme, weiche und Allen bemerkbare Hauch der Liebe und des Friedens von der Stelle ausging, an welcher der im Rauch und Qualm und Ruß des brennenden Tempels verschwundene Geist durch einen neuen, friedlich denkenden ersetzt werden sollte.

Was habe ich da gesagt! Ein Geist sei zu ersetzen! In einem und demselben Körper! Durch einen neuen, einen vollständig andern!

Diese Gedanken beschäftigten nicht nur mich, sondern auch Raffley und den Uncle. Den letzteren ganz besonders, weil es ihm als unmöglich erschien, sie zu begreifen. Er kannte nur die veraltete Ansicht der Psychologen, daß jeder Mensch einen ganz besonderen, nur ihm zugehörigen und also durchaus individuellen Geist besitze, den er nicht eher als nur erst mit dem Tod »aufgeben« könne. Er wußte zwar, daß es tausende und abertausende von Menschen gegeben hat, die anderen Sinnes, also anderen Geistes geworden sind, war aber überzeugt, daß diese Aenderung mit dem alten, bisherigen Geiste vorgegangen sei, nicht aber darin bestehe, daß sich ein vollständig anderer und neuer eingestellt habe. Er sagte da:

»Das wäre ja eine wunderbar praktische und höchst vortreffliche Einrichtung, wenn sich jeder Mensch nach Belieben einen neuen Geist besorgen könnte, so ungefähr zum Beispiele, wie man sich eine neue Uhr in die Tasche steckt, wenn man sich auf die alte nicht mehr verlassen kann, weil sie nichts mehr taugt!«

Da lächelte Tsi, der bei uns saß, den lieben Alten von der Seite an und fragte:

»Ist Ihnen vielleicht die chinesische Erzählung von der Taucherinsel "Ti" bekannt, Mylord?«

»Nein,« antwortete der Governor, welcher nicht wußte, daß "Ti" das chinesische Wort für "Erde" ist. »Was ist das für eine Insel? Kenne sie nicht. Können ihre Bewohner etwa ihre Geister wechseln und ersetzen wie wir unsere Uhren?*

»Nein; ebensowenig wie wir. Ob gewechselt werden soll, darüber haben natürlich nicht die Körper, sondern die Geister zu bestimmen. Ich will mich ganz und gar populär ausdrücken: Hat etwa die Uniform zu befehlen, wer sie anlegen soll und wer nicht?«

»Nein!«

»Nun, diese Uniform ist der Menschenkörper! Wenn er glaubt, dem Geiste Vorschriften machen zu dürfen, so irrt er sich. Die Insel "Ti" liegt mitten im großen Weltenmeere. Sie wird von einem Fürsten regiert, welcher jedem seiner Untertanen eine bestimmte Lebensaufgabe stellt, die er zu lösen hat. Diese Untertanen sind Taucher, welche in die Fluten zu steigen haben, um die verschiedenen Schätze des Meeres an das Tageslicht zu heben. Zu diesem Zweck gibt es eine unzählige Menge von Taucherrüstungen, welche menschliche Gestalt besitzen. Jede dieser Rüstungen wird von einer in ihr wohnenden, sogenannten Anima instand gehalten, welche mit ihr entstanden ist und mit ihr wieder untergeht. Die eine Rüstung eignet sich mehr für diese, die andere mehr für jene Arbeit. Mit der einen können edle Perlen, mit der anderen nur Schwämme, mit der dritten gar nur Algen oder gemeiner Tang der Flut entrissen werden. Jede von ihnen wird demjenigen Taucher anvertraut, für dessen Aufgabe sie geeignet ist. Die Arbeit wird überwacht, sehr streng, viel strenger, als die Taucher meinen, obgleich die Regierung eine Regierung der allergrößten Liebe ist. Aber grad weil diese Liebe Alle umfaßt und sich nicht nur auf Einzelne richtet, ist diese Strenge geboten, sobald die Liebe versagt. Zeigt sich ein Taucher seiner Rüstung nicht wert, bringt er Schwämme oder Tang anstatt der Perlen, so wird sie ihm genommen und einem Würdigeren gegeben. Bringt dieser zwar Perlen, aber mit Schmutz und Algen vermischt, so hat ein noch Besserer anzutreten. Und so kommt es, daß es wohl keine einzige Rüstung gibt, von der man sagen könnte, daß sie stets nur im Dienste eines und desselben Tauchers gestanden habe. Es kommt sogar sehr häufig vor, daß ein höherer Taucher sich die Rüstung eines niederen leiht, um ihn zu unterrichten, auf welche Weise er bessere Erfolge erzielen und dadurch zu ihm emporsteigen könne. – – – Haben Sie dieses Bild verstanden, Mylord?«

»Hm!« brummte der Governor. »Die Insel ist natürlich die Erde; die Meeresflut ist das Leben; die Rüstungen sind die beseelten Menschenkörper, und die Taucher sind die unsichtbaren, geheimnisvollen Intelligenzen, welche wir als "Geister" bezeichnen. Ich habe jetzt keine Zeit, denn ich bin nicht allein; aber ich werde mir diese Insel "Ti" merken und über sie nachdenken.«

»Tun Sie das! Aber denken Sie ja nicht so tief nach, daß Ihnen dabei die Sinne vergehen. Sie haben nämlich nebenbei auch aufzupassen! Merken Sie zum Beispiel auf, wenn Sie im Traveller-Klub mit guten, lustigen Freunden Billard spielen; merken Sie auf, wenn Sie am Sarge eines geliebten Verwandten stehen; merken Sie auf, wenn Sie sich auf der Fuchsjagd befinden; merken Sie auf, wenn Sie mit Ihrem Bankier Ihr letztes Jahreseinkommen berechnen, und merken Sie auf, wenn Ihr Freund, der Heidenpriester, seine Hand auf das Haupt Miß Marys legt, um sie zu segnen! Und dann sagen Sie mir, ob – – –«

»Ja, ja,« unterbrach ihn der Governor; »in jedem dieser Fälle bin ich natürlich ganz, ganz anders gestimmt!«

»Gestimmt! Allerdings ein leider sehr gebräuchliches, aber außerordentlich falsches Bild! Uebrigens sprach ich von Taucherrüstungen, nicht aber von Klavieren. Aber ich will auf diesen Ihren Vergleich eingehen. Ihr Körper sei also das Klavier; die Nerven seien die Saiten, und vom Gehirn aus werde es gespielt. Ich brachte Ihnen fünf verschiedene Fälle, in denen Sie sich beobachten sollen, und Sie geben zu, daß Sie jedesmal anders klingen. Sie erklären das damit, daß Sie anders gestimmt worden seien. Mein Freund, welches Klavier würde es wohl aushalten, täglich zehn- bis zwanzigmal umgestimmt zu werden? Und Sie sind jetzt wohl sechzig Jahre alt. Das ergibt, daß Ihr Klavier in dieser Zeit wohl eine halbe Million mal umgestimmt worden ist. Welcher Körper, welche Nerven, welches Gehirn würde das wohl aushalten! Der totalste Irr- oder gar Blödsinn müßte die baldige Folge sein!«

»Richtig! Ganz verteufelt richtig!« rief da der Uncle aus.

»Aber das ist noch das Wenigste dabei!« fuhr Tsi fort. »An die Hauptsache haben Sie gar nicht gedacht. Nämlich wer ist denn eigentlich das geradezu diabolisch gequälte, arme Wesen, welches dazu verdammt worden ist, die unzähligen Nerven Ihres Körpers in jedem Jahre weit über siebentausendmal umzustimmen? Sind Sie das etwa selbst?«

»Ich danke! Fällt mir gar nicht ein!«

»Also nicht Sie selbst? Demnach ein Wesen außerhalb Ihrer eigenen Potenz! Merken Sie, wohin Sie kommen? Es gibt ein außerhalb Ihrer Persönlichkeit stehendes Wesen, welches volle sechzig Jahre lang mit Ihnen herumgelaufen ist, um an jedem Augenblicke bereit zu sein, alle Ihre unzähligen Nerven in Zeit von einer Sekunde herüber- oder hinüber-, hinauf- oder herabzustimmen! Mylord, verlangen Sie von Gott nicht, so wahnsinnig zu handeln, wie Ihre bisherige Psychologie ihm zugemutet hat! Sie befinden sich nämlich nicht allein auf der Erde. Es gibt außer Ihnen noch fünfzehnhundert Millionen andere Menschen, denen der Schöpfer auch fünfzehnhundert Millionen Klavierstimmer zur immerwährenden Verfügung zu stellen hätte! Und damit wären immer erst nur Ihre sogenannten "Stimmungen" erklärt, nicht aber auch die eigentlichen Gefühle, die Gedanken, die Worte und die Taten! Bitte, sehen Sie doch ein, was Sie, der winzige Wurm im unendlichen All, von dem Herrgott Alles verlangen!«

»Das ist freilich horribel, horribel!« gestand der Governor ein.

»Und nun noch Eines: Wenn Sie umgestimmt worden sind, wer setzt sich dann hin, um zu spielen?«

»Ich nicht, denn ich bin ja das Klavier!«

»Nun, aber wer? Es muß; doch ein Spieler da sein, für den Sie umgestimmt worden sind! Wer ist das?«

Da stand der Uncle langsam von seinem Sessel auf und antwortete:

»Mr. Tsi, ich erkläre Ihnen, daß es mir unmöglich ist, zu antworten. Mein Verstand will absolut nicht weiter. Lassen wir ihn also hier stehen. Vielleicht besinnt er sich noch! Wenn ich aber ganz aufrichtig sein will, muß ich Ihnen bekennen, daß ich Sie für Denjenigen halte, der in diesem Augenblicke auf mir spielt. Ich bitte herzlich: Hören Sie einstweilen auf; denn für das, was Sie weiterspielen wollen, müssen erst neue Saiten aufgezogen werden!«

Die Wirkung dieser seiner Worte war eine ganz andere, als er erwartet hatte. Nämlich Tsi rief aus:

»Gelöst, gelöst, wenigstens beinahe gelost! Mylord, Sie haben soeben Etwas gesagt, dessen Bedeutung Sie gar nicht ahnen. Ja, warten wir noch! Aber nicht etwa, weil Ihnen die Saiten fehlen, sondern weil es zur Fortsetzung eines ganz andern Spielers bedarf. Ich bin nur Stümper! Bleiben wir also bei dem ersten Gleichnisse stehen, nämlich bei der Taucherrüstung, nicht bei dem Klaviere!«

»In Beziehung auf Waller?« fragte John Raffley.

»Ja,« antwortete der Arzt. »Er liegt am Strand, weiß nichts von Beiden mehr, vom Wasser und vom Land. Seiner Anima ist jede Erinnerung entflogen. Nur ein einziges Wort ist ihr, ist ihm erhalten geblieben, nämlich sein Name, der Name, durch welchen sich diese Taucherrüstung von den andern unterschied. Setzen wir uns hin zu ihm, an den Strand, an welchem Land und Wasser, Begreifliches und Unbegreifliches sich berühren, und merken wir auf! Es wird der Augenblick kommen, an dem sich der neue Taucher dieser Rüstung naht: das weiß ich ganz bestimmt. Ich möchte diesen Moment um keinen Preis versäumen! Er wird die Rüstung nicht sofort anlegen, um mit ihr in die Flut des Lebens zu tauchen. Er wird sie betrachten, berühren, von allen Seiten und an allen Gliedern prüfen. Er wird sich erst am Land mit ihr bewegen, um vor allen Dingen zu untersuchen, ob ihrer Verbindung mit dem Lebensquell, der höheren Atmosphäre, zu trauen ist. Und hat er sich hiervon überzeugt, so wird er sich nicht sofort in die tiefste Tiefe wagen, sondern nur in fortschreitender Uebung nach und nach zu ihr hinuntersteigen. Und wenn er endlich der Rüstung so vollständig sicher ist, daß er sein Meisterwerk unternehmen kann, so wird er es vollbringen, eher aber nicht.«

»Welches Meisterwerk?« fragte der Governor.

»Es ist die Aufgabe, welche jeder Taucher der Insel "Ti" zu lösen hat, nämlich zu zeigen und zu beweisen, daß seine Arbeit eigentlich kein Niedertauchen, sondern ein Emporsteigen sei. Sie fuhrt nur scheinbar in die Tiefe, in Wirklichkeit aber in die Hohe.«

Und wer gelangt hinauf?« fragte John. »Wer wird nach und nach so heimisch dort, daß er schließlich und für immer oben bleibt? Der Taucher nur? Der dies doch wohl auch ohne Rüstung könnte? Was wird aus ihr, aus dem Menschen Waller? Sie haben doch gesagt, daß beide identisch seien!«

Tsi lächelte beinahe vergnügt vor sich hin und antwortete:

»Sie sind natürlich überzeugt, mir hiermit die wichtigste und schwerste aller Endanfragen vorgelegt zu haben. Man meint, sie könne von keinem Sterblichen gelöst werden. Aber bitte, haben wir doch einmal Mut! Versuchen wir wenigstens einmal diese Losung, obgleich wir auch nichts weiter sind als Sterbliche! Oeffnen wir die Augen, so gelingt es uns vielleicht, den schon erwähnten Taucher von der Insel »Ti« bei seiner Arbeit zu belauschen. Belauschen, sage ich? Wie falsch das ist! Wir haben gar nicht nötig, uns dabei heimlich anzustellen, denn er wird sich ganz im Gegenteile darüber freuen, daß wir ihn kennen lernen wollen. Vielleicht bittet er uns sogar, ihm seine Arbeit durch unsere Hilfe zu erleichtern! Würden Sie ihm diesen Gefallen tun?«

»Mit tausend Freuden!« antwortete der Governor. »Wie das so klingt, Mr. Tsi! Ganz wie in einem Märchen!«

»Das ist es auch! Nehmen wir an, die »Yin« sei unser Märchenschiff, auf welchem wir nach einem Zauberlande steuern!«

»Well! Ein ganzes Schiff voller Rätsel, als deren schwierigstes ich mir jetzt selbst vorkomme. Habe mich noch nie als Taucherrüstung gefühlt, bin aber sehr wahrscheinlich doch auch eine! Komme mir schon ganz ledern vor, mit Bleigewichten an den Füßen und auf dem Kopfe einen schweren Helm mit festgekitteten, dicken Augengläsern. Habe solche unförmliche Wesen an der Themse gesehen. Sie stiegen in das Wasser, um ein festgefahrenes Schiff wieder flottzumachen. Brrrr! Nehmt es mir nicht übel, daß mich dieses Bild in meine Kabine treibt! Ich muß fort! Ich fürchte mich!«

Er ging. Tsi sah ihm nach und sagte:

»Unser prächtiger Governor ahnt gar nicht, wie fleißig sein Taucher in der letzten Zeit gearbeitet hat. Welche Perlen haben wir schon gesehen! Wo lagen sie verborgen? Etwa in der See? Fragen Sie die Anima, mit welcher der Taucher verkehrt!«

Hierauf entfernte auch er sich, um seinen Kranken aufzusuchen. Nun war ich mit John allein. Er sagte eine ganze Weile nichts. Dann stand er vom Sessel auf und fragte:

»Gehen Sie mit auf die Brücke? Ich komme mir hier unten so klein, so winzig, so nichtig vor. Ich muß hinauf, um wieder zu fühlen, daß ich Etwas bin! Da oben weiß ich, daß ich regiere, daß mir die Jacht zu gehorchen hat, daß das Wohl aller Derer von mir abhängt, die sich auf ihr befinden. Das Bild von der Taucherrüstung kam mir erst beinahe lächerlich vor; Tausende würden auch weiterfort darüber lachen; mir aber ist recht bald sehr ernst dabei geworden! Ich werde es nicht wieder los. Ich sehe die dickköpfige Gestalt vor mir, die es wagt, in ein fremdes Element einzudringen, obgleich der geringste Fehler an der Oberleitung mit dem sichern Tod verbunden ist. Schwerfällig, unbehilflich, ungeschlacht! Immer nur humpelnd und stolpernd, tapfend und tastend! Watend und suchend im Schlamm der Tiefe, nach was? Ich sage Ihnen: das Bild ist richtig, sehr richtig! Genau so hängen wir von oben ab, und genau so watscheln wir nur unten! Mit solchen täppischen Fäusten greifen wir nach dem zartesten Korallengebilde des Geistes. Und mit solchen Hacken und Harken kratzen, scharren und hauen wir in den köstlichsten Perlen herum, die sich auf dem heiligen Grunde des Seelenlebens bilden! Ich mag dieses Gleichnis gar nicht weiter belegen. Wenn ich daran denke, wie leichtsinnig oder gar frivol man sich an dem dünnen Schlauche bewegt, der Luft und Leben geben und auch sofort versagen kann, so wird mir himmelangst. Ich muß auf meine Kommandobrücke, muß meinen Horizont vergrößern, sonst bleibt mir das Gefühl, daß ich an jedem Augenblicke ersticken kann!«

Wir stiegen also hinauf. Es war Niemand oben, weil wir uns bei festem Kurs auf ringsum offener See befanden. Die immerwährende Anwesenheit des Kommandanten hier oben war also nicht nötig. Höchstens konnte ein uns begegnender Dampfer oder Segler für kurze Zeit eine andere Steuerlage nötig machen; das war aber auch vom Deck aus rechtzeitig zu erkennen.

Hier oben umwehte uns nun der frische, kräftige Hauch des chinesischen Meeres, den unten der hohe Bau des Vorderdeckes von uns abgehalten hatte. Er kam von Ost bei Nord, blies uns aber nicht mehr als höchstens einen Knoten auf die Stunde von unserer Schnelligkeit weg. Die See lag glatt, fast ohne bemerkbares Bewegen. Sie war von einem ganz eigenartigen Farbton, den ich noch nie gesehen hatte. Ein sehr helles Braun, wie klares Wasser mit einer Spur von Kaffee, und da, wo es sich kräuselte, liefen goldig funkelnde Ringe durcheinander. Unser Sog aber, die von der Schiffsschraube erzeugte Wellenlinie, flammte förmlich auf von diesem Golde, während vorn am Bug, nach steuer- und backbordwärts zwei konstante Wogen gingen, die ausgebreiteten Flügeln glichen, und geheimnisvoll, aber deutlich so brillierten, als ob sie über eine Unterlage von lauter geschliffenen Diamanten glitten.

Wir standen Beide stumm, in den Anblick dieser Pracht und Herrlichkeit versunken. Wer ist der, der es so leicht und mit so einfachen Mitteln vermag, jedem Tropfen des Meeres diesen Glanz zu verleihen, den wir nur hier oder da einmal dem edelsten der Steine geben können, und zwar auch nur durch jahrelange Muhe und Arbeit und um den Preis von Millionen? Wir hatten vorhin die »Yin« unser Märchenschiff genannt, und Raffley war der Meinung gewesen, es sei anzunehmen, daß uns eine gütige Fee in diesem kleinen, lieben, auf der See schwimmenden Zauberreiche zusammengeführt habe. Es gibt Wahrheiten, welche sich später als Märchen herausstellen, und Märchen, in denen die heiligsten, die untrüglichsten Wahrheiten verborgen liegen. Wohlan, möge unsere »Yin« so ein köstliches Marchen sein, welches für uns und tausend, tausend Andern zur Wahrheit, zur herrlichen, beglückenden Wirklichkeit zu werden hat! Wer aber das will, der darf nicht unten bleiben, der muß herauf an das Licht und an die Luft, der darf sein Schiff nicht treiben lassen, wie es Anderen beliebt, sondern muß den Mut besitzen, sich auf die Kommandobrücke zu stellen und laut und furchtlos zu bestimmen, wohin die Fahrt zu gehen hat.

Das Lob, welches Raffley seiner Jacht erteilt hatte, bewährte sich: Sie lag selbst bei bewegter See auf glatter, sicherer Linie, und die Maschine arbeitete so leise, daß man die Erschütterung nur dann bemerkte, wenn man mit besonderer Absicht auf sie achtete. Dem Kranken bekam die Fahrt sehr gut. Er aß und trank mit Appetit und lag die meiste Zeit in ruhigem Schlafe, ruhig freilich nur in Beziehung auf den Körper, nicht aber auch auf die Psyche, die Seele. Diese befand sich, wenn er wachte, in unausgesetzter Tätigkeit und schien auch während des Schlafes ohne Unterbrechung beschäftigt zu sein. Man sah das an dem sich sehr oft verändernden Ausdrucke seines Gesichtes und an gewissen Körper- oder Gliederbewegungen, welche keine unwillkürlichen waren. Er öffnete die Augen, ohne einen bestimmten Gegenstand anzusehen, und schloß sie wieder, indem er froh lächelte, als ob ihm etwas Freundliches erschienen sei. Er bewegte die Lippen; man sah, daß er Etwas sagte; aber es war kein Laut zu hören. Oder er sprach Viertelstunden lang leise vor sich hin und sah während der Pausen ganz so aus, als ob ihm Antwort werde. Aber so laut und vernehmlich wie in Kota Radscha hatte er hier auf dem Schiffe noch nicht im Schlafe gesprochen. Als ich Tsi hierüber fragte, antwortete er:

»Beruhigen Sie sich! Es kommt ganz gewiß die Zeit, in welcher er wieder laut sprechen wird, so laut, wie wir nur wünschen können. Sie sehen mich fragend an, weil ich diese Worte in eigentümlicher Weise betone. Betrachten Sie die Heilung, welche ich hier beabsichtige, doch einmal als ein vorbildliches Experiment! Waller glaubte, Christ zu sein, und zwar ein so vortrefflicher, daß er sich berufen fühlte, in alle Welt zu gehen, um Heiden zu bekehren. Er war es aber nicht! Sein Christentum war ein selbst konstruiertes und bestand nur aus dieser leeren, öden Konstruktion, welcher Christi Geist und Christi Liebe fehlte. Er wurde nicht gesandt, sondern sendete sich selbst. Der Glaubensneid machte ihm den Missionserfolg zum Gegenstande der Konkurrenz, denn er wettete. Er fragte nicht, ob er willkommen sei; er drängte sich den »armen Heiden« auf, schon in meinem Vater und auch mir. Als seine erste Pflicht im fremden Lande galt ihm die Vernichtung alles dort religiös Bestehenden, und für die erste Pflicht der Andersgläubigen dort hielt er die jeder Pietät hohnsprechende Entehrung alles dessen, was ihnen seit Jahrtausenden lieb, teuer und heilig gewesen ist. Solche Forderungen aber kann nur der stellen, dem selbst nichts heilig ist, denn sonst müßte er wissen, daß sie unmöglich erfüllt werden können. Sie sind nichts anderes als der Ausfluß eines Wahnes, der, wie bei ihm, von den Voreltern großgezogen worden ist, also einer Krankheit, die ihre Opfer nicht in dem Kranken selbst, sondern außerhalb desselben sucht. Dieses Leiden erreichte den höchsten Grad bei ihm, als er Undank und Zerstörung für empfangene Liebe gab. Die Gastfreundschaft ist, so lange die Erde steht, selbst dem wildesten, unzivilisiertesten Heiden heilig gewesen; sie hat Alles, selbst das Leben aufzuopfern. Versündigungen gegen sie werden mit dem Tode bestraft und sind selbst von der Geschichte bis auf den heutigen Tag gebrandmarkt worden. Ich brauche also nicht besonders auszuführen, wie Waller gegen die Malaien gehandelt hat. Oder könnte es Ihnen vielleicht beikommen, sein Verhalten zu beschönigen?«

»Vielleicht Andern, aber nicht mir,« antwortete ich. »Davon sind Sie doch wohl überzeugt!«

»So bedenken Sie, daß dies die Monographie nur dieses einen Christen ist? Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Oder ist es notwendig, Ihnen an der Hand jedes einzelnen dieser meiner Sätze die gleichen Sünden der Gesamtheit, welcher er angehört, vor die Augen zu halten? Wünschen Sie vielleicht, besonders aufgezählt zu haben, wo, wann und wie oft diese Gesamtheit die Pflichten der Gastfreundschaft in ganz derselben Weise mit Füßen getreten hat und noch heut mit Füßen tritt?«

Er sah mich an, als ob er eine Antwort erwarte; da ich aber schwieg, so fuhr er fort:

»Die Katastrophe ist für ihn gekommen. Sie wird auch für Andere nicht ausbleiben, für hier oder dort mehr oder weniger verderblich, je nachdem die Machtfrage sich gestaltet. Ob man den Tempel eines kleinen, malajischen Dorfes vernichtet oder ob man ganz dasselbe mit den Heiligtümern einer großen Rasse wagt, deren Angehörige nach Hunderten von Millionen zählen, das ist gewiß ein Unterschied! Die halbe Betelnuß, welche für das eine Mal so günstig wirkte, dürfte für den andern Fall gewiß versagen! Unsere »Shen« ist mächtig; aber den Zorn so vieler Millionen niederzuhalten, das darf man auch ihr, die doch nur menschlich ist, nicht zumuten. Auch glaube man ja nicht, daß man uns imponiere! Wir lassen uns nicht zwingen, geistige Größen anzuerkennen, ohne sie geprüft zu haben. Es fällt der gelben Rasse nicht ein, den Fehler zu begehen, an welchem die rote Rasse zugrunde gehen wird: Die Weißen sind für uns weder Götter noch Uebermenschen. Wir wissen uns ihnen vollständig ebenbürtig und betrachten einen Jeden, der unsere altgeheiligten Institutionen zu beseitigen wagt, für genau so krank und unzurechnungsfähig, wie Waller ist, der Eiferer gegen Alles, was anders war, als er wollte. Und nun hören Sie, was ich Ihnen sage: Unser Patient wird geistig wieder hergestellt werden, er, der Einzelne. Der Weg seiner Gesundung ist ganz genau derselbe, den auch die Gesamtheit zu gehen hat, wenn sie gesunden will vom größten aller Leiden. Das ist es, was Waller zu sagen, zu verkünden hat, ob mit seiner eigenen Stimme oder durch mich, durch Sie, das hat sich noch zu finden. Und darum erklärte ich Ihnen, daß er ganz sicher wieder sprechen werde, und zwar so laut, wie wir nur wünschen können.«

»Hoffentlich nicht nur bildlich, sondern auch in Wirklichkeit?«

»Gewiß, auch das! Nämlich sobald er die zweite Strophe unseres geheimnisvollen Gedichtes kennen gelernt hat. Er arbeitet jetzt noch an dem Inhalte der ersten; ich höre das aus seinen träumerischen Reden. Man darf ihm nichts Neues geben, bevor er das Alte vollständig begriffen hat. In der Entwickelung der Psyche sind dunkle Punkte oder leere Stellen zu vermeiden. Darum habe ich Miß Mary gebeten, jetzt noch zu warten. Wir verwenden die größte Aufmerksamkeit, den geeigneten Augenblick ja nicht unbenützt vorübergehen zu lassen, und ich denke, daß er baldigst erscheinen wird. Waller beschäftigt sich jetzt noch mit der letzten Zeile der ersten Strophe, also mit dem Gedanken, daß Christus nicht gestorben ist, sondern in jedem wahren Christen weiterlebt und weiterliebt. Das hat er, wie ja auch Ihre ganze Christenheit, bis jetzt noch nicht begriffen. Doch arbeitet es fort und fort in ihm, und ich kann jeden Augenblick eine Aeußerung erwarten, welche mir sagt, daß er dieses Wort verstanden hat. Dann lasse ich die nächste Strophe wirken. Ist das nicht im höchsten Grade interessant?«

»O, mehr als interessant; ich bin erstaunt!« antwortete ich der Wahrheit gemäß. »Welch eine schwere, fremdartige und mir fast unbegreifliche Aufgabe haben Sie sich da gestellt!«

Er schüttelte den Kopf und erwiderte lächelnd:

»Sie ist nichts von alledem. Fremdartig kann sie nur dem Christusfremden sein. Nicht unbegreiflich, sondern die einzig richtige und allein erklärliche ist sie für einen Jeden, der die Krankheit kennt, um welche es sich handelt. Und schwer? Sie ist sogar sehr leicht! Wissen Sie noch, was ich Ihnen von der Behandlung des einzelnen und der Gesamtheit sagte? Ich kenne das Leiden dieser Gesamtheit und weiß genau, auf welchem Wege es zu heben ist. Dieser Einzelne leidet an ganz demselben Uebel; was folgt hieraus? Ich werde ihn herstellen; er wird dann das in Wirklichkeit sein, was er früher nur zum Schein gewesen ist. Und ist er nicht mehr krank, so habe ich an dem Einzelnen gezeigt, auf welchem Wege die Gesamtheit auch gesunden kann. Ich wiederhole diesen schon einmal ausgesprochenen Satz, weil er so sehr, so außerordentlich wichtig ist.« –

Auf den Tag, an welchem dieses gesprochen wurde, folgte eine sehr unruhige See, und als wir am nächsten Tage Hongkong erreichten, waren wir sehr zufrieden damit, daß Raffley hier nur für ganz kurze Zeit Anker werfen wollte, um frischen Proviant einzunehmen. Es regnete. Die Berge, welche die Bucht umschließen, waren umhüllt. Was wir sahen, war so spezifisch europäisch, so nüchtern und so kalt, daß Niemand Sehnsucht fühlte, an das Land zu gehen. Dschunken und Sampans hatten wir schon genug gesehen. Hongkong ist eine englische Schöpfung und zeigt sich von außen her, zumal bei solchem Wetter, so sehr als frostige Lady, daß auch wir ihr gegenüber kalt blieben und nach einigen Stunden ohne Bedauern Abschied von ihr nahmen. Raffley hatte einige Depeschen an das Land besorgt. Auch von Tsi war dem Boten eine mitgegeben worden. Wohin sie telegraphiert hatten, das hielten Beide gleich geheim. Tsi wahrscheinlich an seinen Vater, dessen Stand und Namen er nicht wissen lassen wollte. Niemand fragte, wohin es von hier aus ging, und Raffley sagte nichts. Der Kompaß aber ließ uns sehen, daß wir nach der Fokienstraße dampften.

Der Regen hörte, als ob er uns nur Hongkong habe verleiden wollen, sehr bald wieder auf, und im Laufe des Nachmittags beruhigte sich die See, so daß wir nach der bewegten Nacht einen schönen, stillen Abend hatten. Als wir nach dem Souper vom Tische aufstanden, gesellte sich Tsi zu mir und teilte mir mit, daß er noch gestern abend Veranlassung gefunden habe, dem Kranken die zweite Strophe vorzulesen. Mary hatte das, während sie in der Nacht bei ihm wachte, einigemal wiederholt, und hierauf war Waller über den ganzen Tag hin damit beschäftigt gewesen, immerfort unhörbar vor sich hinzusprechen und dazwischen hinein vor sich hin zu lauschen, als ob er auf eine Antwort höre. Infolge dessen vermutete der Chinese, daß für die kommende Nacht etwas Interessantes zu erwarten sei, und er fragte mich, ob ich mit ihm wachen wolle. Ich war ganz selbstverständlich sehr gern bereit, es zu tun. Tsi meinte, daß jetzt im Innern des Kranken eine heiße Schlacht geschlagen werde, welche der bisherige Beherrscher, der Hyperglaube, zu verlieren habe. Denn nichts sei so schwach als grad dieser Ueberglaube, der Alles nur Gott, nichts aber der Arbeit an sich selbst verdanken will.

»Der gesunde Glaube macht stark,« fuhr er in seiner Rede fort; »der Hyperglaube aber macht nicht stark und auch nicht schwach, weil das letztere unnötig ist, denn er ist ein geradezu untrüglicher Beweis der vorhandenen geistigen Schwäche. Diese Schwäche ist so groß, daß sie träumt, sie habe Gott in allen Taschen und konnte jede beliebige Quantität des Himmels an andere Menschen verteilen, natürlich gegen großen Dank und bewundernde Verehrung seitens der Empfänger! Denken Sie nicht, daß ich mich auf Besonderes beziehe; ich spreche im Allgemeinen. Wir haben in China Bonzen, weiche derartig mit ihrem eigenen Oele gesalbt sind, daß man sie nicht fassen kann, obgleich man sie in ihrer ganzen nackten Blöße sieht. Und meinen Sie auch nicht, daß ich mit dem Worte Bonzen etwa nur Geistliche bezeichne. Priester Gottes müssen sein; die Menschheit kann sie nimmermehr entbehren. Und je mehr sie in der Erkenntnis Gottes fortschreitet, desto größer wird die Zahl und auch der Einfluß dieser Priester werden. Heil und tausendmal Heil dem Volke, welches so viel wahre Gottespriester besitzt, wie es fromme Väter hat! Aber der Hyperglaube macht sich meist im Laienvolke breit und tritt grad dort am anspruchsvollsten auf, weil der Laie glaubt, wenn er nur selbst recht salbungsvoll zu sprechen und zu blicken wisse, so könne er den Priester ganz entbehren. Das ist die Laienfrömmigkeit, die sich über jedes Gotteshaus und Gotteswort erhaben dünkt und, wenn sie einmal guter Laune ist, in den selig atmenden Busen greift, um dem Himmel ein möglichst öffentliches Bakschisch anzubieten!«

Da konnte ich mich nicht halten; ich mußte ihn fragen:

»Wo nehmen Sie, grad Sie diese Gedanken her?«

»Von unsern Vätern!« antwortete er sehr ernst. »Sie haben von Generation zu Generation gedacht, und was sie dachten, wurde uns vererbt. Wissen Sie, was ein Gedanke ist? Wissen Sie, daß er ewig ist, daß er nie verschwinden kann, sondern sich von Geschlecht zu Geschlecht, von Kopf zu Kopf immer weiter entwickelt, immer klarer, immer wahrer, immer mächtiger wird, bis endlich seine Zeit kommt, in der ihm niemand widerstehen kann? Solche Gedanken haben wir, und solche Zeit ist jetzt! Grad weil wir ruhten und uns jahrhundertelang alljährlich einmal rund um die Sonne tragen ließen, ohne zu glauben, daß die übrigen Völker der Erde uns darum bewundern müßten, haben wir Muße gehabt, die Gedanken unserer Väter von Sohn zu Sohn, von Enkel zu Enkel immer mächtiger werden zu lassen. Es sind stille, liebe, hoffnungsfreudige Gedanken, noch nicht in Worte gekleidet und noch nicht in Taten ausgedrückt; aber diese Worte und diese Taten werden kommen, vielleicht von uns selbst, vielleicht von Fremden angeregt, und dann werden wir und dann werden auch die Fremden sehen, daß, was die Väter dachten, nicht auf die Söhne und Enkel übergehen kann, ohne den Segen der Vorfahren mitzubringen und uns zum Heil zu werden!«

Er hatte sehr ernst gesprochen. Jetzt nahm sein Gesicht einen freundlicheren Ausdruck an. Er zog seine Brieftasche heraus, öffnete sie und fragte:

»Glauben Sie, daß ich heut ein Kind gewesen bin?«

»Ein Kind? Wieso?«

»Kinder schreiben einander Albumblätter, welche sie dann im Alter mit kopfschüttelnder Rührung betrachten. Ich habe mir von Miß Waller eines schreiben lassen. Da, sehen Sie!«

Er hielt es mir hin. Es war meine Strophe.

»Ich konnte nicht anders,« fuhr er fort; »ich mußte mir diese Zeilen entweder selbst abschreiben oder abschreiben lassen, und zog natürlich das letztere vor. Es ist das selbstverständlich eine ganz persönliche Ansicht, ein ganz individuelles Gefühl, aber es ist mir, als sei in diesem Gedichte für die Völker eine Brücke allerschönster, allerbester und allersicherster Konstruktion enthalten, um einander besuchen zu gehen und liebe Geschenke nicht nur mitzubringen, sondern auch mit heimzunehmen. Es klingen aus ihm so sanfte, reine Töne, als wehe in ihm ein Hauch aus jenem unbekannten Lande herüber, von welchem uns ein süßes Märchen erzählt, daß dort der Völkerfriede wohne. Ich frage mich vergeblich, ob es von einem Manne oder von einer Frau verfaßt worden ist. Der geistige Aufbau läßt auf eine männliche Logik schließen, aber die Seele, welche aus ihm spricht, kann keine andere als nur eine weibliche sein.«

»Gibt es männliche und weibliche Seelen?« fragte ich.

»Ja, das wissen wir wohl noch nicht,« lachte er. »Man gibt ihnen wohl halb männliche, halb weibliche Züge, malt Flügel dazu und sagt dann, daß sie Engel seien. Machen wir also aus meiner Ungewißheit eine Gewißheit, indem wir sagen, ein Engel hat diese Strophe gedichtet und irgend einem guten Menschenkinde in die Feder gelegt! Dieser Engel hat uns Erdenbewohnern sagen wollen, wie wir miteinander zu verkehren haben, wenn unser Planet jenem unbekannten Lande gleichen soll. Liebe, nichts als Liebe! Warum machen nun grad diese Zeilen einen solchen Eindruck auf Waller, der doch keine andere Liebe kannte als nur die zu seiner Frau und Tochter?«

»Wohl weil die Verstorbene in ganz gleicher Weise zu ihm gesprochen hat,« erwiderte ich.

»Ja. Sie haben das Richtige getroffen. Das macht der warme, freundliche, überzeugende, weibliche Klang der Worte. Es spricht aus ihnen eine Güte, welche Mrs. Waller wohl auch in hohem Grade besessen hat. Darum nimmt er diese Worte hin, als seien sie von ihr zu ihm gesprochen. Bei ihrem Klange sieht er seinen Engel wieder vor sich stehen. Er fühlte sich frei vom Einflusse jenes Andern, dem er als Gast des Heidentempels unterlegen ist. Er ahnt sich gerettet und in guter Hut. Fragen wir nicht, ob er wacht oder träumt, ob er Etwas sieht und hört oder nicht. Forschen wir nicht, ob Hallucination oder Wirklichkeit. Man sagt, daß Sterbenden die Augen geöffnet seien, und er befindet sich ja heut noch unter der Pforte, an welcher die Gewißheit an die Stelle der Hoffnung tritt. Nehmen wir ihn genau so, wie er ist! Seine Gedanken werden denen des Gedichtes folgen. Was dahinten liegt, das ist für ihn vorüber die Krankheit gibt seiner Seele eine Empfänglichkeit, eine Weichheit, weiche jeden lieben, guten Eindruck haften läßt. Die Worte dieser acht Zeilen werden sich tief und unauslöschlich eingraben; der Sinn derselben wird ihm zum geistigen Eigentume, zum Wesen werden, und wenn er genesen ist, wird er ein ganz, ganz Anderer sein, als er vorher war, gleichviel, ob er körperlich ebenso sicher genesen wird wie geistig, oder nicht.«

Diese letztere Wendung klang so, als ob er eigentlich gar nicht beabsichtigt habe, sie auszusprechen. Ich ahnte aber schon längst, daß er Waller in körperlicher Beziehung nicht für einen Genesenden, sondern für einen Sterbenden hielt und dies aber Marys wegen so lange wie möglich zu verschweigen suchte. –

Ich stellte mich schon gleich nach zehn Uhr mit Tsi bei Waller ein. Mary, die bis jetzt bei ihm gewesen war, ging schlafen. Der Kranke lag geschlossenen Auges auf seinen Kissen. Ob er wirklich schlief, konnten wir nicht unterscheiden. Es war, wie bereits gesagt, alles nicht in eine Krankenstube Passende aus der Kajüte entfernt worden. Das Bild der »Yin« aber hing noch an der Wand. Ich hatte von Mary und Tsi gehört, daß es die Augen Wallers , so oft er wache, mit unwiderstehlicher Gewalt auf sich ziehe. Wir legten den Schleier über das elektrische Licht und setzten uns hinaus vor die offene Tür. Es schien außer uns, dem Steurer und der Deckwache auf dem Schiffe sich Jedermann zur Ruhe gelegt zu haben. Der Mond war erst vor kurzem aufgegangen. Er warf den Schatten der Kajüte quer über das Deck und schaute durch die breiten Glasscheiben in das Innere derselben. Sein Schein fiel auf die Füße des Schläfers und rückte langsam an der still ruhenden Gestalt desselben empor. Der auf dem Licht liegende Schleier konnte die Glasglocke nicht ganz bedecken; es gab da, wo sie gehalten wurde, eine Lücke, durch welche das Licht hinüber auf das Bild der Chinesin fiel und es fast wie ein lebendes Wesen plastisch hell aus dem umgebenden Schatten hervortreten ließ. Das sah so unirdisch aus. Ich dachte unwillkürlich an die Fee, von welcher Raffley zu Mary gesprochen hatte. Tsi schien denselben Eindruck wie ich zu empfinden. Seine Augen hingen an dem Innern der Kajüte, und er flüsterte mir zu:

»Wie das Geheimnis bannt! Ist es Körper oder ist es Seele? Es scheint, daß hier ein Ort der Offenbarung sei! Der Mond sucht nach dem Angesicht des Kranken. Man sollte ahnen, daß dieses süße, weiche Licht ihm Botschaft bringen wolle!«

Ich antwortete nicht, konnte aber auch den Blick nicht von dieser Szene wenden. Das Bild sah lächelnd auf den Schlummernden nieder und schien die Lippen zu bewegen. Der Schein des Mondes schmiegte sich weiter und weiter an seiner Gestalt empor. Jetzt legte er sich ihm schon auf die Brust; dann berührte er das Kinn, den Mund; er kam bis an das Auge, und nun geschah, was Tsi erwartet hatte: der Kranke begann zu sprechen, erst flüsternd und für uns nicht verständlich; dann aber, als der Mond das ganze Gesicht, auch Stirn und Haar beschien, hörten wir deutlich, was er sagte:

»Sei mir gegrüßt, du lieber Himmelsstrahl, in dem mein Engel zu mir niedersteigt; leg dich verklärend um die Erdenqual, wenn sterbend sie das Haupt am Kreuze neigt! Sei mir gegrüßt! Laß mich im Glauben sehn, daß jene Liebe, welche litt, nachdem die Kreuzigung an ihr geschehn, im neuen Leibe vor die Jünger tritt!«

Als er hierauf schwieg, sagte Tsi leise zu mir:

»Ich vermutete ganz richtig: das Mondlicht hat ihm die Vision gebracht. Wahrscheinlich bringt er jetzt nun das Gedicht.«

Diese Voraussage bewahrheitete sich. Nach einiger Zeit fuhr Waller langsam und, jedes Wort betonend, in den beiden Zeilen fort:

»Tragt Euer Evangelium hinaus,

Indem Ihrs lebt und lehrt an jedem Orte!«

Hierauf flüsterte er wieder wie vorher. Wir hörten nur den Namen Jesus deutlich. Dann erhob er die Stimme wieder und sprach:

»Er ging durchs Land, wie nur die Liebe geht, die keinen Hader um den Himmel kennt, weil jede Kerze, die am Altar steht, wie alle andern nur nach oben brennt. Er brachte sich der ganzen Menschheit dar, nicht einem auserwählten Volk allein, und weil sein Reich nicht von der Erde war, kann es auch jetzt nicht von der Erde sein!«

Tsi griff nach meiner Hand und drückte sie; ich verstand ihn, obgleich er dazu schwieg. Jetzt wendete der Kranke sein Gesicht dem Fenster zu, durch welches der Strahl des Mondes fiel, so daß es fast tagesdeutlich vor unsern Augen lag. Er lächelte wie Einer, der etwas unendlich Liebes schaut, indem er sich von neuem hören ließ:

»Er kam und ging wie dieses milde Licht, willkommen, gern gesehn an jedem Ort; ein Evangelium sein Angesicht, sprach er als Vorbild sein Erlösungswort. O du, der selbst den Schächer nicht verwarf, den Mörder, der an deiner Seite hing, wo ist ein Mensch, von dem ich sagen darf, er sei für deinen Himmel zu gering?!«

Es war so unbeschreiblich, ihn zu hören. Nie waren mir Menschenworte so tief wie diese in das Herz gedrungen. Das nun folgende längere Schweigen ließ uns ihren Eindruck ganz und voll empfinden. Dann erklang es wieder langsam und rezitierend:

»Und alle Welt sei Euer Gotteshaus,
In welchem Ihr erklingt als Engelsworte.«

Er wartete hier gar nicht, sondern fügte in einer Weise, als ob er nun etwas sehr Wichtiges zu sagen habe, sofort hinzu:

»Wer war's, der sich in Herrlichkeit und Pracht den Tempel der Unendlichkeit gebaut, wo Stern an Stern die Größe und die Macht des Schöpfers in dem Glanz von Sonnen schaut? Wer war's, der auf die Erde niederfuhr auf Allmachtsflügeln am Beginn der Zeit, in jeden Wurm zu legen eine Spur der Weltensehnsucht nach der Ewigkeit? Wer war's, wer ist's, nach dem dies Sehnen bangt in jedes Menschen, jedes Heiden Brust, in der das Herz dorthin zurückverlangt, wo es sich in der Heimat einst gewußt?«

Schon früher hatte ich es bemerkt, und jetzt hörte ich es wieder, daß er immer einen kleinen Teil des Gedichtes und dann die Erklärung hierauf brachte. Was er soeben gesagt hatte, bezog sich auf »alle Welt sei Euer Gotteshaus«. Von dem, was nun kam, war anzunehmen, daß es sich auf »In welchem Ihr erklingt als Engelsworte« beziehen werde. Und richtig; er fuhr fort:

»Der Priester trägt die Liebe wohl hinaus; was aber ist es, was der Andre bringt? Du lieber Mann, bleib immerhin zu Haus, weil deine Liebe doch im Haß verklingt! Du glaubst an deine heilige Mission, jedoch die Welt da draußen traut ihr nicht. Vergeblich klingt dein Wort in Christi Ton, weil Eure Tat in andrem Tone spricht!«

Das klang so schwer, so gewichtig, so vorwurfsvoll, so strafend. Nun war er still, lange, lange Zeit. Eben wollte der Streifen des Mondlichtes, welcher immer weiterstieg, sein Gesicht verlassen; da sahen wir, daß er die Augen öffnete. Sie richteten sich auf das Bild der Chinesin, welches ihm, wie schon bemerkt, gegenüberhing. Er streckte die Arme schnell, als ob er sie fassen wolle, nach ihr aus, zog sie langsam, langsam wieder zurück, breitete sie dann nach beiden Seiten aus, als ob er eine weite, unbegrenzte Fläche bezeichnen wolle, und sagte dann:

»Es liegt die Welt ringsum im Morgengrauen; die Nebel wallen, um emporzusteigen. Mein Auge ist bereit, dich anzuschaun; o wolle deine Herrlichkeit mir zeigen! Wo kommst du her? Ich höre dein Gewand. Es rauscht so glückverheißend aus der Ferne, und dieses Rauschen ist mir wohlbekannt: du streifst mit deines Schleiers Saum die Sterne.«

Das, was er jetzt gesprochen hatte, bezog sich jedenfalls nicht auf das Gedicht und seinen Inhalt, sondern auf etwas ganz Anderes. Es tauchte ein neues Gesicht vor ihm auf, welches wahrscheinlich durch den Anblick des jetzt in so eigenartiger Schönheit und Beleuchtung hervortretenden Bildes eingeleitet worden war. Wir hörten seine Worte weiter:

»Ein süßer Duft bereitet deinen Schritt; schon höre ringsum ich die Glocken schlagen. In meinem Herzen tönt die Stunde mit, und deine Zeit beginnt, in mir zu tagen. Vielleicht trittst du jetzt nur in meine Welt, und ich bin es allein, der dich empfindet, doch ist die Uhr für Andre auch gestellt, sobald dein Licht die Dämmrung überwindet. – – – So wie ich wartete auf dieses Licht, so wartet auch das ganze Volk der Erde. Ich ahne dich; du nahst mir im Gedicht. O, daß dies Bildnis doch verstanden werde! Nun bist du da; du schaust mich lächelnd an, als seist du mir schon irgendwo begegnet, und ich, ich sinne zwar vergeblich, wann, doch hast du mich im Himmel einst gesegnet.«

Als er hier inne hielt, fragte mich Tsi in flüsterndem Tone:

»Wissen Sie, wovon er spricht? Seine Augen ruhen auf dieser wunderbar schönen, geheimnisvollen »Yin«, und dieser Name ist das chinesische Wort für »Güte«. Er spricht mit der Güte, welche zu uns niedersteigen muß, wenn uns geholfen werden soll. Doch, hören Sie!«

Der Kranke fuhr fort:

»O, segne mich nun hier zum zweitenmal und mit mir Alle, die auf Erden wandeln, damit wir, wie der Vater uns befahl, als seine Kinder an einander handeln. Du bringst die Liebe, die von oben quillt, für alle Kreatur zu uns hernieder. Es strahlt die Seele mir aus deinem Bild; die Güte ist's; O nimm sie mir nicht wieder!«

Er hatte die letzten Sätze mit erhobener, fast sehr lauter Stimme gesprochen. Nun war er still. Wir warteten zwar; aber nach längerer Zeit legte er sich, dem Mondschein abgewendet, auf die Seite. Nun war anzunehmen, daß er nicht mehr sprechen, sondern schlafen werde. Wir blieben aber sitzen, doch ohne mit einander zu reden. Es ging dem Chinesen wohl grad so wie mir: der Eindruck dessen, was wir gesehen und gehört hatten, war so tief und gab auch ihm so viel zu denken und innerlich zu ordnen, daß er sich nicht selbst durch laute Worte stören wollte. Ich zog meinen Stuhl aus und legte mich lang auf denselben nieder; wir hatten ja ausgemacht, die ganze Nacht wach zu bleiben.

Es herrschte tiefe Stille um uns her. Die leisen, regelmäßigen Pulse der Maschine konnten nicht als Unterbrechung dieses Schweigens gelten. Da hörte ich ein Geräusch, wie wenn ein Zündholz, welches nicht Feuer fangen will, wiederholt schnell angestrichen wird. Das klang von der anderen Seite der Kajüte her. War etwa Jemand dort, ohne daß wir es gewußt hatten? Dann wurde mir ein feiner Tabaksgeruch von der leise wehenden Nachtluft zugetragen. Ich bin Kenner und roch sogleich, daß es Cumana war, den der Governor ausschließlich rauchte. Ich stand also auf und ging hinüber. Richtig, da saß er auf dem Klappsitze, der an der Holzwand angebracht war! Er hatte Alles sehen und hören können, weil das Fenster hier auf der Leeseite offenstand. Seit wann war er da? Wir hatten ihn nicht kommen sehen, weil unsere Aufmerksamkeit nach dem Innern der Kajüte gerichtet gewesen war, und da wir hier an Bord fast alle Schiffsschuhe mit Gummisohlen trugen, waren seine Schritte nicht zu hören gewesen. Als er mich bemerkte, winkte er mir zu, nicht laut zu werden, und sagte in flüsterndem Tone:

»Wollte schlafen gehen; aber Ihr Buch vom Jenseits kam mir in die Hände. Habe darin gelesen. Diese Gedanken! Wo kommen die Ihnen nur her? Haben mich heraus auf das Deck getrieben. Da sah ich Sie im Mondscheine sitzen und eifrig in die Kajüte schauen. Was gab es da? Ich ging also hierher. War das etwa indiskret?«

»Nein,« antwortete ich. »Was haben Sie gehört, Mylord?«

»Alles, Alles, von den Worten an »Tragt Euer Evangelium hinaus.« Auch gesehen habe ich Alles. Wunderbare Szene! Hat mich tief gepackt! Weiß gar nicht, was ich darüber denken oder gar sagen soll! Erst Ihr Buch, in welchem Sie beschreiben, was in der Sterbestunde vor sich geht, und dann diese Worte des Kranken, die aber nicht im Mindesten krankhaft klingen! Wenn er nie in seinem Leben Missionar war und es auch später niemals sein sollte, in dieser Stunde aber ist er es gewesen , wenigstens für mich; das können Sie mir glauben, und das werden Sie auch sehen. Wird er vielleicht wieder sprechen?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Well! So habe ich hier auf nichts mehr zu warten. Muß mit mir ins Reine kommen. Habe viel, viel zu verwalten und zu verantworten gehabt, bin aber auch einer von den Christen gewesen, deren Taten in einem anderen Tone als dem der Liebe sprechen. Habe sogar diesen Prachtmenschen, den Tsi, verachten wollen! Pfui!«

Er tat ein paar kräftige Züge aus der Pfeife und spuckte aus, es so unentschieden lassend, ob diese Interjektion sich auf den Tabak beziehen oder eine Zensur für ihn selbst sein sollte. Dann stand er auf und begann, in langsamen Schritten zwischen Bug und Stern auf und ab zu gehen.

Wie froh war ich über ihn! Diese tiefe Ergriffenheit! Und diese Aufrichtigkeit, mit welcher er sie eingestand; er hätte mir gar keine größere Freude machen können! Wer von solchen Dingen bloß hört oder liest, darf ja nicht denken, daß er zu einem Urteile fähig sei. Und wenn er dennoch kritisiert, so gleicht er jenem Eskimo, der nie seine Schneeeinöde verlassen und nie eine Kirche gesehen hatte, sich aber doch für klug genug hielt, über den Glocken- und Orgelklang zu lachen, als er davon sprechen hörte. –

Waller schlief während der ganzen Nacht ohne Unterbrechung weiter, und als am Morgen Mary kam, überließ ich es Tsi, auf ihre Fragen Antwort zu erteilen, denn der Governor nahm mich in Beschlag. Er interessierte sich ganz plötzlich sehr für psychologische Probleme und gab sich dabei so lernbereit, so mild und weich, wie ich es vorher für gar nicht möglich gehalten hätte.

Die Fahrt verlief äußerlich ereignislos, wenn ich die Begegnungen mit anderen Schiffen nicht als Ereignisse bezeichnen will. Dieser Mangel wurde aber mehr als vollständig durch das ausgeglichen, was sich zu inneren, seelischen Begebenheiten entwickelte. Ich bin überzeugt, es gab da unter uns nicht einen Einzigen, der sich den Wandlungen hätte entziehen können, welche mit Waller schon damals auf dem Dschebel Mokattam begonnen und Jeden, der mit ihm in nähere Beziehung gekommen war, mit in ihren Bereich gezogen hatten. Er fuhr von Amerika nach China; aber während diese große, räumliche Bewegung vor sich ging, machte er innerlich eine Reise, welche von viel größerer Weite und Bedeutung war, denn sie führte ihn in eine solche Ferne, daß es ihm geradezu unmöglich wurde, an den Punkt, von dem sie ausgegangen war, jemals im Leben wieder zurückzukehren. Er hatte eine ihm jetzt vollständig entschwundene geistige Welt für immer verlassen und befand sich jetzt unterwegs nach einer anderen, neuen, besseren und schöneren, und ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß wir auch auf diesem geistigen Wege seine Gefährten waren, die an allen seinen Seelenäußerungen den innigsten Anteil nahmen. Ich kann also über unsere Fahrt keine sogenannten »Reiseabenteuer« berichten, an welchen sich doch nur die Oberflächlichkeit ergötzt; wer aber einen Sinn für die unendlich gestalten- und ereignisreiche Seelenwelt des Menschen hat und ein Verständnis für die Tiefe besitzt, in welcher die äußeren Vorgänge des Menschen- und des Völkerlebens geboren werden, wird nicht mißvergnügt, sondern ganz im Gegenteile mit mir einverstanden darüber sein, daß ich ihn in diese Tiefe führe, anstatt ihn für einen Leser zu halten, der nur nach der Kost der Unverständigen verlangt.

Da gab es denn am dritten Tage, nachdem wir Hongkong verlassen hatten, ein Ereignis, welches ich in psychologischer Beziehung recht wohl ein »Abenteuer« nennen könnte. Wir hatten auf dem Deck gefrühstückt. Mary war auch dabei gewesen, dann aber zu ihrem Vater gegangen. Nun kam sie eiligst zurück und teilte Tsi in ängstlichem Tone mit:

»Ich bin bestürzt; ich habe einen Fehler begangen. Ich hatte in »Am Jenseits« gelesen und ließ das Buch, als das Zeichen zum Speisen gegeben wurde, auf dem Stuhle neben Vater liegen; ich glaubte, daß er schlafe. Als ich jetzt bei ihm eintrat, wachte er und hatte das Buch in der Hand. Er las. Denken Sie, er las in einem Buche des Verfassers, gegen den er stets gesprochen hat, weil er ihn nie verstand! Ich bat ihn um das Buch; er schüttelte nur den Kopf. Ich wiederholte meine Bitte zum zweiten und zum drittenmal. Da sah er mich aus vollständig fremden Augen zornig an, rief mir die Worte »El Mizan, die Wage der Gerechtigkeit« in einer Weise zu, als ob es mir das Leben kosten werde, falls ich ihn noch weiter störe. Darum wagte ich keinen weitern Einwand und eilte hierher, um zu sagen, wie sehr ich mich ängstige. Denken Sie sich doch: Er, der Todesschwache, noch immer nicht Gerettete, der seine eigenen Gedanken noch nicht zu fassen und festzuhalten vermag, liest jene tiefen, schweren Stellen, die man nur dann verstehen und begreifen kann, wenn – – –«

Da lächelte Tsi sie fröhlich an und unterbrach sie mit den Worten:

»Haben Sie keine Sorge, Mylady! Er hat, als er im Arm des Todes lag, an der entsetzlichen Wage der Gerechtigkeit gestanden, und grad ihr Anblick ist's gewesen, der ihn von seinem frühern Irrtümern befreite. Sein Geist hat jenen entscheidenden Augenblick nicht behalten können; das quält ihn, ohne daß er davon redet. Wenn er nun in dem Buche wiederfindet, was seinem Gedächtnisse verloren gegangen ist, wird er innerlich klar und ruhig werden. Sie haben also nichts zu befürchten, sondern nur Gutes zu erwarten.«

Das klang so bestimmt, so überzeugt, daß es ihr unmöglich war, sich weiter zu ängstigen. Und dann, als wir vom Frühstückstische aufgestanden waren und ich mir mit dem Governor auf dem Deck Bewegung machte, sagte dieser:

»Ich will aufrichtig gegen Euch sein, Sir. Noch bis vor Kurzem wäre es mir sehr, sehr schwer geworden, einzugestehen, daß ich, meinen Beruf abgerechnet, auf geistigem Gebiet soviele wie nichts gewesen bin. Jetzt aber mache ich Euch dieses Geständnis in aller Form und Aufrichtigkeit. Nehmt es von mir an! Nach der wundersamen Szene dort in der Kajüte gibt es für mich keine rückständigen Menschen und Nationen mehr. Und von dieser Eurer "Wage der Gerechtigkeit" habe ich gelernt, einzusehen, daß ich den Wert der denkenden Geschöpfe bisher mit vollständig falschem Maß gemessen habe. Dieser Tsi ist mir über, vielleicht in jeder Beziehung außer der Geburt, und das will ja nichts sagen, wenigstens hier. Welche Klarheit und Sicherheit in seinem ganzen Wesen, in jedem seiner Worte! Ich alter Graukopf kann noch von ihm lernen. Und seine Landsmännin, die "Yin", das Bild in der Kajüte! Haben Sie gesehen, wie es im Lichte zu leben und jedes Wort des Kranken zu verstehen schien? Ich habe da begonnen, die wahre Kunst zu begreifen, und denke nun auch über den Marmorkopf ganz anders. Diese "Yin" ist mir in den letzten Tagen so lieb geworden, daß es ein Verlust für mich wäre, wenn sie nur als Kunstwerk existierte, ohne auch als Original vor mir stehen zu können. So! Das mußte und wollte ich sagen, zunächst nur Euch. Verratet mich aber nicht. Werde schon selbst sprechen, wenn meine Zeit gekommen ist!«

Von jetzt an hatte Waller, wenn man zu ihm kam und er nicht schlief, das Buch stets in der Hand, und es war ihm anzusehen, daß er es nur ungern aus derselben legte.

Was meinen Sejjid Omar betrifft, so war er auf der Jacht ganz wie daheim. Jedermann hatte ihn gern, und Jedermann erfreute sich seiner Gegenliebe. Es gab für ihn in Beziehung auf meine Person so viel wie nichts zu tun, und das war recht gut, denn er gefiel sich während dieser Fahrt darin, seine Aufmerksamkeit zwischen mir und Tsi und Mary Waller zu teilen. Von Tsi bekam er noch immer Unterricht im Chinesischen; er saß stundenlang allein, um mit lauter Stimme hunderte von auswendig gelernten Wörtern herzusagen, versäumte aber keine Gelegenheit, mir zu wiederholen, daß es nur zwei wirkliche, vollendete Sprachen gebe, die arabische und die deutsche, und daß die chinesische eigentlich gar keine Worte, sondern nur ganz verkehrte Redensarten habe. Und was die Lady betrifft, so widmete er ihr seine unausgesetzte Dienstwilligkeit in einer Weise, welche der Verehrung glich. Das war der Einfluß edler Weiblichkeit auf einen Araber, welcher in der Anschauung aufgewachsen war, daß die Frau nichts weiter als nur des Mannes Dienerin sei.

Als wir uns Shanghai näherten, trat selbstverständlich die Frage an uns heran, ob und wie lange wir in diesem Hafen bleiben würden. Keiner wollte sie an Raffley richten, aber grad darum, weil wir keine Antwort auf sie wußten, beschäftigte sie uns um so mehr. Tsi mußte dabei nicht nur an sich, sondern auch an seinen Patienten denken, und in dieser Beziehung war es sogar seine Pflicht, zu wissen, wohin die Reise ging. Er wendete sich mit seinen Sorgen an mich, dessen Freundschaft mit Raffley auf Vermittlung rechnen ließ, und teilte mir im Vertrauen mit, daß er einen Ort kenne, welcher wie kein zweiter zur Aufnahme eines solchen, oder vielmehr dieses Kranken geeignet sei.

»Dort und nur dort allein,« sagte er, »würde Waller Alles, aber auch Alles finden, was für ihn nötig ist, wenn er nicht nur körperlich gesunden, sondern auch seelisch den wünschenswerten Abschluß seiner jetzigen Entwicklung erreichen soll. Aus diesem Grunde muß ich wünschen, daß nicht Raffley, sondern ich es wäre, der über das Ziel unserer Fahrt zu bestimmen hat.«

Es schien ihm nicht ganz leicht zu werden, weiter zu sprechen; er fuhr erst nach einigem Zögern fort:

»Ich sehe ein, daß ich aufrichtig sein und mein Geheimnis endlich vor Ihnen lüften muß, zumal Sie wohl von allem Anfang an geahnt haben, daß mein Vater etwas mehr ist, als er sich gegen Fremde merken ließ. Doch wenn ich Ihnen nun die Wahrheit sage, so denken Sie ja nicht, daß ich mit ihr prunken will. Grad die Prahlerei ist das, was uns am fernsten liegt, und was ich Ihnen sage, würden Sie ja ohnehin erfahren.«

Wir saßen miteinander allein. Niemand hörte uns. Ich gestehe, daß ich gespannt auf die endliche Lösung dieses Rätsels war. Er begann sie mit den Worten:

»Kaiser Hoang-ti, welcher fast dreitausend Jahre vor Ihrer Zeitrechnung lebte und den Grund zu unserm Staatswesen legte, gab seinen Kindern Namen, welche auf ihre Nachkommen übergehen sollten und noch heut von keinem Andern getragen werden dürfen. Der Name des Sohnes, von welchem ich abstamme, war Ki. Sie sehen, daß ich mich in Beziehung auf das, was Sie Adel nennen, vor keinem Europäer zu verbergen habe. Mein Stammbaum hat nicht eine einzige Lücke, und auf keinem von allen diesen Namen ruht selbst nach den gegenwärtigen und europäischen Ehrbegriffen die geringste Schande. Mein Vater heißt Ki Tai Schin. Den Ehrennamen Tai Schin hat er direkt vom Kaiser bekommen. Er ist Mandarin der ersten Klasse und Ritter der "Gelben Flagge". Solche Ritter gibt es im ganzen, großen Reiche nur fünf, und mit diesem allerhöchsten Rang ist das Recht über Leben und Tod verbunden. Ich erhielt, auch vom Kaiser, den Namen Ki Ti Weng, doch bitte ich, mich immerhin wie bisher Tsi zu nennen. Wir sind reich; ich kenne Raffleys Vermögen nicht, aber ein Vergleich sogar mit diesem Herrn würde sicher zu unsern Gunsten ausfallen. So, das als Einleitung. Ich mußte es sagen, obgleich es so sehr unbescheiden klingt.«

Es gilt, zu den Namen zu bemerken, daß Tai Schin soviel wie »Große Pflichttreue« oder »Große Humanität« heißt. Vom Kaiser selbst gegeben, war das gewiß ein vielsagender Ehrennamen. Und Ti Weng heißt »Jüngerer Greis«. Nach der chinesischen Bedeutung dieses Wortes Greis, welche auf Wissen, Können und Erfahrung zielt, konnte Tsi mit dieser großen Auszeichnung wohl mehr als nur zufrieden sein. Der junge Mann war aber nichts weniger als eingebildet stolz. Er sprach weiter:

»Als ich in Frankreich war, lernte mein Vater in Peking einen Engländer namens Blackstone kennen, den ich also nie gesehen habe, obgleich die Beiden sich außerordentlich nahegetreten sind und trotz des Altersunterschiedes einander Brüder nennen. Dieser Blackstone muß ein selten begabter Mann sein, reich, human, tatkräftig, für hohe Zwecke opferwillig, kurz: von den edelsten Gesinnungen beseelt. Ich stelle mir ihn wie unsern Raffley vor. Wie es gekommen ist, das möchte ich nicht ausführlich beschreiben, aber Vater war und ist voller Begeisterung für diesen Europäer. Jeder der Beiden liebt sein Vaterland von ganzem Herzen, und während Vater der Ueberzeugung ist, daß China zwar das volle Recht besitze, sich dem Abendlande zu verschließen, aber doch klug daran tue, seine Eigenart im friedlichen Völkerverkehre zur Geltung zu bringen, wird von Blackstone der christlich lieben Anschauung das Wort gesprochen, daß für den Westen im Osten noch ungeahnte Schätze liegen, die man sich aber nicht mit dem Schwerte zu erobern, sondern in freundlicher und redlicher Weise einzutauschen habe. In diesen zwei Männern kommen also Morgen- und Abendland einander in der Weise entgegen, wie es von der wahren Intelligenz, der wahren Humanität und dem wahren Christentum befahlen wird. Sie faßten den Entschluß, diese Harmonie der Gesinnung in die Tat, diese Theorie in die Praxis umzusetzen, und erwarben an der chinesischen Küste eine Landstrecke, welche groß genug und in jeder Beziehung geeignet war, diesem Zwecke zu dienen. Ich weiß nicht Alles, was sie da geschaffen haben, obgleich Vater mir so viel davon erzählt hat, denn er ist ja bis kürzlich fast zwei Jahre lang von dort abwesend gewesen und also über das Neueste selbst noch nicht genau unterrichtet.«

»So ist er wohl jetzt wieder dort?« erkundigte ich mich.

»Ja.«

»Und Blackstone auch?«

»Dieser nicht. Er hat Vater geschrieben, daß er nach England müsse, aber bald zurückkehren werde. Das war vor schon längerer Zeit, so daß er also bald wieder zu erwarten ist. Ich verzichte jetzt auch deshalb darauf, Ihnen Näheres mitzuteilen, weil, wenn sich mein Wunsch erfüllt, Sie ja Alles mit eigenen Augen sehen werden. Vater betrachtet Blackstone als seinen jüngeren Bruder und hat mir so viel Liebes und Edles von ihm erzählt, daß ich mich unendlich darauf freue, ihn kennenzulernen. Dorthin und nur dorthin möchte ich Waller bringen. Meinen Sie, bei Raffley erwirken zu können, daß er mir den Patienten überläßt?«

»Ich werde es versuchen,« antwortete ich. »Ob ich es erreiche, kann ich freilich nicht sagen. Ich darf ihm natürlich mitteilen, wer und was Sie sind?«

»Ich bitte sogar darum. Dieses Inkognito ist unter den jetzigen Verhältnissen doch nicht länger festzuhalten.«

Es war dann nach dem Abendessen. Raffley kam mit irgend einer Frage zu mir in meine Kabine. Da nahm ich die Gelegenheit wahr und trug ihm vor, was ich von Tsi gehört hatte. Die Wirkung war ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Er machte zunächst ein sehr erstauntes Gesicht; dann lächelte er im höchsten Grade vergnügt; hierauf wurde er wieder ernst, doch war es ein glücklicher Ernst, und als ich fertig war, nickte er befriedigt vor sich hin und sagte:

»Wer hätte das gedacht! Also dieser Tsi ist dieser Ki Ti Weng, auf welchen wir so große Hoffnungen setzen!«

»Wie? Sie haben schon von Ki Ti Weng gehört?« fragte ich überrascht.

»Gehört? Hm! Charley, hören Sie, was ich Ihnen jetzt sage!«

Er trat vor mich hin, legte mir seine beiden Hände auf die Achseln und fuhr fort, indem er die Worte gewichtig auseinanderzog:

»Dieser – – Blackstone – – bin – – nämlich – – ich – –! Ich habe mich nach einem meiner Schlösser, Blackstone Castle, so genannt!«

Natürlich war die Reihe, sich zu wundern, nun an mir, und dies tat ich so gründlich, daß er lachend ausrief:

»Glauben Sie es getrost; es ist die volle reine Wahrheit! Ich werde Ihnen erzählen, wie das so gekommen ist. Aber kommen Sie heraus aus dieser Koje! Wir müssen draußen unter dem freien Himmel sein und die Sterne über uns haben, wenn ich Ihnen berichte, wo, wann und wie mir der Stern meines Lebens aufgegangen ist.«

Wir setzten uns hinaus aufs offene Deck, und da begann er zu erzählen. Es war eine Liebesgeschichte, aber was für eine! Seelentief, heilig ernst, die Vereinigung zweier, für einander bestimmter Wesen zu einem einzig einen! Nun das Schweigen einmal gebrochen war, sprach er so selig gern und darum so ausführlich von ihr. Er war kein Mann der Phantasie; man hörte jedem Worte an, daß er nicht übertrieb. Was für ein herrliches Weib mußte diese Yin sein, deren Einwirkung ihn so vertieft und so veredelt hatte! Ich muß natürlich kürzer sein, als er es war.

Ihr Vater war droben in Hla-Sa, der Hauptstadt von Tibet, wo Dalai-Lama thront, Gouverneur des Kaiserreiches China gewesen. Dort wurde sie geboren, und daher kam es, daß ihre Fuße nicht zu chinesischen Klumpfüßchen verunstaltet worden waren. Ihr Vater gehörte auch der adeligen Familie der Ki an. Er starb in Tibet. Sie kam mit ihrer Mutter nach Peking zu einem sehr wohlhabenden Bruder der letzteren, welcher ohne Frau und Kinder war und sein Leben nur im Studium der buddhistischen und konfuzianischen Lehren verbrachte. Er gewann das schöne, ganz eigen geartete Kind lieb und beschäftigte sich so viel mit demselben, daß es sich nach und nach in ihn einlebte und an seiner geistigen Tätigkeit den größten Anteil nahm. Das Mädchen lernte lesen und schreiben, bei Chinesinnen eine große Seltenheit, wurde in die Gedankenwelt des Oheims eingeführt und von diesem als Erbin nicht nur seines Vermögens, sondern auch seiner Seelenwelt betrachtet. So wuchs sie heran, immer schöner werdend, doch nichts begehrend, als nur für die Mutter und den Oheim leben zu dürfen. Dieser ahnte in seiner Bescheidenheit gar nicht, daß er ein berühmter Gelehrter war, den sogar Ausländer aufsuchten, um ihn kennen zu lernen. Er war der englischen Sprache mächtig und brachte seine Mußestunden gern damit zu, auch seine Nichte in dieselbe einzuführen. So kam es, daß sie europäische Bücher lesen lernte und vom Onkel die Erlaubnis erhielt, mit den Frauen der abendländischen Gesandtschaft zu verkehren. Was bei einem Manne die ganz gewisse Folge gewesen wäre, nämlich ein innerlicher Zwist zwischen der heimischen und der fremden Anschauung, das wurde bei Yin zum freundlichen Streben beider, in ihr zu einer vollen, friedlich klaren Harmonie zusammenzuklingen. Und wie es ganz gewiß ist, daß die Seele die plastische Entwickelung des Körpers beeinflußt, so wurde es je länger desto schwerer, aus den Gesichtszügen dieses Mädchens die mongolische Abstammung zu folgern. Und grad diese Durchgeistigung des einen von dem andern war es, wodurch Raffley sofort und für immer gefesselt worden war, als er sie bei dem Besuche einer englischen Familie zum ersten Male gesehen und gesprochen hatte. Ein so ungewöhnlicher Mann wie er konnte allerdings auch nur durch ein so seltenes Wesen wie sie zu dem Entschlusse bewogen werden, alles an das große Glück zu setzen, sie sein Eigen nennen zu dürfen. Indem er in dieser Weise von ihr sprach, sagte er:

»Ich fühlte es, als ich sie kennen lernte, doch klar ist es mir erst nach und nach geworden, daß in ihr die Vereinigung zweier Ideale Gestalt und Leben gewonnen hat. Wird die Erde jemals ein einig einziges Schönheitsideal besitzen? Ich weiß es nicht. Aber meine Yin ist es, nach der ich es meißeln oder malen würde, wenn ich Künstler wäre! Und ich meine das nicht nur in körperlicher Beziehung. Die Summe aller seelischen Vorzüge kann nichts Anderes als nur Güte sein, und Yin ist ganz unfähig, etwas Anderes zu sein als nur die Güte selbst. Ich habe um sie gedient, wie Jakob einst um seine Rahel diente, zwar nicht so lange, aber mit derselben Opferwilligkeit. Sie liebte mich, doch ihr Oheim weigerte sich, sie der Gefahr auszusetzen, sich von einem abendländischen Edelmanne, dessen Verwandte sie nicht anerkennen würden, später vielleicht verlassen zu sehen. Da lernte ich Ki Tai Schin kennen und verkehrte täglich mit ihm, doch ohne ihm auch nur ein einziges Wort über Yin zu sagen. Ich hatte früher die mongolische Rasse tief unterschätzt, wie fast jeder Europäer es tut, doch war es der Liebe gelungen, mir die Augen zu öffnen. Yin lebte in mir. Das gewann mir die Freundschaft dieses so hochgebildeten und weitblickenden Mandarinen. Er erfuhr den eigentlichen Grund meines Handelns nicht, aber wir wurden miteinander einig, das Werk zu schaffen, von welchem Ihnen sein Sohn berichtet hat.« Raffley hatte sich diesem Werke mit größtem Eifer hingegeben, doch erst als es zu einem überzeugenden Beweise gediehen war, hatte der Oheim ihn benachrichtigt, daß er ihn nun auch persönlich näher kennen lernen wolle. Um diese Zeit war es, daß Fu, wie ich ihn noch nennen will, seine große Studienreise in das Ausland unternahm, um am Schlusse derselben seinen Sohn aus dem Abendlande heimzuführen. Raffley, der sich seiner hocharistokratischen Familie wegen Blackstone nannte, sah endlich seinen Herzenswunsch erfüllt: Yin wurde sein; Mutter und Oheim verließen mit ihr Peking, um sich an Raffleys Arbeit zu betätigen. In dieser ersten Zeit des Glückes wurde die Jacht gebaut, welche natürlich gar nicht anders als nur Yin heißen konnte. Aber einem Charakter wie Raffley konnte ein verheimlichtes Glück kein ganzes, kein volles sein. Er war unendlich stolz auf den Schatz, den er erworben hatte, und wollte ihn von seinen Verwandten anerkannt sehen. Er war es dieser Frau schuldig, daß sie von den Seinen so geehrt und so geachtet wurde, wie sie es verdiente. Darum ging er nach England. Er fand dort nichts als Widerstand. John Raffley, und eine Chinesin, pfui! Es hatte da Szenen gegeben, welche er nicht beschrieb, sondern nur ahnen ließ. Aber da war ganz unerwartet ein glückverheißender Umstand eingetreten: der Governor wettete ebenso gern wie Raffley selbst und hatte während einer derartigen Szene eine Wette vorgeschlagen, welche von allen Beteiligten akzeptiert worden war. Er wollte mit nach China gehen, um diese Yin zu sehen. Gefiel sie ihm, so sollte sie anerkannt und als vollständig ebenbürtig betrachtet werden; gefiel sie ihm aber nicht, so hatte Raffley auf Alles zu verzichten, was er war und was er besaß. Diese Bedingungen wurden amtlich festgestellt , beglaubigt und von allen dabei interessierten Personen unterzeichnet. Dann trat Raffley mit dem Governor die Rückfahrt an, vollständig überzeugt, daß er gewinnen werde. Der alte Gentlemann aber forderte, daß unterwegs niemals von Yin gesprochen werden dürfe, weil dies sein Urteil im voraus beeinflussen könne, und Raffley weigerte sich nicht, auch hierzu seine Einwilligung zu erteilen.

Das also war die »große Wette,« von welcher der Governor einige Male vertraulich zu mir gesprochen hatte, und darum war diese schöne Yin für ihn ein »Gespenst«, vor welchem er sich scheute. Je näher er China gekommen war, desto mehr hatte sich in ihm die Befürchtung vergrößert, daß er einer Niederlage entgegengehe.

Als Raffley mir das Alles erzählt hatte, ging er mit mir zu Tsi und teilte ihm mit, daß und aus welchem Grunde ihr beider Reiseziel dasselbe sei. Das Erstaunen des Chinesen war ebenso groß wie seine Freude. Hatte er mir doch so richtig ahnend gesagt, daß er sich diesen Blackstone ganz wie Raffley vorstelle. Nun war mit einem Male Alles glatt und klar geworden, und es sollte für Tsi noch eine ganz besondere Genugtuung geben, denn zufällig näherte sich uns jetzt der Governor, zu welchem Raffley sagte:

»Dear uncle, steht fest, und haltet Euch irgendwo an! Es ist ein Ereignis unterwegs, welches Euch sehr leicht ins Wackeln bringen kann!«

»Ich wackele nie!« behauptete der Onkel.

»Aber jetzt wahrscheinlich doch; wollen sehen!« Er nahm den Chinesen bei der Hand, zog ihn bis vor den Governor hin und fragte diesen: »Wer ist dieser Gentleman? Kennt Ihr wohl seinen Namen?«

»Ah, so! Jedenfalls ein Witz! Well, gehen wir darauf ein! Dieser Gentleman ist mein Freund und heißt Doktor Tsi.«

»Nein, so heißt er nicht, sonder Ki Ti Weng.«

»Ki – – Ti – – Ti – – Ti – –« machte der Uncle, indem sein Gesicht bei jedem »Ti« immer erstaunter wurde. »Ti – – Ti – – – Wang, Wing oder Weng! So heißt doch wohl der Sohn deines Freundes, des Mandarinen Ki Tai – – Tai – – Tai und so weiter?«

»Allerdings. Und dieser Sohn ist eben unser Doktor Tsi. Ich habe natürlich keine Ahnung davon gehabt und es erst jetzt, in diesem Augenblick, erfahren.«

»Ist es möglich? Das soll ich glauben?«

»Gewiß!«

»Der Sohn des Mandarinen mit dem viertausendsechsbundert Jahre alten Adel?«

»Ja.«

»So halte mich! Ich wackele!«

Er war im höchsten Grade erstaunt, obgleich er sich bemühte, seiner Verwunderung diese scherzhafte Wendung zu geben. So fuhr er fort:

»Inkognito! Unter andern Namen! Es geht Alles, Alles anders, als man dachte! Meine Wette, meine große, große Wette! Aber ich werde mich rächen! Dieser Doktor Tsi, der eigentlich Ki Ti – – Ti – – Ti und so weiter heißt, soll mir zur Strafe für seine Heimlichkeiten die Namen und Daten aller seiner Ahnen hersagen, welche es in diesen viertausendsechshundert Jahren gegeben hat. Bitte, vorwärts, nach meiner Koje! Heut sieht sie unsern Tsi zum erstenmal als Gast!«

Er zog den Arm des Arztes unter den seinen und ging mit ihm fort.

»Alter, echter Gentleman!« sagte Raffley gerührt. »Könnte doch ein Jeder die alten Vorurteile in so anständiger Weise überwinden, wie er! Ich bin überzeugt, daß er schon in den nächsten Tagen auch mit meiner herrlichen Yin genauso Arm in Arm promenieren gehen wird!« –

In Shanghai blieben wir einen ganzen Tag, denn es gab für alle Gesunden das Bedürfnis, sich einmal eine anhaltendere Bewegung zu machen, als an Bord möglich war. Es gelang mir, zwei gute Pferde aufzutreiben, um mit meinem Sejjid Omar, der sich sehr darüber freute, einen Ritt über den schattigen »Bund« und durch die jenseits des chinesischen Stadtteiles liegenden Avenuen zu machen. Dann begleitete ich Raffley durch die Läden, in denen er nach Gegenständen für die Geliebte suchte. Es hatte aber den Anschein, als ob ihm nichts ihrer recht würdig sei, obgleich er mit im Tone des Glückes anvertraute, daß sie die Einfachheit liebe und auch gar nicht nötig habe, sich zu schmücken, da sie selbst die köstlichste Perle sei, die man sich nur denken könne.

Am Abende besuchten wir mit Mary Waller den berühmten, wunderbar illuminierten Garten von Chang Su Ho. Tsi hielt es für notwendig, der Lady diese Abwechslung zu bieten, zumal das Befinden ihres Vaters es ihr jetzt erlaubte, sich für einige Stunden von ihm zu beurlauben.

Wir hatten uns in dem erwähnten Garten für uns allein gesetzt und betrachteten mit regem Interesse das vielgestaltete Leben, welches in der prachtvollen künstlichen Beleuchtung vor uns auf- und niederwogte. Da sprang Tsi plötzlich auf und eilte einem kleinen, schmächtigen Chinesen nach, welcher an uns vorübergegangen war, ohne von uns beachtet worden zu sein. Er hielt ihn fest und sprach zu ihm, ohne ihn vorher in der landesüblichen, umständlichen Weise begrüßt zu haben; der Kleine schien also ein näherer Bekannter von ihm zu sein. Dann führte er ihn zu uns, und ich sah zu meiner Ueberraschung, daß es Fang, mein Bekannter von Point de Galle her war. Er stellte ihn uns unter Aufzählung aller Titel und Würden vor und fügte hinzu, daß dieser Mandarin des roten Blumenknopfes früher sein Lehrer gewesen und einer der berühmtesten Aerzte Chinas sei. Ich streckte dem lieben Kleinen nach europäischem Brauche meine beiden Hände hin, um ihn willkommen zu heißen, wodurch die Andern erfuhren, daß wir uns schon kannten. Er nahm selbstverständlich bei uns Platz, und da stellte es sich bald heraus, daß er in der Absicht, zu Tsis Vater zu reisen, hier in Shanghai nach einer Schiffsgelegenheit dorthin gesucht hatte. Raffley beeilte sich, ihn einzuladen, mit uns zu fahren, und es wurde bereitwilligst angenommen.

Im Laufe der Unterhaltung kam die Rede auf unsern Patienten. Tsi begann zu erzählen. Fang hörte mit größtem Interesse, welches sich oft zur Spannung steigerte, zu und unterbrach den Bericht hier und da mit Erkundigungen, welche verrieten, daß er sich hier auf einem Gebiete befinde, auf dem er vielleicht noch heimischer als sein einstiger Schüler sei. Er hielt uns, als Tsi zu Ende war, über das Thema »Vision« ein Privatissimum, welches selbst einem europäischen Gelehrten ersten Ranges Bewunderung abgenötigt hätte, stimmte der bisherigen Behandlung Wallers in jeder Beziehung völlig bei und versicherte uns, daß die abendländische Wissenschaft hier vor einem Feld stehe, welches die Geringschätzung, mit der man es bis heut behandelt habe, nichts weniger als verdiene. Nach einiger Zeit verabschiedete er sich für einstweilen von uns, um sein Gepäck zu besorgen, und als wir dann an Bord ankamen, war er schon da und erzählte uns in heiterer Weise, daß mein Sejjid Omar ihn sogleich erkannt und eine wunderbare chinesische Rede vom Stapel gelassen habe.

Am folgenden Vormittage nahmen wir Anker auf und gingen bei prächtigstem Wetter mit vollem Dampfe weiter. Indem wir uns von der Tschifulinie weit nach Westen hielten, entfernten wir uns von dem Kurse europäischer Fahrzeuge und bekamen nur dann und wann ein chinesisches zu sehen. Auch an Bord schien es weniger Leben als sonst zu geben. Mary war bei ihrem Vater. Tsi saß, wenn er sich nicht mit dem Kranken beschäftigte, mit Fang beisammen; sie hatten ja einander viel zu berichten. Raffley beschäftigte sich mit dem Ordnen der Geschenke, welche er nach unserer Ankunft zu verteilen hatte, und der Governor war heut von einer Nervosität, welche ihn fast ungenießbar machte. Ich versuchte einigemal, ein Gespräch mit ihm zu beginnen; er hielt mir aber nicht Stand. Das war wohl freilich zu begreifen, weil die Entscheidung nun so nahe lag. Bei einem dieser Versuche sah er mich wie ratlos an und sagte:

»Wißt Ihr, Sir, was morgen geschieht, schon morgen? O, diese Yin! Ich wünsche sie ins Pfefferland und freue mich doch fast wie ein Kind auf sie! Ist das nicht verrückt! Werde ich gewinnen oder verlieren! Pshaw! Ich brauche ja nur fest zu behaupten, daß sie mir nicht gefällt, so habe ich den Sieg! Aber erstens wäre das eine Lüge, weil mir doch schon ihr Bild gefällt. Zweitens liegt mir dieser alte, liebe John am Herzen. Sollen wir ihn um Alles, Alles bringen, weil er so klug ist, wirklich glücklich sein zu wollen? Und drittens, hm, drittens kommt mir diese ganze Wette so unsinnig vor, daß ich mich gar nicht begreife. Wie ein vernünftiger Mensch nur wetten kann!

Das klang grad aus seinem Munde so sonderbar, daß ich ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. Er sah das und fahr schnell und fast zornig fort:

»Lacht nur, Sir, immer lacht! Wer hat denn diesen Hieb gegen John und mich geführt? Ihr! Jede Wette ging verloren, nur die Eurige nicht. Und Waller wird die seinige auch bezahlen müssen! Nun treibt mich heut die Ungewißheit hin und her, und ich kann mir nicht einmal mit einer Wette Luft machen! Und wenn ich könnte, so würde ich es doch nicht tun, denn ich – – ich – – wette nie in meinem Leben mehr. Hört Ihr es? Nie! Und daran seid Ihr schuld, Ihr fataler, schrecklicher – – guter, lieber Mensch!«

Er drehte sich auf den Hacken um und ließ mich stehen. Der Kampf des Menschen mit sich selbst ist der schwerste, den es gibt. Er gelingt nur Wenigen, ihn bis zum Ende und siegreich durchzuführen.

Am Abende dieses Tages geschah etwas sehr Eigenartiges, sehr Unerwartetes. Der Kranke hatte, ohne die Augen zu öffnen oder ein Glied zu bewegen, dreimal mit starker, befehlender Stimme verlangt, aus der Kajüte hinaus auf das Deck geschafft zu werden. Er wolle den Strahl von oben direkt auf sich leuchten sehen. Mary meldete das Tsi, und dieser war so bedachtsam, erst dann zu bestimmen, nachdem er mit Fang hierüber gesprochen hatte. Beide trafen in der Meinung zusammen, daß man den Wunsch zu erfüllen habe, zumal der Abend ein sehr ruhiger und selten schöner war. Natürlich war Waller nur mitsamt dem Lager zu transportieren. Es wurde herausgeholt und bis nach Yins Kajüte getragen, weil dieser Platz am besten hierfür paßte. Ich stieg mit Fang auf das Verdeck dieser Kajüte, von wo aus wir den Kranken nahe unter uns hatten. Tsi und Mary nahmen ihre Stellung zu seinen beiden Seiten.

Er lag zunächst mit geschlossenen Augen. Erst nach längerer Zeit öffnete er sie und schaute zum Firmamente empor. Er sagte nichts. Seine Seele war nicht nach außen, sondern nur in ihm beschäftigt. In dieser Stille verging eine lange, lange Zeit. Da kam der Mond im Osten aus der See gestiegen. Der Kranke wurde zunächst unruhig; dann lag er wieder still. Und plötzlich, so unerwartet und so laut, daß wir fast erschraken, ertönte seine Stimme:

»Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein;
Laßt ihren Puls durch alle Länder fließen;
Dann wird die Erde Christi Kirche sein,
Und wieder eins von Gottes Paradiesen!«

Wir konnten ihn nur sehen, wenn wir uns von oben vorbeugten, und da wir befürchteten; ihn dadurch zu stören, so wurde es von jetzt an unterlassen. Wir vermieden jedes, auch das geringste Geräusch, und so hörten wir, daß er vor sich hinflüsterte. Dann wurde seine Stimme wieder laut:

»Steigt nieder, die ihr jetzt am Himmel strahlt, zu der, die euch nur aus der Ferne kennt, zur Welt des Scheins, die mit dem Lichte prahlt, obgleich sie nichts als nur Geborgtes brennt! Steig nieder, heilger Stern von Ephrata, der du der Stern der wahren Liebe bist; erscheine, wie's in jener Nacht geschah, und zeige uns wie dort den wahren Christ!«

Ich sah den Sprechenden nicht, und dadurch bekam das, was er sagte, einen ganz eigenartigen, unbeschreiblichen Klang für mich. Es kam wie aus großer Tiefe oder weiter Ferne, wie aus der Zeit des alten Testamentes. Nun fuhr er fort:

»Wo ist die Liebe, die am ersten Tag der Menschheit Christi arm geworden war, die ohne Dünkel in der Krippe lag und Demut übte stets und immerdar? Wo ist die Liebe, die zum Jünger kam und ihm nur dann die Seligkeit verhieß, wenn er das Kreuz geduldig auf sich nahm und alle Erdengüter von sich stieß? Wo ist die Liebe, welche der geliebt, der jede ihrer Gaben so verstand, daß Alles, Alles, was die Rechte gibt, verborgen bleibt der andern, linken Hand? Wo ist die Liebe, die sich willig bot, als Opferlamm, trotz aller Qual und Pein, durch einen unerhörten Martertod für Freund und Feind ein ewges Heil zu sein?«

Es war ein schwer ernster Ton, in welchem er diese vier Fragen ausgesprochen hatte, ein Grave, welches gar nicht gewichtiger erklingen konnte. Dann hörten wir ihn in eindringlich mahnender Weise weitersprechen:

»Sie ist von Ewigkeit zu Ewigkeit; sie ehrt den Staub und glänzt im Alpenfirn. Sie trägt den Raum; sie wohnt in jeder Zeit; warum verschließt sich ihr das Menschenhirn? Es schlägt ihr Puls, wenn auch ihm unbewußt, weil er des Herzens Stimme nicht versteht, sogar in jedes Egoisten Brust, in der ein Odem auf- und niedergeht. Gib ihr doch Raum, du armes Menschenkind, den Raum, den ihr das erste Ostern gab; glaub an die Engel, die gekommen sind; sie nehmen gern den Stein dir von dem Grab!«

Wie wunderbar das zu hören war! Nicht wie eine Rede, noch weniger wie eine Deklamation. Es schien gar keiner Schallwellen und gar keines Ohres zu bedürfen, um das Herz zu erreichen. Es wirkte unmittelbar; kein Sträuben half dagegen. Hierauf erhob er seine Stimme wieder:

»Kling weit hinaus, so weit das Wort nur klingt, du frohe Botschaft, daß der wahre Christ von Herzen gern das größte Opfer bringt, weil es für ihn ja doch kein Opfer ist. Kling weit hinaus, so weit die Erde reicht, du Wort des Heiles, das auch uns bekehrt, und wer als Jünger seinem Meister gleicht, durch den seist du der Heidenwelt beschert! Kling weit hinaus, und wo du auch ertönst, sei Evangelium für Jedermann. Wenn du die Völker einigst und versöhnst, bricht für uns Christi Reich des Friedens an!«

Er hatte die letzten Sätze immer langsamer und langsamer gesprochen; nun war er still. Nach längerer Zeit hörten wir, daß er wieder nach seiner Kajüte verlangte. Er wurde hineingetragen. Wir stiegen von unserm hohen Platz hinab und folgten. Waller schien von der frischen, kräftigen Luft ermüdet und eingeschlafen zu sein. Tsi aber meinte, daß der Kranke wohl noch etwas zu sagen haben werde. Die Besprechung des Gedichtes Zeile für Zeile sei allerdings beendet; aber weil derselben die Erscheinung von Marys Mutter vorangegangen sei, dürfe man fast mit Sicherheit erwarten, daß er sie auch nun zum Schlusse wiedersehen werde. Diese Bemerkung mochte auf meinem Gesichte eine, wenn auch unausgesprochene, aber doch sehr deutlich lesbare Frage hervorgebracht haben, denn er fügte, indem er dabei lächelte, hinzu:

»Sie wundern sich über die Sicherheit, mit welcher ich das wahrscheinlich Kommende voraussage? Hätten Sie eine Ahnung von der strengen, unfehlbaren Logik, mit welcher sich diese für Sie so geheimnisvollen psychischen Tatsachen entwickeln, so würden Sie nicht staunen. Die Ereignisse auf diesem Gebiete geschehen nach wenigstens ebenso unerschütterlichen Gesetzen wie die Vorkommnisse der nicht metaphysischen Welt. Miß Mary mag hier bleiben und sich still verhalten; wir beide aber nehmen wieder draußen vor der Thür Platz, wo wir am letzten Male gesessen haben. Sie werden bald hören, daß ich mit meinen Vermutungen das Richtige getroffen habe.«

Bei unserer vorigen Beobachtung Wallers war es früher am Abend gewesen als heut; aber auch die Mondzeit war unterdessen vorgeschritten, und so kam es, daß die Verhältnisse fast genau dieselben waren: der sanfte, weiche Schein des Lichtes fiel durch die großen Glasscheiben auf das Lager und stieg an der Gestalt des Ruhenden langsam empor. Als er das Gesicht erreicht hatte, begann Waller sich zu bewegen. Er sprach jetzt nur ein einziges Wort; es war der Name seiner Frau. Dann lag er wieder still; es war, als ob er lausche. Hierauf wurde er abermals unruhig und wendete unter leisem Flüstern sein Gesicht hin und her, bis es, dem Mondschein zugewendet, liegen blieb. Und nun begann er laut und deutlich:

»Du kamst zu mir und gabst mir Augenlicht, in eure liebe, reine Welt zu schauen. Ieh sah der Wahrheit in das Angesicht und will der Herrlichen mich anvertrauen. Wem sie gelehrt, die Täuschung zu besiegen, der soll dem Schein nicht wieder unterliegen. – – – Du kamst zu mir, warst einem Engel gleich, der Liebe brachte und um Liebe bat; es hat ja immer nur das Himmelreich für unser Erdenreich den besten Rat. Es wollte sich mir im Gedichte zeigen, um durch dasselbe in mein Herz zu steigen. – – – Nun ist es da. Es ist die Seligkeit, die schon in diesem Leben mir gehört. O würde doch der Mensch nicht durch die Zeit und durch des Raumes Hinterlist betört, er würde kühn sich an das Ewge wagen und dann als Preis den Himmel in sich tragen!«

Hatte ich schon einmal solche Worte vernommen? Wohl kaum jemals in meinem Leben, wenigstens in dieser Weise nicht. Sich an das Ewge wagen! Ist das vielleicht so verwegen, wie es klingt? Nein; wir sollen es sogar! Aber wir sollen nicht nur an das Ewige denken, sondern auch für die Ewigkeit leben, denn – – wir leben ja schon in der Ewigkeit. Zeit wird ja nur der winzige Teil von ihr genannt, in welchem der Mensch nach seinen Erdenstunden zählt. – Waller hatte hier innegehalten. Nun sprach er im Tone der Liebe weiter:

»Gib mir die Hand, wie du sie mir gereicht, als du, mein Weib und Engel zu mir kamst. Es hatte sich mir schon der Tod gezeigt, grad als du mich in deine Führung nahmst. Ich bin ihm nur durch dich, durch dich entgangen und hab nun jenes Leben angefangen. – – – Wie dank ich dir! Nun bist du himmlisch mein, die du nur irdisch einst die Meine warst. Laß mich ein Schüler jener Liebe sein, als deren Strahl du dich mir offenbarst. Ich will ihr frei und ohne Falsch gehorchen und sie mir nicht auf andrer Namen borgen.«

Er hatte seine beiden Hände ausgestreckt, dem Mondesstrahle entgegen, und sie dann so ineinander gelegt, als ob er zwischen ihnen die Hand einer unsichtbaren Person festhalte. Jetzt machte er eine Bewegung, als ob er diese Hand wieder freigebe, und ließ die letzten Worte folgen, denen er am Schluß einen schweren Nachdruck gab:

»Du lächelst froh, indem du von mir gehst. Die Hände faltend, schaust du himmelan. Ich höre, was du uns von dort erflehst: es ist die Seligkeit für Jedermann. Was macht zum Himmelreich denn schon die Erde! Ein einz'ger Hirt und eine einz'ge Herde!«

Das war das Ende seines heutigen Gesichtes. Er wendete sich nach einiger Zeit nach der andern Seite, und Tsi war überzeugt, daß er nun nicht wieder sprechen werde.

Mary, welche drin bei ihrem Vater gesessen hatte, kam jetzt heraus zu uns. Auch sie war tief ergriffen. Wir sprachen noch lange über das, was wir gehört hatten. Kein Wort aber fiel darüber, ob der Zustand, in welchem Waller diese Visionen hatte, für ihn vielleicht gefährlich sei. Wir waren überzeugt, daß Tsi in diesem Falle unbedingt Einhalt getan hätte. Einer andern Frage aber mußte ich Worte geben:

»Glauben Sie, daß Mr. Waller weiß, was er spricht?«

»Alles, Alles weiß er, jedes Wort,« antwortete der Arzt. »Haben Sie es ihm nicht angehört, daß er während des Sprechens überlegt? Er bekommt das, was wir von ihm hören, zunächst nicht etwa für uns, sondern für sich selbst. Er hört es, wie wir hören, wenn gesprochen wird; er könnte es schweigend entgegennehmen; aber er spricht es laut und deutlich aus, weil es ihm dadurch leichter wird, es sich zu eigen zu machen. Er prägt es seinem Gedächtnisse ein, und wenn er es auch nicht wörtlich behalt, so nimmt er doch ganz gewiß wenigstens den Sinn aus dem visionären Zustande mit herüber in das körperliche Leben. Hier bewegt und entwickelt er es in sich weiter. Er kann sich dieser Einwirkung des Jenseits nicht entziehen; sie ist für ihn maßgebender und glaubwürdiger als die Meinungen aller irdischen Autoritäten, und so kommt es, daß seine Ansichten ganz andere werden, als sie früher gewesen sind. Er wird das, was man nicht hier, in dieser Welt der Irrsale, sondern in jenem Reiche klar gewordener Geister einen Christen nennt.«

»Geister? Vielleicht auch Seelen?« fragte Mary. »Glauben Sie, daß sie den Menschen sagen können, was meinem Vater gesagt worden ist? Sie befinden sich doch in der Ewigkeit; wir aber sind noch hier auf der Erde!«

»Ewigkeit und Erde schließen einander doch nicht aus,« erklärte Tsi. »Die Ewigkeit ist vor uns, hinter uns, neben und rund um uns. Wir befinden uns in ihr. Unsere Erde ist eines der winzigen, ununterbrochen im Kreis rinnenden Körnchen der nie sich erschöpfenden, nie sich leerenden Sanduhr der Ewigkeit. Es ist einer der größten und unverzeihlichsten Gewohnheitsirrtümer, anzunehmen; daß die Ewigkeit für uns erst nach unserm Tode beginne. Wir leben in ihr und gehören zu ihr, wie die von Ihnen erwähnten Geister und Seelen zu ihr gehören. Wenn Ihr Glaube diese Seelen in die Ewigkeit versetzt, in welcher Sie sich doch in Wirklichkeit schon selbst auch befinden, so sagt er doch weiter nichts, als daß sie hier bei Ihnen geblieben sind. Und ist dies der Fall, so ist es doch ganz selbstverständlich, daß diese Geister nicht nur auf uns wirken können, sondern sogar auf uns wirken müssen, besonders da es für sie keine körperlichen und räumlichen Verhältnisse gibt, durch welche sie daran gehindert werden. Für uns Chinesen ist das etwas so unendlich Selbstverständliches, daß wir mit unsern nur scheinbar Abgeschiedenen in der lieben, dankbaren Weise verkehren, welcher Sie so unberechtigter Weise die Bezeichnung Ahnenkults gegeben haben. Ich sage Ihnen, daß es für Andere von unermeßlichem Vorteile sein würde, wenn auch ihnen endlich die Erkenntnis käme, daß sie durch ihren Unglauben in dieser Beziehung zu einer lieblosen Entfremdung mit Denen geführt werden, welche sich in diesem Leben für uns opferten und sich auch in jenem weiter für uns opfern, ohne daß wir es ihnen hier danken konnten, es ihnen also nun dort danken sollen! Sie sind da; sie sind hier bei uns; ich schwöre es Ihnen zu! Nun denken Sie sich ihr Herzeleid, ihre Trauer darüber, daß Sie sie von sich verstoßen und nichts von ihnen wissen wollen, und zwar nur aus dem ganz unzureichenden Grunde, daß Ihre materiellen Sinne nicht fein genug sind, das Geistige zu schauen, zu empfinden! Es sind bittere Schmerzen, welche Sie dadurch den teuren Wesen bereiten, welche Ihnen hier in der Zeit nahe gestanden haben und auch hier in der Ewigkeit nahe bleiben sollen. Gibt es denn für Euch doch sonst so kluge Menschen kein Mittel, Euch von dieser geistigen Kurzsichtigkeit zu befreien und den zur Seligkeit Bestimmten diese Seligkeit nicht langer zu vergällen?«

Der sonst so ruhige, junge Gelehrte war erregt geworden; er stand auf und entfernte sich. Darum verabschiedete auch ich mich bald von Mary, um schlafen zu gehen, war aber überzeugt, daß der zur Ruhe gehörige, innere Augenschluß sich heut verzögern werde. Da kam Raffley die zur Kommandobrücke führenden Stufen herunter und auf mich zu.

»Bitte, mir zwei Worte zu erlauben, lieber Charley,« sagte er. Indem er meinen Arm in den seinen zog, um mit mir hin und her zu gehen, fuhr er fort: »Ki-tsching liegt nämlich nur noch diese Nacht und einige Stunden von uns entfernt, und – – –«

»Ki-tsching?« unterbrach ich ihn. »Wie Sie diese Worte betonen, heißen sie "hoffen" und "vollenden". Der Name dieser Ihrer Besitzung bedeutet also ein Land, in welchem die Hoffnung begonnen hat, was die Zukunft vollenden soll?«

»Ja, genau so ist es. Uebrigens legen wir nicht am Festlande, sondern zunächst an der den Hafen beschützenden Insel Ocama an.«

»Ocama? Wahrscheinlich ein zweites Macao, nur daß die Silben anders geordnet sind. Darf ich vermuten, daß dies eine sinnbildliche Bedeutung hat?«

»Eine symbolische und zugleich auch eine erklärende. Ihnen aber brauche ich über die Bedeutung dieses Namens ja wohl nichts mehr zu sagen. Sie verstehen sie auch ohne Worte. Auf Ocama liegt das frühere chinesische Sommerhaus Ihres Bekannten Fu, wo meine Yin uns erwartet. Ich habe ihr von Hongkong aus telegraphiert, wahrend auch unser Tsi, ohne daß ich davon wußte, seinem Vater von dort aus eine Depesche sandte. Dieser Letztere ist bei Yin, und Beide wissen, daß wir morgen kommen. Das ist es, was ich Ihnen jetzt noch gern sagen wollte. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!« –

Wie ich vorausgesehen hatte, schlief ich heute sehr spät ein und versäumte mich am nächsten Morgen dann so sehr, daß die Andern, als ich zum Frühstück kam, schon längst damit begannen hatten. Mir fiel der Governor auf. Er hatte sich schon während der letzten Tage sehr unruhig gezeigt; jetzt aber machte er auf mich nun gar den Eindruck der Beklommenheit. Er genoß fast gar nichts und sprach nur dann, wenn eine Frage direkt an ihn gerichtet wurde. Er mochte wohl bemerken, daß mir dies auffiel, denn nach dem Frühstück zog er mich mit sich fort, und als wir allein mit einander waren, sagte er:

»Hört, Sir, wie es scheint, seht Ihr mir an, daß ich mich in einer höchst bedenklichen Verfassung befinde. Bin wie ein Schulknabe, der ins Examen muß, aber nichts gelernt hat und darum weiß, daß er sitzenbleiben wird! Habe die ganze Nacht nicht geschlafen; kann weder essen noch trinken. Mir ist, als ob ich etwas Großes und Schweres verbrochen hatte, was mir nur diese Yin verzeihen könne! Habe ich mich etwa an ihr versündigt? Oder vielleicht an China im Allgemeinen? Ich sage Euch, daß mir scheint, ich habe kein gutes Gewissen! Fatal, höchst fatal! Ich fühle, diese Yin macht mir mehr zu schaffen, als mir ganz Indien mitsamt Ceylon zu schaffen gemacht hat! Und dabei kenne ich sie noch nicht! Vielleicht aber ist grad diesem Umstande diese innerliche Unsicherheit zuzuschreiben! Ich weiß ja gar nicht, wie ich sie zu nehmen habe, wie ich sie begrüßen und was ich tun und sagen soll! Fühle ich etwa als Vertreter meiner Nation diese sonderbare gelbe Angst vor der früher so verachteten und unterschätzten gelben Rasse? Habt Ihr eine Ahnung, wie mir zumute ist?«

»Beinahe!« antwortete ich.

»Nun, wie denn ungefähr?«

»Wie einem braven weißen Gentleman, der einen ebenso braven gelben Gentleman nur dieser andern Farbe wegen nicht als Gentleman behandelt hat und nun wegen der unausbleiblichen Folgen in Besorgnis ist. Oder, da Ihr von Eurer Nation sprecht, es ist Euch zu Mute wie einer Volksseele, welche die vor Gott ganz ebenso berechtigte Seele eines andern Volkes in diesen Rechten schwer gekränkt und geschädigt hat und hierauf befürchtet, von dieser Seele vor Gottes Gericht gezogen zu werden.«

Er sah mir einige Augenblicke starr in das Gesicht und sagte dann:

»Getroffen, ganz genau getroffen! Ja, so sieht es in meinem Innern aus! Ich gebe das aufrichtig zu, denn Ihr wißt, daß ich nie eine Lüge sage. Jene stürmische Familiensitzung mit ihrem zornigen Schlusse, der unvorsichtigen Wette, wie gern möchte ich sie ungeschehen machen! John kannte seine Yin; er wußte, was er tat. Ich aber, der total Unwissende, überhob mich in meinem National- und Familienhochmute, seinen und unsern ganzen Besitz von einer frivolen, dreisten Wette abhängig zu machen. Genau ebenso stellt auch die bewaffnete Hand das Wohl der Völker auf das Spiel und bezahlt mit Menschenblut, was ihr der Friede ganz umsonst und doppelt geben würde. Wenn die Nationen glauben, Wetten mit- oder gegeneinander eingehen zu müssen, so sollten sie es doch in anderer Weise und um andere Preise tun. Wo sind heut alle die Gewinne, um derentwillen Jahrtausende hindurch mit Blut gewettet wurde? Wer wird in wieder tausend Jahren die Länder besitzen, um welche die Gegenwart mit blutigen Waffen wettet? Sind solche Gewinne derartige Einsätze wert? Gibt es denn nicht bleibende Gewinne, welche durch Einsätze zu erlangen sind, die weder Angst noch Sorge oder Schmerz bereiten? Ich sage Euch, Sir, es wird auch um dieses China viel Blut, sehr viel Blut fließen, und wenn es geflossen ist, wird es umsonst vergossen worden sein, weil "Alles, was das Schwert erwirbt, auch durch das Schwert im Kriege stirbt". Die Wette, welche ich mit John eingegangen bin, ist keine blutige, aber der Hochmut hat sie mir diktiert, und darum denke ich, daß ich sie wohl verlieren werde. Er aber hat all sein Hab und Gut für seine Liebe eingesetzt, und selbst wenn er verlöre, würde er der Gewinnende sein, weil es für die Liebe, die er niemals verlieren kann, ja doch kein Opfer gibt. Ich ging natürlich diese Wette in der Absicht und in der Ueberzeugung ein, daß ich sie gewinnen werde. Jetzt fühle ich diese Ueberzeugung als eine Schuld, welche ich abzutragen habe, und was die Absicht betrifft, so will ich Euch gestehen, daß ich sie als Bezahlung dieser meiner Schuld betrachte. Ich gebe sie hin! Und warum? Aus Liebe; denkt Euch doch nur, aus Liebe! Und wo kommt diese Liebe so plötzlich bei mir her? Dort aus der Kajüte, in welcher das Bild hängt und wo der Kranke mit seinem Engel sprach. Die Frau, welche ich früher als »Gespenst« bezeichnete, ist mir so vertraut geworden, obgleich ich sie nur erst im Bilde kenne. Ich befürchte, daß ich, wenn sie nun persönlich vor mir steht, diesen unsern guten John sogar um sie beneiden werde, und das wird mich um die eindrucksvolle Haltung bringen, welche ich meiner Nationalität, meinem hohen Stande und meiner persönlichen Würde schuldig bin. Kurz und gut, ich habe aus verschiedenen Gründen Angst vor dieser Yin und befinde mich ihr gegenüber in der Lage eines kleinen, unerfahrenen Bürgers, der vor irgend einer fürstlichen Dame zu erscheinen hat und schon im Voraus überzeugt ist, daß er sich gründlich falsch benehmen werde. Wenn sie mich etwa in der Weise begrüßt, in welcher ich sie gleich beim ersten Zusammentreffen mit meinen Blicken niederschmettern wollte, so fahre ich mit dem allernächsten Schiffe heim und warne jeden Englishman, sich fernerhin für das zu halten, für was er sich bisher gehalten hat! – So, das ist es, was ich Euch sagen wollte, Sir. Und nun bitte ich Euch, nehmt Euch, wenn wir ihr vorgestellt werden, ein wenig meiner an, damit sie meine Verlegenheit nicht allzusehr bemerkt! Ich mochte sie nämlich so sehr gern haben, daß sie mich für ihrer Achtung würdig hält!«

Ich versprach es ihm, obwohl ich wußte, daß ich nicht dazu kommen würde, dieses Versprechen zu halten. Er wußte gar nicht, daß seine Worte die geistig und seelisch ereignisreiche Geschichte einer innern Umwandlung enthielten, welche- sich bei ihm äußerlich friedlich vollzogen hatte, während sie bei andern Menschen wie auch bei Völkern nur unter langen und schweren Kämpfen vor sich geht. Darum stand zu erwarten, daß auch die nun folgenden und letzten Töne in freundlicher Harmonie erklingen würden.

Bald darauf erfuhren wir, daß die Insel in kurzer Zeit zu sehen sein werde, und machten uns also zum Landen bereit. Mein Sejjid Omar brachte meine und seine Sachen mit Fangs Gepäck herbeigetragen. Dann ging er zu Mary, um auch ihr und ihrem Vater seine Hilfe anzubieten. Raffley stand oben auf der Brücke, um die Einfahrt selbst zu leiten. Bill führte das Steuer, und Tom machte sich mit dem Salutgeschütze zu schaffen, um unsere Grüße, die aus dem Herzen kamen, mit ehernem Munde zu bestätigen.

Da ertönte von der Insel ein lauter Böllerschuß zu uns herüber; ein zweiter folgte und diesem ein dritter. Tom antwortete ebenso oft aus seinem Rohre.

Es gab selbstverständlich bei uns kein Auge, welches nicht nach der Küste gerichtet war. Sie hatte sich in schönes Grün gekleidet. Das Innere wurde uns von Büschen verhüllt, aus denen die Wipfel hoher Bäume ragten. Es gab da einen kleinen, freien Platz, auf welchem wir einige Chinesen neben dem Böller stehen sahen, aus welchem sie uns salutiert hatten. Sie riefen und winkten uns lebhaft zu. Später öffnete sich zuweilen das Gebüsch, um uns die dahinter liegenden, vollgrasigen Wiesen und wohlbebauten Felder zu zeigen. Weiter vorn, uns zur Rechten, stieg das Land zu einer bewaldeten Höhe empor, auf welcher das chinesisch konstruierte Dach eines sehr ansehnlichen Gebäudes aus dunklen Blätterkronen ragte.

Die Matrosen unserer »Yin« hatten schon am frühen Morgen die Paradeleinen hervorgeholt und Wimpel an Wimpel gereiht, um die Jacht zur Einfahrt zu schmücken. Diese Leinen hingen jetzt noch leer vom Top herunter, doch bedurfte es nur eines Wortes von Raffley, um sie in Zeit von einer Minute aufzuholen.

Ocama hat eine dem Festlande zugekehrte Bucht mit klarem, tiefem und fast stets ruhigem Hafenwasser. Als wir uns dem südlichen Vorsprunge dieser Bucht näherten, begann das Ufer, sich zu beleben. Wir sahen zwischen dem Gebüsch in Blumengärten Häuser liegen, so nett und sauber, jedes von ihnen eine eigenartige, besondere chinesische Individualität; das Auge konnte sich wirklich immer von dem einen auf das andere hinwegfreuen. Diese Häuser mehrten sich, und als wir in einem weit ausgeholten Halbkreise um die südliche Zunge bogen, entwickelte sich vor uns ein Landschaftsbild, welches, besonders bei dem heutigen schönen, klaren Wetter, selbst das verwöhnte Auge eines Weit- und Vielgereisten befriedigen mußte.

Man denke sich einen halbmondförmigen Busen, von dessen beiden äußeren Enden an das Land sich sanft, aber höher und immer höher erhebt, um, immer von Gärten oder parkähnlichem Gehölz begleitet, in der Mitte einen vom Wasser zurücktretenden Berg zu bilden, an dessen Lehne die mit Pflanzengrün und Blumen geschmückten Häuser des Ortes aufwärtssteigen. Und hoch über ihnen ein hellglänzendes, weißes Landhaus, dessen nur halb chinesischer Stil vermuten läßt, daß sein Erbauer verstanden habe, auch europäischen Gedanken Form zu geben. Dieses hoch- und langgestreckte, vielräumige Haus gehörte Fu; dort wurden wir erwartet. Sein Dach, welches wir schon vorhin gesehen hatten, wurde, wie landesüblich, aus mehreren geschwungenen und einander tragenden Abteilungen gebildet. Es trat, so weit es reichte, so über die Front des Hauses heraus, daß es allen in das Freie gehenden Söllern und Balkonen mehr als hinreichend Schutz zu bieten vermochte. Wir hatten alle die Gläser vorgenommen und da hinaufgerichtet. Darum war es uns möglich, eine weißgekleidete Frauengestalt zu bemerken, welche auf dem am höchsten gelegenen Balkone stand und, sobald wir in Sicht kamen, sich weit über das Geländer beugend, mit einem Tuch winkte.

»Yin, meine Yin!« rief Raffley auf der Kommandobrücke. »Hoch die Wimpel! Alle Grüße auf! Tom, sage ihr, daß wir sie sehen!«

Die Jacht stand im Nu in ihrem wallenden und wehenden Paradeschmuck; das Geschütz ließ seine Stimme hören, und vom Landungsplatze her ertönte auch nach jedem unserer Schüsse einer. Dort lagen mehrere große Dschunken, welche bewiesen, daß die Insel auch mit dem entfernteren Festlande in Beziehung stand. Zahlreiche Boote bewegten sich hin und her, von denen aus uns laut und freudig zugerufen wurde. Der ganze hohe Uferdamm, an welchem wir anlegen mußten, stand voller Menschen, deren Stimmen uns entgegenschallten. Welche Liebe hatte der früher so kalte, steife Englishman sich hier doch zu erwerben gewußt! Gongs wurde geschlagen; alle möglichen andern chinesischen Instrumente ertönten. Die Häuser waren beflaggt oder sonst wie bunt behangen, und in den Lüften schwebten vielgestaltete Drachen, die entweder durch ihre Form oder irgend ein angehängtes Zeichen der Freude über die Rückkehr Raffleys Ausdruck geben sollten. Dieser aber schien für alle diese Ovationen jetzt weder Augen noch Ohren zu haben. Sein Blick blieb hinauf nach dem Balkon gerichtet, bis die Jacht den Damm erreichte und sich mit Hilfe der vorhandenen Taue und Ringe längsseits an ihn legte. Da kam Tsi aus seiner Koje. Er war jetzt chinesisch gekleidet, und ich darf wohl sagen, daß er uns allen in dieser Tracht noch besser gefiel, als in der europäischen. Sie ließ ihn »bedeutender« erscheinen. Es hat gewiß seine guten Gründe, daß der Orient gern faltige Gewänder trägt.

Grad da, wo wir die Barriere zu öffnen hatten, standen im Hintergrunde die für uns bestimmten Gepäck- und Sänftenträger, vor ihnen die Beamten des Ortes, welche dem Heimkehrenden ihren Respekt erweisen wollten, und ihnen ganz voran kein anderer als – – – Fu, der, allerdings unter einem anderen Namen, auch im Ausland weitbekannte Mandarin allerhöchsten Ranges, welcher aber heut und hier so einfach wie ein ganz gewöhnlicher Chinese gekleidet war. Er schien die Begrüßung mit dem Freunde kaum erwarten zu können, denn die Landebrücke lag noch nicht fest, so kam er herüber auf das Deck und auf den ebenso schnell von oben herabsteigenden Raffley zu. Noch ehe er ihn erreicht hatte, rief er aus:

»Endlich, endlich, du Verschwiegener, du Geheimnisvoller! Wie unbeschreiblich hast du mich mit deinem Gluck überrascht, von dem ich gar nichts wußte!«

Sie schlangen die Arme umeinander und küßten sich wie Brüder, welchen nichts schmerzlicher ist, als voneinander getrennt zu sein. Dann kam er zu mir, zog auch mich an sich und berührte mit den Lippen meine beiden Wangen. Mary küßte er die Hände; dem Sejjid schüttelte er wie einem ihm Gleichstehenden herzhaft die Hand, und Fang wurde in chinesischer Weise, aber ganz mit derselben Herzlichkeit begrüßt. Dann erst ging er zu seinem Sohne. Der Governor hatte sich in seiner innerlichen Beklommenheit etwas abseits gehalten; nun aber brachte Raffley den Mandarinen zu ihm und stellte ihn diesem nur mit den zwei Worten »Mein Onkel« vor. Der alte Herr schickte sich an, eine tiefe, zeremonielle Verbeugung zu machen, kam aber nicht dazu, sie auszuführen, denn Fu legte seine Arme schnell auch um ihn, küßte ihm die beiden Wangen, schob ihn dann etwas von sich ab, betrachtete ihn in wohlgelungener, neckischer Weise und sagte dann:

»Ein echter Raffley, well! China freut sich, Old England endlich, endlich hier zu sehen, weil es sicher weiß, daß es in Liebe kommt!« Und sich zu Raffley wendend, fügte er hinzu: »Nun aber Alle schnell hinauf zu deiner – – – nein, zu unserer Yin. Doch vorher muß ich dir, mein Freund und Bruder, sagen, daß dir die reinste, schönste Seele Chinas angehört. Dein Herz hat sich von uns unendlich mehr geholt, als du dir mit der Waffe des Krieges jemals hättest erobern können! Wo ist der Kranke, den du angemeldet hast?«

»Für den sorge ich,« antwortete Tsi an Raffleys Stelle. Wie ich sehe, sind Träger mehr als genug vorhanden.«

Auf einen Wink von ihm wurden die Sänften herbeigebracht. Einige waren für zwei Personen. Der Governor zog mich zu einer derselben hin, schob mich hinein und kam mir dann nachgestiegen. Die Kulis liefen mit uns sofort von dannen. Da holte der Gentleman tief, tief Atem und sagte, indem er den Kopf schüttelte:

»Sir, ich bin ganz irr an mir! Wahrscheinlich deshalb , weil ich es früher an China gewesen bin! Was für ein Mensch, dieser Fu! Wollte ihn durch meine Würde niederschmettern; machte aber kein langes Federlesen mit mir! Sagt mir da erst, daß ich ein echter Raffley sei, und küßt mir trotz dieser Echtheit sofort beide Wangen! Das kommt mir zwar etwas summarisch vor, ist aber höchst wahrscheinlich imponierend! Und was hat er von dieser Yin gesagt? Sir, wenn sie wirklich die schönste, reinste Seele Chinas ist, so ist John der aller-, allerklügste Englishman, den es jemals gegeben hat und noch geben wird! Sein Herz! Well! Habe auch ein Herz! Jeder Engländer hat eins! Lassen wir von diesem Augenblick an nur die Herzen sprechen!«

So schnell unsere Träger liefen, die von Fu waren doch noch schneller gewesen, denn dieser stand, als wir oben ausstiegen, schon unter dem Tore, um uns als Wirt die Honneurs zu machen. Der Governor schien während dieses kurzen Weges seine Zurückhaltung vollständig aufgegeben zu haben, denn er nahm den Mandarinen vertraulich beim Arme und sagte, indem er auf mich deutete:

»Mylord, ich bin England, und dieser etwas jüngere Gentleman ist Deutschland. Wir kommen zu Euch, um China mit aller uns möglichen Liebe und Güte zu erobern, aufrichtig und ohne Falsch. Wir wollen in diesem schönen Friedenswerke uns aus allen Kräften beistehen und so innig Hand in Hand miteinander gehen, daß wir Euch bitten, uns keine getrennten Wohnungen anzuweisen. Quartiert uns, wenn es möglich ist, derartig zueinander, wie der »unbewaffnete Friede« es erfordert, in dem wir mit uns, mit Euch und mit allen Menschen zu leben gesonnen sind!«

Es war ein eigenartiges, frohes und doch tief gerührtes Lächeln, welches, als er antwortete, das Gesicht des hochgestellten Mandarinen noch sympathischer machte, als es so schon war. Er antwortete:

»Wie gern erfülle ich diesen Wunsch! Ihr sollt in meinem eigenen Flügel wohnen, damit ich Euch das wirklich sein kann, was ich, Euch zu sein, gesonnen bin. Dies Haus, dies Dach wird Euch gehören, so lange es mir selbst gehört! Und wo die Liebe Raum für Euch und mich besitzt, muß sie des treuen Dieners auch gedenken, welcher bewiesen hat, was Freundlichkeit und Gute selbst über Afrika vermögen. Also auch Sejjid Omar sei Euch zugesellt. Dann« – – hier machte er eine unnachahmliche, umfassende Bewegung mit der Hand – – »dann ist die ganze »alte Welt« vereinigt und bereit« – – jetzt deutete er auf den Weg zurück, wo soeben die beiden Sänften Wallers und Marys erschienen – – »nun auch die »neue« zu empfangen, um sich an ihrer Seite wieder jung zu leben!«

Die Art und Weise, in welcher er das gesagt hatte, läßt sich wohl nur durch die Wirkung deutlich machen, die es hervorbrachte. Nämlich der Governor faßte ihn hüben und drüben an, zog ihn an sich, gab ihm einen, zwei, drei herzhafte Küsse und rief, so freudig animiert, wie wohl noch niemals, aus:

»Das soll nicht nur ein Wort sein, sondern ein Kontrakt, den Keiner von uns brechen darf und Keiner brechen wird! Das ist ein Tag, wie ich so schön noch keinen je erlebte!«

Fu konnte uns, weil Wallers eben anlangten, nicht selbst geleiten. Er erteilte den wartenden Dienern den betreffenden Befehl, und so waren wir schon nach kurzem in diesem zimmerreichen Hause so vortrefflich eingerichtet, wie der erste und zweite Teil der »alten Welt« es sich im dritten nur wünschen können. Dann saßen wir auf dem schönsten, chinesischen Seidenpolster des ganz liebreich und gesprächig gewordenen Gentleman und warteten der Dinge, die nun kommen sollten. Es war für uns selbstverständlich, daß man uns zur Vorstellung bei Yin abholen werde. Der Englishman dachte gar nicht mehr daran, auch nur das Geringste zu sagen oder zu tun, um seine »große Wette« zu gewinnen. Aber von seiner Befangenheit war er trotzdem noch nicht frei. Er hatte vor Yin noch immer das, was er Angst zu nennen beliebte, und wenn der Ausdruck auch etwas zu kräftig ist, so will ich ihn doch brauchen: er fürchtete sich vor ihr.

»Wenn ich Etwas zu ihr zu sagen habe und nicht weiß was, so fallt nur gleich ein, Charley!« bat er mich, denn seit wir zusammenwohnten, war ihm mein Vorname geläufig geworden. »Das ist von heut an Deutschlands Pflicht!« fügte er scherzend hinzu. »Dafür komme ich Euch ein anderesmal ebenso gern zur Hilfe! Horch!«

Es klopfte an die Tür. Als wir nicht sofort antworteten, wurde sie um einen schmalen Spalt geöffnet, und eine süße, unendlich wohllautende Frauenstimme fragte:

»Verzeihung! Wohnt hier mein Onkel Governor?«

Der Genannte fuhr von seinem Sitze auf und flüsterte mir, indem sein Gesicht die Farbe verlor, in für ihn schrecklicher Ahnung zu:

»Mein – – mein – – mein Onkel Governor?! Der bin ich wohl! Aber – – aber dieser – – dieser John Raffley hat doch keine solche – – solche Stimme! Sollte – –?«

Ich antwortete ihm nicht, sondern ging zur Tür und schob sie vollends auf. Ja, sie war es – – Yin! Sie kam allein; niemand begleitete sie. War sie so schön, wie ihr Porträt uns hatte erwarten lassen? Was soll ich sagen! Das kam so schnell, so überraschend. Ich sah eine weißgekleidete, engelgleiche Frauengestalt, eine Rose im Haar und ein kleines, duftendes Veilchenbouquet an der Brust, welche nach einem kurzen Blick auf mich an mir vorüber in das Zimmer trat und dann so vor dem Uncle stehen blieb, daß ich nur die schöngezeichnete Wangenlinie ihres Profils sehen konnte.

»Ja, du bist es, mein lieber, lieber Onkel!« rief sie jubelnd aus. »Ich kenne dich aus dem Album meines John! Komm, lege mir die Hände auf das Haupt, und sei mir gut! Ich weiß von ihm, daß du so gerne gütig bist!«

Sie glitt vor ihm nieder, faltete die Hände und schaute bittend zu ihm auf. Er stand zunächst bewegungslos. Die Farbe kam und ging auf seinen Wangen. Ich sah, daß er zitterte. Sein weitgeöffnetes Auge war auf sie wie auf eine wunderbare, überirdisehe Erscheinung gerichtet. Dann bewegte er die Hände; sie bebten. Indem sie sich langsam auf den Kopf der Knienden niedersenkten, hob er den seinen empor, schlug die Augen wie zum Himmel auf und sagte, indem er mit den hervorbrechenden Tränen kämpfte:

»Mein Herr und Gott – – – das habe ich nicht verdient! Ich war so schlimm, so bös zu ihr, und sie bringt solche, solche, solche Liebe! Mein Segen ist nichts wert, wenn du nicht selbst ihn gibst. O sende ihn ihr tausendfach und tausendfältig zu und – – –«

Mehr hörte ich nicht, denn ich schlich mich hinaus, schloß möglichst leise die Tür und entfernte mich. Wenn England China in so aufrichtiger und reuevoller Weise segnet, ist Deutschlands Unterstützung überflüssig.


 << zurück weiter >>