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Das Geldmännle.

Buchschmuck

Es war ein ganz, ganz, ganz kleines Bergle. An dem lag ein ganz, ganz, ganz kleines Gärtle. Und obendrauf stand ein ganz, ganz, ganz kleines Häusle. Aber das Kleinsein schadet nichts, denn vor dem Herrgott sind die Allerkleinsten oft die Allergrößten. Das Bergle, das Gärtle und das Häusle hießen das Damenbergle, das Damengärtle und das Damenhäusle, aber nicht etwa, weil Damen darin wohnten, sondern aus einem ganz anderen Grunde, den wir schon noch erfahren werden.

Wie das Bergle entstanden war, das wußten alle Leute. Der Herr Pastor hatte es erzählt. Nämlich als die Erde noch keine Berge hatte, da lebten tief in ihrem Innern, wo das ewige Feuer brennt, zwei Götter, welche Pluto und Vulkan hießen. Wenn es ihnen einmal zu warm wurde, was bei der großen Hitze sehr häufig vorkam, so stiegen sie empor, um sich abzukühlen und frische Luft zu atmen. Das taten sie auch einmal an einem schönen, wolkenlosen Julitage. Sie saßen am niedrigen Strande des Weltmeeres und betrachteten die vorweltlichen Rieseneidechsen, welche sich im Schlamme sonnten und dabei vor Vergnügen die Mäuler aufsperrten und die Augen verdrehten. Das ärgerte den Vulkan.

»Dumme Geschöpfe!« sagte er. »Die wissen noch nicht das geringste von Reaumur, Fahrenheit und Celsius! Sich in dieser Hitze wohlzufühlen! Das ist hier ja schlimmer als unten bei uns! Diese Sonnenglut! Kein Mensch bringt mich im Juli und August wieder in dieses Nordseebad! Die reinen Hundstage! Wollen wir vielleicht versuchen, ob es am Aequator kühler ist, Bruderherz?«

Pluto zog sein Taschentuch, wischte sich den Schweiß von der Stirn und antwortete:

»Aequator? Nein! In dieser Hitze gehe ich keinen Schritt. Ich bleibe einfach bis zum Dezember sitzen. Da wird es kühl. Ich lobe mir den Schnee!«

Da horchte Vulkan auf.

»Schnee!« rief er aus. »Höre, auf den äußeren Planeten soll es sogar im Sommer schneien, nämlich oben auf den Bergen. Ich habe kürzlich zwei Halbgötter bei mir als Tagelöhner angestellt, für monatlich zwölf Taler fünfundzwanzig Silbergroschen, ohne Kaffee und Weihnachtsgeschenk. Der eine stammt vom Uranus und der andere vom Neptun. Ich selbst habe in den Dienstbüchern nachgeschlagen. Die erzählten mir, daß es da oben Berge gibt, auf denen sogar im Hochsommer das Eis nicht alle wird.«

»Wirklich?« fragte Pluto etwas ungläubig.

»Wirklich!« bestätigte Vulkan. »Diese Arbeiter flunkern nicht, denn sie sind nicht auf der Erde geboren.«

»Aber da könnten wir uns doch sofort die allerschönste Kälte verschaffen!«

»Wieso?«

»Wenn wir Berge machten! Weißt du, entweder einzelne oder gleich so ein ganzes plutonisches oder vulkanisches Gebläse und Geschiebe, was man Gebirge nennt. Ich glaube, wenn wir es sechs- bis achttausend Meter hoch machen, so erreichen wir eine Abkühlung, um die man uns sogar auf dem Neptun und Uranus beneiden würde. Und bei neuntausend Metern bringen wir es ganz gewiß auf ein zwanzig Leipziger Ellen tiefes Gletschereis. Was meinst du dazu?«

»Hm!« brummte Vulkan. »Der Gedanke ist gar nicht so übel. Wir haben ja alles, was dazu gehört: Granit, Gneis, Porphyr und wie die Steine alle heißen. Nur den Sand hat uns das Meer weggeschwemmt. Zum Spaße können wir ein bißchen Steinkohle mit dazutun, oder Erz, wenn es nicht gar zu teuer wird!«

»Zu teuer? Mir kommt es auf einige Zentner Silber oder Kupfer nicht an, wenn es mir nur gelingt, mich abzukühlen. Wollen wir eine Probe machen, Kollege?«

»Ganz recht, eine Probe! Bei solchen Dingen ist es nicht geraten, gleich hoch hinauszugehen, weil es dann Jahrhunderttausende dauert, ehe man das Zeug wieder zurückgespült bekommt. Ich schlage vor, wir machen zunächst ein Modell.«

»Gut, ein Modell. Wie hoch?«

»Nun, sagen wir tausend Quadratfuß ins Geviert, Bei einer Höhe von höchstens vierzig Brabanter Ellen.«

»Einverstanden! Wann fangen wir an? Morgen oder übermorgen?«

»Warum nicht gleich? Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute. Ich aber pflege so etwas nicht aufzuschieben. Also komm! Machen wir uns ans Werk!«

Sie nahmen sich bei der Hand und fuhren in das Erdinnere hinab, wo sie sich den Oberarchitekten, den Hochbaumeister und den Materialienverwalter kommen ließen, um ihnen ihren Plan mitzuteilen und sich die vorhandenen Vorräte zeigen zu lassen. Diese sind rund um das ewige Feuer aufgestapelt, in welches die Stoffe geworfen werden, um sich in der Weißglühhitze in Gase zu verwandeln. Diese werden emporgeblasen und auf dem Wege nach oben in der Weise zurückverwandelt, daß sie mit der emporgehobenen Erdrinde die beabsichtigte Form und Masse bilden.

Als Pluto und Vulkan sich mit dem Architekten und dem Baumeister über die Gestalt und Größe des Modells verständigt hatten, mußte der Verwalter die Vorratsräume aufschließen. Die Mischung stand ganz im Belieben der beiden hohen Götter. Sie nahmen Gneis, Granit, Glimmerschiefer, Tonschiefer, Porphyr, Basalt und verschiedene Quarzite.

»Tu' auch ein bißchen Serpentin hinein,« bat Vulkan. »Der ist gut zu Gräberplatten für unberühmte Menschen. Wer ihn findet, der findet ihn!«

»Sehr gern!« antwortete Pluto. »Hast du noch einen Wunsch?«

»Nur, wenn du bei guter Laune bist!«

»Beim Modellieren allemal. Das kostet wenig und macht doch viel Vergnügen.«

» Bon! Da drüben liegen die Erze. Ich sehe Zinn, Nickel, Kobalt, Zink, Wismut, Kupfer und Blei. Wie wäre es, wenn wir eine Probe von jedem mit hinunterschaufeln ließen?«

»Einverstanden! Ich will sogar auch Silber dazu geben und eine Prise Gold. Weißt du, Vulkan, wenn wir es bis zu Gletschern bringen können, ist mir bei der heutigen Hitze wirklich nichts zu teuer.«

Die Halbgötter machten die Form des Modells. Die Viertelgötter füllten sie mit Erz und Stein. Das ging so schnell, daß man in zehn Minuten fertig war. Dann kamen die Achtel- und Sechzehntelgötter, um den Probeberg in das ewige Feuer zu werfen. Er wurde sofort von der Glut gepackt und aufgelöst. Ein zischender Blitz fuhr nach oben; dann war das Werk geschehen.

»Jetzt komm,« sagte Pluto. »Wir wollen sehen, ob es uns gelungen ist, die Erdrinde zu durchbrechen.«

Sie fuhren wieder nach oben. Die Erde ist groß, und das Modell war klein. Menschen hätten es gewiß niemals gefunden. Götteraugen aber sind bekanntlich scharf. Und weil die Erde damals noch nicht die allergeringste Erhöhung hatte, sahen Pluto und Neptun das zurückverwandelte Modell sehr bald genau auf dem dreizehnten Grad östlich von Greenwich liegen, und zwar fünfzig Grad und zwanzig Minuten nördlicher Breite. Das war sehr leicht zu bestimmen, weil damals die Längen- und Breitengrade noch nicht verwischt und mit sehr deutlichen Nummern versehen waren.

Welch eine Freude, als die beiden Götter nach einer sehr eingehenden Untersuchung erkannten, daß der kleine Probeberg ihren Erwartungen vollständig entsprach. Vulkan lachte vergnügt und sagte:

»Du, Pluto, die Sache kann sich machen! Wir multiplizieren das Modell sovielmal, wie es nötig ist, um achttausend Meter Höhe herauszubekommen. Die Rechnung ist sehr leicht. Meinst du nicht auch?«

»Allerdings,« nickte der Gefragte. »Aber der Wassergott wird sich beleidigt fühlen.«

»Warum?«

»Wenn wir die Erde heben, drängen wir sein Wasser zurück. Siehst du das nicht ein? Er wird über diesen Gebietsverlust gewaltig räsonieren.«

»Das glaube ich nicht. Laß mich die Sache machen! Ich fange das ganz schlauerweise an. Er will doch auch einmal aufs Trockne. Wenn wir ihm erlauben, in den Wolken zu uns zu kommen und auf unseren Bergen Bäche und Flüsse anzulegen, so ist das ein Geschäft für ihn, wie er es gar nicht besser machen kann. Ich werde mit ihm sprechen. Du kannst inzwischen wieder niederfahren und an die Arbeit gehen. Ich sage ihm gar nicht, daß wir sein Wasser zu den Gletschern brauchen. Du weißt es ja, man muß mit anderen Göttern stets so vorsichtig wie möglich sein, zumal wenn man selbst einer ist! Wenn du alle deine Untergötter scharf zusammennimmst und ich die meinen dazufüge, können wir schon morgen einen Berg bis über die Wolken heben, der allen Ansprüchen genügt, die wir zu machen haben.«

»Und das Modell?«

»Das hat seinen Zweck erfüllt. Wir lassen es hier liegen.«

»Ja, als Merkstein oder als Standpunkt, von welchem aus wir morgen zusehen, wie der beabsichtigte Berg sich vor unseren Augen erheben wird.«

»An welcher Stelle?«

»Von hier aus grad im Süden, wenn du nichts dagegen hast. Er wird an seinem Fuße eine Breite von zwei geographischen Meilen haben. Es wird sogar für uns Götter ein großartiges Schauspiel werden, wenn er sich majestätisch aus der Erde erhebt und immer höher wächst, bis er den Himmel zu erreichen scheint. Beliebt es dir vielleicht, die Stunde anzugeben, in welcher dies geschehen soll?«

»Ich bitte, punkt zwölf Uhr zu Mittag. Jetzt gehe ich zum Wassergott, und du steigst in die Tiefe. Sobald ich mit ihm gesprochen habe, komme ich dir nach.«

Sie trennten sich, um dann den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht hindurch an den Vorbereitungen zu dem beabsichtigten plutonisch-vulkanischen Werke zu arbeiten. Das geschah nicht, ohne daß die irdische Kreatur etwas davon merkte. Ein dumpfes Rollen ging zuweilen durch die Erde. Die See schlug kürzere Wellen als gewöhnlich. Die Winde wußten nicht genau, wohin. Das Licht hatte einen fahlgelben Schein. Die Wolken zogen sich ängstlich zusammen. Das Getier verkroch sich, als ob es fühle, daß etwas Ungewöhnliches im Anzuge sei. Die Sonne schien in ihrem Laufe zu zögern. Sie wäre am liebsten wieder umgekehrt; aber da sie sich kontraktlich verbindlich gemacht hatte, sich an jedem Mittage genau Punkt zwölf Uhr am Zenite einzustellen, so lief sie heute von elf Uhr an dann etwas schneller, um das Versäumte nachzuholen. So kam es, daß sie schon dreiviertel zwölf den Scheitelpunkt erreichte und eine ganze Viertelstunde warten mußte, bis Pluto und Vulkan bei dem Modell erschienen, um den erwarteten, imposanten Anblick zu genießen.

Es war in der ganzen Natur eine tiefe Stille eingetreten, jene bekannte Stille, welche großen, noch unbekannten Ereignissen vorauszugehen pflegt. Dann aber rollte und grollte es in der Tiefe, erst leise, dann lauter und immer lauter. Zuweilen krachte es, oder es knatterte, worauf es klang wie ein gewaltiger Kanonenschuß.

»Es beginnt,« sagte Pluto. »Paß auf! Da, grad im Süden muß er aufsteigen.«

Sie wandten ihre ganze Aufmerksamkeit nach dieser Richtung hin und sahen also nicht, daß sich im Norden von ihnen eine ganz, ganz geringe Erhebung zu bilden begann. Aber als Vulkan sich doch einmal umschaute, bemerkte er diese kleine Bodenveränderung.

»Was ist denn das?« fragte er. »Da unten scheint die Erde Blasen zu bekommen!«

Da drehte sich auch Pluto um, schaute hin und rief erschrocken aus:

»Was sehen meine Augen? Das sind ja die Rochlitzer Berge, nur hundertsiebzig Meter über dem Meere! Und ganz, ganz da draußen, das ist der Kreuzberg bei Berlin! Wo sind denn meine schönen Gase hingeflogen?!«

»Was bewegt sich denn dort im Westnordwesten?«

»Das sind ein paar Bodenwellen, die zwischen Altenburg und Reichenbach liegen.«

»Und da drüben rechter Hand?«

»Das ist die Freiberger Gegend. Da sind die Erze hingeflogen, denn es wackelt alles. Ich kenne das!«

»Da scheint die Sache also schief gehen zu wollen?«

»Wahrscheinlich. Sie geht in die Breite, anstatt in die Höhe!«

»Schade, jammerschade! Wie steht es da mit unseren kühlen Gletschern?«

»Warten wir es ab! Horch! Da hinter uns! Drehe dich um, schnell, schnell!«

Sie wandten sich wieder nach Süden, wo sich die Erdoberfläche im höchsten Grade unregelmäßig hob und senkte.

Sie gewann aber sofort Ruhe, wo sich ein fester Berg gebildet hatte. Götter wissen bekanntlich alles; darum konnten Pluto und Vulkan sofort die Namen dieser neuerstandenen Erhöhungen sagen.

»Dort kommt der Pöhlberg bei Annaberg,« sagte Pluto. »Nicht weit davon der Scheibenberg. Ah, schau; da drüben arbeitet sich der Spitzberg empor!«

»Der Auersberg, der Rammersberg, der Schneckenstein,« fügte Vulkan hinzu. »Und dort, dort, dort! Jetzt geht es los! Jetzt kommen unsere Gletscher! Das wächst ja riesenhoch!«

»Glaube es nicht!« warnte Pluto. »Das ist der Fichtelberg und der Keilberg. Die werden nur ganz wenig über zwölfhundert Meter hoch! Wir haben die Gase nicht zusammengehalten. Das ist ein Fehler, der gar nicht zu verzeihen ist. Sie haben in die Breite gewirkt, anstatt nur in die Höhe. Anstatt einen einzigen, himmelhohen Berg zu bekommen, haben wir es nur zu einem niedrigen, aber langen Gebirge gebracht, welches von Hof bis Bodenbach reicht und höchstens von späteren Geschöpfen bewohnt werden kann, die wir wahrscheinlich Menschen nennen werden, für Götter aber, wie wir sind, vollständig unbe – – – halt!« unterbrach er sich. »Paß auf! Nimm dich in acht, Vulkan! Merkst du etwas unter unseren Füßen? Komm schnell herauf auf das Modell und halte dich fest!«

Sie sprangen auf den kleinen Probeberg und klammerten sich an seinen Felsenzacken fest, denn der Boden begann unter ihnen zu wanken. Dann war es, als ob sie auf einem gigantischen Tiere säßen, welches sich schüttelte. Es erhob sich aus dem Schlafe. Es stand auf und wurde höher, hundert Fuß, fünfhundert Fuß, tausend Fuß. Dann blieb es, wie es war; aber es bückte sich nach vorn. Dadurch verlor das Modell den festen Halt. Es kam ins Rutschen, erst leise, langsam, dann schnell und immer schneller, bis es sausend in die Tiefe schoß, quer über das neu entstandene Tal hinüber, und dann so plötzlich liegen blieb, daß die beiden Götter weit fortgeschleudert wurden. Glücklicherweise sind Gottheiten auch körperlich unsterblich, aber etwas bange war es ihnen doch geworden. Sie standen auf und sahen erst sich und dann die Gegend an, in der sie sich befanden.

»So etwas habe ich noch nicht erlebt!« gestand Pluto. »Es ist ein tausendes Glück, daß es niemand gesehen hat! Wie befindest du dich, Kollege?«

»Verhältnismäßig wohl,« antwortete Vulkan. »Nur da im Rücken hat es mich gepackt. Wahrscheinlich ein Hexenschuß oder so etwas Aehnliches. Du hast recht. Es trifft sich gut, daß wir allein gewesen sind. Hätte man uns bei diesem Rutsch gesehen, so wären wir blamiert wie alte, abgedankte Heidengötter! Es ist mir überhaupt, als ob unsere Ehre heute einen Stoß erhalten hätte. Diese mißlungene Gletscherfabrikation bringt uns keine gute Zensur, höchstens die Viere-b! Wir können das unmöglich auf uns sitzen lassen!«

»Allerdings! Wir schieben es auf den Oberingenieur und auf den Hochbaumeister. Die werden freilich sagen, daß die Dämpfe und Gase unsere Sache seien, aber wozu hat man Untergebene, wenn man das Unangenehme nicht auf sie abladen kann! Und wenn einer kommt, der Laie ist und von der Geologie und Geodynamik nichts versteht, so sagen wir einfach, daß wir hier einen höchst gelungenen Versuch gemacht haben, zwischen Sachsen und Böhmen eine Grenze zu errichten, und in nächster Woche daran gehen werden, weiter im Süden hohe Gletschergebirge aufzubauen.«

»Du willst also doch noch Gletscher haben?«

»Natürlich. Hier aber ist das nun nicht mehr möglich, weil uns die Gase den ganzen Untergrund zerklüftet und verdorben haben. Wir müssen uns also nach dem Süden wenden. Und zwar haben wir das gleich en gros zu betreiben, damit die heutige Schlappe vergessen wird. Ich nehme da ein Gebiet in Aussicht, welches von der Wien-Triester Eisenbahn bis an die spanische Grenze geht und die gehörige Breite besitzt, schwere Alpenstöcke tragen zu können. Das eröffnet für spätere Jahrtausende einen interessanten Ausblick auf Sennerinnen, Wildschützen, Bergfexe, Schweizerkäse und Eierschmarren, ein Gedanke, der mir schon am heutigen Tage höchst sympathisch ist, wenn ich bedenke, in was für einer unbelebten, leeren Szenerie wir uns in diesem Augenblick befinden.«

»Nach Nektar und Ambrosia sieht es freilich hier nicht aus. Und auch, wenn ich die Augen zumache und in die Zukunft schaue, geht es hier so ziemlich ärmlich her. Ich sehe da meist arme Weber, Strumpfwirker und Spitzenklöpplerinnen. Sollte mich freuen, wenn so ein armer Wurm recht billig in den Besitz unseres Modelles und auf den Gedanken käme, in seinem Inneren nachzusuchen. Wieviel Silber hast du wohl hineingetan?«

»Es ist sehr reichlich ausgefallen; du weißt ja, daß ich bei guter Laune war. Die Schaufel hat so ungefähr zwischen fünfzehn und zwanzig Pfund gefaßt, und da das ›Pfund fein‹ dreißig sächsische Taler wert ist, ergibt das einen Betrag von fünf- bis sechshundert Talern. Du weißt, daß ich dir in Beziehung auf das ›In die Zukunft schauen‹ über bin. Ich mache auch die Augen zu, und was sehe ich da? Einen gewissen Berthold Schwarz, der das erfindet, was wir Götter nicht erfunden haben, nämlich das Pulver. Mit diesem wird man unser Modell auseinandersprengen und das Silber finden. Ich vermute, daß es eine Stufe sein wird, denn ich verstehe mich auf die Metallurgie.«

»Siehst du, wer der glückliche Finder sein wird?«

»Nicht deutlich. Es ist zwar auch ein bißchen Gold dabei, aber höchstens für zwei Doppellouisdor. Das findet man wohl kaum. Jetzt aber frage ich dich, ob wir hier noch etwas zu schaffen haben?«

»Ich wüßte nichts.«

»So laß uns gehen!«

Als sie den Platz verlassen wollten, sah Pluto, daß Vulkan hinkte.

»Hast du Schmerzen?« fragte er.

»Na, und ob!« antwortete der Gefragte, indem er die Zähne zusammenbiß. »Dieser Hexenschuß geht mir bis in die Zehen. Der Anprall an die Felsenwand ist doch zu stark gewesen. Untersuche doch einmal, ob es kurabel ist!«

Pluto erfüllte diesen Wunsch und sagte dann im Tone des Bedauerns:

»Es ist irgendwo eine Flechse gesprungen. Du wirst also das Hinken behalten und zwar für immer.«

Da sah ihn Vulkan erschrocken an.

»Wirklich?« fragte er.

»Ja, ganz gewiß!«

»Du, das ist schlimm, sehr schlimm! Wir Götter sind leider öffentliche Persönlichkeiten, über welche jeder Narr sprechen oder schreiben zu müssen glaubt. Man wird fragen, warum ich hinke. Wenn man dabei auf unseren heutigen Mißerfolg und gar auf den unfreiwilligen Bergrutsch kommt, ist es mit unserem guten Rufe zu Ende. Ja, wenn die Mythologie nicht wäre, besonders die griechische und römische! Man weiß ja ganz genau, daß einst jeder Quartaner seinen ›Mythologischen Leitfaden von Dr. Ebeling‹ in der Tasche haben wird, und infolgedessen ist es einem immer zu Mute, als ob man einige Dutzend Steckbriefe hinter sich her hätte. Es wäre geradezu fürchterlich, wenn in diesem Leitfaden erzählt würde, daß Vulkan hinkt, weil er seine Gase nicht zusammengehalten hat!«

»Dem ließe sich wohl abhelfen, lieber Bruder!«

»Wodurch?«

»Wir geben einen anderen Grund an.«

»Welchen?«

»Mir fällt da der Zwist ein, den es im vorigen Herbst zwischen Jupiter und Juno gab. Du kamst dazu und hieltest es für deine Ritterpflicht, die hohe Göttin gegen ihren Gemahl in Schutz zu nehmen. Der aber nahm das übel und warf dich auf die Erde herunter. Du kannst es gar nicht verhindern, daß diese Affäre mit in die mythologischen Schulbücher kommt. Darum würde ich an deiner Stelle das Hinken als eine Folge dieses hohen Sturzes bezeichnen.«

»Hm! Nicht übel! Es ist allerdings besser, man hinkt infolge einer höflichen Umgangsform, als daß es heißt, man sei lahm geworden, weil das Modell mit einem durchgegangen sei. Es muß unbedingt verschwiegen werden, daß ich mir hier im Königreich Sachsen, zwischen Jöhstadt und Ehrenfriedersdorf, einen Hexenschuß oder einen Flechsenriß zugezogen habe, weil ich mit meinen unterirdischen Gasen nicht umzugehen weiß. Diese Schande würde ich wohl kaum überleben, obgleich mir meine Unsterblichkeit das ewige Dasein sichert. Ich nehme also deinen Vorschlag an und bitte dich, soviel wie möglich für die Tradition zu sorgen, daß ich infolge jenes Sturzes auf die Erde mir diesen kleinen Schönheitsfehler zugezogen habe. Nun laß uns gehen! Erlaube mir, daß ich mich auf dich stütze! Komm! Ich habe genug. Hier lasse ich mich gewiß nicht wieder sehen!«

Sie entfernten sich und sind dann niemals wiedergekommen. Wie man weiß, ist den beiden Göttern die beabsichtigte Täuschung sehr gut gelungen. Noch heute glaubt jedermann, daß Vulkan wegen Jupiters Gewalttat hinke. Aber wie jede Wahrheit endlich einmal an den Tag kommen muß, so hat auch diese durch den Mund des Herrn Pastors schließlich doch ihr Recht erhalten, und es steht zu erwarten, daß alle Leitfäden der Mythologie hiernach geändert werden. Man kann das mit der besten Ueberzeugung tun, denn das ›Bergle‹ ist als glänzender Beweis noch heute vorhanden, wenn auch in etwas veränderter Gestalt. – – –

Nun wissen wir also, wie es entstanden ist, das ganz, ganz, ganz kleine Bergle. Wie es sein heutiges Aussehen bekommen hat, das werden wir, wie wir bereits hörten, auch noch erfahren. Es genügt für jetzt, zu wissen, daß es eigentlich ein kleines Inselchen ist. Denn als der Bach, der durch das Dorf läuft, zum ersten Male von den benachbarten Bergen herunterkam und das Bergle drüben liegen sah, da gefiel ihm dieses so sehr, daß er gleich schnell hinüberlief und einmal rund um das ganze Bergle floß, um es von allen Seiten genau zu betrachten. Und das ist so geblieben. Jedes Wässerchen, welches den Lauf des Baches findet, will unbedingt einmal eine Runde um das Bergle machen, weil es einst Modell gewesen ist. Das Wasser bildet also einen vollendeten Ring, der das Bergle einschließt und sich so tief in den Boden eingegraben hat, daß er viel, viel tiefer ist, als der Bach selbst. Wenn zwei oder gar drei Männer übereinander in dem Wasser ständen, so schaute der oberste wohl noch nicht über dasselbe heraus. Darum würde man gar nicht hinüber können, wenn es nicht eine Brücke gäbe, die von einem Ufer nach dem anderen führt.

Das Gärtle steigt wie ein aufrecht stehender Trichter rund aus dem Wasser auf. Der Musteranton hat es mit großer Liebe angelegt, und obwohl es schon lange her ist, daß er plötzlich starb, es ist doch genau alles so geblieben, wie er es damals geschaffen hat, nur daß die Bäume unterdessen gewachsen sind und reiche Früchte tragen. Es gibt da nämlich erstens einen Kirschbaum mit gelbroten, schönen, großen Früchten, sodann einen Rettichsbirnenbaum und einen Apfelbaum mit goldig glänzenden Reinetten. Auch ein Zwetschgenbaum ist da, dessen dunkelblaue Früchte stets pünktlich genau zur Kirchweih reifen, wenn Pflaumenkuchen gebacken werden muß. Dazwischen stehen Stachel- und Johannisbeeren, Himbeeren und Brombeeren aber nicht, denn diese holt man sich ja aus dem Walde, wo sie überreich vorhanden sind. Von den Gartenbeeten sind einige für Petersilie, Spinat, Sellerie und andere Küchenpflanzen bestimmt, die anderen aber alle für die Blumen, welche das ›Herzle‹ pflegt vom ersten Frühlingstag bis in den späten Herbst hinein, und zwar mit bewundernswürdigem Erfolge. Denn das Herzle hat eine Blumenhand, wie es keine zweite gibt, so weit man in der Umgegend nachzufragen vermag.

Und oben auf dem Bergle über dem Gärtle liegt das Häusle.

Es ist so niedlich klein, daß man meinen sollte, es sei nicht Platz für Menschen, sondern nur für Heinzelmännchen da.

Wer hat das Häusle einmal anders als schön blütenweiß gesehen? Gewiß niemand! Denn wenn das Wetter die Farbe zu verwandeln beginnt, so wird es schnell wieder frisch angestrichen. Und das tut das Herzle stets selbst; da darf kein anderer kommen. Und wer hat einmal eine trübe ober gar schmutzige Fensterscheibe gesehen, oder einen Spinnenfaden, einen Schmutzfleck oder Staub? Solche Dinge sind für das Herzle grad wie nicht vorhanden!

Die Herren Gelehrten behaupten, das Herz des Menschen habe zwei Herzkammern und zwei Herzvorkammern. Das wird wohl richtig sein. Aber ebenso richtig ist es, daß es beim Herzle nur eine Stube und eine Kammer gibt, denn was auf der anderen Seite liegt, das ist der Ziegenstall mit dem Winterheu darüber. Die Ziege heißt Karlinchen und hat dafür zu sorgen, daß die Mutter des Herzle ihren Kaffee nicht schwarz zu trinken braucht. Das ist das einzige, was man von ihr verlangt, und da sie von Natur ein gutes Gemüt und für die freundliche Pflege Dankbarkeit besitzt, so wird die Milch im Krüglein niemals alle.

Wer zu dem Herzle will, der geht über die Brücke und auf dem schmalen Gartenweg herauf bis an die Tür. Wenn das Wetter nicht gar schlimm ist, braucht man nicht einzutreten. Denn das Häusle hat ein weitvorspringendes Sommerdach, unter welchem die beiden Bewohnerinnen stets bei der Arbeit sitzen, so lange die Witterung erlaubt, sich im Freien aufzuhalten. Sie sind die geschicktesten Spitzenklöpplerinnen weit und breit, und das Herzle ist außerdem als Nähterin und Putzmacherin bei alt und jung sehr wohl bekannt. Man sagt sogar, daß sie besseren Geschmack besitze als manche Stadtmamsell.

So! Jetzt ist die Vorrede fertig, und da der Herr Lehrer grad über die Wiese herüberkommt und es sehr eilig zu haben scheint, so mag die Erzählung beginnen.

*

Das Herzle und ihre Mutter saßen einander vor dem Häusle am Tische gegenüber. Ueber diesen war ein weißes Tuch gebreitet, denn die Spitzen, welche beide klöppelten, waren so kostbar, daß man sie mit der größten Vorsicht und Sauberkeit zu behandeln hatte. Zwischen den Klöppelkissen lag ein Muster. Es war nicht gedruckt, sondern mit der Hand gezeichnet und stellte eine Handmanschette vor, wie sie nur von feinen Damen bei festlichen Gelegenheiten getragen wurden. Die Figuren bildeten Schmetterlinge, welche sich um ein Herz gruppierten.

Die Mutter hatte graues Haar, doch war ihrem lieben, stillen Gesichte anzusehen, daß sie eigentlich noch nicht in dem Alter stand, in welchem man grau zu werden pflegt. Sie hatte rote, gesunde Wangen, aber einen Zug um den Mund, der auf das Vorhandensein schwermütiger Gedanken schließen ließ.

Dem Herzle sah man an, daß sie die Zwanzig überschritten hatte. Ihr Anzug war aus weißem, frisch gewaschenem Leinen. Man sah sie außerhalb des Winters nur selten in einer anderen Farbe gehen. Sie liebte das Weiß, obgleich es nicht geeignet war, eine Unschönheit zu verbergen, die wohl jedes andere Mädchen mit aller Mühe verborgen hätte. Daher sei es aufrichtig gesagt, daß das Herzle ›bucklig‹ war. Aber wenn man sie ohne Vorurteil betrachtete, so kam man gar nicht darauf, sie wegen dieser gewiß unverschuldeten Verkrümmung des Rückens zu bemitleiden. Wie klein, fein und schön die Händchen waren, in denen die Klöppel fast melodisch klapperten! Wie reich und weich das hoch aufgesteckte, dunkelbraune Haar! Auf der Stirn gab es auch nicht das kleinste Fältchen. Die Wangen waren voll, gesund gerötet, die Nase fein, ein wenig aufgerichtet, der Mund sehr wohlgestaltet, das Kinn weich gerundet, mit einem schelmischen Grübchen. In diesem Gesichtchen gab es keine Spur von jener bitteren, oft beißenden Schärfe, welche die unliebsame Begleiterin der oben erwähnten Verkrümmung zu sein pflegt. Und nun gar die Augen! Fast hätte man behaupten mögen, sie gehörten nicht auf das Dorf, sondern wo ganz anders hin. Solche Augen hatte Murillo gemalt, wenn er beabsichtigte, der Seelenreinheit menschliche Gestalt zu geben. Sie sind sehr selten. Wer sie besitzt, der ist ein guter Mensch.

Unweit des Tisches lag das Karlinchen auf einem Haufen frischgeschnittenen Grases. Das sollte ihr heutiges Frühstück sein; sie hatte es aber vorgezogen, es als Kanapee zu verwenden. Sie schien überhaupt etwas irritiert zu sein, so innerlich beschäftigt, vielleicht gar gedankenschwer. Dachte sie vielleicht darüber nach, warum ihr heute in aller Frühe ein Kranz aus duftenden Tannenzweigen um den Hals gelegt worden war? Ober galt der ungewisse Blick, den sie zuweilen nach dem Tische warf, den kleinen Blumensträußchen, welche Mutter und Tochter vorgesteckt hatten? Es ist ja gar nicht auszusagen, wie es eine Ziege überraschen und aus dem Gleichgewicht bringen muß, wenn sie vom Herzle gleich früh den Kaffeezucker in das Maul gesteckt und dabei die Worte zu hören bekommt: ›Heut' werde ich vierundzwanzig Jahre alt, und du, mein gutes Karlinchen, bist nur erst achte!‹ Jetzt wendete sie den Kopf. Ein frohes Meckern folgte; dann sprang sie auf. Dadurch aufmerksam gemacht, schauten die Frauen zur Wiese hinunter, über welche ein schmaler Pfad nach der Brücke zum Häusle führte.

»Der Herr Lehrer kommt,« sagte die Mutter.

Das Herzle senkte den Kopf. Das Karlinchen aber eilte den Garten hinab und auf die Brücke zu, um den wohlbekannten Freund ihrer Herrschaft freudig zu begrüßen. Das tat sie immer, wenn er kam, denn sie hatte ihn sehr innig in ihr warmes Ziegenherz geschlossen. Warum? Wohl aus verschiedenen Gründen, von denen einer jetzt offenbar wurde, denn der junge Lehrer zog eine seiner Morgensemmeln, die er ihr mitgebracht hatte, aus der Tasche, gab sie ihr und sagte:

»Hier, dein Deputat, Karlinchen. Gehe voran, und sag', daß ich gratulieren komme!«

Sie drehte sich, als ob sie ihn verstanden hätte, um und kehrte mit den sonderbarsten Sprüngen nach ihrem Grashaufen zurück.

Der Lehrer hatte eine Rose in der Hand, nur eine einzige; sie war weiß. Er gab, als er hinaufgekommen war, den Frauen die Hand, fügte für das Herzle die Rose hinzu und sagte:

»Da kommt man, um zu gratulieren, und sieht doch, daß es gar nicht nötig ist. Es ist gerade umgekehrt: Mir sollte ich gratulieren, daß ich zu euch beiden kommen darf.«

Das Herzle wollte hineingehen, um ihm einen Stuhl herauszuholen; er tat es aber selbst. Er war bei ihnen wie daheim.

»Ich habe auch anderswo schon gratuliert,« sagte er, als er sich niedergesetzt hatte.

»Beim Rösle?« fragte die Mutter. Die Tochter schwieg.

»So hieß sie früher, als sie noch Kind war,« antwortete er. »Jetzt aber läßt sie sich Rosalia nennen. Ich brachte ihr einen großen Busch von roten Nelken. Die sind ihre Lieblingsblumen. Andere mag sie nicht. Es gab Kuchen und Champagner.«

»So in der Frühe?«

»Ja.«

Daß er nicht mitgetrunken hatte, sagte er nicht. Dann fuhr er fort:

»Ich wäre lieber erst zu euch gekommen; aber ich mußte hin, eines Briefes wegen, den ich Herrn Frömmelt zu zeigen hatte, weil er der Vorsitzende vom Komitee ist. Die Regierung hat unsere Ausstellung genehmigt. Der Minister schreibt, er freue sich sehr darüber, daß solche einfache Dorfbewohner so einsichtsvoll und mutig gewesen seien, ein Werk zu unternehmen, dessen weittragende Bedeutung von den Städten nicht erkannt worden sei.«

»Das ist schön! Das ist eine Freude!« rief das Herzle aus. »Das haben wir dir zu verdanken, dir und dem Herrn Pastor!«

»Mir wohl kaum. Er aber war es, der die Sache in seine kräftige Hand und auf seine beredte Zunge nahm.«

»Von dir aber ist der Gedanke ausgegangen. Du hast ihn ausgedacht und klar gesonnen. Dann bist du der Schriftführer vom Komitee geworden und hast wie ein Feldherr in alle Gegenden hinausgewirkt, um uns den Zuspruch und Erfolg zu sichern. Von dir stammen auch die Schreiben an die Amtshauptmannschaft, an die Kreishauptmannschaft und an das Ministerium. Auf diese Schreiben ist es angekommen, ob wir die Genehmigung erhalten oder nicht. Der Minister wollte durch diese Ausstellung die verarmte Handweberei des Gebirges heben; er wollte zeigen, daß die Hungernden nicht zu verzagen brauchen, wenn sie ihre Zukunft in die eigenen Hände nehmen. Aber keine einzige der Städte ist so herzhaft gewesen, sich dazu herzugeben. Da ist er unwillig geworden und hat gesagt, daß er verzichte. Nur deinen Plänen und Berichten ist es zu verdanken, daß er den guten Willen wiederbekommen hat.«

Man sah ihr an, wie gern sie hiervon sprach. In ihren Augen lag ein schönes, frohes Licht, und in ihrem Tone klang die Stimme ihres Herzens. Er sah sie dankbar lächelnd an und erklärte:

»Mein ganzes Verdienst liegt darin, daß ich der Ausstellung einen gesunden Körper und ein einfaches Kleid gegeben habe. Man wollte ein großes Gebäude mit teurer Ausstattung, eine weithin schallende Reklame und allerlei andere Kostspieligkeiten. Das war falsch. Auch hätten wir den Neid der Nachbarschaft erregt. Da habe ich ein ehrliches Wort gesprochen und freue mich, daß ich damit durchgedrungen bin. Die Ausstellung wird sich über alle Dörfer unseres Tales erstrecken, welche dieselbe Not und dieselben Bedürfnisse haben, und auf einen großen, prunkenden Expositionspalast können wir verzichten, weil wir in jedem Hause und in jeder Hütte ausstellen werden. Es wird jedermann seine Wohnung säubern und schmücken, um den Besuchern die Früchte seines Fleißes, die Tränen seiner Armut und das Lächeln seiner Hoffnung vorzuzeigen. Wer da kommt, der soll den strebenden Geist und die gottvertrauende Seele unserer Bevölkerung kennen lernen. Er soll sehen, daß uns der Kampf zwischen Menschenhand und Maschine, zwischen Armut und Reichtum keineswegs vernichtet hat. Wir wollen nicht etwa gegen das Kapital kämpfen, denn wir brauchen es; aber es soll sich nicht mehr zwischen den Produzenten und Konsumenten stellen, um beide auszubeuten. Und das wollen wir nicht durch Sturm und Kampf, sondern auf dem friedlichen Wege des Gesetzes und christlicher Liebe erreichen. Und weil wir diesen Frieden betonen, hat der Herr Minister sich ohne unser Ansuchen bereit erklärt, in eigener Person zu kommen, um die Ausstellung zu eröffnen.«

Da schlug das Herzle die kleinen, fleißigen Hände zusammen und rief aus:

»Der Herr Minister selbst? Welch eine große Ehre! Hermann, das ist wieder etwas, was wir nur dir zu verdanken haben! Weiß man das auch im Gasthof schon?«

»Ja, freilich weiß man es. Ich habe ja den Brief vorzeigen müssen.«

»Bitte, zeige mir ihn auch!«

»Das darf ich nicht, Herzle, denn es stehen Komiteegeheimnisse darin.«

Sie sah ihm forschend in das gute, jetzt lächelnde Gesicht und sagte dann:

»Du, ich durchschaue dich! Du bist vom Herrn Minister gelobt worden, und das willst du mir nicht zeigen. Was du sagst und was du schreibst, das hat stets Hand und Fuß. Ich glaube, man hat sich da droben im Ministerium den Namen Hermann Bernstein besonders angemerkt. Was sagt denn das Rösle zu diesem hohen Besuche?«

»Fräulein Rosalia? Das brauche ich dir nicht erst zu berichten, weil sie zu dir kommen wird, um es dir selbst mitzuteilen. Ihr erster Gedanke warst gleich du.«

»Ich? Und der Minister? Wie komme ich mit dem zusammen?«

»Das wirst du schnell erfahren. Dort kommt sie schon. Da muß ich gehen, denn von dem, was nun bei euch gesprochen wird, verstehe ich ja nichts.«

Er stand auf, gab beiden die Hand und ging. Man sah ihm an, daß er wohl gern noch länger geblieben wäre. Unten an der Brücke begegnete er der Nahenden. Er zog vor ihr den Hut, als ob sie etwas Vornehmeres als nur ein Kind des Dorfes sei. Sie hatte ihm ja gesagt, daß sie das so wolle und daß es sie ärgere, wenn man sie jetzt noch Rösle nenne; sie heiße doch Rosalia, wie es im Kirchenbuch geschrieben stehe.

Sie war eine hohe, sehr voll gebaute Person, die sich ganz städtisch trug. An ihrer Brust prangte die Hälfte des roten Nelkenbusches, den Bernstein ihr gebracht hatte. Sie grüßte kurz, als sie den Tisch erreichte, gab nur die Fingerspitzen ihrer Hand, setzte sich auf den leergewordenen Stuhl und fiel dann sofort mit der ganzen Tür in das Haus:

»Herzle, es gibt Festjungfrauen, zwölf Stück, alle weiß gekleidet. Ich bin die oberste von ihnen und sage dem Minister das Gedicht, welches mir der Herr Lehrer machen muß. Er will zwar nicht, aber ich weiß, ich setze es noch durch!«

»Festjungfrauen?« fragte die Nähterin erstaunt.

»Ja; was sollte der Minister von uns denken, wenn er nicht von weißgekleideten Damen mit einem Gedicht empfangen würde! Dieser Gedanke ist von mir. Fein, nicht wahr? Es müssen zwölf sein, gerade ein ganzes Dutzend. Ich suche sie mir aus. Dich kann man nicht mit wählen, weil du buckelig bist. Der Herr Lehrer brachte den Brief, dazu einen großen Nelkenstrauß, zweiunddreißig Stück. Ich habe sie gezählt. Für dich hatte er nur eine kleine Rose. Da ist sie ja; ich sehe sie. Warum bist du nicht auch gekommen, mir zu gratulieren? Wir sind an demselben Tage geboren und an demselben Tage in derselben Kirche getauft worden. Da schickt es sich doch, daß man sich das Wort vergönnt!«

Das Herzle schwieg; die Mutter aber fragte:

»Und du, Fräulein Rosalia?«

»Ich? Ich bin ja da!«

»Um zu gratulieren?«

»Ja. Was sonst?«

»Ich habe noch kein Wort davon gehört!«

»Ach so! Ich soll euch eine Rede halten? Das habe ich nicht nötig. Es genügt vollauf, daß ich gekommen bin!«

»Aber gewiß nur wegen des neuen Kleides für die weiße Festjungfrau! Wegen Herzles Geburtstag aber nicht!«

»Du bist noch immer des Musterantons Frau, die uns nicht leiden kann, obgleich ihr uns euer ganzes Bergle zu verdanken habt. Und heute ist deine Laune doppelt schlecht. Ich weiß, woran du immer denkst, wenn du mich siehst. Warum war das Herzle immer so krank und immer so still, wenn ich mit ihm reden wollte? Warum spielte es nur mit anderen? Das hat mich wütend gemacht. Hätte es mir gehorcht, so hätte ich ihm damals nicht die Ohrfeigen gegeben und es auch nicht den Berg hinabgeworfen, worauf es buckelig geworden ist. Es ist ein Unterschied, ob man den reichen Musterwirt oder den armen Musteranton zum Vater hat. Wer nicht hört, der muß eben fühlen. Jetzt aber bin ich da, um mit euch über das weiße Kleid zu reden. Das meinige muß natürlich von Seide sein. Der Vater spannt nach dem Mittagessen an. Da fährst du mit in die Stadt, Herzle, um den Stoff für mich auszusuchen.«

»Das kann ich nicht; ich habe keine Zeit,« antwortete die Nähterin.

»Das geht doch mich nichts an! Ich bezahle dich. Und eine Wagenfahrt mit mir ist doch wohl eine Auszeichnung, auf die du dir etwas einbilden kannst. Was hast du denn so nötig, zu tun?«

»Diese Spitzengarnitur muß bis zur Ausstellung fertig werden. Und heute ist mein Geburtstag; da gebe ich mir für den Nachmittag frei. Man will doch auch einmal zu Atem kommen.«

»Wenn du mit der Garnitur fertig werden mußt, so arbeite in der Nacht! Oder meinst du damit auch, daß du keine Zeit für mein neues Kleid hast? Die Nähterinnen in der Stadt mag ich nicht. Sie sagen zwar, daß sie mich nicht mögen, aber umgekehrt ist es richtiger. Willst du es machen?«

»Ja. Dann muß ich allerdings des Nachts arbeiten.«

»Und fährst mit mir in die Stadt?«

»Nein. Suche dir den Stoff selbst aus!«

»Das kann ich nicht, dein Geschmack ist mir lieber als der meinige. Und du sagtest ja soeben, daß du dir freigeben willst.«

»Nicht für die Stadt. Ich habe mit dem Herrn Lehrer die Muster zu besprechen. Er ist an meinem Geburtstage stets zum Kaffee zu uns gekommen und wird dies wahrscheinlich auch heute wieder tun. Da muß ich also zu Hause sein.«

Da fuhr die Tochter des Musterwirtes schnell auf:

»Hat er es dir etwa vorhin versprochen?«

»Nein.«

»So kommt er heute nicht; ich werde dafür sorgen! Ich weiß gar wohl, was du denkst und was du willst. Aber das schlage dir nur aus dem Sinn. Der Herr Lehrer ist nicht für dich! Der braucht eine Frau, die gerade gewachsen ist und die das Geschick besitzt, mit feinen Leuten zu verkehren. Der hat eine Zukunft; das sagt der Vater, und der versteht es wohl. Er wird nicht lange mehr Lehrer bleiben. Die Behörde ist auf ihn aufmerksam geworden; wir wissen es. Auch sogar der Vater hat mir anvertraut, daß er noch Großes mit ihm vorhabe. Wenn so ein Mann sich eine Frau sucht, so geht er nicht zum armen Damenhäusle, sondern zum reichen Musterwirt, der ganze Säcke voll von blanken Talern hat und dazu eine Tochter, auf welche man selbst in Dresden Augen macht, wenn man sie sieht. Also, willst du mir das neue Kleid machen?«

»Ja.«

»Und am Nachmittag mit mir in die Stadt fahren?«

»Nein.«

»So laß es bleiben! Wenn du nicht mitfährst, darfst du es auch nicht machen. Es leckt jede Nähterin die Finger danach, für Fräulein Rosalia zu arbeiten. Ich gehe jetzt. Wir sind geschiedene Leute. Aber vorher sage ich dir noch einmal: Der Herr Lehrer ist nicht für dich gewachsen, und wenn du ihn dir nicht aus dem Kopfe streichst, bekommst du es noch ganz anders mit mir zu tun, als damals, wo ich dich nur buckelig machte!«

Sie war von ihrem Stuhle aufgesprungen. Nun drehte sie sich um und ging, ohne einen Gruß zu sagen, durch das Gärtle hinunter, über die Brücke und auf dem Wiesenwege nach dem elterlichen Hause, wo sie im Stalle bekannt gab, daß sie nicht heute, sondern erst morgen nach der Stadt fahren werde.

»Heute muß ich daheim bleiben,« dachte sie. »Ich werde auf den Lehrer lauern und mit ihm reden. Dann soll es sich zeigen, wo er den Geburtstagskaffee trinkt, bei ihr oder bei mir!«

Von da ging sie nach dem Innern des Hauses, in die große Gaststube, wo auf einem besonderen Tische alle ihre Geburtstagsgeschenke ›aufgebaut‹ waren, damit jedermann sie sehen und bewundern möge. Der Musterwirt liebte es, auch in dieser Weise zu zeigen, daß er der reichste Mann im ganzen Dorfe, ja, wohl in der ganzen Umgegend sei.

Obgleich es noch am Vormittage war, hatte sich schon eine Anzahl von Gästen eingestellt, die von der Nachricht herbeigelockt worden waren, daß der Gendarm im Gasthofe gewesen sei und etwas Neues vom ›Geldmännle‹ erzählt habe. Auch das Ausstellungskomitee hatte sich eingefunden, wegen des Briefes aus dem Ministerium von dem Wirt zusammenberufen. Die Tochter kam grad, als ihr Vater zu erzählen begann, was er von dem Sicherheitsbeamten erfahren hatte. Er sagte soeben:

»Es ist zwar schade um den Neubertbauer, aber er hat immer groß hinaus gewollt. Mit solchen Protzen sollte man eigentlich gar kein Mitleid haben. Er hat ein einziges Kind, eine Tochter. Nun schaut die mal an, wie sie dahergeht! Wie eine Fürstin tritt sie auf, und nichts ist ihr gut und teuer genug gewesen. Ein solches Gehabe mußte den Neuberthof herunterbringen. Die Tochter hat nach und nach den Vater aufgefressen und er dabei sein schönes Bauerngut. Und alles, alles hat er besser verstanden als andere Leute. Und recht hat er gehabt in allem, was man mit ihm sprach. Er hat sich sogar sehr oft mit mir herumgestritten, und das will schon was sagen! Als es immer mehr und mehr abwärts gegangen ist und er bald nichts mehr gehabt hat, da hat er sich nach dem Geldmännle umgeschaut, und dieses ist sehr schnell zu ihm gekommen. Denn das Geldmännle ist allwissend und findet jeden, der es haben will. Der Neubertbauer hat für jeden guten, echten Schein fünf falsche, nachgemachte bekommen, die er gern wieder losgeworden ist, weil sie keinen einzigen Fehler haben, als nur einen ganz, ganz kleinen, den nur der richtige Kenner entdecken kann. Ich habe zwar noch keinen gesehen; Ihr wißt ja alle, daß ich nie ein Papiergeld annehme, denn es ist mir einmal eine große Summe in Papier verbrannt; aber ich habe gehört, daß man ein sehr gutes Vergrößerungsglas haben muß, um die falschen Scheine von den echten zu unterscheiden. Darum ist gar keine Gefahr dabei, sich von dem Geldmännle sogar viele tausend Taler oder Gulden umwechseln zu lassen; nur muß man beim Ausgeben vorsichtig sein und es nicht merken lassen, daß man mehr Geld besitzt, als einem zuzutrauen ist.«

Er machte hier eine Pause, durch welche seine letzte Darlegung zur besonderen Betonung kam. Wer ihn nicht besser kannte, hätte beinahe denken mögen, daß er die Ausgabe von falschem Gelde empfehlen wolle. Aber jedermann kannte seine unüberwindliche Abneigung gegen alles, was Papiergeld heißt. Er hatte schon oft fremden Gästen, welche von dieser Besonderheit nichts wußten und mit Billets zahlen wollten, die Zeche gestundet oder gar geschenkt, weil er nur gemünztes Geld mit seiner Hand berührte. Der Herr Pastor, welcher sich auf gelehrte Worte verstand, hatte einmal gesagt, das sei eine sogenannte Idiosynkrasie, nämlich eine Abneigung, bei der sich die ganze Natur des Menschen sträube, etwas zu tun, was doch eigentlich ganz natürlich ist.

»Der Neubertbauer ist aber nicht so vorsichtig gewesen,« fuhr er fort. »Anstatt das nachgemachte Geld an verschiedenen Orten auszugeben, wo man ihn nicht kannte, hat er nur stets daheim auf seinem Hof damit bezahlt. Das war dumm. Denn es mußte auffallen, daß er, der fast gar nichts mehr hatte, nun plötzlich für jede Kleinigkeit einen Hunderttalerschein auf den Tisch legte. Dadurch ist die Polizei aufmerksam auf ihn geworben, und ich habe sie auf die richtige Spur gelenkt.«

»Du, Vater, du?« fragte seine Tochter.

»Ja, ich!« antwortete er, indem er sich mit einem triumphierenden Blick im Kreise umschaute.

»Das ist recht! Das ist die richtige Antwort auf die Beleidigung, die uns geworden ist vom Neuberthof. Die Tochter hat gesagt, daß wir das Blut der armen Weber saugen; nun mag sie sehen, was es für sie zu saugen gibt!«

Der Eindruck dieser Worte auf die Anwesenden schien kein guter zu sein; darum fügte der Wirt sehr schnell hinzu:

»Das war nicht mein Grund; ich hatte einen anderen. Ich bin ein Christ, ich gehe Sonntags zweimal in die Kirche und bete oft das heilige Vaterunser. Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern! Ich habe also diese Beleidigung sofort und gerne vergeben, denn alle Welt weiß, daß grad ich es bin, der für die armen Weber Sorge trägt. Das habe ich durch die Ausstellung von neuem bewiesen. Ich bin der Vorsitzende des Komitees. Aber ich bin auch Untertan des Königs und weiß genau, was ich seinen Gesetzen schuldig bin. Ein guter Untertan darf kein Verbrechen dulden, und wenn er eines erfährt, so hat er Anzeige zu machen. Das habe ich getan, weiter nichts. Es war meine Pflicht.«

»Hast du denn gewußt, Herr Frömmelt, daß der Neubertbauer mit dem Geldmännle Geschäfte macht?« fragte einer der Anwesenden.

»Ja. Er hat es mir erzählt, beim Kartenspiel, als er betrunken war. Er hatte viel an mich verloren und wollte mit einem großen Scheine bezahlen; den nahm ich aber nicht. Da steckte er ihn schnell wieder ein. Das fiel mir auf. Ich machte ihn noch betrunkener und fragte ihn aus. Alle anderen waren gegangen, wir befanden uns allein. Da begann er im Rausche zu erzählen. Ich erfuhr sogar die Stelle, wohin er des Nachts das gute Geld trägt. In der nächsten Nacht kommt dann das Geldmännle und wechselt es mit falschem aus. Das habe ich der Polizei gemeldet. Die hat sich bei dem Orte aufgestellt. Er kam und legte fünfhundert gute Taler in das Loch. Die ließen die Gendarme liegen, um das Geldmännle zu fangen. Dieses aber war klüger als die Polizei. Als sie in der nächsten Nacht kam, waren die Taler schon fort, und es lagen fünfundzwanzig falsche Hunderttalerscheine an der Stelle. Heute früh ist dann der Neubertbauer gekommen, um sie zu holen. Grad als er sie schon in den Händen hatte, wurde er abgefaßt. Nun sind sie noch bei ihm, um alles auszusuchen; dann wird er in die Untersuchung transportiert, wobei er hier bei uns vorüber muß. Das ist es, was mir der Gendarm vorhin erzählte. Ich muß wahrscheinlich als Zeuge vor Gericht. Man tut das gar nicht gern, denn auch der Falschmünzer ist ein Mensch; aber wer ein gutes Gewissen behalten und ruhig sterben will, der hat zu erfüllen, was das Gesetz von ihm verlangt. Warum schaust du mich so sonderbar an, Gevatter Weigelt?«

»Ich weiß nicht, ob ich ihn an deiner Stelle verraten hätte,« antwortete der Genannte.

»Ja, ich sehe wohl, daß mehrere da sind, die wahrscheinlich auch so denken; aber die Richter sind klug, und der Neubertbauer ist dumm. Er brauchte nur zu gestehen, daß er mit mir gesprochen habe, so wäre ich als Hehler und Mitwisser eingezogen worden. Meint ihr auch jetzt noch, daß ich hätte schweigen sollen?«

»Dann freilich nicht. Jetzt sieht man wieder einmal, wie pfiffig das Geldmännle ist. Es war schon fast in der Falle, ist aber doch nicht hineingegangen. Man möchte so ungeheuer gern wissen, wer es eigentlich ist und wo es wohnt, aber es scheint, daß niemand es erfahren wird. Eines nur ist sicher, nämlich daß es von kleiner Gestalt ist. Niemand sagt ›der Geldmann‹, sondern im ganzen Gebirge wird nur vom ›Geldmännle‹ gesprochen. Das ist der Beweis.«

»Der aber nichts taugt,« fiel ein anderer ein. »Das Geldmännle ist nicht klein, sondern groß und stark.«

»Woher weißt du das?«

»Aus dem Oesterreichischen herüber. Dort ist im vorigen Jahr einer gestorben, der auch Geschäfte mit ihm gemacht hat. Auf dem Sterbebett ist die Reue über ihn gekommen, und er hat alles gestanden, was er wußte. Man hat sich dann gewaltig viel Mühe gegeben, das Geldmännle zu fangen, hat es aber nicht bekommen. Doch hat man nun gewußt, was es mit seiner Gestalt für eine Bewandtnis hat. Nämlich das frühere Geldmännle ist von sehr kleiner Figur gewesen und nur darum in dieser Weise benannt. Nach seinem Tode hat es aber einen Nachfolger bekommen, von dem man weiß, daß er – – schaut,« unterbrach er sich, »was ist das für ein Wagen, und wer sitzt darin?«

Er deutete hinaus auf die Straße. Aller Augen richteten sich nach den Fenstern.

»Das ist der Wagen vom Neuberthof, und der Bauer sitzt darin mit zwei Gendarmen!« rief der Wirt. »Sie halten draußen an. Die werden doch nicht etwa hereinkommen wollen?«

»Ja, sie kommen,« antwortete seine Tochter, »denn sie steigen ja aus.«

»Was wollen sie bei mir? Ich will im Gericht gern zeugen, aber in meinem Hause will ich keinen Falschmünzer haben, der es mir mit seiner Schande verschimpfiert.«

»Laß nur, Vater! Wir können nichts dagegen machen. Die Polizei wird schon wissen, warum sie ihn zu uns hereinbringt. Mir paßt das gar nicht schlecht.«

Die Tür ging auf, und die Genannten traten ein. Voran der Neubertbauer und hinter ihm die beiden Beamten, ein Brigadier und ein Gendarm. Der Bauer war von hoher, breitschulteriger Gestalt. Seine Hände waren vorn zusammengefesselt, doch so, daß er sie auf- und niederbewegen konnte. Aber seine Haltung zeigte nichts von Niedergeschlagenheit; sie war aufrecht, ja fast stolz, und als seine Augen nach dem Wirte suchten und ihn fanden, leuchtete ein Blick trotziger Verachtung in ihnen auf.

»Herr Wirt,« sagte der Brigadier, »Sie wissen, was geschehen ist. Wir sind unterwegs nach dem Gerichtsamte. Der Neubertbauer bat mich, hier anhalten zu lassen, da er in dieser Angelegenheit ein Wort mit Ihnen zu sprechen habe. Ich hatte keinen Grund, es abzulehnen. Führen Sie uns nach einem Zimmer, in welchem sich keine Gäste befinden!«

»Das ist nicht nötig,« fiel da der Gefangene ein. »Weswegen ich hierhergekommen bin, dessen brauche ich mich nicht zu schämen. Ich hätte es schon zu Hause getan; aber ich will, daß der hochangesehene Herr Frömmelt dabei ist, wenn ich mein Geständnis und meine Buße tue. Und alle, die hier anwesend sind, sollen hören, was ich sage.«

Da trat die Tochter des Wirtes auf ihn zu und fragte in höhnischem Tone:

»Willst wohl Abbitte dafür leisten, daß deine Tochter schöner sein soll als ich, und daß wir dem armen Webervolke das Blut aus den Adern saugen? Für diese Frechheit wirst du außer der Falschmünzerei noch eine Extrastrafe bekommen!«

»Geh' mir aus dem Weg, Weibsen!« herrschte er sie an, indem er sie mit dem Ellbogen auf die Seite schob, um an den nahen Schenktisch zu treten und einen schnell forschenden Blick auf ihn zu werfen. Dann drehte er sich um, lehnte sich mit dem Rücken an den Tisch und warf einen langen, eigentümlichen Blick auf die erwartungsvoll vor ihm stehenden Personen.

»Darf ich reden, Herr Brigadier?« fragte er.

»Ja; aber nur, was zur Sache gehört,« antwortete der Gefragte. »Sie wissen, daß Sie Untersuchungsgefangener sind, und haben sich danach zu verhalten.«

»Keine Sorge! Ich weiß schon, was sich schickt, wenn man das ist, was ich geworden bin!«

Er schloß die Augen. Seine Lippen zuckten, als ob er weinen wolle; aber er war ein willensstarker Mann und kämpfte die innere Bewegung nieder. Als er dann wieder aufschaute, war sein Gesicht so ruhig wie vorher.

»Wißt ihr, Leute,« sagte er, »wer hier vor euch steht? Ihr meint, es sei der Neubertbauer; aber der ist es nicht, sondern der Staatsanwalt, der euch den Steckbrief eines Verbrechers sagt, auf den das Gericht schon lange vergeblich wartet.«

Seine Augen bohrten sich in das Gesicht des Wirtes, als er fortfuhr:

»Ich bin ein Falschmünzer. Wer hat mich dazu gemacht? Etwa das Geldmännle? Nein, denn das war nur der Schluß. Wer ist das Geldmännle? Ich weiß es nicht, aber ich ahne es. Gott sei ihm gnädig, wie er mir gnädig sein mag! Ich habe es jetzt mit dem Manne zu tun, der mich mit aller Absicht und Berechnung auf die Falschmünzerei vorbereitet hat. Er kam zu mir und bot mir seine Freundschaft an, die mich zu Trunk und Spiel verleitete. Er führte mich zu Prozessen, die ich verlieren mußte; er aber gewann sie als der verborgene Hintermann. Er setzte meiner Tochter teure Mücken in den Kopf und zog mir mein treues, fleißiges Gesinde aus dem Hause. So ging es schnell bergab mit mir, weil ich der Hilfe traute, die er mir fest versprach. Aber als er den letzten blanken Taler von mir bekam, den ich besessen hatte, da zeigte er mir sein richtiges Gesicht. Der Freund war weg, und mit ihm mein ganzer, schöner, lieber Neuberthof. Er ließ mich zwar drin sitzen, doch war dies nur zum Schein. Da bekam ich ein Schreiben vom Geldmännle. Es verhieß mir schnelle Hilfe. Der Hof könne schon in kurzer Zeit wieder mein Eigentum werden. Ich griff zu. Wer mich darüber steinigen will, der lasse es bleiben, denn ich steinige mich selbst! Man hat mich auf der Tat ertappt. Warum? Ich wurde angezeigt. Von wem? Von demselben Manne, dem ich meine Freundschaft mit dem Geldmännle verdanke! Ich komme heute zu ihm, um ihn einzuladen, mit mir vor Gericht zu gehen, nicht als Zeuge gegen mich, sondern als mein Angeklagter, denn ich bin in diesem Augenblicke der Staatsanwalt. Ich komme eher hin als er; die Gendarmen haben mich ja schon. Aber ich fordere ihn auf, mir nachzufolgen. Ich versichere ihm bei dieser und auch bei jener Gerechtigkeit, daß mit ihm genau, ganz genau dasselbe geschehen wird, was hier mit mir geschieht. Und was das ist, das sollt ihr sogleich sehen!«

Er drehte sich schnell nach dem Schenktische um. Man sah, daß er die gefesselten Hände ausstreckte und dann kräftig wieder auf sich zu bewegte. Die Gendarmen wollten auf ihn zutreten; aber da wandte er sich auch schon wieder zurück, langsam, immer langsamer. Seine Hände lagen zu Fäusten gekrümmt, als ob sie etwas hielten, übereinander auf der Brust.

»Musterwirt,« stieß er mit rauher, zitternder Stimme hervor, »so stirbst auch du – – – genau – – – mit diesem Messer!«

Sein Gesicht wurde fahl. Er wankte. Seine Fäuste öffneten sich. Die geschlossenen Hände fielen nieder. Da sah man, was geschehen war. Er hatte sich das scharfe, spitze Fleischmesser, welches stets auf dem Schenktische bei den Tellern lag, in die Brust gestoßen. Nur der Griff schaute noch heraus. Ein langer, schwerer, röchelnder Atemzug – – – dann brach er tot zusammen. – – –

*

II.

Auf dem ganz, ganz, ganz kleinen Bergle saß ein kleines Männle. Das war aber nicht etwa heute, sondern vor einer Reihe von Jahren, die nun vergangen sind. Das Männle war der damalige Musterwirt, der immer, wenn sich niemand bei ihm befand, gar pfiffig und selbstzufrieden vor sich hinschaute, sobald aber andere bei ihm waren, hatte er ein stilles, frommes, in sein schweres Schicksal ergebenes Gesicht.

Das Bergle sah zu dieser Zeit ganz anders aus als jetzt, ganz wild und unkultiviert. Aus seinen Steinritzen ragten einige Tannen. Im übrigen war es ganz und gar von einem stachligen Dickicht überwuchert, welches aus Brom- und Himbeersträuchern bestand. Eine Brücke über das Wasser gab es auch noch nicht, sondern es lag nur ein alter Holzklotz da, auf dem man wie ein Seiltänzer hinüberbalancieren mußte. Das tat besonders die Schuljugend gern, und zwar der Beeren wegen, die man sich da gleich von der Ranke weg ins Mäulchen pflücken konnte. Nur durfte man sich nicht vom Musterwirt erwischen lassen, der es absolut keinem Menschen erlauben wollte, sein Bergle zu betreten. Er hatte sogar einen Pfändwisch mit einem Buschen Stroh darauf vor dem Steg errichtet; aber auch das hinderte die Jungens und Mädels nicht, von den verbotenen Früchten zu naschen, alldieweil die Jugend nun einmal keine Tugend hat. Man brauchte nur hübsch aufzupassen, wenn er kam. Da war man, husch, über den Steg hinüber und lachte ihn zu seinem Aerger auch noch aus, wenn er dann das Nachsehen hatte.

Es begab sich aber auch zuweilen, daß er pfiffiger als die kleinen, leckern Spitzbuben war. Da schlich er sich heimlich hinüber und verbarg sich im Gesträuch. Wer dann kam, der wurde von ihm bei der Parabel genommen und ganz gehörig abgebeutelt. Zuletzt gab er da stets noch die Ermahnung drein, daß es sich nicht für gottesfürchtige Christenkinder gezieme, erstens gegen das siebente Gebot im allgemeinen zu sündigen und zweitens gar sich fremde Beeren anzueignen.

So saß er auch jetzt wieder einmal an seiner Lieblingsstelle, wo man ihn von keiner Seite aus sehen konnte. Er schaute oft forschend auf den Weg hinab, der von den nächsten Häusern über die Wiese herüber kam und dann am Bache aufwärts nach dem nächsten Dorfe führte. Es war aber kein Mensch zu sehen, der die Absicht zeigte, nach dem Bergle zu kommen. Darüber freute er sich. Denn es gibt Beschäftigungen, bei denen man sich nicht gern stören läßt, besonders bei derjenigen, welche darin besteht, daß man einen ganzen Haufen harte Taler zählt.

»Genau fünfhundert,« sagte er, als er fertig war. »Einer wie der andere, neu aus der Schlägerpresse, blitzblank und scharf geprägt. Es ist kein Tadel daran! Nun tue ich sie in die feuchte Erde, damit sie etwas beschlagen. Denn alt müssen sie aussehen, ehe man sie ausgeben kann. Es ist kein übles Geschäft; aber Papiergeld wäre noch besser. Das kommt viel billiger zu stehen. Darum soll es mich verlangen, ob mit dem Kupferstecher etwas zu machen ist, den ich mir so schlauerweise verschrieben habe. Wenn es klappt, so kann er heute schon kommen.«

Da, wo er saß, lag ein ziemlich großer Haufen kleiner Steine. Ueber diesen machte er sich her. Er brachte einen Teil davon auf die Seite, breitete auf die leer gewordene Stelle seine Taler aus und legte dann die Steine wieder darauf. Kein Mensch konnte ahnen, was für ein Schatz nun hier verborgen war.

»Nun schöpfe ich Wasser aus dem Bache und gieße es darüber. Das gibt die erforderliche Nässe. Wenn sie dann noch durch das dunkle Gummibad gegangen sind und den richtigen Schmutz angesetzt haben, so soll mir einer behaupten, daß es neue Taler seien!«

Er wollte sich erheben, duckte sich aber schnell wieder nieder.

»Wer kommt denn da? Das ist ja die Marie, die Klöppelmeisterin! Die geht spazieren, jetzt, zur Arbeitszeit? Das ist bei ihr noch niemals vorgekommen! Jetzt schreitet sie grad auf meinen Weg zu. Sie will herauf aufs Bergle. Und da draußen sehe ich jetzt den Musteranton! Er lenkt auf die Wiese ein. Haben die sich etwa hierher bestellt? Man weiß, daß sie einander gern sehen. Jetzt kann ich heimlich hören, wie es mit ihnen steht. Und das ist mir recht. Denn wenn der Anton dieses Mädchen nimmt, so muß ich ihn aus meinen Händen lassen. Sie ist die geschickteste und fleißigste von allen; die macht ihn frei von mir!«

Das Mädchen war jetzt über den Bach herüber. Sie kam ein Stück herauf und setzte sich auf eine Rasenstelle. Der Bursche folgte ihr nach, blieb vor ihr stehen und reichte ihr die Hand. Was sie sprachen, konnte der Musterwirt nicht hören. Er kroch zwar näher hinzu, erreichte dadurch aber nur, daß er einzelne lauter klingende Worte oder Sätze vernahm.

»Für einen Spieler hältst du mich?« hörte er den Anton sagen. »Ich kenne keine Karte. Aber Dame spiele ich gern, doch auch nur mit dem Musterwirt; die anderen können nichts. Und Damespielen ist doch wohl nichts Böses!«

»Nein, wenn es nur zuweilen geschieht. Aber du sitzest mit ihm alle Abende beisammen und hast eine Leidenschaft dabei. Und alles, was man mit Leidenschaft tut, wird zum Schaden.«

»Marie, es ist keine Leidenschaft. Ich kann es sofort lassen!«

»Für immer?«

»Ja, ganz gern, dir zuliebe.«

»So mache dich von ihm los! Er nützt dich aus; er bezahlt dich schlecht. Du bekommst von ihm einen Hungerleiderlohn, und du lässest es dir gefallen, weil er dich mit seinem Damenspiele ködert. Ich weiß nichts gegen ihn; aber ich empfinde es in mir, daß er nicht der gute, fromme Mensch ist, der er scheint.«

Hierauf sprachen sie wieder leiser. Er hörte nur ihre Stimmen, nicht aber die einzelnen Worte. Nach längerer Zeit aber rief Anton um so lauter:

»Das soll ein Wort sein! Ich danke dir, Marie! Wir wollen fleißig sein; ich werde nicht mehr spielen, sondern sparen. Ich habe dich hierher bestellt, weil man dich sonst allein fast gar nicht treffen kann. Nun ist das Bergle mir zum Glück geworden. Ich wollte, es wäre mein! Da baute ich mir drauf ein kleines Häusle und machte auch ein Gärtle drum herum. Da wohnte ich mit dir wie das Rotkehlchenpaar im kleinen Nestle, und unser Herrgott sollte seine Freude an uns haben!«

»Die könnt ihr ihm schon machen,« klang es da hinter ihnen. »Ich will euch gern dazu verhelfen.«

Der Musterwirt, welcher Antons Worte gehört hatte, war aufgesprungen und zu ihnen hingeeilt. Ein rascher Entschluß hatte ihn dazu getrieben. Sie standen Hand in Hand vor seinen Augen.

»Also heiraten wollt ihr euch, ihr Habenichtser?« fuhr er fort. »Der Anton hätte meine Tochter haben können, wenn er klug gewesen wäre. Ich meinte es gut mit ihm. Ihr aber denkt, es sei das Gegenteil. Und spielen soll er auch nicht mehr mit mir, mein Mustermacher? Nun, des Menschen Wille ist sein Himmelreich, oft aber auch seine Hölle. Ich werde euch nichts in den Weg legen. Ja, ich will euch sogar zu dem Rotkehlchennest verhelfen, von dem er jetzt geredet hat. Er darf nicht mehr mit mir spielen, obwohl er nichts verloren hat, denn wir spielen beide gleich. Eine Partie mußt du ihm schon noch erlauben, eine einzige, die letzte, allerletzte.«

»Um was?« fragte der Anton.

»Um mein Bergle hier. Wenn du sie gewinnst, ist das Bergle dein, das ganze, so wie es vor unseren Augen steht, und auch das Wasser, was rund um ihn läuft.«

Da blitzte es in den Augen Antons auf.

»Du, diese Partie gewinne ich dir ab, Musterwirt!« sagte er.

»Das will ich ja,« lachte dieser. »Aber frage nur auch, was du dagegen zu setzen hast!«

»Nun, was?«

»Wenn du verlierst, so hast du drei volle Jahre ganz umsonst für mich zu arbeiten.«

»Ah, so? Das ist ein teurer Satz!«

»Noch lange nicht so teuer wie mein Bergle!«

»Weil du reicher bist, als ich. Für die Armut sind drei volle, unbezahlte Arbeitsjahre ein schwerer Einsatz. Ich mache nicht mit.«

Er trat um einige Schritte zurück.

»Also nicht,« sagte der Wirt enttäuscht. »Was sagt denn die Marie dazu? Die ist natürlich noch viel mehr dagegen als er!«

Sie sah ihm scharf und kalt in die Augen. Ihr Blick war wie ein Messer, das tief hinunterstieß.

»Ich freue mich darüber, daß er nicht will,« sagte sie; »denn er beweist mir dadurch, daß er gern das Gute tun wird, was ich von ihm erbitte. Ich durchschaue dich, Musterwirt. Du willst noch zwei Partien Dame gewinnen, nicht bloß eine. Die zweite mit ihm. Die erste aber spielst du jetzt mit mir, wenn auch ohne Brett und ohne Damensteine. Ich sage dir jedoch, daß du sie schon jetzt verloren hast, denn der Anton wird dieses letzte Spiel mit dir machen. Ich will es so!«

»Er soll drei volle Jahre Arbeit gegen das Bergle setzen?«

»Ja.«

»Mädel, bedenke, was du tust!«

»Sei still! Mich brauchst du nicht zu ermahnen. Vorhin warst du überzeugt, daß du gewinnen werdest; jetzt aber hast du schon Angst bekommen.«

»Es ist nicht Angst, sondern Staunen. Er tritt vor mir zurück, und gerade du schiebst ihn zu mir hin! Ich kann das nicht begreifen.«

»Wenn nur ich es begreife, so ist es gut. Doch will ich es dir sagen. Der Anton sprach davon, daß der Herrgott seine Freude über uns haben werde. Er glaubt an ihn und ich auch; du aber nicht, obgleich du dich so stellst. Es ist in mir eine Stimme, welche mir sagt, daß der Herrgott mitspielen werde; der gehorche ich. So, nun weißt du es!«

»Ja, jetzt weiß ich es,« lachte er. »Also sag', Anton, bist du bereit dazu?«

»Ja,« antwortete der Bursche. »Was die Marie will, das tue ich.«

»So komm heute abend um sieben zu mir. Punkt acht wird es beginnen. Willst du?«

»Gern.«

»Wohlan, so sei's! Aber denke ja nicht daran, mich zu hintergehen! Ich bin der Kluge von uns beiden. Im Gesetz steht geschrieben, daß man Spielschulden nicht einklagen kann. Wenn ich gewinne, und du willst dann nicht für mich arbeiten, so muß ich es mir gefallen lassen; kein Paragraph steht mir zur Seite. Aber ich fange das ganz anders an, als du dir vielleicht denkst. Ich nehme zwei Bogen Papier. Auf den einen schreibe ich folgendes: ›Der Musteranton hat von morgen früh an drei volle Jahre lang für den Musterwirt zu arbeiten, was dieser ihm befiehlt. Er erklärt hiermit vor den unterschriebenen Zeugen, daß ihm diese Arbeit im voraus bezahlt worden ist.‹ Und auf dem anderen wird zu lesen sein: ›Der Musterwirt übergibt dem Musteranton morgen früh das sogenannte Bergle als volles, unbestrittenes Eigentum, so wie es liegt und steht. Auch das Wasser rundum gehört dazu, weiter aber nichts. Der Musteranton hat dem Musterwirt das Bergle ganz bezahlt.‹ Diese Dokumente werden von uns beiden und von drei Zeugen unterschrieben. Während des Spieles bekommt der Ortsrichter sie in seine Tasche. Nach dem Spiele wird dasjenige des Gewinners zerrissen, der dann das andere bekommt. Bist du einverstanden?«

»Ja.«

»So erkläre ich dir hiermit, daß du mir mein Bergle bezahlt hast. Und was sagst du nun zu mir?«

»Daß du mir den Lohn für drei Arbeitsjahre vorausbezahlt hast.«

»Das wirst du heute abend auch vor den Zeugen sagen?«

»Ja.«

»So ist die Sache abgemacht. Punkt sieben wirst du kommen, und Punkt acht beginnt das Damenspiel. Es wird eine englische Dame, mit Vor- und Rückwärtsschlagen und auch noch über das Feld.«

»Was für eine, das ist mir gleich.«

»Gut; wir sind also fertig. Nun macht euch jetzt von dannen. Das Bergle ist noch mein, und morgen habt ihr auch nichts hier zu suchen, denn dein Mitspieler kann doch mit mir nichts machen!«

Die beiden gingen. Er sah ihnen nach, bis sie sich drüben voneinander trennten.

»Das habe ich gut gemacht!« lachte er zufrieden. »Er ist der beste Damenzieher weit und breit, aber gerade die englische spiele ich besser als er. Auch habe ich ihn eine Stunde früher bestellt. Da lasse ich ihn trinken. Ich weiß schon, wie das anzufangen ist. Ich gebe im Dorfe bekannt, was geschehen soll. Da bekomme ich die ganze Stube voll Gäste. Ich schenke für alle ein Extrabier, für uns aber einen scharfen, starken Wein; den ist er nicht gewöhnt. Das erste Glas wird ihm schmecken. Das zweite nimmt ihm die Gedanken. Und beim dritten weiß er schon nicht mehr, was er tut. Für mich aber ist es, als ob ich Wasser trinke. Und sodann weiß ich noch etwas. Wenn er über den nächsten Zug nachsinnt, und ich schaue ihm scharf in das Gesicht, so wird er unsicher. Dann zieht er falsch. Er kann meine Augen nicht vertragen. Das habe ich oft beobachtet, und dann hat er stets verloren. Das tue ich auch heute. Jetzt aber will ich meine Taler noch begießen; dann gehe ich heim, um die Papiere gleich zu schreiben. Drei Jahre Arbeit! Er ahnt gar nicht, daß er die eigentliche Seele meines Geschäftes ist. Er erfindet unerschöpflich neue Muster. In diesen drei Jahren kann er mir für ein ganzes Menschenleben vorarbeiten. Dann aber ist er kaputt, und ich werfe ihn hinaus.«

Als die Steine bis tief in den Boden hinein durchnäßt waren, ging er nach Hause. In der Gaststube saß ein Handwerksbursche. Des Wirtes Tochter winkte ihren Vater zu sich. Sie war von ganz anderer Gestalt als er. Was ihm an Stärke und Länge fehlte, das hatte sie fast zu viel.

»Der dort hat schon einige Male nach dir gefragt,« sagte sie. »Er ist ein Kupferstecher und will hier übernachten.«

Der Musterwirt ging zu ihm hin und forderte die Legitimationspapiere. Das war seine Pflicht, wenn jemand über Nacht bleiben wollte. ›Frommhold Uhlig, Kupferstecher und Graveur‹, las er auf dem Wanderbuche. Das war der Richtige, den er erwartete! Dieser saß schon beim vierten oder fünften Schnapse, doch ohne daß man die Wirkung des Alkohols an ihm verspürte. Er schien das Gift gewohnt zu sein. An der Wand lehnte sein Knotenstock, und auf dem Nebenstuhle lag sein kalblederner Ranzen. Der Wirt setzte sich zu ihm, um ihn fragend auszuhorchen. Der Fremde ließ dies einige Zeit geschehen und lächelte dazu. Als aber eine Frage gar zu verfänglich klang, lachte er laut auf und sagte:

»Musterwirt, spielt nicht mit mir Theater, sonst lasse ich den Vorhang sofort fallen. Es soll keiner von uns beiden denken, daß er dem anderen über ist. Mich fängt man nicht mit Fragen. Weißt du, was ich will und was ich kann?«

»Bis jetzt weiß ich nur, daß dich ein Bekannter zu mir schickt,« antwortete der Gefragte.

»So weiß ich mehr von dir, als du von mir, und kann es auch beweisen. Du bist das ›Geldmännle‹ und willst Papiergeld machen, anstatt bisher nur Taler. Brauchst nicht zu erschrecken. Ich bin grad so verschwiegen wie du. Du befindest dich in meiner Hand, und ich gebe mich in die deinige. Weiß deine Tochter von dem Geschäft?«

»Ja.«

»So brauchen wir uns nicht zu genieren. Es ist sonst niemand da. Paß auf, was ich dir zeigen werde!«

Er schnallte den Ranzen auf und zog einen Pack zusammengerollter schmutziger Wäsche heraus. Dieser enthielt, als er ihn öffnete, ein kleines, wohlverschnürtes Päckchen. Als die Bindfaden entfernt waren, kamen mehrere lange, schmale Zeichnungen und Metallplatten zum Vorschein. Die schob der Handwerksbursche ihm hin und sagte:

»Da, schau dir das an, und dann sage mir, ob ich bei dir bleiben oder weiterwandern soll!«

Der Wirt zog seine Brille aus der Tasche. Es war eine sogenannte ›Nasenquetsche‹, ohne Seitenstangen. Jetzt nennt man diese Art von Brillen ›Klemmer‹, und wenn man vornehm tun will, so sagt man Pincenez. Er betrachtete die Linien und Gravierungen sehr eingehend. Der Ausdruck der Spannung, welcher dabei auf seinem kleinen Gesichte lag, ging mehr und mehr in den der Freude über.

»Ich will jetzt noch schweigen,« sagte er. »Du kommst mit mir hinauf in meine Stube, die nur für mich und meine Tochter da ist. Ich muß diese Sachen erst noch durch ein Vergrößerungsglas betrachten. Die Fünfziger und Hunderter scheinen vortrefflich zu sein. Das ist deine Sache, der Druck aber dann die meinige. Komm! Nimm deinen Stock und deinen Ranzen mit! Du bleibst für heute bei mir. Das andere wird sich morgen finden. Wir brauchen uns ja nicht zu übereilen.«

Sie verließen miteinander die Stube. Die Tochter hatte alles gehört und nickte dem Fremden freundlich zu, als er sich an der Tür noch einmal nach ihr umsah.

»Ich möchte, daß du bleibst!« rief sie ihm nach. »Die Burschen hier im Dorfe sind mir zu dumm!«

Nach einer Stunde kamen beide wieder herab.

»Dein Wille ist geschehen,« sagte der Handwerksbursche zu dem Mädchen, indem er sie in die Wange kniff. »Jetzt habe ich Geld und gehe in die Stadt, um mir einen neuen Anzug zu besorgen und mich auch sonst auszustaffieren. Es ist ein weiter Weg, aber vor Mitternacht bin ich wohl wieder da. Wirst du auf mich warten?«

»Wenn du willst, jawohl.«

Als der Kupferstecher fort war, erzählte der Wirt von seiner Abmachung mit dem Musteranton. Die Tochter schien die Sache anders ansehen zu wollen als der Vater, ließ sich aber von seinen Gründen leicht überführen. Er setzte sich hin, um die beiden Dokumente zu schreiben, und ging, als er damit fertig war, in das Dorf. Er brauchte nur einigen Bekannten mitzuteilen, was für ein wichtiges Damenspiel heute vor sich gehen sollte, so konnte er überzeugt sein, daß es bald überall bekannt sein werde.

So kam es, daß schon alle Tische bei ihm mit Gästen besetzt waren, als es noch gar nicht sieben Uhr geschlagen hatte. Nur der Tisch, welcher in der Mitte der Stube stand, war freigeblieben, weil da der Kampf ausgefochten werden sollte. Punkt sieben Uhr kam der Musteranton. Er wurde lebhaft begrüßt und von dem Wirt an den erwähnten Tisch gewiesen. Dieser erklärte dann, daß er ein Faß Freibier geben werde, was mit allgemeiner Anerkennung begrüßt wurde! Als das Faß angesteckt worden war, brachte er eine Flasche Wein, zur Stärkung der beiden ›Helden des Abends‹, wie er sich ausdrückte. Es wurden die drei Zeugen bestimmt und die Dokumente verlesen, welche der mitanwesende Ortsrichter in Aufbewahrung nehmen sollte. Dieser lehnte aber ab, weil er sich nicht an einer Sache beteiligen dürfe, welche trotz aller Umschreibung doch nichts anderes als ein Glücksspiel sei. Darum sollte ein anderer unparteiischer Mann bestimmt werden, die Papiere an sich zu nehmen. Da ging die Tür auf, und wer trat herein? Marie, die ›Klöppelmeisterin‹. Sie kam nicht allein; sie hatte eine Freundin bei sich.

»Ja, was ist denn das? Was willst denn du hier bei uns in der Gaststube?« fragte der Wirt. »Weiber gehören doch nicht hierher!«

Sie errötete zwar, als sie aller Augen auf sich gerichtet sah, antwortete aber doch mit fester Stimme:

»Ich gehöre dahin, wo der Anton ist. Er will mein Mann sein und ich seine Frau. Ich darf also nicht dabei fehlen, wo es darauf ankommt, ob wir das Bergle behalten werden, das wir heute an dich bezahlt haben. Denn daß es bezahlt ist, das steht doch in den Papieren, die ich da in deinen Händen sehe?«

»Ja,« antwortete er. »Ich wollte sie dem Ortsrichter in Aufbewahrung geben; der will sie aber nicht.«

»So weiß ich jemand, der da will.«

»Wer ist das?«

»Ich selbst. Gib sie her; ich hebe sie auf.«

Sie zog sie ihm schnell aus der Hand und steckte sie ein, noch ehe er es verhindern konnte.

»Das nenne ich aber resolut!« rief er aus.

»Bei einem Damenspiel gehören die Preise nicht in die Hände von Männern.«

»So! Na, ganz wie du willst! Aber wenn das eine Papier gewonnen hat, so wird das andere sofort zerrissen!«

»Ja, zerrissen und verbrannt,« nickte sie. »Wann geht es los?«

»Punkt acht.«

»Nicht eher?«

»Nein. Wir müssen doch erst den Wein zusammen trinken.«

Dabei begann er, die Gläser zu füllen.

»Der Anton ist zum Spielen, aber nicht zum Trinken verpflichtet worden. Er geht jetzt mit uns noch eine halbe Stunde spazieren. Es ist erst halb. Wenn es ganz schlägt, sind wir wieder da. Komm, Anton!«

»Tausendmal gern!« antwortete dieser, stand auf und verließ mit den beiden Mädchen die Stube.

Der Wirt schaute ganz verblüfft hinter ihnen drein, griff unwillkürlich zum vollen Glase, stürzte den Wein hinunter und rief aus:

»So eine Wetterhexe! Da hört doch alles auf!«

Er machte ein so betroffenes Gesicht, daß sich ein allgemeines Gelächter erhob. Einer, den es nach dem Wein gelüstete, trat hinzu, goß wieder voll, nahm das eine Glas und rief:

»Musterwirt, denke einmal, daß ich der Anton bin, und tue mir Bescheid. Ich trinke dir zu, daß du gewinnen mögest. Das kannst unmöglich abschlagen!«

Ein anderer folgte diesem Beispiele. Der Wirt konnte gar nicht anders, er mußte noch zwei Gläser austrinken. Man trank ihm auch in Biergläsern zu. Er tat hier und da Bescheid, wenn auch nur wenig; aber als die halbe Stunde vorüber war, fühlte er deutlich, daß der Wein und das Bier sich nicht miteinander vertragen wollten. Eins blieb unten sitzen; das andere begann, ihm in den Kopf zu steigen. Er konnte viel vertragen, aber der Aerger über die unerwartete Einmischung des Mädchens war ihm auf die Nerven gefallen. Er befand sich in einer Aufregung, welche ihm die zu seinem Vorhaben nötige Ruhe fast vollständig raubte. Darum rief er, als Anton um acht Uhr seine beiden Begleiterinnen wieder mit hereinbrachte, diesen zornig zu:

»Was wollt ihr schon wieder hier? Ich spiele mit ihm, aber nicht mit euch!«

»Wir spielen ja gar nicht mit; wir sehen nur zu,« antwortete Marie, indem sie an den Tisch trat. »Es ist Zeit. Ihr könnt anfangen!«

»So geht hinweg! Hierher gehören nur wir zwei!«

Er sagte das in einem solchen Tone, daß sich unter den Gästen tadelnde Stimmen erhoben.

»Wer es ehrlich meint, braucht uns nicht zu fürchten,« antwortete Marie. »Wir gehören hierher, denn wir haben die Preise einstecken. Wir setzen uns!«

Nun wagte er nicht mehr, zu widersprechen. Er nahm also Anton gegenüber Platz. An den beiden anderen Seiten saßen die Mädchen. Es war bestimmt worden, daß niemand herbeitreten dürfe, um zuzusehen. Das Spiel begann. Anton war bei vollster Ruhe. Wenn er nicht auf das Brett sah, hatte er nur Augen für seine Verlobte, die kein Wort sagte, ihm aber von Zeit zu Zeit lächelnd zunickte, meist aber den Wirt sehr scharf im Auge behielt. Dieser gab sich erst Mühe, gleichgültig oder gar überlegen zu scheinen. Bald aber stemmte er das Gesicht in beide Hände und starrte finster auf die vierundsechzig Felder, welche vor seinen Augen zu tanzen begannen. So oft er seinen Trick anwenden und den Gegner fest anschauen wollte, begegnete er Mariens Augen. Das regte ihn noch mehr auf. Als er aus diesem Grunde wieder einen falschen Zug getan hatte, fuhr er sie an:

»Was hast nur immer mich anzuglotzen! Ich mag deine Blicke nicht. Sie bringen mir Unglück!«

»So schau aufs Spiel und nicht auf sie!« antwortete Anton an ihrer Stelle. »Man wird sich doch wohl nicht die Augen verbinden müssen, wenn man hier bei dir ist!«

Hierauf wurde es wieder still, bis nach längerer Zeit der Wirt jubelnd ausrief:

»Endlich, endlich habe ich dich! Das war ein Meisterzug von mir, wie ich fast noch keinen getan habe! Ich stand schlecht, sehr schlecht. Ich wußte fast nicht mehr, wohin. Nun aber habe ich dich gefaßt! Paß auf! Ich schlage dir jetzt einen – – zwei – – – drei Steine und bin im Siege, denn du mußt – – –«

Da hielt er erschrocken inne. Er hatte, während er es sagte, die drei feindlichen Steine geschlagen; aber als er hierauf den seinen hinter den letztgeschlagenen setzte, bemerkte er, daß ihm eine Falle gelegt worden war.

»Was muß ich denn?« fragte Anton lachend. Er sah, daß sein Mädchen vor Schreck bleich geworden war. Darum fuhr er fort: »Darfst nicht ängstlich sein, Marie! Es war nur die Nase, an der ich den Musterwirt geführt habe. Er hat mir drei Steine genommen. Ich opferte sie mit List, denn nun komme ich hinterher. Merk auf! Ich schlage ihm dafür einen – – zwei – – drei – – vier Steine und setze den meinen hierher und tue noch einen darauf, denn er steht an dem Rande und ist jetzt eine Dame! Wie steht es mit dem Bergle und mit der dreijährigen Arbeit, Musterwirt?«

»Schweig!« herrschte ihn dieser an. »Was machst erst ein Gesicht wie ein neugeborenes Unschuldskind und haust mich dann mit allen Fäusten gleich über beide Ohren! Ich scharwerkiere mich schon wieder heraus. Darauf gebe ich dir mein Wort!«

Er sann und sann, getraute sich aber nicht, zu ziehen.

»Ja, wenn ich nicht so dumm gewesen wäre, eine englische zu verlangen, da ginge es wohl noch!« gestand er wütend ein. »So aber sitzt deine Dame grad auf dem Mittelfelde und nimmt mir alle Steine weg, ich mag nun kommen, wie ich will!«

»Gibst dich also verloren?«

»Nein; fällt mir gar nicht ein! Gewinnen kann ich sie nicht, aber eine ›unendliche‹ muß es werden; da halten wir auf und fangen eine neue an!«

»Mag sein! Versuch' es!«

Das klang zustimmend. Darum schaute Marie besorgt zu Anton auf. Dieser zwinkerte ihr mit den Augen heimlich zu. Das beruhigte sie wieder. Endlich hatte sich der Wirt entschlossen. Er tat einen Zug und sagte:

»Hier ist dein Stein. Ich setze dir den meinen hin. Schlag' ihn damit!«

»Mit dem Stein? Willst mich mit Worten betrunken machen? Ich soll mit dem Steine schlagen, damit du wieder schlagen kannst? Ich schlage mit der Dame, einen – – zwei – – drei Steine. Wie steht es nun mit der ›unendlichen‹, Musterwirt?«

Da sprang der Kleine auf.

»Hole dich der Deixel!« brüllte er. »Ich habe nur noch zwei Steine, du aber sechs und dazu die Dame! Das Spiel ist aus! Ich habe das Bergle verloren! Und warum? Weil ich den Wein getrunken habe, den der Anton trinken sollte, und weil diese Klöppelhexe da mich nicht eine Minute lang aus ihren Augen gelassen hat. Hier ist der Lohn dafür da – da – da und da – und da!«

Bei diesen Worten raffte er die Steine vom Brette zusammen und warf sie dem Mädchen in das Gesicht. Dieses aber stand auf, zog das eine Papier aus der Tasche, zerriß es und sagte:

»Daß du mich wirfst, Musterwirt, das ist mir keine Schande, sondern ein Vergnügen. Hier habe ich die drei Jahre zerrissen. Das Papier über das Bergle aber tragen wir schon morgen auf das Amt, wo du nachkommen kannst, um den Kauf zu unterzeichnen. Du mußtest diese zweite Partie verlieren, weil du die erste schon an mich verloren hattest. Jetzt weißt du nun, ob unser Mitspieler, der Herrgott, etwas über dich vermag oder nicht. Wir aber halten Wort: Er soll seine Freude über uns haben!«

»Ja, das soll er!« stimmte Anton bei. »Paßt auf, was ich jetzt tue.«

Er nahm das Damenbrett in beide Hände, holte aus und schlug es auf die Tischkante nieder, daß es auseinanderbrach. Die Stücke warf er weit von sich und fuhr fort:

»So wahr ich dieses Brett zerbrochen habe, so wahr wird mich niemand wieder bei einem Spiele zu sehen bekommen! Die Marie hat mir die Augen geöffnet. Man sagt, daß das Brett keine Karte sei; aber wenn dabei die Leidenschaft auf der einen Seite steht, so taucht auf der anderen auch sogleich der Teufel auf. Ich mache nicht mehr mit. Das Bergle ist mein. Ich habe es mit meiner letzten Dame gewonnen. Darum soll es von heute an nicht anders als nur das Damenbergle heißen. Gute Nacht, ihr Gäste! Gute Nacht auch, Musterwirt! Ich sage dir Dank für deinen Wein, den ich trinken sollte, aber nicht getrunken habe, weil mein guter Engel kam, um mich aus der Versuchung zu erlösen. Komm, Marie! Wir haben Mondschein. Wir wollen hinaus zu dem lieben Damenbergle gehen und ihm sagen, daß es nun unser ist!«

Er nahm die beiden Mädchen an den Händen und ging mit ihnen fort, über die Wiese hinüber, bis der gewonnene Preis des Abends vor ihnen lag. Der Mond lächelte mit unverkennbarer Freundlichkeit und Güte zu ihnen nieder, und das Bergle sah wie eine von durchsichtigem Silber umsponnene, kleine Märcheninsel aus, auf welcher es hell-lichte Freude über den neuen Besitzer gab.

»Weißt, Marie, was ich machen werde, wenn du nichts dagegen hast?« sagte Anton.

»Nun, was?« fragte sie.

»Ich baue das Häusle wirklich, von dem ich gesprochen habe.«

»Hast denn ein Geld dazu?«

»Nein.«

»Wovon willst es denn bauen?«

»Von Holz und Stein. Ich nehme keinen Baumeister, keine Maurer und auch keine Zimmerleute. Ich mache alles selber. Das bringe ich schon zusammen. Für meine Musterarbeit brauche ich drei Stunden am Tage. Die übrige Zeit baue ich. Das Holz zu den Balken leiht mir der Förster. Die Steine breche und sprenge ich mir aus dem Bergle selbst heraus; das kostet nichts, und ich bekomme dadurch Platz und Land für das Gärtle. Wenn ich recht fleißig bin, kann ich bis zum Winter fertig sein. Dann kommst du und machst das Stüble und die Kammer fertig. Einen Ziegenstall baue ich auch dazu, damit die Abfälle nicht verloren gehen, sondern in Milch verwandelt werden. Und wenn dann im Frühjahr alles fertig und hübsch beisammen ist, so lassen wir die Schneeglöckchen und Narzissen blühen und machen zu Ostern die Hochzeit. Bist einverstanden? Gelt?«

»Ja, wenn du so schön bauen kannst, so muß es wohl so werden,« antwortete sie. »Und daheim gibt es einen Schlüssel für meine Schublade, in der wohl an die fünfzig Taler liegen, die ich mir zusammengeklöppelt habe. Davon kannst du dir immer einen holen oder zwei oder drei oder fünf, wenn du sie brauchst. Denn die Wäsche und das andere alles, was ein Mädchen nötig hat, um Frau zu werden, das liegt schon fertig da.«

»Du willst mich also wirklich, wirklich nehmen?«

»Ja.«

»So gib mir einen Kuß auf dieses Wort!«

»Nein, heut' noch nicht. Den gibt's erst am Altar. Willst du mir das versprechen, Anton? Lieb haben wollen wir uns, so recht von Herzen lieb. Und arbeiten wollen wir. Und wenn das Häusle fertig ist, so kommt der Lohn dafür. Das ist der erste Kuß, und da müssen zwei dabei sein, nämlich der Herrgott und der Herr Pfarrer. Ist dir das recht?«

»Du willst es, und so bin ich einverstanden.«

»Ich danke dir! Nun gehen wir nach Haus. Brauchst mich nicht zu begleiten, wir sind ja zu zweien. Wie ich dich kenne, so bleibst noch ein bißchen da, schaust dir das Bergle an und gehst auf der Wiese hin und her, um über das Häusle nachzudenken Morgen kommst dann zum ersten Mal zu mir in die Stube und sagst mir, wie es ausschaut und wieviel Fenster es haben wird. Nicht wahr?«

»Ja,« antwortete er, glücklich lachend. »So wird es wohl sein.«

»Da hast meine Hand. Gute Nacht, Anton! Von jetzt an bist mein Bräutigam!«

»Und du meine Braut. Gute Nacht, Marie!«

Auch der Freundin wurde die Hand gedrückt; dann gingen die Mädchen heim. Marie fühlte sich unendlich glücklich. Als sie sich zur Ruhe gelegt hatte, konnte sie noch nicht schlafen. Erst betete sie. Dann dachte sie über sich und ihr armes, arbeitsvolles Leben nach. Sie war als vater- und mutterloses Waisenkind von Gemeindewegen an den Wenigstfordernden ausgeboten worden. Da hatte sich eine unterstützungsbedürftige Witwe gefunden, welcher das Kind mit einem Erziehungsbeitrag von wöchentlich einem Achtgutegroschenstück übergeben worden war. Dieser Beitrag hatte aber auch zugleich die materielle Grundlage für die Zukunft ihrer eigenen Kinder gebildet. Wieviel da auf jedes hungrige Mädchen kam, das kann man sich wohl denken. Die kleinen Händchen lernten niemals spielen. Kaum, daß sie sich bewegen konnten, trat die Arbeit schon an sie heran. Die Witwe war eine Spitzenklöpplerin, und es stellte sich heraus, daß Marie für diese Beschäftigung eine seltene Begabung besaß. Als sie die Schule verließ, konnte man ihr schon die verwickeltsten Muster anvertrauen. Sie brachte mehr fertig als jede andere, und jetzt gehörte sie zu den wenigen Glücklichen, die nicht mehr für den Massenunternehmer, sondern nur noch auf lohnende Privatbestellung zu arbeiten brauchten. Hierdurch war das Waisenkind nun eine kräftige Stütze für die Witwe und ihre Kinder geworden. Die älteste Tochter derselben, eben jenes Mädchen, welches mit Marie heute beim Musterwirt gewesen war und nächstens mit einem armen Weber Hochzeit machen wollte, hatte es nur der geschickten und unermüdlichen Ziehschwester zu verdanken, daß sie das nicht mit leeren Händen zu tun brauchte. Wegen dieser Geschicklichkeit wurde Marie allgemein die ›Klöppelmeisterin‹ genannt. Sie war dem Musteranton schon seit langer Zeit gewogen, aber daß ihr heimlicher Wunsch in der Weise, wie es heute geschehen war, in Erfüllung gehen könne, das hatte sie nicht für möglich gehalten. Sie war mit einem Male nicht nur Braut, sondern sogar Grundeigentümerin geworden. Konnte man es da für verwunderlich halten, daß der Traum, als sie endlich einschlief, zu ihr trat und ihr die Schublade, von welcher sie gesprochen hatte, mit lauter, lauter, lauter blanken, funkelnagelneuen Talern füllte? Als sie früh erwachte, erinnerte sie sich sogar, daß auch einige sehr, sehr große Papiergelder dabei gewesen seien.

Als sie das während des frugalen Frühstückes erzählte, meinte die Witwe, daß es Träume gebe, welche keine Schäume seien. Und da ging auch schon die Tür auf, und der Anton trat herein.

»So früh?« fragte Marie staunend. »Es ist erst sieben Uhr!«

»Ja, erst sieben,« nickte er vergnügt. »Am liebsten aber wäre ich schon um zwei oder drei gekommen.«

»Weshalb?«

»Ich wollte gern deine Schublade sehen.«

»Brauchst schon Geld? Ich gebe dir's gern. Wieviel?«

»Mach' nur erst auf. Dann sag' ich's dir!«

Sie holte den Schlüssel und öffnete die Kommode, um die Lade aufzuziehen. Da lagen an die fünfzig Taler; sie war davon fast halb voll! Er aber nahm keinen einzigen heraus, sondern er tat das gerade Gegenteil, indem er in seine eigenen Taschen langte und eine Hand voll Silbergeld nach der anderen hervorzog und in die Schublade legte, die fast ganz voll wurde.

»Da hast auch von mir noch fünfzig,« sagte er. »Lauter frische, blanke, funkelnagelneue Taler! Und da sind auch noch zwei Hunderttalerscheine dazu. Deshalb komme ich so früh. Schau her!«

Er zeigte sie ihr und sah ihr dabei mit strahlenden Augen in das erstaunte Angesicht.

»Aber – – – Anton – – – das – – das – – – das habe ich – – – das habe ich ja heute nacht geträumt!« rief sie aus.

»Ja, das hat sie geträumt,« bestätigte die Witwe, welche sich mit ihren Kindern froh herbeigedrängt hatte. »Und ich habe ihr gesagt, daß derartige Träume in Erfüllung gehen.«

»Den Traum mußt du mir später erzählen, denn jetzt habe ich keine Zeit,« sagte er. »Ich muß mit dem Musterwirt in die Stadt, wo wir den Kauf des Bergle auf dem Amt fertig machen.«

»Er weigert sich also nicht?« fragte Marie.

»Vielleicht war er es gewillt, aber die Geschichte mit den fünfhundert Talern hat ihn anders gestimmt.«

»Fünfhundert – –?«

»Ja. Ich habe ihm versprechen müssen, höchstens nur dir davon zu erzählen. Gegen andere soll ich schweigen. Komm mit heraus! Da will ich es dir berichten.«

Sie folgte ihm aus der Stube in das Freie, wo er mit ihr einen weichrasigen Feldweg einschlug. Indem sie da nebeneinander hergingen, erzählte er ihr folgendes:

»Als du fort warst, gestern abend, tat ich, was du gesagt hattest: Ich schaute mir das Bergle an und dachte über das Häusle nach. Ich hatte mich grad auf der Stelle niedergesetzt, wo du standest, als du sagtest, das du mein sein willst. An dieser Stelle wollte ich bleiben. Es stand ein Kräutlein Augentrost da; das pflückte ich mir ab und tat es an die Brust. Hier ist es noch.«

»Und noch nicht verwelkt?« bemerkte sie errötend.

»Ich habe es dann zu Hause in das Wasser gestellt,« erklärte er. »Als ich so dasaß, lag das Bergle grad vor mir. Wenn ich die Augen öffnete, zeigte es sich mir im klaren Mondschein. Wenn ich sie zumachte, um nachzusinnen, dann sah ich das Häusle. Erst undeutlich. Aber je mehr ich nachdachte, desto deutlicher stand es vor meiner Seele. Endlich sah ich alles ganz bestimmt, das Dach mit dem Schornstein, vorn weit hervorragend, wegen der Sonne und des Regens, das Kämmerle oben und das Stüble unten, daneben der Ziegenstall mit dem Boden für das Winterfutter darüber. Da habe ich gerechnet und gemessen, wie lang und wie breit alles werden soll. Ich bin ausgestanden, um die Front und die Tiefe abzuschreiten, und als ich alles richtig gewußt habe, da hat es mir keine Ruhe gelassen; es hat mich förmlich gezogen und gestoßen; ich habe über den Steg hinübergemußt und das Bergle hinauf, um zu sehen, ob es nicht wohl gar zu klein ist für die Maße, die ich mir ausgesonnen hatte. Es war ganz hell. Ich konnte jeden Stein und jede Pflanze sehen. Aber ich hatte keinen Pflock und keine Schnur, um richtig auszumessen. Indem ich sann, wie dem abzuhelfen sei, sah ich einen Haufen kleiner Steine. Sie waren feucht, wahrscheinlich von dem Tau. Wenn ich mir aus diesen Steinen Linien legte, so war es leicht, den ganzen Grundriß auf dem Boden zu bezeichnen. Ich begann mit dieser Arbeit, die schnell vorwärts ging. Der Haufen wurde kleiner, immer kleiner. Schon schaute die Erde darunter hervor. Da hörte ich es plötzlich klingen. Es war wie Silber oder ein anderes Metall. Ich schaute schärfer hin, und was sah ich liegen? Taler an Taler, ganz eng nebeneinander! Man hatte sie hierher getan und mit den Steinen zugedeckt. Du kannst dir denken, daß ich die übrigen Steine nun schnell und sorgfältig entfernte, um keine Münze mit fortzuwerfen. Als ich damit fertig war, funkelte mir der Schatz im Mondenschein silbern in die Augen. Ich zählte ihn. Es waren fünfhundert Taler, keiner mehr und keiner weniger. Ich suchte weiter nach. Ich grub sogar in den Boden. Aber ich fand weiter nichts. Da tat ich das Geld in mein Sacktuch und in die Taschen, um es heimzutragen. Ich stieg das Bergle hinab, ging über den Steg und dann über die Wiese, war aber noch nicht ganz hinüber, wer kam mir da entgegen? Der Musterwirt!

»›Wo kommst du her?‹ fragte er mich.

»›Vom Bergle,‹ antwortete ich.

»›Was hast du dort so spät zu treiben?‹

»›Einen Schatz habe ich gegraben. Musterwirt, das Bergle war dein, von heut' abend aber ist es mein. Hast du dort Geld versteckt?‹

»Er antwortete nicht sogleich. Mir kam es vor, als ob er nicht erstaunt, sondern erschrocken sei. Dann fragte er mich:

»›Hast du dort welches gefunden?‹

»›Ja.‹

»›Wieviel?‹

»›Rate es!‹

»›Es werden die fünfhundert Taler sein, welche mein Oheim, der frühere Besitzer, während der Revolutionszeit dort versteckt hat, weil er sich vor den Freischärlern fürchtete. Es waren lauter neue Talerstücke, geprägt im Jahre 1846. Er starb noch während der Revolution. Später fand ich einen Zettel in der Bibel, worauf das versteckte Geld verzeichnet war, aber nicht der Ort, wo es lag. Nun kommst du jetzt mitten in der Nacht daher und sagst, du habest es gefunden. Komm zu mir! Es ist mein Eigentum!‹

»›Deines? Nein, sondern meines!‹

»›Wieso?‹

»›Auf dem Dokumente steht, daß das Bergle mein volles, unbestrittenes Eigentum sei, so wie es liegt und steht.‹

»›Aber doch nicht das Geld!‹

»›Das gehört zum Bergle, auf dem es gelegen hat!‹

»Hierauf hat er angefangen, mit mir zu streiten. Er hat absolut nicht nachgeben wollen, bis ich gesagt habe, daß ich das Geld in das Gericht tragen werde, welches entscheiden möge, wem es gehöre. Da ist er zu meinem Erstaunen plötzlich ganz klein geworden und hat mich um einen Vergleich gebeten. Ich hätte ihm gewiß und gern das ganze Geld gegeben; aber ich weiß nicht, wie es kommt, daß ich nicht an die Geschichte von seinem Oheim glauben kann, der doch gestorben ist, als die Revolution längst vorüber war. Die Sache hat einen Haken, den ich kennen lernen möchte. Das sagte ich ihm ganz offen und ganz ehrlich, worauf er mir den Vorschlag machte, das Geld mit ihm zu teilen. Ich ging einstweilen hierauf ein, sagte ihm aber, daß ich meinen Teil nicht als mein festes Eigentum, sondern als eine Hypothek auf mein Häusle betrachten werde. Sobald sich der richtige Eigentümer finde und mir beweise, daß er es sei, solle er das Geld zurückerhalten. Dann habe aber auch er seinen Teil herauszugeben. Er gab mir keine Antwort und forderte mich auf, mit zu ihm zu kommen, weil wir hier auf der Wiese doch nicht teilen könnten. Im Gasthofe schlief schon alles. Wir waren ganz allein. Als ich ihm seine Hälfte vorzählen wollte, bat er mich um die sämtlichen Stücke. Sie seien noch wie ganz neu, und er liebe neues Geld. Er wolle mir anderes dafür geben. Ich war bereit dazu, und er ging, das andere zu holen. Als ich nun so allein dasaß, kam mir ein Gedanke. Ich traue dem Musterwirt nicht. Ich will den Haken entdecken, den es mit diesem Gelde hat. Da darf ich es nicht ganz von mir geben. Ich muß wenigstens einen Teil davon behalten, um es aufzuheben. Darum gab ich ihm dann nur für die zwei Hunderttalerscheine Silber; die übrigen fünfzig Taler aber behielt ich für mich. Er wollte das absolut nicht zugeben, doch ich blieb fest. Er bot mir sogar zehn Taler mehr; ich ging aber nicht darauf ein, weil dieses Verhalten mich nur noch stutziger machte. Als er sah, daß er hieran nichts ändern könne, beruhigte er sich, doch mußte ich ihm Verschwiegenheit geloben. Ich sagte ihm, daß ich vor dir niemals ein Geheimnis haben möge, und er gab diese einzige Ausnahme zu. Darauf ging ich ein, denn wenn ich einmal sprechen muß, so kann ich es durch deine Zunge tun und halte doch mein Wort. Hierauf hat er es mir ganz von selbst angeboten, mit ihm um acht Uhr nach der Stadt zu fahren, um beim Gericht den Kauf des Bergle eintragen zu lassen. Schau, da oben kommt er schon mit dem Wagen. Er will mich abholen. Er weiß nicht, daß ich zu dir gegangen bin. Ich muß eilen, daß ich ihm da unten auf der Straße gleich begegne. Darf ich heute abend kommen, um dir zu berichten?«

»Ja. Anton, ich bitte dich, hüte dich vor ihm!«

»Das tue ich schon von selber. Er hat mir, als ich heute nacht von ihm ging, bessere Bezahlung für meine Muster versprochen. Das hat mich noch vorsichtiger gemacht. So oft der Musterwirt Gutes zu tun scheint, hat er Böses im Sinne! Jetzt aber muß ich eilen. Leb' wohl, Marie!« – – –

In den nächsten Tagen kam es zuweilen vor, daß ein dumpfer Knall im Dorfe zu hören war.

»Der Musteranton sprengt sein Damenbergle auseinander,« sagte man.

Fast noch mehr aber interessierte man sich für die Neuigkeit, daß der Musterwirt einen reichen Kompagnon bekommen habe, der Frommhold Uhlig heiße und dem Geschäft einen höheren Schwung verleihen wolle. Sie seien schon seit langer Zeit bekannt; das könne man daraus ersehen, daß der Kompagnon die Tochter des Wirtes heiraten werde. Nun wisse man auf einmal, warum ihr keiner der hiesigen Burschen vornehm und gut genug gewesen sei. Die Vorbereitungen zur Vermählung wurden in größter Oeffentlichkeit getroffen, und als der Tag kam, gab es eine Hochzeit, zu der beinahe das ganze Dorf geladen war.

Man hatte erfahren, daß der Bräutigam sich mit wohl hunderttausend Talern an dem Geschäft beteiligen werde, wenn auch nur nach und nach, weil so ein Unternehmen um so solider sei, je langsamer es wachse. Es war also kein Wunder, daß man ihm überall mit der größten Höflichkeit begegnete. Dennoch wurde er, dem hiesigen Sprachgebrauche gemäß, nur mit seinem Vornamen genannt, und zwar mit der Veränderung, welche der erzgebirgische Dialekt mit sich bringt: Herr Frömmelt, anstatt Frommhold. Auf das ›Herr‹ hatte er auch in den Fällen nicht zu verzichten, daß er später mit diesem oder jenem Brüderschaft machte. Es klingt da oben so gar nicht übel, wenn man jemand sagen hört: »Wie geht es dir, Herr Frömmelt?« oder beim Kartenspiele: »Das mit dem Eichelsolo, das hast du ganz verkehrt gemacht, Herr Frömmelt!«

An seinem Hochzeitstage gab es ein Ereignis, welches ihm fast alle Gäste wohl mehrere Stunden lang entzog. Und wohin? Hinüber nach dem Bergle! Grad als er mit seiner Braut vor dem Altar stand, ertönte ein gewaltiger Krach. Der Musteranton hatte beim Sprengen mehrere Lunten zugleich in Brand gesetzt, und so geschah es, daß die Detonationen zusammentrafen. Man hörte den Schüssen an, daß sie eine große Wirkung hervorgebracht haben mußten. Welcher Art diese Wirkung war, das erfuhr man, als der aus der Kirche zurückkehrende Hochzeitszug am Gasthofe anlangte. Der Anton war zwar auch zum Feste geladen worden, hatte aber verzichtet, zu erscheinen, weil es nicht für nötig gehalten worden war, auch Maria mit einzuladen. Jetzt kam er aber doch, freilich nicht im hochzeitlichen Kleide, sondern im Arbeitsanzuge und bestaubt und beschmutzt vom Kopf bis herab zu den Füßen. Er hatte etwas in der Hand.

»Wo ist der Herr Bergwerkssteiger, der mit geladen ist?« rief er in den festlichen Zug hinein.

»Hier!« antwortete der Beamte.

»Bitte, schauen Sie an, was ich hier habe! Was ist das wohl?«

Der Steiger nahm den Gegenstand, warf einen Blick auf denselben und rief dann aus:

»Alle Wetter! Das ist ja gediegenes Silber! Wo haben Sie das her?«

»Aus meinem Bergle.«

»Wann gefunden?«

»Soeben jetzt. Es ist noch mehr da.«

»Wo ist dieses Bergle?«

»Gleich da drüben am Wasser.«

»Wem gehört es?«

»Mir.«

»Nicht dem Fiskus?«

»Nein.«

»Das ist ein Ereignis! Meine Pflicht ruft mich hinüber. Bitte, führen Sie mich!«

Er verließ den Zug. Andere folgten sogleich. Die Kunde von dem plötzlichen, unerwarteten Funde ging wie ein Lauffeuer durch das Dorf. Am fünften Hause hieß es: »Der Musteranton hat Silber gefunden, eine ganze Stufe!« Am zehnten: »Der Musteranton hat einen ganzen Tragkorb reines Silber gefunden!« Am fünfzehnten: »Der Musteranton hat drei zweispännige Fuhren Silber aus dem Bergle herausgesprengt!« Und so wuchs die Menge des Metalles von Minute zu Minute so an, daß die Bewohner des letzten Hauses hörten: »Das Damenbergle ist ganz aus gediegenem Silber. Es liegt bis tief in den Erdboden hinein. Der Musteranton wird mit einem Schlage der größte Millionär!«

Was Beine zum Laufen hatte, das lief zum Bergle hinaus. Im Gasthof saß für einige Zeit das Hochzeitspaar mit dem Brautvater ganz allein am Tisch. Dann aber ging die Aufregung ebenso schnell wieder zurück. Aus dem ganzen Bergle von Silber wurden die »drei zweispännigen Fuhren«, aus diesen der »ganze Tragkorb voll«, aus ihm die »ganze Stufe«, und als man endlich wieder auf das »Stück gediegenen Silbers« gekommen war, von welchem der Steiger gesprochen hatte, saßen die Hochzeitsgäste alle wieder beisammen und auch der Steiger dazu. Als er aufgefordert wurde, seine Ansicht herauszusagen, warf er diesem Gaste ein A g2 S zu; einem anderen gab er das A g5 S b S4 zu verstehen; ein dritter bekam das A g3 As S3 zu hören, und als er einem vierten gar das (A g2 C u2) S + Sb2 As2 S3 mit 64 bis 72 Prozent Silber über die ganze, lange Speisetafel hinunterrief, da hörte man auf, ihn zu belästigen, und er hatte erreicht, was er erreichen wollte: Er konnte essen und trinken, ohne bei jedem Bissen das silberne Damenbergle mit hinunterschlucken zu müssen.

Und wie hier an der Festtafel, so ging es in der folgenden Woche auch drüben am Wasser, welches so ruhig und still wie vorher rund um das jetzt ganz auseinander gesprengte Bergle floß. Es war eine gelehrte Kommission dagewesen. Hierauf wurden mehrere praktische Bergleute gesandt, die alles auf- und umwühlten. Was gefunden wurde, nahm man mit, und als der Musteranton dann nach der Stadt ging, um sich seine »Millionen« auszahlen zu lassen, bekam er grab und genau fünfhundert Taler auf den Tisch gelegt, die er schmunzelnd einsteckte und quittierte.

»Ich bin sehr froh, daß es nicht mehr geworben ist!« sagte er daheim zu Marie, als er ihr diese Summe brachte, bannt sie von ihr aufbewahrt werbe. »Das Geld hätte mich vielleicht zum Protzen gemacht, der nicht mit seinem Häusle auf dem Bergle zufrieden ist, sondern es grad so verkehrt anfängt wie jetzt der Musterwirt, der nun mit seinem ›Herrn Frömmelt‹ einen Palast errichtet, der gar nicht in die Armut unseres Webertales paßt!«

Das kleine Männle baute nämlich auch. Es war über Antons Silberfund erst außerordentlich erschrocken gewesen. Als aber das geringe Resultat bekannt wurde, beruhigte es sich schnell. Die paar Taler, welche mit dem Bergle verloren gegangen waren, wurden durch die Geschicklichkeit des neuen Kompagnons ja hundertfach ersetzt. Es kam jetzt gar viel Geld ins Haus. Was aber nützt dieses Geld, wenn man nicht zeigen darf, daß man es hat! Es galt also, den Leuten einen Weg vorzutäuschen, auf dem es scheinbar verdient worden war. Das Mustergeschäft wurde erweitert. Herr Frömmelt knüpfte Verbindungen mit dem Auslande an, sogar mit Amerika. Man brauchte also mehr Maschinen zum Schlagen der Karten als bisher, und infolgedessen größere Räumlichkeiten. Dabei verstand es sich ganz von selbst, daß an dieser Erweiterung auch der Gasthof teilzunehmen hatte. Es war ein großer Tanzsaal nötig, damit der arme Weber sich auch einmal ein Vergnügen machen könne. Dazu gehörte unbedingt eine chemische Schnapsfabrik, denn Schnaps ernährt das Blut, gibt also Leben. Auch ein Verkaufshaus für alle möglichen Waren, wo dem mittellosen Arbeiter geborgt wird, was er braucht; nur muß er sich verpflichten, nie anderswo zu kaufen, wenn er die Arbeit behalten will. Sodann hat man den vielen, kleinen, selbständigen Unternehmern zu zeigen, daß man die Macht besitzt, alles in einer Hand zu vereinigen. Es ist unsagbar vorteilhafter für das Volk, wenn einer viel verdient, als wenn viele wenig oder nichts verdienen. Er hat sie dann zu ernähren. Kurz und gut, der Musterwirt war bisher bei diesem Namen genannt worden, weil er neben seiner Schankwirtschaft auch die Musterschlägerei betrieb; von nun an aber wollte er der Volkswirtschaft die Muster liefern, nach denen der arme Mann sich in sein Schicksal zu fügen hat! Darum mußte gebaut werden, groß, breit und hoch!

Die Aufsicht über den Bau übernahm Herr Frömmelt. Sein Schwiegervater konnte das nicht, weil er jetzt sehr oft verreiste. Die neuen Geschäftsverbindungen erforderten das. Daß er bei seiner Heimkehr stets größere Summen mit nach Hause brachte, aber nie in Kassenscheinen, das brauchte niemand zu wissen, obgleich es schon im ganzen Dorfe bekannt geworden war, daß Herr Frömmelt einen unauslöschlichen Haß auf papierenes Geld geworfen hatte. Auch konnte er neue Taler nicht gut leiden.

So wuchs aus dem kleinen Gasthof eine lange, mehrere Stockwerke hohe Straßenfront heraus, welche die Firma ›Etablissement zum Musterwirt‹ bekommen sollte. Die arme Weberbevölkerung wußte gar nicht recht, woran sie eigentlich damit war. Der große ›Ballsaal‹, welcher gebaut wurde, wollte nicht mit ihren geringen Arbeitslöhnen harmonieren. Als dann an den neuen Parterrefenstern die Namen von über zwanzig Schnäpsen in goldenen Buchstaben zu lesen waren, da schüttelte man den Kopf, ging aber doch hinein, um sie zu kosten. Da gab es Tische, welche für das Kartenspiel besonders hergerichtet waren. Das hatte man noch nie gesehen. Später wurde der Verkaufsladen eröffnet. Er bestand aus mehreren Abteilungen. Jedes Fenster hatte nur eine einzige, große Scheibe. Die aus der Stadt verschriebene Bedienung war ungeheuer höflich. Die Erwachsenen wurden nur mit ›Herr‹ und ›Madame‹ angeredet, die Schulmädchen mit ›Fräulein‹. Und was das ganz Besondere war: Man brauchte nicht gleich Geld. Wenn man fünf Groschen zahlte, so bekam man ein Buch, in welches alles eingetragen wurde. Man hatte nur zu unterschreiben, daß man bei keinem anderen kaufen werde, sonst sei der Betrag sofort gerichtlich auszupfänden. Man konnte alles haben, was der Mensch zur Nahrung, Kleidung und zur Wirtschaft brauchte. Daher kam es, daß ein jeder, der nur für einige Pfennige Pfeffer oder Salz in seinem Buche stehen hatte, auch gleich einen Sonntagsrock, ein Federbett, ein Möbel oder gar auch einen Ackerpflug geborgt bekam. Das war doch fein! Die Anerkennung für die beiden Musterwirte wuchs ein ganzes Jahr hindurch fast in das Himmelblaue hinein. Denn sogar den Schnaps, das Bier, den Tanz brauchte man nicht sogleich mit barem Gelde zu bezahlen. Es gab dafür besondere kleine Karten, die man ›Konsumbillets‹ nannte. Als es im nächsten Jahr zu einer Pfändung kam, der bald einige andere folgten, blieb den Betroffenen nichts, als das nackte Leben übrig, aber sie hatten es auch verdient, weil sie während dieser ganzen Zeit mehr im Gasthofe als daheim zu sehen gewesen waren.

Es verstand sich ganz von selbst, daß die menschenfreundliche Geschäftsführung der Musterwirte nicht bloß in ihrem Wohnorte anerkannt wurde. Man kam auch von den anderen Dörfern her, um bei ihnen einzukaufen. Die zwei Herren ›Buchhalter‹ welche

angestellt worden waren, konnten mit vollem Recht erzählen, daß es in der Umgegend Tausende von ›Einkaufsbüchern‹ gebe, deren Besitzer nur von der ›Kulanz‹ ihrer beiden Prinzipale abhängig seien. Man munkelte zuweilen, daß dieser oder jener so tief ›in der Kreide stehe‹, daß er wohl kaum werde bezahlen können. Hörte man dann, daß er seine ganze Schuld mit einem Male berichtigt habe, so pflegte man scherzhaft zu sagen, daß wahrscheinlich das ›Geldmännle‹ bei ihm gewesen sei.

Es kam eine Zeit, in welcher man behauptete, daß es keinen gebe, der nicht in den Schuldbüchern der beiden Musterwirte verzeichnet sei. Dann fügte man aber stets zwei Ausnahmen hinzu, indem man den Herrn Pastor und den Musteranton nannte. Diese beiden standen ganz gewiß nicht darin.

Der Herr Pastor war ein gar eigener Charakter. Er stand sich mit allen Leuten gut, auch mit den beiden Musterwirten, die zu seinen besten Kirchenbesuchern gehörten. Aber als er einmal von Herrn Frömmelt gefragt wurde, ob er nicht auch ein Konto bei ihm haben wolle, antwortete er, jeder Mensch stehe schon bei dem Herrgott so tief im Konto, daß er seine irdischen Sachen unbedingt bar zu bezahlen habe. Das soll sogar ein wenig ironisch geklungen haben, was gar nicht zu verwundern war, weil der Herr Pastor überhaupt eine ironische Ader besaß, aus welcher auch die allerliebste Erzählung von Pluto und Vulkan stammte, denen das ›Musterbergle‹ bei der nachherigen größeren Ausführung so wunderbar in die Breite gelaufen war.

Und was den Anton betrifft, so sagte man von ihm, seine Marie sehe es nicht gern, wenn er mit den beiden Wirten mehr verkehre, als seine Musterzeichnerei für sie unbedingt erfordere. Was er brauchte, das kaufte er, ebenso wie der Herr Pfarrer, in dem einzigen Laden, den es noch gab, weil die anderen alle durch die gewaltige Konkurrenz des ›Etablissements‹ erdrückt worden waren. Der Ertrag des Silbers hatte im Verein mit der stillen Hypothek hingereicht, das geplante Häusle auf- und auszubauen. Es war sogar ein Sümmchen übrig geblieben. Das Gärtle war entstanden, dazu ein Brückle über den Bach. Dann hatten die Schneeglöckchen und Narzissen geblüht, und hierauf war eine stille, aber frohe Hochzeit gehalten worden, mit nur ganz wenigen Gästen, nämlich dem Herrn Pastor und der Witwe samt den Kindern. Die älteste Tochter derselben hatte sich inzwischen verheiratet und kam mit ihrem Manne sehr oft ins kleine Häusle. Sie brachten später ein allerliebstes Büble mit, welches Hermännle hieß, und dessen Hauptvergnügen es war, sich auf die Ziege zu setzen, um zu reiten. Als er das schon beinahe konnte, ohne sich halten zu lassen, machte er einst gar große Augen, als die Marie ihm ein ganz, ganz, ganz kleines Kindle zeigte, welches sie ihr ›Herzle‹ nannte. Es war in ein Bettle gebunden und nur allein für ihn gebracht worden, um seine Gespielin und Gefährtin zu werden. Das freute ihn so, daß er ihr sofort die Ziege schenken wollte, die er ganz gewiß keinem anderen Menschen angeboten hätte. Es wurde ihm aber bedeutet, daß Ziegen keine passenden Geburtstagsgeschenke seien.

Grad an dem Tage, als sich dieses ›Herzle‹ eingestellt hatte, war bei Herrn Frömmelt etwas Aehnliches passiert. Es kam für ihn ein Töchterlein, welches eine gar bedeutende Stimme hören ließ und das große ›Etablissement‹ in Alarm versetzte. Eine Woche später gab es zwei Kindtaufen, eine große und eine kleine. Der Schreihals bekam den Namen Rosalie. Welcher Name dem anderen Kinde gegeben wurde, das ist vollständig nebensächlich. Die Mutter hatte es ihr ›Herzle‹ genannt, und was eine Mutter sagt, das gilt fürs ganze Leben.

Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß der alte, kleine Musterwirt sich dem Anton als Pate für sein Herzle angeboten hatte. Er glaubte, ihm damit eine große Ehre zu erweisen. Der Anton aber hatte das nicht eingesehen, sondern gesagt:

»Wenn du Pate stehen willst, so tue es bei deinem Enkel, der dir doch näher liegt, als mein Herzle. Ehe ich dich mit zum Taufstein nehme, müßte ich erst wissen, was es mit dem Gelde für eine Bewandtnis hat, welches ich damals unter den Steinen gefunden habe. Von Pluto und Vulkan kann das nicht stammen, sonst hätte es der Herr Pfarrer mit erzählt.«

Dieses Geld machte nämlich dem Musteranton noch immer sehr zu schaffen. Er besaß die fünfzig neuen Taler noch. Durch einen davon hatte er ein Loch gemacht, um ihn an sein Uhrband zu hängen, und dabei war ihm dieser Taler so fettig blau, so bleiern vorgekommen. Als er die anderen hierauf durchschaute und auf dem Tische klingen ließ, kamen sie ihm verdächtig vor. Sonderbarerweise fiel ihm sogleich das Geldmännle ein. Konnten Münzen, welche im Jahre 1846 geprägt worden waren, jetzt noch wie neu aussehen, zumal sie im Freien unter einem Steinhaufen gelegen hatten? Warum war der Musterwirt so bemüht gewesen, sie alle in seine Hand zu bekommen? Er war ein kleines hageres Männchen, was ganz genau zu dem Ausdrucke ›Geldmännle‹ paßte. Man sprach jetzt wieder oft von diesem geheimnisvollen Fälscher. Warum betonte der neue Kompagnon so oft und so sehr, daß er neue Taler nicht leiden möge? Warum konnte er Kassenscheine ganz und gar nicht ausstehen? Etwa weil –? Hm!

Auch in Beziehung auf seine Arbeiten, welche er den Musterwirten lieferte, waren dem Anton Bedenken aufgestiegen. Er war nämlich bisher der einzige Musterzeichner gewesen, den der Kleine gehabt hatte. Nun gab es einen Kompagnon mit hunderttausend Talern Einlage. Man hatte das Geschäft erweitert, eine Menge neuer Verbindungen angeknüpft, und hierauf eine Menge von Bestellungen erhalten, wie man sagte. Wie kam es da, daß er noch immer der einzige Zeichner war? Er wußte, daß in kleinen, unbedeutenden Geschäften oft drei, vier oder noch mehr Zeichner sitzen und den ganzen Tag, von früh bis abends, zu tun hatten. Warum war er da allein? Bei dem gestiegenen Bedarf? Und seine ganze Arbeit konnte er in drei Stunden täglich vollauf verrichten! Wie stimmte das zusammen? Es hatte geheißen, daß auch die Musterschlägerei erweitert werde, nun aber schien sie im Gegenteil ganz eingestellt worden zu sein. Die ganze, angebliche Vergrößerung des Geschäftes bestand also höchstens in dem ausgedehnten Versand von Antons Mustern. Das aber konnte doch unmöglich so viel Geld einbringen, wie man den Leuten glauben machte.

Von jedem neuen Webmuster, welches Anton erfand, wurden Platten angefertigt, damit es in der erforderlichen Auflage gedruckt werden könne. Dazu hatte es früher einen besonderen Arbeiter gegeben; der war aber entlassen worden. Herr Frömmelt machte das in eigener Person und ging dabei so außerordentlich geheimnisvoll zu Werke. Es ist zwar erklärlich, daß man beim Drucken neuer Muster keine fremden Menschen, wohl gar Konkurrenten an sich kommen läßt, aber daß selbst ihm, dem Anton, dem Erfinder dieser Zeichnungen, der Eintritt in die Stube verboten war, in welcher die neue Druckmaschine stand, dazu gab es doch keinen haltbaren Grund. Oder wurden vielleicht nicht nur Muster dort gedruckt, sondern auch noch andere Sachen, von denen niemand etwas erfahren durfte?

Dieser letzte Gedanke war dem Anton gekommen, er wußte nicht woher. Und er konnte ihn nicht wieder los werden, obgleich er sich die größte Mühe gab. Er trug ihn mit sich herum und sann über ihn nach Tag und Nacht. Es war ihm, als ob es sich hierbei auch um das Geheimnis mit den neuen Talern handle, und so kam er schließlich zu dem Entschluß, die Druck- und auch die Matrizenstube einmal ganz genau in Augenschein zu nehmen, was aber nur ganz heimlich geschehen konnte. Er behielt diesen Entschluß aber nur für sich und sagte nicht einmal seiner Marie etwas davon. Er hatte ihr schon auch gar nicht die Bedenken mitgeteilt, die ihn in letzter Zeit bewegten, weil er es nicht für nötig hielt, ihr Glück mit quälenden Gedanken zu trüben. Am allerwenigsten grad jetzt in diesen Tagen, wo der Herr und die Dame aus Brüssel so großen Wohlgefallen an ihr und dem kleinen Herzle gefunden hatten.

Es war nämlich vor einigen Tagen ein fremdes Ehepaar in das Dorf gekommen, welches das Erzgebirge bereiste, um die dortige Spitzenklöppelei zu studieren. Der Mann war ein Belgier und besaß ein Versandgeschäft in echten Brüsseler Spitzen. Er hatte erfahren, wie geschickt Marie sei, und hatte sie mit seiner Frau besucht. Diese hatte ihnen verschiedene Arbeiten vorgelegt und dazu eine Menge Muster, welche von Anton für sie gezeichnet worden waren. Dieser hatte nämlich die größte Freude daran, mit ihr vor dem Häusle unter dem Dache zu sitzen und für sie zu zeichnen. Während die junge, glückliche Mutter die Klöppel fleißig klingen ließ und das jetzt vier Jahre alte Herzle sich Mühe gab, der Ziege das Liedchen ›Weißt du, wieviel Sternlein stehen‹, nachsprechen zu lassen, hatte der Vater das Zeichenpapier vor sich liegen und ließ Muster um Muster vor sich entstehen, von denen eines immer schöner als das andere war. Sonderbarerweise gab es aber kein einziges dabei, in dem sich nicht irgendwo und irgendwie ein Herzle befunden hätte. Auf diese Weise hatte er schon Hunderte von Mustern angefertigt, die alle in der Kommode lagen, um nach und nach geklöppelt zu werden. Das gab einen Vorrat, der wohl für ein ganzes Menschenleben ausreichte.

Diese Sammlung hatte Marie dem fremden Herrn gezeigt. Er sah bald sie, bald ihre Spitzen, bald auch die Muster und bald auch das Herzle an, schaute dann am Häusle hinauf und am Gärtle hinab und rief dabei aus:

»Aber liebe Frau, was sind Sie bei all Ihrer Armut doch so reich, ganz ohne es zu wissen! Können Sie schweigen?«

»Ja,« antwortete sie, erstaunt über diese sonderbar klingende Frage.

»Auch Ihr Mann?«

»Der erst recht!«

»Und das Herzle mit der Ziege jedenfalls auch!« lachte er vergnügt. »Darum werde ich Ihnen einen Vorschlag machen, von welchem niemand etwas erfahren darf. Sie arbeiten von jetzt an nur für mich, und zwar nach diesen, Ihren Herzlemustern. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß ich Ihre Spitzen als echte Brüssler verkaufen werde. Darum die Verschwiegenheit, um welche ich Sie bitte. Dafür aber bekommen Sie einen Arbeitslohn, wie ihn so hoch kein Mensch in Sachsen hier bezahlt. Ich werde mit Ihrem Manne alles Nötige feststellen. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?«

Sie war natürlich sofort einverstanden. Das Herzle wurde auch gefragt; es nickte. Die Ziege schüttelte zwar den Kopf dazu, aber das konnte auch von der großen Fliege sein, die sich ihr gerade eben jetzt auf die Nase gesetzt hatte. Es wurde also für Einwilligung genommen.

Die Herrschaften kamen wieder, als der Anton daheim war. Da wurde alles notiert und unterschrieben. Die vorhandenen Spitzen packte man ein, nachdem sie sofort bezahlt worden waren, und zwar so gut, wie Anton und Marie es gar nicht für möglich gehalten hätten. Das Geschäft war abgeschlossen, und die beiden Fremden brauchten also das Bergle eigentlich nicht mehr zu besuchen. Sie kamen aber doch. Warum? Die Bewohner des Häusle hatten es ihnen angetan; das Glück, welches bei diesen wohnte, war ein Magnet, dem man nicht widerstehen konnte. Besonders hatte die Dame es auf das kleine Herzle abgesehen. Am liebsten hätte sie es mit nach Brüssel genommen, an Stelle des einzigen Kindes, welches ihr dort gestorben war. Aber die Eltern gaben es nicht her! Als sie endlich abreisten, taten sie es nicht anders: Marie mußte sich samt dem Herzle zu ihnen in den Wagen setzen, um mitzufahren und in der Bahnhofsstadt noch einen ganzen Tag bei ihnen zu bleiben.

»Diesen Tag müssen Sie uns noch schenken, für Sie zur Erholung und für uns zum besseren Abschiednehmen!« so bat die Dame.

Anton gab seine Erlaubnis gern. Marie war noch nie aus dem Dorfe hinausgekommen; er gönnte seiner Frau die große Ehre, die ihr durch diese Einladung widerfuhr, und so kam es, daß er heute den beiden ihm liebsten Wesen zum ersten Male die Hand zum Abschied reichte. Er tat es lächelnd, denn er wußte ja, daß er sie schon morgen wiedersehen werde.

Als er dann drüben im ›Etablissement‹ in der Zeichenstube saß, an deren Tür das fremde Wort ›Atelier‹ geschrieben stand, kam es ihm vor, als ob der sonst so gefügige Stift ihm heute nicht gehorchen wolle. Er fühlte eine Unruhe, welche er bisher nicht gekannt hatte. Er ging sehr oft hinaus; die Luft im Zimmer wurde ihm zu schwer. So wie heute ihm, muß es jemandem zu Mute sein, der etwas Böses getan hat oder an dem etwas Böses geschehen soll!

Der alte Musterwirt war nicht daheim. Er hatte gestern eine seiner häufigen Reisen angetreten, die manchmal nur einen Tag, oft aber auch noch länger dauerten. Der Kompagnon, Herr Frömmelt, ging soeben aus dem Hause und nach dem Niederdorf. Er hatte den Spazierstock in der Hand, ein Zeichen, daß es sich um einen längeren Ausgang handelte. Anton beschloß, auch zu gehen, und zwar nach Hause. Er brachte hier doch nichts fertig; vielleicht ging es besser, wenn er unter seinem Vordächle im Freien saß und an sein gutes Weible dachte. Er setzte also den Hut auf den Kopf und ging.

Als er unten im Hausflur an der Tür vorüber wollte, an welcher ›Druckerei und Stereotypie‹ zu lesen war, blieb er überrascht stehen, weil er sah, daß der Schlüssel steckte. Das war noch nie der Fall gewesen, denn wenn sich einer der beiden Musterwirte darin befand, hatte er die Tür von innen verschlossen. Jeder von ihnen besaß einen Schlüssel zu diesen beiden Räumen. Nun waren beide nicht da, und Herr Frömmelt hatte vergessen, den Schlüssel abzuziehen. So eine treffliche Gelegenheit, die längstgehegte Wißbegierde zu befriedigen, stellte sich vielleicht im Verlaufe von Jahren nicht wieder ein. Anton beschloß, sie sofort auszunützen. Niemand war da. Kein Mensch sah, daß er hineinging und die Tür hinter sich wieder zuzog. Sie zu verschließen, wie es der Wirt machte, getraute er sich nicht; er hatte kein Recht dazu.

Da stand die Presse. Der Tisch war eingeschoben. Er zog ihn heraus. Fast hätte er vor Schreck laut aufgeschrieen. Die Platten enthielten keine Muster, sondern es waren die korrespondierenden Seiten von Hunderttaler- und Hundertguldenscheinen. Die Tür zur Stereotypie stand offen. Sie war von doppelt starkem Holze und an beiden Seiten mit Eisenblech beschlagen. Dazu hatte sie diesseits einen schweren, doppelten Eisenriegel. Das sah fast wie eine Gefängnistür aus. Anton ging hinaus. Allerlei Flaschen und Gläser standen zu beiden Seiten des Herdes, auf welchem das Feuer ausgegangen war. Aber Holz lag darauf, zum schnellen Anbrennen fertig gemacht. Es gab Stücke von gehackten Bleistangen und Silberplatten. Am Boden lagen zwei Prägstöcke. Er betrachtete den einen. Er war für Talerstücke vom Jahre 1850. Dieser Raum hatte kein einziges Fenster, der Vorsicht halber. Er mußte von einer Lampe erleuchtet werden, welche von der Decke hing. Sie brannte jetzt nicht, doch fiel das nötige Licht von der Druckstube herein.

Es wurde dem Anton himmelangst; er fühlte, daß er wankte. Sein Kopf begann, ihm weh zu tun.

»Hinaus, nur hinaus aus dieser Falschmünzerhöhle!« dachte er. Er drehte sich um, um diesen Gedanken auszuführen. Da ging die vordere Tür auf, und – Herr Frömmelt trat herein. Es war ihm anzusehen, wie mächtig er erschrak.

»Der Musteranton!« rief er aus, aber nicht etwa laut schreiend, sondern grimmig fauchend, wie eine wilde Katze, die angeschossen worden ist. »Es fiel mir unterwegs ein, daß ich den Schlüssel stecken gelassen habe. Wie gut ist das! Da erwische ich dich!«

Er machte die Tür hinter sich zu und hielt dem Anton die geballten Fäuste hin. Seine Augen blitzten. Sein ganzes Gesicht war Haß und Zorn.

»Nein, sondern ich erwische dich!« antwortete der Zeichner. »Ich werde sofort zur Polizei gehen und ihr mitteilen, was ich soeben gesehen habe!«

»Das – – das tust du nicht!« hohnlachte der Wirt.

»Ich tue es, so wahr ich vor dir stehe!«

»Es wäre dein Untergang!«

»Nur der deinige, nicht aber der meinige. Jetzt weiß ich endlich, woher die falschen Taler stammen! Den einen habe ich hier noch an der Uhr; die anderen neunundvierzig liegen daheim in der Kommodenschublade. Weißt doch auch, wo ich sie gefunden habe?«

»Mein Schwiegervater hat es mir erzählt. Ich sollte dich gleich hier auf der Stelle niederschlagen; aber ich tue es nicht, denn ich bin ein guter Christ, kein Mörder. Versprich mir, zu schweigen, so wirst du ein steinreicher Mann!«

»Nicht um tausend Millionen! Ich mache Anzeige; das ist meine Pflicht.«

»Ist das dein letztes Wort?«

»Ja, mein einziges und letztes. Deine Fäuste fürchte ich nicht. Ich habe auch welche!«

Da wurde das Gesicht des Herrn Frömmelt plötzlich ein ganz anderes. Der Grimm verschwand; es sah fast freundlich aus.

»So habe ich nichts dagegen,« sagte er. »Aber du weißt noch nicht alles, und wenn du zur Polizei gehst, mußt du ihr doch alles sagen können. Ich habe für solche Leute, wie du bist, etwas erfunden, wovon sogar mein Schwiegervater noch nichts weiß. Darum gibt es kein Fenster hier. Es ist sehr interessant. Ich werde es dir zeigen, und wenn du es gesehen hast, so wirst du gern und willig mit mir einverstanden sein.«

»Niemals!«

»O doch! Komm her zu mir zum Herd, daß du siehst, wie schnell es geht, dich in meinen Freund zu verwandeln!«

Anton trat näher hin. Ob er hier stand oder dort, das machte ja nichts aus. Der Wirt goß den Inhalt einer halbvollen Flasche auf das Holz des Herdes.

»Das ist Spiritus,« sagte er, »damit es schnell brennt.« Er zündete dann ein Streichholz an und schob es an das Feuchte. Die Flamme loderte sofort hoch auf. Dann holte er eine andere große, zugepfropfte Flasche herbei, warf sie in das Feuer und sagte:

»Sie wird zerspringen, sobald sie heiß geworden ist. Dann bist du mir gewogen. Wo ist deine Frau mit dem Kinde? Sie fuhr mit dem Fremden fort.«

»In der Bahnhofsstadt. Sie kommt erst morgen wieder,« antwortete Anton.

Da tat es einen Knall. Sofort stieg ein dicker Qualm aus dem Feuer.

»Was ist denn das?« fragte er.

»Das wirst du sehr bald merken,« antwortete Herr Frömmelt. »Jetzt, Musteranton, zeige mich an, zeige mich an, bei welcher Polizei du willst! Ich lache euch beide aus, dich und sie!«

Bei diesen Worten sprang er zur Türe hinaus, warf sie zu und schob den Doppelriegel vor. Der so plötzlich Gefangene schlug mit den Fäusten von innen an die Platte. Aber beides, Holz und Eisen, war so stark, daß man es fast gar nicht hörte.

»Den habe ich fest und sicher,« grinste der Wirt, indem er tief aufatmete. »Der sagt kein Wörtchen mehr! In zwei Stunden ist er tot, erstickt in den giftigen Dünsten! Heut' in der Nacht trage ich ihn dann hinaus an das Bergle und werfe ihn in das Wasser. Da denkt man, er sei von der Brücke hineingefallen und ertrunken. Vorher aber nehme ich ihm den falschen Taler von der Uhr und die anderen aus der Schublade. Den Schlüssel hat er jedenfalls einstecken. Wie gut, daß seine Frau heute nicht im Häusle ist! Und wie werden sich meine Frau und mein Schwiegervater darüber freuen, daß ich mir das Dunstwerk doch noch angeschafft habe, ganz hinter ihrem Rücken. Sie wollten gar nichts davon wissen!«

Nun schob er den herausgezogenen Pressentisch wieder hinein. Dabei sagte er:

»Vor zwei, drei Stunden darf ich die Tür zum Anton nicht berühren. Wenn ich es täte, so käme der Rauch herein, und ich würde selbst sogleich umgeworfen werden. Ich setze also den Spaziergang fort, von dem die Angst um den vergessenen Schlüssel mich heimgetrieben hat. Die Polizei! Lächerlich! Da, wo der Anton jetzt eben hingeht, gibt es sicher keine!«

Er schloß die vordere Tür zu, steckte den Schlüssel ein und ging zum zweiten Male nach dem Niederdorfe hinunter, mit größter Höflichkeit begrüßt von allen, welche ihm begegneten. Er dankte mit dem freundlichen, leutseligen Lächeln, welches er für alle Menschen hatte.

In der Gaststube hatte seine Frau am Fenster gestanden und ihm nachgesehen. Am anderen Fenster saß die Schenkmamsell, die gerade nichts zu tun hatte, weil keine Gäste da waren.

»Der junge Herr ging fort,« sagte sie. »Da oben kommt der alte!«

Sie hatte recht gesehen. Der kleine Wirt kehrte heim, kaum fünf Minuten später, nachdem sein Schwiegersohn gegangen war. Er sah seine Tochter am Fenster stehen und winkte ihr zu, herauszukommen. Im Flur trafen sie zusammen.

»Dieses Mal ist es sehr gut gegangen,« raunte er ihr zu. »Ich bringe fast lauter Goldstücke. Komm mit herein in die Druckerei!«

Er zog seinen Schlüssel aus der Tasche, schloß auf, trat mit ihr ein, schloß von innen zu und zog den Schlüssel wieder ab. Daß hierauf Stunden vergingen, ohne daß die beiden in die Stube zurückkehrten, fiel der Schenkmamsell nicht auf. Sie war dergleichen Absonderlichkeiten gewohnt. Als es dämmerte, stellte sich Herr Frömmelt wieder ein. Er fragte nach seiner Frau, die er nicht sah, und erfuhr, daß sie hinaus zum Vater gegangen sei, als dieser vor drei Stunden von seiner Reise kam. Da griff er, sichtbar erschrocken, zum nächsten Lichte und eilte hinaus. Sein Schreck war so groß, daß er dabei die Gaststubentür ganz offen stehen ließ. Die Mamsell folgte ihm bis zu derselben hin. Sie sah, daß er die Tür zur Druckerei aufschloß. In dieser wurde es von seinem Lichte spärlich hell. Die jenseitige Tür zur Stereotypie war geöffnet worden. Ein scharfer, stechender Geruch drang in den Flur hinaus. Herr Frömmelt schrie:

»Er hat sie nachgeholt; er hat sie nachgeholt!«

Dann fiel das Licht aus seiner Hand; es wurde da drüben dunkel. Das Mädchen konnte diesen Ausruf nicht begreifen. Sie wäre Herrn Frömmelt vielleicht gefolgt, aber sie wußte, daß man nicht hinüber durfte, und soeben schloß er hinter sich zu. – – –

*

III.

Nun war es volle zwanzig Jahre später. Heute jährte sich der Tag, an welchem Herr Frömmelt damals seine Frau und ihren Vater so auf einmal und plötzlich verloren hatte. Darum ging er mit Fräulein Rosalia, welche einen großen Blumenstrauß trug, zum Gottesacker, um die lieben Toten zu besuchen. Diese lagen nebeneinander. Ein gemeinsames Denkmal berichtete über sie. Unter ihren Geburts- und Todestagen stand zu lesen: ›Vereint geschieden, ruh'n sie in Frieden, um dort im Paradiesesgarten, des Lebens Früchte zu erwarten. Die trauernden Hinterlassenen.‹

Als Vater und Tochter vor dem Doppelgrabe standen, sagte der erstere in tief bewegtem Ton:

»Ich mache mir noch heute Vorwürfe darüber, daß ich, streng genommen, auch mit schuld an ihrem Tode bin. Ich hatte ein großes Faß voll Most kommen lassen, um den armen Webern ein Mostfest zu bereiten. Das Faß war nicht dicht, es lief aus. Dadurch füllte sich der kleine Keller im alten Hause mit tödlichen Gasen, an denen sie starben, als sie so unvorsichtig waren, miteinander hinunterzugehen, um den Most zu holen. So kann die Wohltat, welche für andere bestimmt ist, zum eigenen Verderben werden!«

»Und nicht wahr, es war derselbe Tag, an welchem der Musteranton sich ersäufte?« fragte die Tochter.

»Ja, das böse Gewissen trieb ihn in das Wasser. Ich war spazieren gegangen und wußte also nicht, wie das Unglück sich ereignet hatte. Er hatte deine arme Mutter um einige Flaschen Most für seine Frau angebettelt. Da stieg sie mit dem Vater hinab, um ihn aus dem Faß zu schöpfen, worin aber keiner mehr war. Der giftige Dunst warf beide gleich an den Stufen hin, wo ich sie fand. Am Abend lauerte mich der Anton heimlich ab. Er hatte gehört, was geschehen war, und gestand mir, daß er mit seiner Leckerei sie in den Tod getrieben habe. Er möge es gar nicht überleben, daß er ein Mörder sei. Als am anderen Tage seine Frau von der vornehmen Wagenfahrt heimkehrte, sah sie ihn beim Brückle tot im Wasser liegen. Er hatte dich um die Mutter und um den Großvater gebracht. Aber seiner Frau und seiner Tochter wollen wir das nicht nachtragen, weil wir Christen sind und daran zu denken haben, daß auch wir einst sterben müssen!«

Als sie ihre Blumenspende vor dem Denkmal niedergelegt hatten und eine Wanderung über den Kirchhof machten, sahen sie, daß der Totengräber beschäftigt war, ein neues Grab zu graben. Sie gingen hin.

»Wer kommt denn da hinein?« fragte der Musterwirt.

»Der Neubertbauer, der sich bei dir erstochen hat,« lautete die Antwort. »Er liegt drüben in der Leichenhalle und muß nach dem Gesetze in der Gemeinde begraben werden, in welcher er gestorben ist. Denn er ist so verarmt, daß seine Tochter kein Geld hat, ihn hinüber in sein Dorf schaffen zu lassen.«

»Und da kommt er in Reih' und Glied mit ehrlichen Menschen, die keine Selbstmörder sind?« fuhr Herr Frömmelt auf.

»Ja. Der Herr Pastor hat das so befohlen. Und das Kirchengeläut' bekommt er auch.«

»Das fehlte noch! Für solche Verbrecher haben wir die Glocken nicht bezahlt. Ich bin Mitglied des Kirchen- und Schulvorstandes und werde sofort hinüber zum Pfarrer gehen, um ihn zur Rede zu stellen! Komm, Rosalia!«

Sie ging bis zum Pfarrhause mit, welches an den Gottesacker grenzte. Dort wartete sie. Der Vater ging hinein. Der Pfarrer war daheim. Er hörte ruhig an, was der Musterwirt vorbrachte. Dann legte er ihm die Hand auf die Schulter und sagte:

»Herr Frommhold Uhlig, Sie werden meine Antwort nicht hier hören, sondern an dem Orte, an dem es sich geziemt. Wenn Sie dann noch wünschen, daß der Verstorbene ohne Geläute und ohne Segen hinter in die letzte Ecke begraben werden soll, dann mag es geschehen. Kommen Sie mit mir!«

»Wohin?«

»Das werden Sie sehen!«

Er führte ihn zur Leichenhalle und trat dort mit ihm ein. Fräulein Rosalia ging hinterher und blieb dann draußen stehen. Sie hörte die laute, mahnende Stimme des Geistlichen, verstand aber die Worte nicht. Zuweilen sprach auch ihr Vater, aber nur kurz und unterdrückt. Das dauerte wohl eine halbe Stunde lang. Dann kam der Vater allein heraus. Der Pfarrer war drin geblieben, um zu beten. Fräulein Rosalia erschrak. Der Musterwirt war ganz verstört. Er schien sie gar nicht zu sehen.

»Hast du den Neubertbauer liegen sehen?« fragte sie.

»Ja, und er mich auch!« antwortete er. »Er hat die Augen offen! Diese Augen, diese Augen! Er hat nur immer mich, mich, mich angesehen! Den Pastor nicht! Was will er von mir? Ich habe ihm alles versprochen und erlaubt. Ich gehe sogar mit zu Grabe. Dann macht er mir vielleicht wieder andere Augen. O, diese Augen, Augen, Augen! Die sind wie die Bohrer, wie die Bohrer! Ich fühle, wie sie wühlen, wühlen, wühlen, immer tiefer, immer tiefer! Ich ergreife die Flucht, die Flucht, die Flucht!«

Er rannte fort. Sie vermochte nicht, ihn aufzuhalten. Niemand hatte jemals gesehen, daß Herr Frömmelt solche Schritte machen konnte. Dabei sah er sich von Zeit zu Zeit um, als ob er jemand hinter sich herrennen höre. Als er nach Hause kam, lange noch vor seiner Tochter, eilte er nach seiner Stube, riß einen Kasten auf, nahm das Messer heraus, mit welchem der Neubertbauer sich erstochen hatte, schüttelte sich wie tief in sich hinein und sagte:

»Du, dich muß ich vergraben! Du mußt weg! Sonst kannst du mir gefährlich werden. Das weiß ich jetzt; ich fühle es!«

Er ging in den Busch hinaus, der ihm gehörte. Da hatte er eine Klafter Holz schlagen und einpfählen lassen. Er steckte das Messer unter die Scheite und kehrte dann zurück, einstweilen beruhigt. Aber er hatte das Dorf noch nicht wieder erreicht, so sah er den Erstochenen schon wieder vor sich liegen.

»Diese Augen, diese Augen!« klagte er wieder. »Wie gut, daß er morgen unter die Erde kommt! Ich darf ihn nicht mehr zu sehen bekommen, sonst fängt er wohl gar noch mit mir zu reden an! Und dann müßte ich alles tun, was er will, alles, alles, alles! Das fühle ich! Ich weiß noch jedes Wort, jedes, was er gesprochen hat, ehe er zum Messer griff. Und als er es sich in das Herz gestoßen hatte, was sagte er da? ›Musterwirt, so stirbst auch du – – genau – mit diesem Messer – – –!‹ Brrrrrr! Es schüttelt mich!«

»Wer? Wer schüttelt mich?« fragte er, indem er stehen blieb und sich ängstlich umschaute. »Ist er etwa da? Nein! Aber er kann kommen, denn der Pastor sagte: »Die Toten stehen auf und rächen sich!« Die Toten – –! O, Musteranton! Bist du tot? Wirklich, wirklich? Brrrrrr! Ich muß machen, daß ich zu Leuten komme. Die müssen mich zusammenhalten, daß ich nicht aus mir herausfahre! Denn mir ist, als wolle jemand in mich hinein, der nicht hineingehört, wenn ich der bleiben soll, der ich bin!«

Er schüttelte sich abermals, dann förderte er den übrigen Weg, um so schnell wie möglich heimzukommen. Da traf er mit dem Herrn Lehrer zusammen, der bei seiner Tochter stand und, wie es schien, von ihr ausgescholten wurde.

»Denke dir,« sagte sie, »er ist gestern am ganzen Nachmittage drüben bei dem Herzle gewesen! Hier war er nicht, und ich habe ihn auch nicht hinübergehen sehen; aber jetzt hat er es mir eingestanden. Nun soll er mit mir nach der Stadt fahren, wohin ich wegen des seidenen Kleides muß, und das will er nicht. Er sagt, er habe keine Zeit dazu, aber zum Kaffeetrinken beim Herzle hat er Zeit!«

»Kommen Sie mit herauf in meine Stube, Herr Lehrer!« sagte der Wirt.

Ueber Bernsteins Gesicht ging ein stilles Lächeln. Er folgte ihm.

»Jetzt wird er von dem Vater abgekanzelt, und dann, dann habe ich ihn fest,« dachte Fräulein Rosalia, indem sie nach dem Gastzimmer ging. »Mein Mann muß er werden, unbedingt! Aber das Herrschen und das Befehlen, das bekommt er nicht. Das werde ich behalten!«

In der Stube des Musterwirtes angekommen, setzte sich dieser an den Tisch, zog den Kasten heraus und griff nach einem Buche, welches drin lag. Der Lehrer aber trat sofort an das offene Fenster und schaute in einer Weise zu demselben hinaus, als ob ihn Herr Frömmelt gar nichts angehe.

»Herr Lehrer, Sie wissen wohl, wovon ich mit Ihnen reden will?« fragte der Wirt, indem er zu dem Buche ein Päckchen legte, welches aus zusammengebundenen Postquittungen bestand.

»Nein,« antwortete der Gefragte kurz.

»Von meiner Tochter.«

»So! Ich dachte, eher von der Ausstellung. Mir aber gleich. Sie ist ja auch eine.«

»Was?«

»Eine Ausstellung, also für die Oeffentlichkeit. Für das leise, stille, in sich abgeschlossene Glück der Ehe ist sie nicht erzogen worden. Hierzu taugt sie nichts!«

Da sprang der Vater auf.

»Wozu sagen Sie mir das?« rief er aus.

»Um Ihnen anzudeuten, daß ich für gewisse Pläne nicht zu haben bin. Ich kenne sie, weil sie mir nur allzuoft nahe gelegt worden sind. Aber ich sage Ihnen in aller Freimütigkeit: Ich lasse mich nicht zwingen, mit Ihrer Tochter in die Stadt zu fahren, und noch viel weniger werde ich mich dazu pressen lassen, mit ihr durch das Leben zu kutschieren.«

»Herr Lehrer, ich bin fast Millionär!«

»Das ist nichts, gar nichts!«

»Aber was sind denn Sie? Sie sind mein Geschöpf!«

»Ihr – – Geschöpf?« fragte Bernstein staunend, indem er näher trat und den Wirt mit eisigem Blicke scharf in das Auge nahm.

»Ja, mein Geschöpf! Das hätte ich niemals gesagt, auch jetzt nicht. Aber Sie weisen mir soeben meine Tochter zurück, ohne daß ich sie Ihnen schon angeboten habe. Wie kommen Sie dazu? Und wie kommen Sie so plötzlich zu dem Tone, in welchem es geschehen ist?«

»Infolge der oft wiederholten Andeutungen aus Ihrem eigenen Munde. Und besonders infolge der Szene, welche Fräulein Rosalia mir jetzt, bevor Sie kamen, gemacht hat, weil ich gestern auf dem Bergle gewesen bin. Sie legte mir die Heirat mit ihr förmlich vor die Füße. Das widert einen ja an! Das ist unweiblich und abstoßend im höchsten Grade! Dabei behauptete sie, daß ich zu gehorchen habe! Das andere, was sie sagte, will ich verschweigen. Aber es war nun meine Pflicht, Ihnen, dem Vater, sofort und deutlich zu sagen, daß Sie sich auf mich als Schwiegersohn keine Rechnung machen dürfen, nicht die mindeste!«

Da schaute der Musterwirt ihn an, lange, lange Zeit, erst mit festen, dann mit immer unbestimmteren Blicken, zuletzt wie ganz abwesend.

»Wissen Sie noch, wie Ihre Tochter von ihrem eigenen Vater geschildert worden ist?« fuhr der Lehrer fort. »Es war zwar eine andere gemeint, aber es stimmte ganz genau: ›Nun schaut die mal an, wie sie dahergeht! Wie eine Fürstin tritt sie auf, und nichts ist ihr gut und teuer genug gewesen! Ein solches Gehabe muß den Neuberthof herunterbringen!‹«

Da trat der Wirt zurück und griff sich mit den beiden Händen nach dem Kopfe.

»Der Neuberthof, der Neuberthof,« hauchte er. »Der wieder und immer wieder! Die Toten stehen auf und rächen sich, hat der Pastor gesagt! Habe ich denn ein Loch im Kopfe, wo alles hinein kann, was Neubert heißt? Gut, daß er tot ist!«

»Aber noch nicht begraben,« bemerkte Bernstein unwillkürlich.

»Wie?« fragte der Wirt schnell. »Meinen Sie daß er noch nicht fort ist? Etwa hier, hier, hier? Ich sehe seine Augen! Aber ich gehe morgen mit zu Grabe, da schaue ich zu, bis er hinunter ist und die Erde ganz, ganz darauf!«

Er sah sich in der Stube um, so ängstlich, als ob er sich fürchte. Dann goß er sich aus einer auf dem Tische stehenden Schnapsflasche ein großes Glas voll und leerte es auf einen Zug. Das schien zu helfen. Sein Auge wurde wieder klar, seine Haltung selbstbewußt. Auch seine Stimme hatte wieder den alten, stolzen Klang, als er nun sprach:

»Sie sind Lehrer, Herr Bernstein. Wie ist es gekommen, daß Sie das werden konnten?«

»Das weiß doch jedermann im Dorfe. Mein Vater war ein armer Weber, meine Mutter die älteste Tochter einer armen Witwe, bei welcher die Mutter des Herzle als Ziehkind aufgenommen worden war, wofür sie acht gute Groschen wöchentlich erhielt. Meine Mutter war mit dabei, als der Musteranton seine letzte Dame zog und dabei das Bergle gewann. Ich kam in die Schule, und die Lehrer waren mit mir zufrieden. Sie sagten, daß ich ein begabter Junge sei; sie und der Herr Pfarrer gaben mir Privatstunden, ohne Bezahlung dafür zu fordern. Sie sagten, daß ich wenigstens Lehrer werden müsse; für etwas Höheres reiche der Weberlohn nicht aus. Die Eltern stimmten ein, obgleich sie wußten, daß sie Tag und Nacht arbeiten und dabei hungern müßten, um zusammenzubringen, was auf dem Seminar für mich nötig war. Ich bestand das Aufnahmeexamen. Da starb die Mutter. Im nächsten Jahre folgte ihr der Vater nach, weil er sich bei karger Nahrung überarbeitet hatte. Nun war es sicher, daß ich das Seminar wieder verlassen und Weber werden mußte. Mir graute. Der Herr Direktor gab sich zwar Mühe, eine Unterstützung für mich zu erwirken, doch vergeblich. Da plötzlich kam der Postbote zu ihm und brachte Geld. Auf dem Briefe stand geschrieben, ›Monatsbeitrag für den Seminaristen Hermann Bernstein‹. Ich blieb also. Das Geld kam regelmäßig. Es ist nicht ein einziges Mal ausgeblieben, bis ich meine erste Lehrerstelle bekam. Aber den Absender habe ich trotz aller Mühe niemals entdecken können.«

»So sehen Sie hier dieses Päckchen an!« sagte der Wirt, indem er es ihm gab.

Der Lehrer nahm es in die Hand, öffnete es und schaute nach.

»Die Postquittungen für die Geldbriefe, welche der Direktor für mich erhalten hat,« rief er aus.

Seine Stimme klang gar nicht froh. Er legte das Paket auf den Tisch, ging an das offene Fenster und schaute hinaus.

»Nun?« fragte der Wirt. »Wo bleibt die Dankbarkeit?«

»Die Dankbarkeit?« antwortete Bernstein, indem er sich nach ihm umdrehte. »Sie haben sich vorhin ›fast Millionär‹ genannt. Was waren da für Sie die wenigen hundert Taler, welche ich Ihnen noch in diesem Jahre mit Zinsen zurückbezahlen werde! Sie haben mich Ihr ›Geschöpf‹ genannt. Mein Gläubiger sind Sie höchstens, mein Schöpfer aber nicht! Meinem Schöpfer habe ich zu danken, meinem Gläubiger aber nicht, denn er will mehr von mir, als er mir jemals gegeben hat und geben konnte!«

»Gut, also Gläubiger! Sie können mich sofort bezahlen, sofort, mitsamt den Zinsen.«

»Wieso?«

»Sie haben hier dieses kleine Buch geschrieben: ›Die Notlage der Handweberei im Erzgebirge. Eine volkswirtschaftliche Studie.‹ Der Verfasser ist nicht genannt, aber ich weiß, daß Sie es sind. Der Ertrag des Buches soll Ihnen bleiben für alle Zeit. Aber wenn Sie damit einverstanden sind, daß mein Name als der des Verfassers auf den Titel kommt, so quittiere ich Ihnen augenblicklich Ihre ganze Schuld.«

»Wie schlau, verehrtester Herr Frömmelt – – wie so schlau!« lächelte der Lehrer. »Sie wollen da mit meinem Kalbe ackern und meine Saat in Ihre Furchen legen! Sie wissen, daß unsere Ausstellung das erste, praktische Ergebnis dieses meines Buches ist. Sie wissen ebenso, welchen Eindruck gerade dieses Buch im Ministerium gemacht hat. Man soll Sie für die eigentliche Seele der Ausstellung halten, während Sie sich doch nur für sie interessieren, weil sie die Lage der Weber verbessern und infolgedessen die Seiten Ihrer Schuldbücher vermehren soll. Dies ist nämlich Ihre Absicht, Ihre einzige! Sie sind ein materieller, höchst materieller Herr, so materiell, daß Sie von Geist fast keine Spur besitzen. Und doch möchten Sie auch gern für eine Intelligenz gehalten werden, ja, wohl für die bedeutendste, die es hier in der Gegend gibt. Sie wollen mit dieser Intelligenz während unserer Ausstellung prunken, und damit dies geschehen könne, schlagen Sie mir den Schwindel vor, zu dem ich Ihnen die Hand bieten soll. Sie haben sich verrechnet. Die Dankbarkeit, welche Sie von mir erwarten, ist die Dankbarkeit der Halunken. Ich aber bin ein ehrlicher Mann und mache folglich nicht mit!«

Der Wirt sah ihn an, als ob er gar nicht glauben könne, was er hörte.

»Das – das ist Ihr Ernst – Ihr wirklicher Ernst?« fragte er, indem er beinahe stotterte. »Sie weisen also dieses Uebereinkommen ab und dazu auch die Hand meiner Tochter?«

»Ja.«

»Und meine Rache fürchten Sie nicht? Und was wird aus Ihrer Schuld?«

»Hätte ich von ihr gewußt, so wäre sie längst bezahlt. Ich habe aber noch ein zweites Buch geschrieben, dessen Titel lautet: ›Die Arbeiterarmut und das unlautere Kapital‹. Nächstens wird mir das Honorar ausgezahlt, und davon bringe ich Ihnen so viel, wie Sie zu bekommen haben. Als ehrlicher Mann sage ich Ihnen, daß dieses Buch besonders gegen Sie und Ihr Geschäftsgebaren gerichtet ist, und es wäre mir also schon aus diesem Grunde unmöglich, Ihr Schwiegersohn zu werden.«

»Also haben Sie gar die Absicht, öffentlich gegen mich aufzutreten?«

»Ja.«

Da kam der Wirt mit geballten Fäusten auf ihn zu, blieb vor ihm stehen und schrie ihn an:

»Mensch, so vernichte ich dich!«

»Vernichten? Pah!« antwortete der Lehrer. »Sie wären mir der Kerl, der mir gefährlich werden könnte! Ich bin ein Kind des Hungers und der Not; darum schreibe ich für mein liebes, armes Volk, für den hungernden Arbeiter! Ich bin es, der unsere Ausstellung in das Werk gesetzt hat, um ihm den Weg zu zeigen, auf welchem es sich helfen kann, durch eigene Kraft, durch eigenes Verdienst. Sie aber sind der Schröpfkopf, der ihm auf dem Rücken sitzt, der Vampyr, der an seinem Blute saugt, der Egel, der an jeder seiner Adern hängt! Sie sind auf meinen Ausstellungsplan sofort gern eingegangen, weil Sie meinten, daß er Ihren dunklen Zwecken dienlich sei. Man wird aber mehr zu sehen bekommen, als Sie denken. Ich stelle nämlich auch aus.«

»Was?« fragte der Wirt.

»Den Herrn Vorsitzenden unseres Komitees mit seinem Etablissement. Es ist an der Zeit, daß man die ›Musterwirtschaft‹ derer kennen lerne, welche glauben, die Kirchenglocken und des Pfarrers Segen seien nur für Leute da, die in dem Hauptbuche irgend eines ›Herrn Frömmelt‹ stehen! Wenn so ein Frömmelt glaubt, mit mir anbinden und mich vernichten zu können, weil ich nur ein armer Lehrer bin, so wollen wir abwarten, wie er einst hinausgetragen wird ins Leichenhaus! Sie haben mir Ihre Verwandtschaft angeboten; ich aber mag sie nicht, weil mir vor dem jetzigen Besitzer des Neuberthofes graut. Der erstochene Bauer geht dort um!«

Da fuhr der Wirt blitzschnell um mehrere Schritte zurück, duckte sich zusammen, spreizte alle zehn Finger abwehrend von sich und fragte:

»Hat man ihn gesehen, schon, schon, schon? Was hat er gesagt von mir, von mir, von mir?«

Bernstein sah ihn betroffen an. Dann schüttelte er den Kopf und sagte:

»Musterwirt, warum erschrecken Sie bei diesen meinen Worten? Warum dieses Entsetzen? Warum kommt mir gerade jetzt das Sprichwort in den Sinn: ›Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber schrecklich klein!‹«

»Mahlen, mahlen, mahlen!« Er griff sich wieder mit den Händen nach den Kopf. »Sind das die Mühlsteine, die da aufeinander reiben? Das knirscht, das knirscht! Das beutelt bis hinunter! Herr Lehrer, ich bin Ihr Freund, Ihr lieber, guter Freund. Sie greifen nach dem Hut. Gehen Sie nicht fort, nicht jetzt, nicht jetzt! Bleiben Sie bei mir! Trinken Sie einen Schnaps mit mir! Es ist Kognak, echter, alter Kognak, ganz eigenes und bestes Fabrikat!«

Er griff nach der Flasche, um das Glas zu füllen.

»Mir graut vor Ihnen. Ich habe es Ihnen bereits gesagt. Rufen Sie den Neubertbauer! Sie haben ihn ja um den Hof geschnapst!«

Er setzte den Hut auf und ging. Ehe er die Tür zumachte, hörte er es hinter sich stöhnen:

»Um den Hof geschnapst! Der kommt vielleicht – –!«

Als er hinunterkam, stand der leichte Schnellwagen des Musterwirtes vor der Tür. Der Kutscher mit den blanken Rockknöpfen saß wartend auf dem Bocke, hinter ihm Fräulein Rosalia.

»Nun, fertig, abgemacht?« fragte sie den Lehrer mit ihrem freundlichsten Lächeln.

»Ja, abgemacht,« antwortete er.

»So steigen Sie ein! Wir kaufen gleich das Tuch zum Hochzeitsfrack.«

»Damit hat es gar keine Eile. Zum Frack fehlt mir die Braut.«

Er zog den Hut, grüßte und ging. Sie saß wie starr. Dann aber richtete sie sich auf, stieß ein schmetterndes Lachen aus und schrie den Kutscher an:

»Auf wen wartest du denn, Esel! Bist wohl hier angewachsen? Mach', daß du von der Stelle kommst!«

Da knallte er los; die Pferde zogen an, und Fräulein Rosalia, die ›oberste der Festjungfrauen‹, fuhr nach der Stadt – – des weißen, seidenen Kleides wegen! – –

Am nächsten Tage wurde der Neubertbauer begraben. Seine Tochter war gekommen und nach dem Pfarrhofe gegangen, um dort bis zur bestimmten Stunde Schutz zu suchen. Da kam noch eine andere, nämlich das Herzle. Sie reichte erst dem Herrn Pastor, dann der Frau Pfarrerin die Hand und hierauf der Tochter des Verstorbenen.

»Ich sah dich drüben vom Berg herunterkommen, ganz allein,« sagte sie. »Hast schon eine Freundin, die bei dir ist in dieser schweren Stunde?«

»Nein, keinen Menschen,« war die weinende Antwort. »Ich habe mich hier versteckt und will erst zum Grabe gehen, wenn alle Leute dann fortgegangen sind.«

»Verstecken willst du dich vor deinem Vater? Weißt du, ob er nicht vielleicht auf dich wartet? Was gehen dich die anderen Leute an? Als ich sah, daß du allein warst, da habe ich sogleich das dunkle Kleid geholt und Rosen abgepflückt! Dann kam ich her zu dir, um dir die Hand zu geben, damit du jemand habest, der, wenn die Glocken zu läuten beginnen, mit dir zum Vater geht. Wirst es mir erlauben?«

Da schlang die andere ihre Arme um das Herzle, zog es an sich und antwortete, indem sie laut aufweinte:

»Du bist das Herzle, immer, stets das Herzle! Ich war ein stolzes, hochmütiges Bauernkind; nun aber bin ich arm, viel ärmer noch als du. Das Messer, weißt, das Messer, das hat nicht bloß den Vater getroffen, sondern auch mich, tief, tief in die Seele hinein. Darum hast du recht: Ich gehöre hin zu ihm, und du, du sollst mich führen.«

»Ja, ich führe dich und gebe dir meine Rosen; die sollst du ihm noch schenken.«

Da legte der Pfarrer seine Hände auf ihre beiden Köpfe und sprach:

»Mir ist, als ob der Abgeschiedene mich bäte, dir, seinem Kinde, seinen Segen zu erteilen, und dir, mein gutes Herzle, seinen Dank. Hört! Die Glocken klingen schon. Ihr geht mit mir hinaus. Denn jeder, der im Leide des Lebens steht, der steht in Gottes Hand und in seines Priesters Schutz!«

Als sie aus dem Pfarrhause traten, sahen sie, daß sich fast der ganze Kirchhof mit Menschen gefüllt hatte. Es gab viele, viele da, welche gegen ein solches ›ehrliches‹ Begräbnis des Selbstmörders gewesen waren, nun aber der greise, im wahren Sinne christlich denkende Pfarrer es durchgesetzt hatte, daß seine Gemeinde ebenso zu vergeben habe, wie sie von Gott Vergebung erwarte, war man gekommen, um zu zeigen, daß die Tat verziehen sei. Der Tote hatte ja nur sich selbst gerichtet.

Er lag im offenen Sarge über seinem offenen Grabe. Das war so Sitte hier im Dorfe. Die ganze aufgeworfene Erde wurde rund um die tiefe Grube aufgehäuft. Hierüber kamen zwei Querhölzer, auf welche der Sarg lang gesetzt wurde. Der Deckel lag daneben. Die Adjuvanten und Kurrendaner sangen ein Lied. Hierauf hielt der Pfarrer über der unverhüllten Leiche seine Rede, worauf der Sarg geschlossen und hinabgelassen wurde, nachdem die Querhölzer entfernt worden waren. Und erst dann, wenn er unten lag, gab der Geistliche seinen Segen. Von einem Zunageln, Zuschrauben oder einer sonstigen Befestigung des Deckels pflegte keine Rede zu sein. Die Leisten schlossen auch ohne dies eng aneinander. Und die Schwere der nachgeschaufelten Erde machte jeden anderen Verschluß überflüssig.

Zufälligerweise gab es morgen wieder ein Begräbnis. Das Grab war schon fertig. Es lag neben dem des Neubertbauers. Darum konnte die versammelte Menge von dieser Seite nicht ganz an das letztere herantreten. So standen in der unmittelbaren Nähe des Sarges also nur die dazu Berechtigten oder Verpflichteten. Das waren die Tochter mit dem Herzle, der Pfarrer, der Totengräber, die Träger des Sarges und die Mitglieder der Ortsbehörde, welche in diesem Falle offiziell anwesend zu sein hatten; zu ihnen gehörte auch der Musterwirt, weil er sich in den Kirchenvorstand hatte wählen lassen. Er hätte heute auf seine Obliegenheiten freilich mehr als gern verzichtet; aber der Geistliche hatte ihm gestern derart in das Gewissen gesprochen, daß es ihm geradezu unmöglich gewesen war, daheim zu bleiben.

Er stand am Fußende des Grabes und schaute unausgesetzt in dieses hinab. Es war ihm durchaus unmöglich, die offen daliegende Leiche oder gar deren Gesicht anzusehen. Der Tote hatte die Augen noch immer offen, denn niemand war auf den Gedanken gekommen, ihm vor der eingetretenen Leichenstarre die Lider zuzudrücken.

Das Lied wurde gesungen. Hierauf folgte die Begräbnisrede. Der Pfarrer verstand es, zum Herzen zu sprechen. Die Tochter des Verstorbenen schien sich in Tränen auflösen zu wollen; das Herzle weinte still, doch unausgesetzt vor sich hin, wobei sie die arme, neue Freundin fest an der Hand hielt. Wer von den übrigen nicht weinte, der war doch tief ergriffen. Der Musterwirt starrte immer in die Grube nieder; aber daß er hörte, was der Prediger sprach, das sah man ihm an. Er griff sich mit den Händen bald an das Herz, bald an die Kehle, als ob sie ausgetrocknet sei. Zuweilen holte er wie konvulsivisch Atem. Von Zeit zu Zeit nahm er den Hut vom Kopfe und wischte sich die Stirn, auf welcher der Schweiß in großen Tropfen stand. Es ging ein immerwährendes Rucken und Zucken durch seinen Körper, durch alle seine Glieder. Dabei war es, als ob er auf dem Sprunge stehe, der großen, inneren Qual zu entfliehen, die fast stärker war, als er zu tragen vermochte.

Das Thema der Predigt waren nur die wenigen, von der Seligpreisung abgeschnittenen Bibelworte: »Und ihre Werke folgen ihnen nach!« Kein Toter läßt zurück, was er hier tat und sprach. Und je näher dem Tode es getan oder gesprochen wurde, um so fester ist und bleibt es mit ihm verbunden. Wehe dem unglücklichen Menschen, von dem ein Sterbender scheidet, indem er ihn verflucht! Und wohl dem Glücklichen, den ein Scheidender segnet; es ist ein Segen wie von Himmelshand!

Da war es dem Musterwirt nicht möglich, länger stehen zu bleiben. Fort konnte und durfte er nicht, wenn er nicht ungeheures Aufsehen erregen wollte. Er setzte sich also nieder, auf eines der Bretter, mit denen die lockere, um das Grab hoch aufgeschaufelte Erde gestützt worden war. Der Pfarrer mochte Mitleid mit ihm fühlen. Er sprach von jetzt an schneller. Am Schlusse der Predigt gab er das Zeichen, daß der Sarg zu schließen sei. Die Tochter legte dem toten Vater die Rosen des Herzle auf die Brust, nahm weinend seine Hand zum letzten Male in die ihrige, und dann wurde der Deckel aufgelegt. Die Träger zogen zwei Seile unter den Sarg hinweg und hielten sie hüben und drüben fest, um ihn langsam und vorsichtig hinabzulassen, nachdem die Querhölzer entfernt worden waren. Der Totengräber trat hinzu, um dies zu tun. Er begann mit dem, welches unter dem Fußende des Sarges lag. Dabei stemmte er sich mit seinen Füßen gegen die dünne Erdwand, welche er zwischen dem heutigen und dem morgenden Grabe gelassen hatte. Sie gab dem zu starken Drucke nach und stürzte in die jenseitige Grube. Der aufgeschaufelte Erdwall folgte an dieser Stelle nach, das untere Querholz mit und ebenso der Mann, der hier hüben das Seil zu halten hatte. Er ließ es los und verschwand sofort im Nebengrabe.

Hierdurch hatte der untere Teil des Sarges den letzten Halt verloren; er neigte sich nach unten. So verlor die ganze Last das Gleichgewicht und war nicht mehr zu halten; den schmalen Teil voran, rutschte der Sarg auch von der anderen Stütze ab und schoß mit dumpfklingendem Anschlage in die Tiefe. Unten grad in der Mitte auftreffend, wurde er durch den Stoß auseinander geteilt, die eine Hälfte, in welcher der Tote lag, lehnte sich, aufrecht bleibend, nach der einen schmalen Seite des Grabes hinüber; der leere Deckel kam ebenso aufrecht an die andere zu liegen.

Ein vielstimmiger Schrei war erschollen. Am lautesten brüllte der Musterwirt. Er wollte aufspringen; aber das Brett, auf dem er saß, hatte nun keinen Stützpunkt mehr und legte sich um. Er verlor mitten im Aufspringen den Boden unter den Füßen, kreischte noch einmal auf und schloß die Augen. Es war ihm, als ob er tiefer, tiefer und immer tiefer sinke, stundenlang, ja wohl tagelang. Dann stand oder lehnte er irgendwo. Er hörte hoch, hoch, unendlich hoch über sich schreien. Er wollte sehen, wo er sich befand; aber es machte ihm Anstrengung, die Augen wieder aufzuschlagen. Endlich gelang ihm dies. Er sah sich im oberen Teile des Sarges schief aufgerichtet lehnen. In dem anderen Teile stand der Neubertbauer, der ihm mit offenen, fürchterlich verglasten Augen grad in das Gesicht starrte. Die Erde schoß in einzelnen, größeren und kleineren Klumpen auf sie beide herab. Das sah genau so aus, als ob der Bauer sich bewege, und auf ihn zukomme.

»Er kommt; er kommt!« brüllte er in fürchterlichster Angst. »Ich muß ihm nach, ihm nach – – – ihm nach!«

Er wollte aus dem Sargdeckel heraus und griff nach den beiden Kanten desselben, um mit einer konvulsivischen Bewegung loszukommen. Dabei stemmte er seine Füße unwillkürlich unten an den Sargteil, in welchem sein entsetzliches Gegenüber stand. Das verursachte einen schiebenden Druck, und die bisher scheinbare Bewegung wurde zur wirklichen. Der Neubertbauer bewegte sich nach vorn. Die gläsernen Augen starr auf ihn gerichtet, neigte er sich zu ihm herüber.

»Die Toten erwachen – – – aber ich räche mich – – ich, ich, ich!« zeterte der Musterwirt. »Ich erwürge ihn! Er muß ersticken, ersticken – – – ersticken!«

Er schlug die beiden Arme um den Toten und preßte ihn mit der Anstrengung aller seiner Kräfte an sich. Oben über den beiden war alles in Bewegung, die Erde auch. Sie kam herunter und verschüttete das Grab fast bis zur Hälfte. Dabei flog die andere Querstütze mit herab. Sie stieß erst drüben auf und schmetterte dann hüben mit dem anderen Ende auf den entblößten Kopf des Musterwirtes nieder. Das war ein Schlag, der sehr leicht töten konnte.

Man kann sich denken, in welcher Aufregung sich die auf dem Kirchhofe befindliche Menschenmenge hin- und herbewegte. Der Pfarrer und der Lehrer Bernstein waren fast die einzigen, welche sich nicht vom Schrecke beherrschen ließen. Während der Lehrer sich bemühte, unter den Dorfbewohnern die verlorene Ruhe wieder herzustellen, sorgte der Geistliche zunächst für die Entfernung der Tochter des nun doch noch nicht Begrabenen. Das Herzle mußte sie in das Pfarrhaus bringen, wo die Frau Pastorin sich liebevoll ihrer annahm. Doch blieb das Herzle auch bei ihr.

Sodann mußte vor allen Dingen der Lebende von dem Toten getrennt und aus dem Grabe herausgeholt werden. Aber als man dies versuchte, lagen die Arme des Wirtes so fest und starr um die Leiche, daß man sie unmöglich auseinander bringen konnte. Es hatte ganz den Anschein, als ob der erstere vor Schreck nun auch gestorben sei. Das war beinahe grauenhaft! Sie wurden, beide vereint, mit großer Mühe emporgeschafft und einstweilen neben dem Grabe hingelegt. Was sollte man nun mit ihnen machen?

Man versuchte noch einmal, die Arme und Hände des Wirtes vom Bauer loszumachen, aber es ging nicht. Da war der Pfarrer der Ansicht, daß ein Arzt zu holen sei. Im Dorfe gab es keinen, und bis in die Stadt war ein weiter Weg. Es wurde also nach dem Gasthofe geschickt; der Kutscher solle sofort anspannen und den dortigen Bezirksarzt holen, da vielleicht ein plötzlicher Todesfall zu konstatieren sei. Wo aber inzwischen mit den beiden so fest vereinten Körpern hin? Auch hier wußte der Geistliche den besten Rat.

»Hoffentlich lebt Herr Frömmelt noch,« sagte er. »In diesem Falle gehört er nach Hause; aber da müßte er von dem Verstorbenen los, und das geht leider nicht. Oder vielleicht in das Leichenhaus? Nein, denn dort gehört kein Lebender hin. Schafft sie hinüber in meine Sakristei; ich hole schnell den Schlüssel. Aber deckt sie zu. So ein Anblick ist nicht für neugierige Menschen!«

Er ging. Die Träger zogen, schnell bei der Hand, den unteren Teil des Sarges aus dem Grabe und legten die beiden hinein. Daß dabei der Wirt nach unten zu liegen kam, das ließen sie als einfachen Zufall gelten; sie dachten nicht daran, daß ein Unterschied zwischen lebendig und tot zu machen sei. Hierauf wurde der Sarg auf die Bahre gestellt. Dann holten sie auch den Deckel, welcher über die Körper gelegt wurde, weil er doch einmal zum Sarge gehörte. Ueber das Ganze breitete man das Leichentuch – – der Neugierde wegen, wie der Pfarrer gesagt hatte. Auf den Schlüssel brauchte man nicht zu warten. Es war ja mit den Glocken geläutet worden und die Kirche also offen. Man trug die Bahre hinein.

Das letztere alles hatte der Totengräber geleitet. Er war der Beamte hierzu und ein erfahrener Mann. Darum sorgte er pflichtgemäß dafür, daß kein Unberufener mit in die Kirche kam, er war also mit den Trägern dort allein. Er eilte ihnen voraus nach der Tür zur Sakristei. Sie war nur für die Figur des Geistlichen berechnet und erschien ihm für die breite Bahre zu schmal zu sein. Darum ließ er die letztere einstweilen auf dem Altarplatze niedersetzen. Die Träger kamen zu ihm, um auch zu begutachten, ob hindurchzukommen sei. Sie taten das mit leisen Stimmen. Das erforderte der heilige Ort, an dem man sich befand, und an welchem nur der Pfarrer in lauten Worten sprechen durfte.

In diesem Augenblicke kam dieser ihnen nach, den überflüssigen Schlüssel in der Hand. Er stand am vorderen Eingange und überschaute schnell die Situation. Von rechts her schien die Sonne durch das Fenster, gerade auf das große Altarbild, welches Herr Frömmelt vor zwei Jahren zum Kirchenjubiläum gestiftet hatte. Es stellte die Auferstehung von dem Tode dar, nach der Ansicht des betreffenden Malers. Der Körper lag im Sarge, sichtbar schon in Verwesung übergegangen. Aus dieser Verwesung stieg der Geist heraus, dem der Künstler die Gesichtszüge des frommen Spenders gegeben hatte. Sie traten jetzt im Sonnenstrahle mit größter Deutlichkeit hervor.

Vor diesem Bilde stand die Bahre in jenem Halbdunkel, welches selbst am hellen Tage kleinfensterigen Kirchen eigen ist. Der Geistliche erschrak, als er sah, in welcher Weise man seine Anordnungen ausgeführt hatte. Er eilte herbei, um das schwere, erstickende Tuch schnell herabzureißen, war aber noch nicht ganz heran, so blieb er stehen. Das Tuch bewegte sich.

Es wurde auf der einen Seite mit samt dem Sargdeckel hoch emporgehoben. Von innen erschien eine Hand, welche es herunterzog. Hierbei stürzte der Deckel auf die Seite. Zwei Gestalten erschienen, von denen die eine, welche sich mit der anderen aufgerichtet hatte, diese andere noch mit einem Arm umschlossen hielt. Es war der Musterwirt mit seinem toten Staatsanwalt. Er sah der Leiche in das Gesicht, doch sonderbarer Weise nicht mit dem Ausdrucke des früheren Entsetzens. Indem er aus dem Sarge heraustrat, ließ er den Toten langsam wieder niedergleiten. Dann richtete er sich auf, hoch und kerzengerade. Sein Blick fiel auf das Altarbild und blieb auf demselben haften. Etwas anderes schien er nicht zu sehen. Die Anwesenden, auch der Pfarrer, wagten nicht, sich zu bewegen. Es war ihnen zu Mute, als ob sie sich nicht hier in der kleinen Dorfkirche, sondern in einer ganz anderen, unendlich weiten und geheimnisvollen Welt befänden. Und das Gesicht des so plötzlich aus dem Sarge Auferstandenen hatte einen Ausdruck, der ihnen unbeschreiblich erschien. Nun erhob er die Hand gegen das Bild, ballte sie zur Faust und sprach mit so lauter Stimme, daß es durch die ganze Kirche schallte:

»Bist du das, frommer Musterwirt? So schön, so rein steigst du aus deinen Sünden? Die Menschen konntest du mit dem Bilde betrügen, mich aber nicht, und auch nicht Gott, den Herrn! Schau her, und sieh dir eine andere Auferstehung an, keine gemalte, sondern eine echte! Hier, wo ich bin, da steht soeben der Neubertbauer, den du gemordet hast durch seine eigene Hand, von seinem Tode auf. Da liegt im Sarge der Körper, mit dem Messerstiche in der Brust. Ich aber bin der Geist, sein Geist, der Geist des Neubertbauers! Hörst du mich? Die Toten stehen auf und rächen sich. Drum gehe ich fort von hier und suche nach einem Messer! Und sobald ich es gefunden habe, triffst du dich ganz genau so, wie ich mich – – – mit deiner eigenen Hand! Wie hat meine Leichenrede geklungen, die auch die deine war? ›Wehe dem unglücklichen Menschen, von dem ein Sterbender scheidet, indem er ihn verflucht!‹ Den Leib hast du mir genommen. Nun nehme ich dir den deinen. Es geht jetzt Geist gegen Geist!«

Er hob die geballte Faust noch einmal gegen das Bild empor; dann griff er sich mit beiden Händen nach dem Kopfe und brach langsam, langsam in sich selbst zusammen.

*

Das Herzle saß mit der Mutter vor dem Hause und klöppelte. Die Ziege war hinunter an das Wasser gegangen, um zu trinken, denn man hatte heute einen gar heißen, durstig machenden Tag. Auch Ziegen merken das, zumal wenn man eine so feinempfindliche ist, wie das Karlinchen war. Das galt nicht bloß dem Wetter, sondern fast noch mehr den Menschen. Es gab Personen, von denen das Karlinchen absolut nichts wissen wollte, zum Beispiel Fräulein Rosalia, die jetzt über die Wiese herüberkam, wahrscheinlich um das Herzle aufzusuchen, obgleich sie sich kürzlich wegen des Herrn Lehrers so schlecht gegen dasselbe benommen hatte. Karlinchen war, wie man wohl noch wissen wird, persönlich dabei gewesen. Sie hatte jedes Wort gehört und es sich in den Kopf gesetzt, das ungezogene Frauenzimmer gar nicht wieder auf das Bergle heraufzulassen. Wenn sich aber eine Ziege etwas in den Kopf nimmt, so schafft sie es bis in die Hörner hinauf, und so kann man sich sehr leicht denken, daß sich das Karlinchen jetzt auf die Brücke stellte und die widerwärtige Mustertochter, als sie herüberwollte, mit den Hörnern zu bearbeiten begann. Sie ließ erst dann von ihr ab, als das Herzle herbeigeeilt kam und zu ihr sagte:

»Karlinchen, geh' hinauf zur Mutter; die hat noch eine Semmel für dich vom Herrn Lehrer.«

»War er heute wieder hier?« fragte Fräulein Rosalia.

»Ja,« antwortete das Herzle. »Er fragte nach meinen Spitzen, ob sie in vier Wochen fertig sein werden, weil da die Ausstellung beginnt.«

»Er kann immer zu dir kommen; ich habe nichts mehr dagegen. Ich mag ihn nämlich nicht. Ich habe ihn gern gehabt, aber ich kann ihn nicht mehr leiden; er ist mir zuwider. Darum werfe ich ihn weg. Ich schenke ihn dir. Hebe ihn auf. Du kannst ihn nehmen!«

Da flammte es in dem sonst so freundlich ruhigen Gesichtchen des Herzle zornig auf.

»Bilde dir das ja nicht ein, was du sagst!« rief sie aus. »Du kennst den Herrn Lehrer nicht. Er steht höher, viel höher als du und ich und die anderen alle, den Herrn Pastor ausgenommen. Du und ich, wir sind es gar nicht wert, daß er sich überhaupt mit uns abgibt. Und gar heiraten? Das würde ja genau so sein, als ob zwei Salatpflanzen sich einbildeten, es werde ein Bräutigam kommen und eine von ihnen als Rose an seine Brust stecken! An eine solche Stelle gehört das Allerbeste, was es nur geben kann. Du hast dir eingedünkelt, das zu sein, ich aber nun und nimmermehr! Und ihn mir schenken, und ich ihn nehmen? Oder gar du ihn wegwerfen, und ich ihn aufheben, etwa wie einen Ball, der mit sich spielen lassen muß, wie es beliebt? Das ist eine Dreistigkeit, die er sich ganz gewiß verbitten wird, und ich verbitte sie mir auch! Er ist für mich ebenso unerreichbar wie für dich, und darum habe ich ihn mir mit keinem einzigen Gedanken jemals eingebildet; aber ich sage dir trotzdem, daß nicht einmal meine Ziege etwas nehmen würde, was Fräulein Rosalia weggeworfen hat, viel weniger das Herzle. Da hast du es!«

Nämlich das Karlinchen hatte zwar die Mutter um die Semmel angemeckert, war aber nicht allsogleich verstanden worden. Das war ihr ganz von Natur aus in die Hörner gestiegen. Da man aber auf keinen Fall die eigene Herrin mit ihnen bearbeiten kann, so nahm sich das schnell entschlossene Karlinchen eine angenehme Verwechslung der Personen vor. Sie holte wütend aus, rannte das Bergle hinab, wo durch die Abschüssigkeit des militärischen Geländes der Angriff sehr an Vehemenz gewann, und fuhr dem Fräulein Rosalia derartig von hinten in die Beine, daß die Mustertochter sofort zunächst auf die Ziege und dann gar auf die Erde zu sitzen kam.

»Hinterlistige Bestie!« schrie sie zornig. »Hebe mich auf, Herzle. Da, faß mich bei den Händen!«

»Du hast soeben gehört, daß ich nichts von dir aufhebe, am allerwenigsten dich selbst!«

Bei diesen Worten drehte sie sich um, ließ sie sitzen und ging das Bergle hinauf zur Mutter. Das Karlinchen hatte sich die Wut aus den Hörnern gestoßen und befand sich also wieder in loyaler Stimmung. Sie folgte ihr, sah sie oben fragend an und bekam also ohne weitere Supplik die jetzt sehr wohlverdiente Semmel. Fräulein Rosalia aber richtete sich mit Unterstützung des gleich neben ihr stehenden Rettichbirnbaumes langsam wieder auf, strich die Falten ihres rot und gelb gewürfelten Poil de chèvre-Rockes glatt und hinkte, mit sich selbst teils wohl-, teils unzufrieden, hinterdrein. Oben angekommen, machte sie einen weiten Bogen um das Karlinchen herum und sagte:

»Ich würde sogleich wieder fortgegangen sein, wenn ich nicht etwas sehr Wichtiges zu sagen hätte. Nämlich das Zeug zum neuen, seidenen Kleid ist da. Und als sie mir den fast ganz toten Vater in das Haus brachten, da bin ich gleich wieder in die Stadt gefahren und habe mir die schwarzen Trauerstoffe geholt. Das gibt drei andere, neue, dunkle Kleider, ohne die Schleier, die Hüte und das Schulterumgehänge aus Trauerflor. Du hast keine Zeit, das alles zu machen, Herzle, und doch muß es schnell fertig sein. Denn was soll denn werden, wenn der Vater vollends stirbt, und ich habe nichts auf dem Leib, um zu zeigen, daß ich darüber betrübt und wehklagend bin! Darum habe ich mir zwei Nähterinnen aus der Stadt bestellt. Die sind vorhin angekommen. Aber ich habe gleich gemerkt, daß sie nicht wissen, wie sie es mit einer richtigen Trauer anzufangen haben. Ich möchte also, daß du kommst und die Aufsicht übernimmst. Hast nur die Angaben zu machen. Kannst deine Klöppelei mitbringen und an den Spitzen arbeiten, wirst aber doch bezahlt, als ob du für mich arbeitetest. Das ist doch nobel von mir. Nicht?«

»Wie steht es mit deinem Vater?« fragte das Herzle, ohne auf die letzten Worte einzugehen.

»Der liegt in seiner Stube.«

»Und du bist bei ihm, um ihn zu pflegen?«

»Ich? Wo denkst du hin! Was sollten die Gäste sagen, wenn ich nicht immerfort bei ihnen säße? Es würde bald keiner mehr kommen. Das ist eine Not! Und dabei die schwere Sorge um die Kleider! Als die Anführerin der Festjungfrauen muß ich doch etwas so ganz Apartes haben. Und wo bekommt man das her, wenn man nicht immerfort darüber nachdenkt? Und beim Begräbnis des Vaters bin ich doch ebenfalls die Hauptperson, die einen Anzug haben muß wie keine andere. Ich sinne mir beinahe die Gedanken aus dem Kopf! Der Vater aber liegt in seinem Bette und tut ganz gleich dazu, was um ihn geschieht. Ich glaube, dem ist es ganz egal, ob der Sarg schwarze oder silberne Beine hat. Ich habe aber goldene bestellt. Die kosten nur zwei Taler mehr als silberne. Der Knecht geht täglich dreimal zu ihm hinauf, früh, mittags und abends, um nachzusehen, wie es mit ihm steht. Auch der Pfarrer war schon zweimal da. Das ist doch Zuspruch und Besuch genug.«

»Was sagt der Arzt?«

»Der schüttelt den Kopf. Er meint, das sei ein ganz eigener Fall, mehr seelisch, als wohl körperlich, weil der Vater nicht aufwache und die Augen nicht öffne, aber immerfort leise vor sich hinspreche. Es sei möglich, daß er wieder gesund werde; nun, da hebt man sich die Trauerkleider eben für später auf; aber da sein müssen sie für alle Fälle. Viel wahrscheinlicher aber werde er sterben. Der Schlag mit dem Querholze sei höchst lebensgefährlich gewesen. Die Betäubung werde langsam in den Tod übergehen. Der Doktor widerspricht sich überhaupt. Ich möchte keinen Arzt zum Manne haben! Es ist zwar sehr schön, daß man den Mann da nicht den ganzen Tag vor den Augen haben muß, aber wer nicht einmal weiß, wie er mit einem Kranken daran ist, wo soll der das Geschick dann hernehmen, einen gesunden Menschen oder gar eine junge Frau Doktorin zu behandeln! Also, du kommst, Herzle?«

»Eigentlich habe ich keine Zeit dazu; ich werde es aber dennoch tun, wenn ich einen Wunsch haben darf.«

»Welchen?«

»Ich komme nur dann in die Nähstube, wenn ich dort etwas anzuordnen habe; sonst aber sitze ich droben bei deinem Vater!«

Da stand die Mutter auf, ging auf die andere Seite des Tisches zu ihrem Herzle hinüber, gab ihr einen Kuß auf die Stirn und kehrte dann an ihren Platz zurück. Das tat sie, ohne ein Wort dazu zu sagen. Fräulein Rosalia aber sprach:

»Das ist wieder eine deiner Mucken, die kein anderer Mensch begreifen kann. Ich will dir aber deinen Willen tun, weil ich weiß, daß sonst nichts Richtiges aus den Kleidern wird. Denke aber nicht etwa, daß ich zu dir und ihm hinaufkomme! Es ist mir ganz unmöglich, bei jemand zu sein, der krank ist. Das stößt mich ab; da werde ich selber krank! Ich habe mich zu erhalten! Mußt aber so bald wie möglich kommen. Ich warte schon jetzt auf dich!«

»In einer halben Stunde bin ich drüben.«

»So gehe ich jetzt voraus. Haltet die Ziege fest, damit sie mich nicht wieder stößt!«

»Habe keine Sorge! Gehen läßt sie dich gern; nur das Kommen kann sie nicht leiden.«

Als das Karlinchen sah, daß Fräulein Rosalia sich entfernen wollte, senkte sie den Kopf, schielte ihr warnend in das Gesicht und zeigte ihr die Hörner. Das bedeutet im erzgebirgischen Dialekte ungefähr so viel wie: »Mach' dich fort, und laß dich ja nicht wieder sehen, sonst setze ich dich abermals auf deinen bunten Poil de chêvre-Rock!«

Das Herzle hielt Wort. Nach einer halben Stunde war sie drüben im ›Etablissement‹. Und nach wieder einer halben Stunde trat sie mit ihrem niederländischen Klöppelkissen, welches bekanntlich nicht rund, sondern viereckig ist, in die Stube des Musterwirtes. Dort zog sie sich ganz, ganz leise den Tisch an das Fenster und legte das Kissen darauf. Nachdem sie ebenso leise einen Stuhl herbeigeholt hatte, schlich sie sich auf den Zehen zu dem Kranken hin, um ihn zu betrachten. Sein Kopf war verbunden, der Verband vollständig trocken. Die Lippen bewegten sich, als ob sie sprechen wollten und doch nicht könnten. Da ging sie fort und holte Wasser. Sie nahm den Verband ab, befeuchtete ihn und legte ihn dann wieder auf. Kaum hatte sie das getan, so ging in den Zügen des Musterwirtes eine Veränderung vor. Er lächelte; das beruhigte sie; sie hatte das Richtige getroffen.

Hierauf kehrte sie nach dem Tische zurück und begann, zu klöppeln, möglichst leise. Es war so still, so ruhig in dem Räume. Das Geräusch der Straße und der rücksichtslosen Geschäftigkeit drang nicht herauf. Die in den beiden kleinen Händchen sich bewegenden Klöppel klangen aneinander, als ob unsichtbare Engel Kastagnetten spielten. Zuweilen ruhten sie für kurze Zeit, nämlich wenn das Herzle an dem Bette stand, um den Verband wieder anzufeuchten.

Es war beim vierten oder fünften Male, daß sie das tat, da öffnete er die Augen zum ersten Male, seit er sich hier befand. Er sah sie lange, lange an, erst ohne allen Ausdruck; dann aber trat das Leben langsam in die Augen.

»Gib mir Wasser!« flüsterte er.

Das klang, als ob in seinem Innern alles trocken sei. Sie holte einen Löffel, schob ihm die Hand unter den Nacken und flößte ihm die kühle Flüssigkeit in den durstig sich öffnenden Mund. Er sog sie mit Begierde ein und sah sie dabei so innig dankbar an, daß sie es heiß und feucht aus ihrem Herzen steigen fühlte.

»Wie heißest du?« fragte er sie sodann.

»Ich bin das Herzle,« sagte sie, der vollen Wahrheit gemäß.

Da sann er nach, längere Zeit. Ein helles Lächeln kam.

»Ich kenne dich. Du warst mit ihr beim Pfarrer und dann an meinem Grabe. Du brachtest Rosen mit! Laß mich jetzt ruhen!«

Sie kehrte an ihre Arbeit zurück und dachte während derselben an seine Worte. Dabei lauschte sie aufmerksam zu ihm hinüber.

»Herzle, Wasser!« klang es nach einiger Zeit.

Sie gab es ihm.

»Schieb' den Riegel vor!« bat er. »Laß niemand ein!«

Sie tat es und kehrte dann zu ihm zurück.

»Herzle, tu' mir zweierlei!« sagte er.

»Sehr gern!« antwortete sie.

»Laß die Rosalia nicht herein – – – auf keinen Fall! Ich will nur dich – – – und dann die – – die – – – die andere – – – heut' in der Nacht.«

»Wen?«

Da machte er ein sehr geheimnisvolles Gesicht und sagte:

»Die Tochter des Neubertbauers.«

»Die ist noch bei der Frau Pastorin, weil der Herr Pfarrer es so wollte. Ich gehe hin, es ihr zu sagen.«

»Aber hier im Hause darf es niemand wissen. Herzle, gib mir die Hand darauf!«

Sie gab sie ihm. Er schwieg eine ganze Weile. Sie sah ihm an, daß er sich erholen oder sammeln müsse. Dann sprach er weiter:

»Wenn alles schläft und niemand etwas sieht, dann bringst du sie mir herauf, eher nicht. Kein anderer Mensch als du darf vorher hier in der Stube sein. Tu' genau das, was ich sage; ich werde es dir lohnen! Jetzt aber will ich schlafen!«

Und er schlief, tief und fest, wie es schien. Sie wartete, bis die Dämmerung vorüber war. Dann schlich sie sich, nachdem sie die Tür hinter sich verschlossen hatte, hinunter und zu dem Hause hinaus. Sie ging zum Pfarrer und sagte ihm, was sie wollte, denn das hatte ihr der Kranke ja nicht verboten. Der geistliche Herr war zwar verwundert, aber doch der Meinung, daß man tun müsse, um was der Patient gebeten habe. Auch verschwiegen müsse man sein. Die Tochter des Neubertbauers, welche Anna hieß, solle um ein Uhr des Nachts im Mustergarten stehen, um von dem Herzle dort abgeholt zu werden. Dieses ging hierauf zur Mutter und teilte ihr mit, daß sie heut' nicht nach Hause kommen werde. Dann nach dem Gasthofe zurückgekehrt, verbot sie dem Knecht, heute abend nach dem Kranken zu sehen, denn sie sei da und werde über ihn wachen.

Inzwischen war die Zeit zum Abendessen gekommen. Das nahm sie mit Fräulein Rosalia und den Nähterinnen ein. Dabei bat sie die erstere, heute nacht beim Vater bleiben zu dürfen, weil sie die Nacht gern durcharbeiten wolle und die Mutter ihr das nicht erlauben werde. Die Tochter antwortete:

»Tu', was du willst; ich habe nichts dagegen, wenn du dich nicht bei der halben Leiche fürchtest. Mich aber bringst du nicht hinauf!«

So war dem Herzle also alles gelungen, als es den Schlüssel oben wieder in die Tür steckte. Sie hatte sich eine wohlgefüllte Schirmlampe geben lassen und stellte sie so auf ihren Tisch, daß kein Lichtstrahl das Gesicht des Kranken traf. Dieser schlief noch immer. Später wachte er einige Male auf. Da reichte sie ihm Wasser und befeuchtete den Verband. Dabei war er still. Nur einmal fragte er:

»Wird sie kommen?«

»Ja. Um ein Uhr,« nickte das Herzle.

»Ich danke dir!« Dann schlief er weiter.

Sie hatte das Fenster geöffnet. Die Luft trug süßen Grummetduft herein. Es schlug Mitternacht, dann ein, zwei, drei Viertel. Da ging das Herzle hinab, zur hinteren Tür hinaus, die sie öffnen konnte, und durch den Hof in den Garten. Sie war die einzige Wachende im Hause. Die Anna stand, schon seit einiger Zeit wartend, bereit.

»Mir ist die Brust so eng,« sagte sie. »Das war bei mir noch nie.«

»Hast wohl Angst?« fragte das Herzle. »Er ist so lieb und so gut, gar nicht, wie man ihn bisher gekannt hat!«

»Angst ist es nicht, aber was, das weiß ich nicht.«

Sie kamen glücklich und unbemerkt hinauf. Das Herzle verriegelte die Tür. Der Kranke hatte die Augen zu. Sie traten miteinander leise an das Bett, Hand in Hand. Da nahmen seine Züge langsam, nach und nach, einen frohen Ausdruck an. Nicht seine Lider, aber seine Lippen öffneten sich, und er sprach:

»Mein Kind, ich erteile dir meinen Segen, und dir, mein gutes Herzle, meinen Dank!«

Sie sahen einander an, im höchsten Grade erstaunt. Das waren ja dieselben Worte, welche der Pfarrer in seiner Stube zu ihnen gesprochen hatte! War das Zufall? Der Musterwirt konnte sie doch unmöglich kennen! Nach einiger Zeit sprach er weiter:

»Das Herzle setzt sich an den Tisch. Die Anna bleibt hier bei mir und gibt mir ihre Hand!«

Sie taten es. Hierauf sagte er, ohne die Augen aufzuschlagen:

»Aus meinem Grabe ist ein großes Geheimnis ausgestiegen. Es befindet sich hier bei uns in dieser Stube. Wer es nicht sieht, dem kann man es nicht erklären. Auch ich weiß es nicht ganz; drum muß ich darüber schweigen. Hast du deinen Vater lieb gehabt, Anna?«

Da begann sie sofort zu weinen.

»Mehr, als ich selbst gewußt habe,« antwortete sie. »Das fühle ich erst jetzt, wo er tot ist. Ich habe viel, viel an ihm gutzumachen. Wenn ich es doch könnte!«

»Du kannst es. Und es ist nicht schwer.«

»Was.«

»Etwas Sonderbares. Aber wie, wie würde dein Vater sich freuen, wenn du es tätest!«

»Ich tue es ganz gewiß, wenn ich kann!«

»So will ich es dir sagen. Nämlich es wird von jetzt an zuweilen eine große Sehnsucht nach deinem Vater über dich kommen, so groß, daß du ihr nicht widerstehen kannst. Laß dich aber von ihr nicht nach seinem Grabe treiben, denn dieses Grab ist die allergrößte Lüge, die es hier auf der Erde gibt. Zu ihr sollst du nicht gehen, sondern zur Wahrheit, und die ist hier bei mir!«

Sie sah ihn unter Tränen verständnislos an. Er schien das zu fühlen, obgleich seine Augen fest geschlossen waren, denn er sprach nach einer kurzen Pause weiter:

»Das begreifst du nicht. Es ist das Geheimnis, von dem ich redete. Wenn diese Sehnsucht dich ergreift, so machst du dich sofort auf und kommst zu mir, du magst sein, wo du willst. Du fragst hier nach mir und wirst mich dann schon finden. Fürchtest du dich vor mir?«

»Jetzt nicht,« antwortete sie.

»Aber dann! Ich weiß es wohl. Das darf dich aber nicht hindern. Du mußt, du mußt, du mußt dich an mich wagen! Du mußt, du mußt, du mußt mir immer grad in die Augen schauen, darfst keinen Blick von mir wenden. Du sprichst dabei alles, was dir gerade einfallen mag. Die Hauptsache sind nicht deine Worte, sondern deine Augen, die du nicht von mir wegkehren darfst. Es mag sein, wo es will, und es mag dabeistehen, wer da will, das ist ganz gleich! Ich werde es nicht leiden wollen. Ich werde schimpfen. Ich werde dich fortjagen. Du wirst aber nicht gehen, sondern bleiben und mich dabei ansehen. Da wird mein Zorn sich nach und nach verringern, bis er ganz weg ist. Dann werde ich deine Hand erfassen und dir danken, daß du bei mir geblieben bist. Und jetzt paß auf: Dann werde ich dir sogar einen Kuß geben, am liebsten auf das Haar. Von da an, aber ja nicht eher, mußt du alles tun, was ich dir sage, denn es ist bestimmt, an deinem Vater gut zu machen, was an ihm verbrochen worden ist. Hast du mich verstanden? Genau?«

»Ja, ganz!« antwortete sie.

»Und willst du mir versprechen, es zu tun?«

»Es ist sehr schwer!«

»Ich wußte es! Du fürchtest dich vor mir. Aber ich will dir Mut machen. Höre auf das Jetzige! Versuche es einmal, nur ein einziges Mal! Wenn du es tust, so bringe ich dir die erste Hypothek, welche ich auf deinen Neuberthof in den Händen habe. Ich schenke sie dir; du kannst sie verbrennen. Für das zweite Mal gebe ich dir die zweite Hypothek. So gebe ich dir in einiger Zeit den ganzen Neuberthof zurück und verlange dafür nichts von dir, als daß du tust, was ich dir soeben gesagt habe. Willst du nun, Anna?«

»Ja,« antwortete sie, denn der Preis war groß, und er hatte sie beim Vornamen genannt, ganz in demselben lieben Ton, wie früher oft der verstorbene Vater.

»Versprich es mir hier in die Hand!«

Sie ergriff die seinige mit beiden Händen und sagte:

»Ich will mich nicht genieren und mich nicht fürchten; ich werde es tun; du kannst dich darauf verlassen!«

»So sei das Herzle unser Zeuge! Geh' zu ihr, wenn es dir zu sauer wird, zu ihr, zu ihr! Sie ist unsere Vertraute. Kein Mensch darf es weiter wissen. Ich halte dich beim Wort. Sie wird das fühlen und dir nicht eher Ruhe lassen, als bis du zu mir kommst. Sie ist auch Zeugin meines eigenen Versprechens, das ich dir so bestimmt halten werde, wie ich dich hier vor meinen Augen sehe.«

Er schlug sie auf und sah sie mit einer Liebe an, die sie fast in Verwirrung bringen wollte.

»Gib deinen Kopf herbei!« bat er. »Ich muß dich küssen, so, wie ich es dir vorhin gesagt habe.«

Sie neigte ihm gehorsam ihre Stirn zu. Er hob die beiden Hände, zog ihr Haupt ganz zu sich heran und küßte sie zweimal, dreimal auf das krause Haar.

»So, mein Kind, meine Anna! Wenn meine Lippen so auf deinem Haar gewesen sind wie jetzt, dann mußt du mich für deinen Vater ansehen und alles tun, was ich dir sage, bis, – – – bis die Rosalia kommt, länger nicht, ja nicht! Denn die bringt den mit, welcher – – welcher – – «

Er hielt inne und hob den Kopf ein wenig empor, als ob er lausche. Dann zuckte er zusammen und fuhr in ängstlichem Tone fort:

»Wenn die kommt, nachher wird es so, wie es jetzt werden wird. Herzle, Herzle, bring' die Anna wieder hinab! Schnell, schnell, es ist keine Zeit! Der Zwang ist da, daß ich schlafen muß, dann kommt der andere – – der andere!«

Er legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Das Herzle ging mit der Freundin fort. Als sie wiederkam, schlief er fest und tief. Sie setzte sich an den Tisch. Aber sie begann nicht sogleich wieder zu arbeiten. Es war ein fremder Tisch. Sie durfte mit ihm gar nichts zu schaffen haben, und doch schaute sie unverwandt nach dem Kasten. Wie kam es nur, daß es sie innerlich so fremdartig drängte, diesen Tischkasten auszuziehen und hineinzusehen? Der Drang war so groß, daß sie ihm gehorchen mußte.

Als sie es getan hatte, sah sie lauter alte, gleichgültige Sachen liegen, einen alten, leeren Geldbeutel, ein Messer, eine Lichtputze, ein paar Nägel und so ähnliche Sachen. Aber weiter hinten war ein besonderes Fach. Als sie es öffnete, sah sie zunächst ein Buch. Der Titel war: ›Die Notlage der Handweberei im Erzgebirge. Eine volkswirtschaftliche Studie.‹ Sie kannte es. Sie wußte, daß der Herr Lehrer es geschrieben hatte. Als sie es wieder hintun wollte, sah sie, was darunter gelegen hatte, nämlich einen Lochtaler, der an einer Schnur hing. Da begann der Kranke, unruhig zu werden. Er bewegte sich hin und her. Sie achtete aber nicht darauf, weil der Taler ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Sie zog ihn hervor, um ihn zu betrachten. Er war vom Jahre 1846. Zugleich mit ihm hing an der Schnur eine echte, aber ganz verkrüppelte Elsterperle, die infolgedessen keinen Wert besaß. Das Herzle mußte sich zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien. Das war ja der Taler ihres Vaters mit ganz derselben Schnur, mit welcher er an der Uhr gehangen hatte! Sie wäre wohl vor Schreck aufgesprungen; aber der Musterwirt warf sich grad jetzt so ängstlich hin und her, daß sie sich ganz still verhielt. Er stöhnte leise dazu.

Und was lag noch weiter in dem geöffneten Fach? Ein Paket mit Postquittungen! Sie las die oberste. Zehn Taler an den Seminardirektor! Hatte der Musterwirt etwa auch Geld eingezahlt? Sie mußte das wissen und öffnete das Paket. Das unterste Papier war keine Quittung, sondern ein alter Klöppelbrief, nämlich von der allerersten Spitze, welche das Herzle als kleines Mädchen gearbeitet hatte. Er war von der Mutter zu diesen Quittungen gelegt worden, um ihn gut aufzubewahren, denn das Päckchen bildete ein großes und verschwiegenes Heiligtum, weil niemand erfahren durfte, daß die Mutter und das Herzle es gewesen waren, von deren Spargroschen der Herr Lehrer während seiner Seminarzeit gelebt hatte. Er sollte das niemals im Leben wissen.

Da gab es drüben bei dem Kranken einen lauten Ruck. Er war bisher so sanft und schwach gewesen. Jetzt hatte er sich absichtlich ausgerichtet und starrte zu ihr hinüber.

»Wer bist du?« fragte er mit lauter, kräftiger Stimme. »Bist du etwa das Herzle?«

»Ja,« antwortete sie.

»Wie kommst du in meine Stube? Was treibst du hier? Ich kann nicht auf! Dein Stöbern hat mich geweckt! Aber ich werde bald auf können, denn ich habe sie geholt. Sie kommt; sie kommt!«

Draußen erklangen Schritte, und die Tür, welche jetzt nicht mehr von innen verschlossen war, wurde geöffnet. Fräulein Rosalia trat herein, verschlafen, mit ganz verwirrten Haaren. Sie schaute zunächst gar nicht zum Vater hin, sondern gleich hierher zum Herzle. Nachdem sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, sagte sie in gehässigem Tone:

»Das ist ja schauderhaft! Ich habe aufstehen gemußt und herauf zu dir! Es war eine richtige Todesangst! Die weckte mich aus dem Schlafe. Die warf mich von einer Seite auf die andere. Die brachte mich zum Schwitzen, daß ich am ganzen Körper naß geworden bin! Ich will ja nicht herauf, nicht nicht, nicht nicht! Aber sie war stärker als ich. Sie schob mich aus der Stube und über den Gang hierher. Ich mußte mit der Hand an die Klinke und dann herein – herein! Weißt du etwas davon, Kleine? Hast du mich etwa verhext?«

Anstatt des Herzle antwortete der Vater. Er holte tief, tief Atem, als ob er etwas sehr Schweres überstanden habe. Dabei hielt er seinen Kopf in beiden Händen. Dann ließ er sie herabsinken und sprach:

»Du bist nicht verhext. Ich war im Traum bei dir. Was ist mit mir geschehen? O, dieser Traum, dieser Traum! Wäre er wahr, wie schrecklich, wie schrecklich!«

»Jammere nicht!« fuhr sie ihn an. »Du scheinst ja wieder ganz munter zu sein! Warum hast du so getan, als ob der Schlag dir so gefährlich gewesen wäre?«

»Der Schlag? Ja, ich bekam einen Schlag, einen Keulenschlag auf den Kopf. Dann kam der Traum. Ich hatte den Körper verloren. Ich war nichts und war doch etwas; aber ich wußte nicht, was! Ich sah mich nicht; ich hörte mich nicht, und ich fühlte mich nicht. Es war nichts, aber auch gar nichts um mich her. Alles leer; alles, alles leer! Ich auch! Ich konnte nicht stehen, nicht gehen, nicht liegen, nicht sehen, nicht sprechen. Ich konnte nichts, gar nichts! Das dauerte einen Tag, eine Woche, einen Monat, ein Jahr, hundert Jahre, Billionen Jahrhunderttausende! Da gingen zwei die Treppe hinab. Die eine war fort; die andere kam wieder. Sie setzte sich an den Tisch, machte einen Kasten auf und begann, nach ihren Sachen zu suchen. Da schickte ich meine Angst zu dir hinüber und ließ dich von ihr wecken. Du solltest kommen und die Diebin aus dem Hause schaffen. Ich kann das nicht, denn ich bin noch immer nichts, nichts, nichts. Du aber bist etwas, und das, das muß ich haben!«

»Sie hat nach ihren Sachen gesucht?« fragte Fräulein Rosalia, ohne den Zustand ihres Vaters weiter zu beachten. »Nach welchen Sachen? Das möchte ich doch sehen!«

Sie näherte sich dem Tische. Ihr Blick fiel auf das offene Paket. Da war es beinahe ein Sprung, den sie tat, um es an sich zu reißen.

»Unsere Quittungen!« schrie sie auf. »Einbrecherin, wie kommen die in deine Pfoten?«

»Sie sind unser,« antwortete das Herzle ruhig. »Ich habe noch gar nicht gewußt, daß sie uns abhanden gekommen sind und nun hier bei euch liegen!«

»Nein, unser sind sie, unser! Wir, wir haben für den Lehrer bezahlt! Du lügst, und ich werfe dich hinaus!«

»Und mein Klöppelbrief, der auch dabei liegt?«

»Der ist mein, mein, mein!«

»Du hast ja nie geklöppelt!«

»Das geht dich gar nichts an! Ich will doch sehen, ob – – ah, da fällt mir etwas ein! Du sagst, die Zettel seien euer. Wollen es doch einmal versuchen. Hier hast du sie; da, da!«

Sie schleuderte ihr die Quittungen in drei, vier, fünf Würfen in das Gesicht, von wo sie auf die Diele niederflatterten, und fuhr dann höhnisch fort:

»Du hast gesagt, daß du nie etwas aufheben werdest, was ich weggeworfen habe. Wenn sie euch gehören, so hebe sie auf! Lassest du sie aber liegen, so sind sie unser.«

Sie schaute triumphierend zu ihr hin, was sie wohl machen werde. Das Herzle schüttelte lächelnd den Kopf und sagte:

»Das ist so ganz nach eurer Art! Der Arme hat's erworben; der Reiche nimmt's ihm weg! Entscheiden aber wird der liebe Gott! Du hast es ihm hier vor seinen Richterstuhl geworfen. Ich lasse es liegen; er aber hebt es auf. Jetzt gehe ich. Den Taler nehme ich mit!«

»Welchen Taler?«

»Den Uhrentaler meines Vaters, der auch hier bei euch lag. Die anderen neunundvierzig, die uns in seiner Todesnacht gestohlen worden sind, die werden sich wohl auch noch dazu finden!«

Da geschah etwas ganz Unerwartetes. Der Kranke sprang mit einem einzigen Satz aus seinem Bett heraus, stürzte nach dem Tisch, raffte dort den Taler weg und schrie, indem er wie wahnsinnig auf das Herzle starrte:

»Musteranton, das ist dein Werk! Aber hüte dich! Da unten ist noch heute der Herd, und da stehen auch noch solche Flaschen!«

In der einen Hand den Taler, faßte er mit der der anderen das Herzle beim Kragen ihres Gewandes, schüttelte sie hin und her und knirschte dabei drohend:

»Jetzt bin ich plötzlich nicht mehr nichts; ich bin etwas geworden! Wenn du wüßtest, was, so würdest du auf die Kniee niederfallen und mich um Gnade bitten!«

»Ich kniee nur vor einem,« sprach das Herzle ruhig, »und der, der steht mir gegen dich bei, Musterwirt! Was du mit dem Herd und mit den Flaschen meinst, das weiß ich nicht; aber der, von dem ich soeben sprach, der wird mir's sagen. Behalte nur den Taler! Denn wo dieser ist, da ist mein toter Vater; der hält ihn fest in deiner eigenen Hand und hebt ihn auf für den Staatsanwalt, der seinen Sitz in – –«

»Staatsanwalt!« brüllte der Wirt auf. »Der seinen Sitz in – – –! Wo hat er seinen Sitz, wo? Der Neubertbauer, der Neubertbauer! Da kommt er; da ist er; in meinem Kopf, in meinem Kopf! Da reibt es – – – da mahlt es – – – da beutelt es! Da ringt er mich nieder! Haltet mich! Bleibt da; bleibt da, alle beide! Geht nicht fort! Laßt mich nicht mit ihm allein, allein, allein!«

Er sank da, wo er stand, auf den Boden nieder, mitten in die Quittungen hinein.

»Was hat er nur, der verrückte, der unausstehliche Kerl!« jammerte Fräulein Rosalia. »Ich muß fort; ich kann ihn keinen Augenblick länger ausstehen, sonst werde ich auch verrückt. Ich habe mich zu erhalten!«

»Aber du darfst ihn doch nicht so hier liegen lassen!« warf das Herzle mitleidig ein. »Greif mit zu! Wir heben ihn auf und schaffen ihn nach dem Lager!«

»Ich? Ich bin ebenso stolz wie du; ich hebe auch nichts auf, was sich mir vor die Füße geworfen hat! Ich lasse ihn mit seinem Staatsanwalt hier auf den Zetteln liegen. Aber den Taler nehme ich mit. Ich sehe ihn heute zum allerersten Mal. Mit ihm hast du uns auch angelogen, daß er von deinem Vater sei, denn wer sich selbst ersäuft, der ist keinen Taler wert.«

Sie riß dem ohnmächtigen Vater das Geldstück aus der Hand, lachte verächtlich auf und ging zur Tür hinaus. – – –

*

IV.

Im Dorfe ging es um! Einstweilen nur des Nachts – – – ganz heimlich und verschwiegen! Es ließ sich von keinem Menschen sehen – – – es trat ganz leise auf – – und wenn ja jemand kam, etwa der Nachtwächter, so versteckte es sich schnell hinter einen Zaun oder hinter eine Ecke. Wenn er vorüber war, so ging es tappelnd weiter. Der Geist war ungeheuer pfiffig. Und darüber brauchte man sich gar nicht zu wundern. Er hieß nämlich – – – das Karlinchen!

Wenn Menschengeister umgehen, so tun sie das oft ohne jeden triftigen Grund. Sie sind dann eigentlich nur Gespenster, doch keine wirklichen Geister. Wenn aber eine kluge Ziege, von der man weiß, daß sie wahrhaftig Geist besitzt, auf den Gedanken kommt, im Dorfe umzugehen, so ist das etwas ganz Anderes. Sie wird das niemals tun, ohne von einer wohlüberlegten Ursache dazu getrieben worden zu sein. Das war hier folgende:

Wenn die Mutter mit dem Herzle klöppelnd vor dem Häuschen saß, so sprachen sie jetzt von fast weiter nichts, als nur von der Ausstellung, die nun ganz nahe war. Das Karlinchen lag dabei und mußte alles hören, ohne über ihre besondere Ansicht gefragt zu werden. Und die hatte sie doch auch! Die Menschen sollen ja nicht denken, daß sie klüger als gewisse Tiere sind, bloß, weil sie ein Paar Beine weniger haben. Die Intelligenz steckt doch im Kopfe; das scheint man sogar in zweibeinigen Kreisen nun endlich eingesehen zu haben! Vergleicht man aber einen Ziegen- mit einem Menschenkopfe, so wird man auf der Stelle sehen, daß dem letzteren gerade dasjenige fehlt, was vorhanden sein muß, wenn man seinen Gedanken und Entschlüssen Nachdruck geben will. Und doch kommt sowohl im körperlichen, als auch im geistigen Leben meist alles nur auf diesen Nachdruck an. Wer nicht zu stoßen versteht, der bringt keinen Feind, der sich an ihn wagt, über das Brückle hinüber, das ihn von ungehobelten Personen zu trennen hat, zum Beispiel von Fräulein Rosalia!

Diese war kürzlich hier gewesen, um zu fragen, was es mit den besagten neunundvierzig Talern für eine Bewandtnis habe; sie könne es von ihrem Vater nicht erfahren, weil der selbst nichts davon wisse. Der Lochtaler aber mit der Elsterperle stamme noch vom seligen Großvater her. Was man mit diesen Talern wollte, das konnte das Karlinchen nicht begreifen, zumal dabei von dem Kommodenschubfache die Rede war, welches sie niemals hatte offen stehen sehen.

Einige Tage später hatte der Herr Lehrer ihr die pflichtschuldige Semmel gebracht, dieses Mal sogar mit einem Stückchen Schweizerkäse dazwischen. Vor Erstaunen hierüber war ihr der Mund weit offen stehen geblieben. Da hatte der Herr Lehrer lachend gesagt: »Ja, ja, mein liebes Karlinchen, heute kann ich mir das leisten! Das Honorar für mein Buch ist angekommen. Es war ein schönes Geld, ist aber nun schon fast alle. Ich habe den Musterwirt bezahlt, der mein Wohltäter war, ohne daß ich es wußte.«

»Hat er denn das Geld genommen?« fragte da schnell die Mutter.

»Ja, und mir schriftlich Quittung ausgestellt,« antwortete Bernstein.

Da hatten Mutter und Tochter einander so erschrocken angesehen, daß es dem Karlinchen fast Bange dabei geworben war.

»Er war nicht recht bei Aufmerksamkeit, als er die Quittung unterschrieb,« fuhr der Lehrer fort. »Er zerriß sie dreimal, und erst beim vierten Male brachte er sie fertig. Er scheint jetzt überhaupt nicht mehr ganz bei sich zu sein. Man kann vieles nicht begreifen, was er tat. Am sonderbarsten aber ist sein Verhältnis zu der Anna vom Neubertbauerhof, die seit dem Tode ihres Vaters ein liebes, herzensgutes und bescheidenes Mädchen geworden ist. Sie kommt zuweilen ja auch zu euch. Man sieht sie oft mit ihm zusammen. Aber er scheint nicht recht zu wissen, ob er sie gern haben, oder ob er sie hassen soll. Wenn er sie sieht, fährt er sie wie ein bissiger Hofhund an und gebietet ihr, sich augenblicklich zu entfernen. Das tat sie aber nicht. Sie bleibt und schaut ihm freundlich ins Gesicht. Dann wird er auch freundlich, immer freundlicher, und es soll schon vorgekommen sein, daß er sie an sich gezogen und auf das Haar geküßt hat, was er bei seiner Tochter niemals tut. Ist das nicht sonderbar?«

Die Frauen nickten. Das Karlinchen auch, obgleich man nicht darauf achtete. Der klugen Ziege fiel das Küssen auf. Mit der Freundlichkeit des Musterwirtes war es ein ganz eigenes Ding. Es steckte stets etwas Unfreundliches dahinter. Wäre das Karlinchen an Stelle der Anna gewesen, so wäre er wohl nicht dazu gekommen, seinen Schnurrbart auf ihr Haar zu drücken. Das kommt aber davon, daß die Anna keine Hörner hat!

»Wißt Ihr das schon von den beiden Hypotheken?« sprach der Herr Lehrer weiter. »Das ist etwas, was mir zu denken gibt! Er ist gleich in der ersten Woche nach seiner Genesung zweimal mit der Anna nach der Stadt gefahren, um erst die eine und dann auch die andere Hypothek löschen zu lassen. Dabei hat er vor Gericht zwei Quittungen ausgestellt, daß sie ihm das Geld bar bezahlt habe. Im Gasthofe, wo er ausspannen ließ, hat er die Hypothekenbriefe vorher schon in den Ofen gesteckt und vor mehreren Zeugen verbrannt. Aber kaum war er hier wieder angekommen, so behauptete er gegen seine Tochter, die ihm Vorwürfe hierüber machte, er wisse von der ganzen Sache nichts. Vorgestern hatten wir Komiteesitzung bei ihm, im reservierten Zimmer. Als er kam, brachte er die Anna mit, obgleich der Zutritt für andere eigentlich nicht gestattet ist. Er stellte den Antrag, ihn zu entlassen. Er müsse sein Amt als Vorsitzender niederlegen, weil er nicht der rechte Mann dazu sei. Das war uns außerordentlich lieb. Nach dem, was in der letzten Zeit geschehen ist, wurde das Protokoll sehr gern aufgesetzt. Er unterschrieb es selbst, und wir wählten den Herrn Pastor an seine Stelle. Heut' nun tritt er trotzdem wieder als Vorsitzender auf und sendet uns ein Zirkular, um uns für den Abend zur Sitzung einzuberufen. Hierauf war ich bei ihm, um meine Schuld zu bezahlen, und stellte ihm bei dieser Gelegenheit vor, daß er doch ausgetreten sei. Er sah mich ganz betroffen an und behauptete, kein Wort davon zu wissen! Der Mann scheint irre zu sein. Er war schon damals so verstört, als er mich am Tage vor dem Begräbnisse des Neubertbauers mit hinauf in seine Stube nahm.«

Das Karlinchen wurde nachdenklich. »Da drüben im Dorf scheint vieles nicht mehr richtig zu sein,« dachte es. »Die Menschen haben schwache Köpfe. Man müßte sich viel besser um sie bekümmern. Aber ich kann nicht gut von meinem Bergle fort. Das könnte höchstens nur des Nachts geschehen, und da schließt mich die Mutter immer ein!«

Was nun noch besprochen wurde, das war fast noch interessanter als das Vorhergehende. Es betraf meistenteils die Ausstellung. Daß der Herr Minister kommen werde, das war gewiß. Und wer noch kommen wollte, das war der Herr aus Brüssel mit seiner Dame. Er hatte der Mutter geschrieben, daß er einen Geschäftsfreund aus Mexiko mitbringen werde, der große Geschäfte in dem Artikel ›Rebozo‹ mache und soeben bei ihm sei. Vielleicht könne hieraus eine für die erzgebirgische Klöppelei sehr nützliche Verbindung mit dem spanischen Amerika entstehen.

Das Karlinchen horchte auf. Rebozo! Das Wort kam ihr so ziemlich spanisch-amerikanisch vor; sonst aber war es ihr völlig unbekannt. Auch die Mutter fragte, was das sei. Denn was das Karlinchen nicht weiß, das kann die Mutter erst recht nicht wissen. Der Herr Lehrer aber zeigte sich orientiert. Er sagte, Rebozo sei der lang herabwallende, kostbare Gesichtsschleier der Mexikanerinnen, überhaupt der Amerikanerinnen spanischer Abstammung. Wenn der fremde Herr wirklich komme und die hiesige Klöppelei für entwickelungsfähig halte, so könne sich derselben ein neues und ebenso umfang- wie segensreiches Absatzgebiet eröffnen. Der Deutsche sei eben immer noch zu sehr Michel. Er sehe sich nicht eher um, als bis der Zufall ihm die Augen öffne.

Das Wort Michel leuchtete dem Karlinchen sofort ein. Sie sah verständnisinnig zu dem Herrn Lehrer auf. Dieser sprach noch längere Zeit über die verschiedenen Vorbereitungen, welche in fast jedem Hause für die Ausstellung getroffen wurden. Was das Karlinchen dabei zu hören bekam, das fuhr ihr dieses Mal nicht in die Hörner, sondern ausnahmsweise ganz nieder in die Beine. Flaggen, Wimpeln, Fahnen, Blumen, Kränze, sogar Guirlanden quer über die Wege! Das ging ihr durch die Ohren erst einfach in alle Gefühls- dann aber zehnfach in alle Bewegungsnerven! Man kann nicht umhin, hier daran zu erinnern, daß die Ziegen für neugierig ausgeschrieen werden. Die Wissenschaft hat konstatiert, daß dies wahr sei, aber die mag sich nur fein an ihrer eigenen Nase zupfen, denn nirgends gibt es so neugierige Ziegen als grad eben in der Wissenschaft. Sie schnobern und naschen an allem herum, was in ganz andere Mäuler gehört! Und wenn man sich über diese ihre Neugierde wundert, so hängen sie ihr einen Mantel um und geben sie für Wißbegierde aus. Handelt es sich um etwas zum Trinken, so nennen sie es sogar Wissensdurst! Nun, das Karlinchen gehörte eben auch zu dieser edlen Art! Sie fühlte Wissensdurst! Wenn man jahraus, jahrein fast niemals vom Bergle weg und höchstens nur einmal bis hinunter auf die Wiese gehen darf und dafür täglich eine ganze Kanne, das sind zwei Nößel, Milch zu zahlen hat, so sind das jährlich über siebenhundert Nößel Milch. Dafür kann man schon einmal etwas wagen, was sich der Mensch fast jeden Tag erlaubt, obgleich er keine Milch zu liefern hat, nämlich sich des Abends vom Häusle fortzuschleichen, um seinen scheinbar wissenschaftlichen Durst zu löschen. Nur hat man das so schlau wie möglich anzufangen, wenn man nicht Gefahr laufen will, von der Mutter entweder vorher fest eingeriegelt oder nachher in flagranti attrappiert zu werden!

Indem das Karlinchen diese köstlichen Gedanken in sich bewegte, war das Gespräch zu Ende gegangen. Der Herr Lehrer griff nach seinem Hute und sagte:

»Und nun noch eins, bevor ich gehe. Heut' sind die Festjungfrauen bestimmt worden – – –«

»Ich denke, die sind schon längst bestimmt?« fiel da die Mutter ein.

»Von wem?«

»Die Rosalia sprach doch davon. Sie werde die Oberste sein, sagte sie. Das weißseidene Kleid ist ja schon fertig!«

»Ein weißseidenes Kleid für sie? Nach den Ereignissen der letzten Zeit? Festjungfrauen sind doch wohl Ehrenjungfrauen! Was sie sich gedacht hat, geht doch uns vom Komitee nichts an! Wir haben zu bestimmen! Sie, die sich gern Brüstende, ist es allerdings gewesen, welche das Wort Festjungfrau zum ersten Male ausgesprochen hat. Es ist leider weitergetragen worden. Der Herr Pfarrer und ich, wir waren dagegen, sind aber überstimmt worden. Doch ist es uns gelungen, dieser Angelegenheit eine solche Form zu geben, daß der Herr Minister und die anderen behördlichen Gäste nicht durch sie belästigt werden können. Diese Herren sollen uns für das halten, was wir sind, nicht aber für Väter eitler Töchter, die sich gern sehen lassen wollen. Wir haben die Liste aufgestellt, Fräulein Rosalia ist nicht dabei. Es gibt allerdings eine ›Oberste‹, wie sie beliebt hat, es zu nennen. Diese Oberste wurde derart gewählt, daß jeder den Namen, den er wollte, auf einen Zettel schrieb und den Zettel auf den untersten von zwei Tellern legte. Als sie dann vorgelesen wurden, stellte sich zur allgemeinen Freude heraus, daß es ein ganzes Dutzend Papiere, aber nur einen einzigen Namen gab. Der lautete – das Herzle!«

»Ich?!« rief die Genannte erschrocken aus.

»Ja, du!« nickte er, indem sein Auge strahlend auf ihrem jetzt tief erglühenden Gesichtchen ruhte.

»Warum ich, Herr Lehrer?! Ich bin doch – ich bin – ich bin –«

Sie konnte nicht weiter sprechen. Es stürzten ihr die Tränen aus den Augen. Die Mutter weinte auch. Da legte der Lehrer der Freundin seiner armen Jugend die Hand auf das Haupt und sagte:

»Herzle, die Gemeinde, die ganze Gemeinde will es so, und – der König auch!«

»Der König? Gar der König auch? Wie ist das möglich?« fragte sie erstaunt.

»Sag' erst, ob du willst. Ich bin vom Komitee zu dir geschickt worden, um dich zu fragen.«

»Wenn es nur die Gemeinde wäre, so würde ich ›nein‹ sagen. Du weißt, warum!« antwortete sie mit einem tiefen, seufzenden Atemzuge. »Wenn es aber sogar auch der König will, so muß ich wohl gehorchen. Woher weiß er denn aber von mir?«

»Aus meinem neuen, zweiten Buche. Ich habe dich und die Mutter als ein Beispiel genannt, als einen Beweis, daß die Armut ganz wohl das unlautere Kapital besiegen kann, wenn sie dem lieben Gott vertraut, die Hände fleißig regt und ebenso fleißig darüber nachdenkt, wie man sich selbst auch helfen kann. Das hat dem hohen Herrn gefallen. Es ist aus seinem Privatkabinett ein Schreiben an den Herrn Pastor gekommen, dessen Inhalt du nur dann erfahren wirst, wenn du einwilligst, die Oberste der Festjungfrauen zu werden.«

»So muß ich freilich wohl. Aber ich bitte dich, verlange nicht von mir, daß ich deswegen gar besonderen Staat zu machen habe!«

»Herzle, du kannst genau so kommen, wie ich dich hier vor mir sehe. Es bedarf nicht eines einzigen Schmuckes. Höchstens ein Rösle aus meinem Schulgarten. Und das bringe ich dir gern, wenn du es mir erlaubst.«

Sie nickte nur. Er drückte ihr die Hand. Der Mutter auch. Dann wollte er gehen. Aber das machte sich nicht so schnell, als er dachte. Das Karlinchen stand nämlich auf und tat einen Freudensprung, wie man ihn bei ihr noch gar nicht gesehen hatte.

»Das ist drollig!« lachte er. »Fast sollte man denken, daß sie alles verstanden habe und sich ebenso darüber freue wie wir. Karlinchen, von heute an gibt es auf dem Bergle eine Festjungfrau!«

Da schielte ihn die Ziege nur so von der Seite an. Es war die reine Ironie. Sie wußte es besser, viel besser als er; aber sie verriet es nicht. Doch als sie ihn bis hinab zum Brückle begleitet hatte und ihm nachschaute, wie er über die Wiese ging, machte sie eine zweite Auflage des Freudensprunges und sagte bei sich selbst:

»Nur eine Festjungfrau hier auf dem Bergle? Warte nur, Bursche, was du für Augen machen wirst! Da kenne ich den König doch noch besser! Der weiß schon, was er will! Ich sehe da, daß ich mich nun selbst einmal bekümmern muß. Ich muß unbedingt heut' abend in das Dorf. Es gilt zu revidieren. Freilich heimlich, ungeheuer heimlich! Wie fange ich es nur an, daß ich nicht eingeschlossen werde? Der Riegel – der Riegel – der Riegel!«

Sie ging das Bergle langsam wieder hinauf und blieb für kurze Zeit bei ihren Herrinnen stehen, um sie mit einem Gesicht zu täuschen, welches so ziegenhaft wie möglich war. Sie wollte gerade jetzt nicht für eine jener ihrer Kommilitonen gehalten werden, welche Wissensdurst besitzen. Als sie glaubte, dies erreicht zu haben, wandte sie sich mit einer Miene, von welcher ganz gewiß kein Wässerlein trübe werden kann, dem Stalle zu, um ihn auf ihr Vorhaben hin zu untersuchen.

Dem Riegel war nicht beizukommen; das sah sie sofort ein. Dafür erschien ihr aber die hintere Wand so ziemlich glückverheißend. Sie bestand aus Brettern, welche unten von der Stallfeuchtigkeit zerfressen waren. Es galt eine Probe. Sie ging hinein und rannte mit den Hörnern gegen das eine Brett. Es gab nach. Beim nächsten Stoße auch das zweite.

»Fein!« dachte sie. »Jetzt muß ich aufhalten, sonst merkt es die Mutter. Auf die kommt es an. Vor dem Herzle wäre mir gar nicht bange. Heute abend habe ich nur noch nachzuhelfen. Dann gehe ich in die Wicken!«

›In die Wicken gehen‹ ist nämlich im Erzgebirge genau dasselbe, was man in anderen Gegenden auskneifen, durchbrennen, oder gar, sich heimlich drücken, nennt. Man sollte eigentlich einmal irgend einem berühmten Psychologen die Frage vorlegen, durch welche ›Assoziationen der Ideen‹ das sonst so interne Karlinchen auf so außerordentlich externe Gedanken kommen konnte. Vielleicht schriebe er ein mehrbändiges Werk darüber, daß kein allzu großer Unterschied zwischen der Tier- und der Menschenseele ist, wenn man die eine leugnet und von der anderen so viel wie gar nichts weiß.

Ob das, was in dem Karlinchen steckte, Seele war oder nicht; das bleibt sich gleich. Aber daß sie Hörner hatte, das kann unmöglich bestritten werden. Und diese waren dazu da, die inneren Entschlüsse auszuführen, mochten diese nun stammen, von wem es ihnen beliebte. Dabei ist hier zu konstatieren, daß die wackere Ziege sich um so mehr mit ihren Fluchtgedanken beschäftigte, je näher der Abend kam. Sonderbarerweise wollte ihr der gewaltsame Ausbruch jetzt immer weniger gefallen.

»Zwei neue Bretter kosten in dieser halben Länge doch wenigstens dreizehn Groschen,« dachte sie. »Es wäre doch hübsch, wenn ich der Mutter dieses Geld ersparen könnte! Wie schön, wenn sie gerade heute einmal vergäße, die Tür zuzuriegeln. Das ist aber in meinen acht Lebensjahren erst zweimal vorgekommen!«

Dieser Wunsch grub sich so fest ein, daß sie ihn nicht wieder loswerden konnte. Sogar beim Abendmelken dachte sie an ihn. Und als sie dann aufgefordert wurde, ›zu Bette zu gehen‹, blieb sie an der Stalltür stehen, drehte sich noch einmal nach der Mutter um, sah sie sehr scharf an und gab dabei den Stoßseufzer frei: ›Die Tür hat heute hier aufzubleiben! Ich, das Karlinchen, will es so!‹ Dann ging sie hinein und legte sich nieder.

Es verging eine Viertelstunde, eine halbe, eine ganze Stunde. Niemand kam. Punkt zehn Uhr stieg die Mutter mit dem Herzle die Treppe hinauf, nachdem sie die Haustür von innen verschlossen hatte. Die Kammertür daneben quietschte beim Aufmachen einmal, beim Zumachen noch einmal. Das Karlinchen holte erleichtert Atem wie ein Orgelblasebalg, wenn er sich nach dem letzten Ton zusammenziehen darf.

»Das ist geradezu großartig!« sprach das, was in ihr steckte, zu sich selbst. »In zehn Minuten schlafen beide fest. Ich habe mit meinem letzten Blick die Mutter hypnotisiert! Oder war das schon mehr Suggestion? Jetzt soll mir nur noch einer kommen und mir sagen, daß es keine direkte Verbindung zwischen verwandten Geistern gebe! Ich stoße ihn von dem Brückle, daß es nur so kracht! Der Mutter aber gebe ich aus lauter Dankbarkeit morgen drei volle Nößel Milch, nicht bloß eine Kanne! Nun aber will ich horchen. Bis es elf schlägt, warte ich; dann aber schleiche ich mich fort.«

Auch diese Stunde verging. Es schlug zweimal elf vom Turm, erst mit der kleinen, dann mit der großen Glocke. Das Karlinchen zählte beide Male, um ja nicht irre zu gehen. Als es stimmte, machte sie sich auf. Das Gärtle hinab und über das Brückle hinüber trat sie sehr leise auf. Dann aber gab es weichen Wiesenweg; da konnte sie sich eher gehen lassen. Zunächst tanzte sie eine kurzbeinige Polakka, dann einen munteren Hüppelschottisch, hierauf einen Linksumgalopp und endlich ein großes Ringelrennen. Da aber war der ganze Atem weg. Sie mußte ein Weilchen stehen bleiben, um die Lunge wieder in Ordnung zu bringen. Als dies geschehen war, schlug es gerade zwölf.

»Die Geisterstunde!« dachte sie. »Ich verstelle mich! Wenn ich erwischt werde, tue ich, als ob ich gar keinen Körper habe. Ich schaffe ihn um die Ecke!«

Dies zu tun, fand sich für sie wiederholt Gelegenheit, weil infolge der nahen Ausstellung jetzt länger gearbeitet wurde als sonst. Man ging also später schlafen. Darum war von dem, was sie sich vorgenommen hatte, nämlich vom Revidieren, jetzt noch keine Rede. Vielleicht vor zwei Uhr nicht. Diese Zeit konnte man nützlicher verbringen als durch zweckloses, weiteres Umherstreifen. Eine hintere Gartentür stand offen. Sie ging hinein. Da gab es Beete, Sellerie, Grünkohl, Blaukohl, Möhren, sogar Rosenkohl. Auf dem Bergle waren solche schöne Sachen streng verboten. Hier aber wohl nicht, zumal wenn man als Geist auftritt! Es haben noch ganz andere Geister sich gern mit Kohl beschäftigt! Das Karlinchen begann, das Leben zu genießen. Der Garten war keine Landkarte. Und wenn er eine gewesen wäre, so hätte man sie bei der hier herrschenden Dunkelheit nicht lesen können, denn der Mond stand auf der anderen Seite des Hauses. Das Karlinchen wußte also nicht, wo es sich befand, nämlich grad hinter dem Gasthofe. Die zwei erleuchteten Fenster da oben, welche offen standen, gehörten zur Stube des Musterwirtes.

Dieser schlief noch nicht. Seine Tochter befand sich bei ihm. Sie stand vor dem Tische und strich soeben neunundvierzig harte Taler in die Tasche ihres Poil de chêvre-Rockes, dazu den bekannten Lochtaler mit der Elsterperle an der Schnur. Ihr Gesicht hatte einen festen, entschlossenen Ausdruck. Dasjenige ihres Vaters war bleich. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen.

»Du willst es also tun? Wirklich? Wirklich?« fragte er.

»Ja. Es muß so sein. Und du hast nicht den Mut dazu! Meine Mutter ist die Vertraute ihres Vaters gewesen, ich aber war die deine nicht. Darum ist es so weit gekommen. Nun endlich hast du mir beichten müssen, hast keinen anderen Ausweg gewußt. Du sollst sehen, daß ich mir noch alles rette. Leg' dich ins Bett, und schlaf'! Ich aber geh' zum Bache und werfe die Taler hinein. Das hättest du damals gleich tun sollen!«

»Nein,« sagte er. »Ich hatte ihm bloß den einen Taler zu lassen und Anzeige zu machen. Die anderen hätte man dann in der Schublade gefunden. Da war die ganze Falschmünzerbande auf dem Bergle entdeckt, die Eltern des Herzle und auch die Eltern des Lehrers, die hätte ich natürlich in einen Topf zusammengeworfen.«

»So kommen jetzt die Kinder daran! Morgen vergrabe ich die Münzstöcke im Schulgarten. Du darfst das nicht. Uebermorgen auf dem Bergle das neue Silbergeld. Wir brauchen gar nicht Anzeige wegen Falschmünzerei zu machen, sondern nur zu sagen, daß das Herzle uns beschuldigt hat. Einen echten Taler mit einer Perle haben wir seit heut'. Wir zeigen ihn vor und verlangen, daß im Wasser nachgesucht wird, wo der Musteranton sich ersäuft hat! Da findet man das falsche Geld und wird dann weiterforschen. Wenn man entdeckt, was ich vergraben habe, dann kann der Lehrer mit dem Herzle Hochzeit feiern, aber ja nicht in der Kirche. Und daß man es entdeckt, dafür werde ich schon Sorge tragen! Hätte ich eher gewußt, was er über mich zu dir gesagt hat, so wäre es schon lange mit ihm aus. Er soll erfahren, ob ich eine Ausstellung bin, zu der ein jeder kommen kann, dem es beliebt!«

»Gehst du gleich jetzt hinüber zum Bach?«

»Nein; der Mond scheint noch, und so eine Sache muß abgemacht werden, wenn es dunkel ist; das wird so um die zweite Stunde sein. Hast du noch viele Hundertscheine?«

»Eine ganze Menge! Ich habe seit längerer Zeit eine Pause gemacht, weil das Schuldbüchergeschäft so gut gegangen ist. Der Neubertbauer war fast noch der einzige, mit dem – – – der Neubert – – – der Staatsanwalt! – – – da ist er – – – da, da, da! Er schaut mich an! Er mahlt – – – er reibt – – – er beutelt!«

»Nein, das bin ich!« schrie sie ihn an, indem sie ihn bei der Brust faßte und schüttelte. »Ich beutle dich! Mensch, nimm dich in acht mit deiner albernen Angst! Du jammerst dich sonst selbst in das Dekerment! Aber ich werde dich schon noch zum Schweigen bringen! Wenn du das alte Weib bist, so muß ich der Mann sein, der sich nicht fürchtet! Am besten ist es, ich schmeiße dich in das Wasser, anstatt die Taler! Du bist der Mörder und gehörst hinein! Ich werde nachher einmal dort nachschauen, ob es noch tief genug für einen Menschen ist, der es verdient hat, daß man ihn an derselben Stelle ersäuft, wo man den ermordeten Musteranton gefunden hat!«

»Mich, mich in das Wasser? Du, du, meine Tochter?« Er schüttelte sich und starrte sie schaudernd an.

»Ich, deine Tochter? Da lache ich dich aus! Dein ganzes Herz hat stets an dem Papiergelde gehangen, nicht aber an deinem Kinde. Nun jetzt, wo du die Rettung brauchst, denkst du plötzlich daran, daß du eine Tochter hast. Für mich bist du nicht der Vater, sondern der Besitzer des Geldes, welches ich erben will. Deine Erbin will ich sein, weiter nichts!«

Da faßte er sie am Arme, bohrte sein Auge in das ihrige und sagte:

»Ich habe nichts dagegen, nichts. Dann mußt du aber auch alles erben, alles, alles, alles!«

»Was?«

»Nicht nur das Geld, sondern auch meine Schuld, mein böses Gewissen, welches mich jetzt peinigt Tag und Nacht!«

»Gib es her, alter Mann; gib es her! Das sind ja ganz dieselben Kinkerlitzchen, die man drüben auf dem Bergle hat. Dort sagt man, das böse Gewissen werde den Mörder des Musteranton gewiß noch an das Brückle treiben, an dem er ihn hinuntergeworfen hat. So gib mir dein Gewissen! Ich nehme es dir ab. Ich muß ja nachher sowieso an das Wasser; da werfe ich es hinein. Oder ich stelle es hin an das Brückle. Da kommt vielleicht das Karlinchen, was mich und dich nicht ausstehen kann, und stößt es mit den Hörnern hinab! Wenn du dann mit der Polizei gesprochen hast, so zieht diese es mit dem falschen Geld heraus und schafft es auf den Kirchhof hinaus und in das neue Neubertbauergrab, welches die Anna, die Protzin, ihrem Vater hat machen lassen, dreimal so groß wie das alte. Die hat nun wieder Geld! Dummkopf, der du bist!«

Sie stieß ihn auf die Seite und ging zur Tür hinaus. Er trat an das Fenster, legte die Hand an den schmerzenden Kopf, sah in die Nacht hinaus und sagte:

»Dummkopf? Wenn es nur das wäre, wie froh wollte ich sein! Oft halte ich mich für wahnsinnig; aber ich bin es nicht. Es ist etwas ganz anderes! Mein Haus, der Körper, hat zwei Herren. Ich bin der eine, dem es gehört, der es erhalten will. Der andere tut alles, um es zu zerstören, um mich zu vernichten. Ich begegne ihm nie; ich kann ihn nicht erwischen. Aber sobald ich nur den Rücken wende, ist er da, denn er lauert Tag und Nacht vor meiner Tür und nimmt jeden Augenblick zusammen, um zu tun, was mich in Schaden bringt. Er liest meine Geschäftsbücher durch. Er durchstöbert mein ganzes Etablissement. Er verschenkt, was ich mit Fleiß erworben habe. Er vernichtet meinen guten Namen. Er spielt mit falschen Kartenspielern um hohe Summen. Er jagt mein gutes Gesinde fort und holt mir schlechtes dafür herein. Ganz und genau so, wie ich es mit – – – mit – – – mit ihm gemacht habe, als er noch lebte! Er hat es sogar so weit gebracht, daß meine Tochter nichts mehr von mir wissen will, weil das auch meine Absicht bei der seinen war! – – – Das Fürchterlichste dabei ist, daß ich alles anerkennen, bekräftigen und ausführen muß, weil er es in diesem meinem Körper tut. Er spricht mit meinen Lippen. Er gibt mit meiner Hand. Er schreibt mit meiner Feder! Ich bin ihm preisgegeben mit allem, was ich bin und was ich habe. Mein Haus, mein Geschäft, mein Vermögen befindet sich in seiner Gewalt. Er spielt mit meiner Seele und treibt mit meinem Geiste Allotria! Bei jeder Heimkehr fühle ich, daß er da oben im Gehirn nach jedem Gedanken geforscht hat, den ich nicht mitgenommen habe, als ich gegangen bin. Vor allem eines will er wissen, was ich verschweigen muß, nämlich das Messer, das Messer – – – wohin ich es versteckt habe! Wenn er das erfährt, so geht er in diesem meinem Körper in den Busch hinaus und nimmt es unter der Klafter Holz heraus. Hierauf kommt er heim, stellt sich an den Schenktisch, wo er sich erstochen hat, und stößt es sich vor allen Leuten in die Brust. Dann heißt es überall: Der Musterwirt ist ganz genau so als Selbstmörder in die Grube gefahren, wie der Neubertbauer es ihm befohlen hat, der – – Neu – – – Neu – – –! Wie das wühlt! Ich fühle ihn – – –! Er steht schon hinter mir! Wer kann mir von ihm helfen? Der Pfarrer? Nein; ich beichte nicht! Der Lehrer? Nein, ich gestehe nie etwas! Die Rosalia! Sie ist die einzige, die allereinzige, bei der ich mich so stark und kräftig wie früher fühle, wenn ich sie bei mir habe! – – – Jetzt lege ich mich nieder. Ich muß schlafen – – – wenn ich kann. Aber das Licht lösche ich nicht aus; das muß brennen bleiben, denn – – denn – – – ich fürchte mich! Mögen die Leute denken, was sie wollen, wenn sie es sehen!«

Er brauchte in diesem Falle sich um die üble Nachrede nicht zu ängstigen. Seine beiden, hellen Fenster wurden nur von einer einzigen Person bemerkt, und diese Person war das Karlinchen. Sie schaute, während sie sich an dem Kohle gütlich tat, zuweilen zu ihm empor. So kam es, daß sie ihn stehen sah, als seine Tochter von ihm gegangen war. Ziegenaugen sind bekanntlich scharf. Sie erkannte ihn sofort.

»Das ist ja Herr Frömmelt!« dachte sie. »Ich glaube gar, daß dies hier sein Garten ist! Mir gerade recht! Wegen dem brauche ich mir kein Gewissen zu machen, denn er hat auch keins. Und wenn er eins hätte und es käme zu uns an das Brückle, ich würde es anrennen und in das Wasser stürzen, daß es auf der Stelle ersaufen müßte! Ob ich ihm wohl einen Streich spielen könnte? Halt, ich hab's! Da drüben sind seine Blumenbeete; die Reseda riecht herüber. Kohl schmeckt zwar besser, und ich bin schon so satt, daß ich fast nicht mehr kann; aber ich gehe doch noch hinüber und fresse ihm seine ganzen Aurikel weg. Das soll ihn wohl erbosen!«

Dieser Vorsatz klang zwar nicht allzu schön, aber sie führte ihn trotzdem aus. Als es zwei Uhr schlug, hatte sie den ganzen Aurikelflor so vollständig intus, daß sie kaum mehr Atem holen konnte.

»Das nenne ich gekaut!« sagte das, was in ihr steckte, zu ihr. »Wenn meine Haut von Papier wäre, so müßte ich zerplatzen. Die Aurikel schmeckten zwar scharf bitterlich, und ich weiß noch nicht ganz genau, ob sie sich mit dem Kohl vertragen werden, aber wenn man Herrn Frömmelt etwas zuliebe tut, so soll man nicht nach solchen Dingen fragen! Es scheint, ich bin ganz kugelrund. Die Beine wackeln. Sie sind solche Lasten nicht gewöhnt. Aus dem Revidieren wird heute wohl nichts werden. Ich will lieber machen, daß ich nach Hause komme. Bett ist Bett!«

Sie versuchte, zu gehen. Es ging ungeheuer schwer.

»Hm!« lachte sie innerlich. »Jetzt müßte man einen Hüppelschottisch oder gar einen Linksumgalopp probieren! Ich würde dadurch unsere ganze Milchwirtschaft zu Grunde richten! Also Ruhe, nichts als Ruhe! Ich trolle mich heim!«

Sie nahm die Richtung nach der offenen Tür, durch welche sie gekommen war. Noch hatte sie diese nicht erreicht, so blieb sie stehen, denn sie hörte Schritte. Es kam jemand, ging in einiger Entfernung an ihr vorüber und durch die erwähnte Tür hinaus.

»Das war ein Frauenzimmer!« dachte sie. »Mitten in der Nacht! Zwölf Minuten nach zwei! Wo doch jedes anständige weibliche Wesen – – hm! Ich doch auch! Aber das war nicht meinesgleichen und kommt mir also verdächtig vor. Ich mache mich hinterher, so sauer es mir bei dieser Leibesfülle auch ankommen wird!«

Gedacht, getan! Sie folgte der Vorangegangenen. Diese schritt nach der Wiese hinüber.

»Was? Da drüben wohnt ja weiter niemand als wir!« wunderte sich das Karlinchen. »Da muß ich schneller laufen!«

Sie beeilte sich. Der Mond war hinter den Bergen verschwunden. Aber das Karlinchen hatte, wie bereits gesagt, gute Augen. Sie sah die Gestalt und folgte ihr über die Wiese hinüber. Das ›Frauenzimmer‹ ging bis zum Brückle und blieb dann neben demselben stehen. Karlinchen schlich heran, leise, ganz leise!

Da kauerte sich die andere an dem Wasser nieder. Sie griff mit den Händen in den Falten ihres Rockes herum.

»Ist das nicht der Poil de chêvre-Rock?« fragte sich das Karlinchen. »Dann wäre es ja die Rosalia! Warte Mamsell, dir muß ich einmal in das Gewissen schauen, ob du es auch wirklich bist! Was hast du hier zu suchen?«

Sie trat hart hinter die Kauernde und schob ihren Kopf vor, um ihr in das Gesicht zu sehen. Der lange Ziegenbart strich an der Wange der Wirtstochter hin; sie drehte sich herum. Ein langer Bart, ein noch längeres Gesicht – – zwei große, große Augen und zwei lange, lange Hörner darüber! So mitten in der Nacht – – so plötzlich, unerwartet – – ohne jedes Geräusch – – ganz Kopf an Kopf mit ihr!

»Alle guten Geister! Der Teufel, der Teufel, der Teufel!« brüllte sie in unbeschreiblichem Schrecke kreischend auf und fuhr in die Höhe.

»Die Rosalia, wirklich die Rosalia!« jubelte es in dem Karlinchen. »Die habe ich hier fest, endlich, endlich, endlich! Und mich nennt sie den Teufel! Warte, Mustertochter, der soll dich nun auch holen, und zwar sofort, hier auf der Stelle!«

Sie trat zwei Schritte zurück und senkte den Kopf, holte aus und tat den kräftigsten Stoß, der ihr je in die Hörner gekommen war. Fräulein Rosalia stieß einen unartikulierten Schrei aus und stürzte rücklings und kopfüber in das Wasser, welches sich sofort über ihr schloß. Das Karlinchen trat ganz an die Flut heran und schaute hinein. So stand sie lange, lange Zeit. Was sie gedacht hat, das konnten nur die Wellen erraten, weiter niemand. Dann drehte sie sich um und ging leise, leise über das Brückle.

Als sie hinüber war, machte sie noch einmal rechtsumkehrt und senkte drohend die Hörner, als ob sie sagen wollte: »Jetzt bist du ganz genau dort, wohin du gehörst. Komm mir ja nicht wieder herauf! Das Brückle ist die Grenze!«

Dann schwenkte sie wieder um und schlich sich auf den vorsichtigen Sohlen ihres auch nicht ganz guten Gewissens nach dem Stalle, um sich von dem heutigen Abenteuer auszuruhen. Sie war überzeugt, irgend etwas Großartiges geleistet zu haben, nur wußte sie nicht genau, ob drüben bei den Aurikeln oder hier am Wasserbrückle. – –

Die Mutter und das Herzle standen Punkt fünf Uhr auf, wie alle Tage. Dabei sagte die erstere:

»Ich bin vor Sorge einige Male aufgewacht. Es fiel mir ein, daß ich vergessen habe, den Stall zuzuriegeln. Was wird da das Karlinchen von mir denken! Ich muß gleich nach ihr schauen!«

Das Herzle wollte mit dabei sein. Sie mußte so rasch wie möglich wissen, was die fürchterliche Unterlassung für entsetzliche Folgen gebracht habe. Die Ziege war noch da; aber sie schlief so fest, daß sie kaum erweckt werden konnte. Sie mußte aber auf, denn es war Melkenszeit. Auch die Ziegenmilch ist ein Artikel, bei dem man das Angebot mit der Nachfrage in Einklang zu bringen hat! Das Karlinchen wurde also herausgezerrt und stellte sich in Positur, doch betrug sie sich während der Lieferung heute anders als gewöhnlich. Sie war augenscheinlich nicht ganz bei der Sache. Sie drehte nicht von Zeit zu Zeit den Kopf nach dem Melkeimerchen um, um nachzusehen, bis zu welchen Höhepunkt die Leistung gestiegen sei, sondern sie hatte die Augen zu und nickte immerfort mit dem Kopfe wie eine müde Großmutter, welche den Strickstrumpf in ihren Händen nie fertig bringt, weil sie bei jeder Runde ein Schläfchen machen muß. Oft wackelte sie sogar, als ob sie träume. Aber dieser Ausnahmezustand war keineswegs von nachteiliger Wirkung auf das, was sie zu leisten hatte. Die Milch schien ganz im Gegenteile heute in Strömen fließen zu wollen. Es hörte gar nimmer auf. Das brachte die Mutter auf ängstliche Gedanken.

»Herzle, geh' schnell durch den Garten und schau nach, wieviel Kraut und Kohl uns das Karlinchen heute nacht weggefressen hat!« sagte sie. »Ich glaube, sie gibt jetzt schon das vierte Nößel! Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!«

Das Herzle tat schnell, was ihr befohlen worden war, und brachte dann die Meldung, daß von keiner einzigen Pflanze ein Blättle oder Spitzle fehle.

»So muß ich ihr den Verdacht abbitten,« meinte die schnell reuige Mutter. »Aber es war kein Wunder! Schau einmal her, da ich nun fertig bin! Hat sich so etwas seit Menschengedenken schon einmal ereignet? Der Eimer ist zum Ueberlaufen voll. Das ist doch wenigstens für fünfundzwanzig Pfennige mehr als wie gewöhnlich! Wo kommt das her?«

»Vielleicht grad weil die Tür aufgestanden hat. Die gute Luft die ganze Nacht hindurch!«

Da nickte das Karlinchen wieder, und zwar tief, sehr tief. Dabei hatte sie die Augen jetzt schnell aufgemacht und warf einen zustimmenden Blick nach der Stalltür hin.

»Vielleicht möglich, wenn ich es auch nicht ganz begreifen kann,« sagte die Mutter. »Da wäre es ja auch erklärt, daß sie jetzt noch ganz im Stehen schläft, denn die Nachtluft soll ja die Eigenschaft besitzen, schläfrig zu machen. Wir wollen es doch einmal versuchen und heut' abend die Tür wieder offen lassen!«

Da tat das Karlinchen ganz unerwartet einen Freudensprung, durch welchen sie die Mutter beinahe mit samt dem Eimer umgerissen hätte. Aber sie nahm sich sofort wieder zusammen, um sich ja nicht etwa zu verraten, und trat dann ihr Tagewerk in der altgewohnten, vorgeschriebenen Weise an.

Da hatte sie zunächst zum Bach zu gehen, um zu trinken. Sie tat das links vom Brückle, ja nicht rechts, denn dort lag ja – – – hm! Man denkt am Tage oft nicht gern an das, was in der Nacht geschehen ist, wenn man sich vom Häusle fortgeschlichen hat! Das soll sogar auch bei den zweibeinigen Geschöpfen vorkommen, nicht bloß bei den vierfüßigen! Dann hat man es teils im Kopfe und teils im Magen sitzen. Das knurrt und schnurrt wie ein Kater. Oder es zieht Grimassen wie ein Affe. Man bekommt Appetit nach etwas Saurem, so ungefähr nach dem Sauerampfer da drüben auf der Wiese. Kurz und gut, man ist halb gruselig, halb duselig und hält es gar nicht mehr für möglich, daß man als ein doch sonst so vernünftiges Karlinchen auf den verbotenen Gedanken kommen konnte, dem Herrn Frömmelt seine sämtlichen Aurikeln so radikal vom Beete wegzufressen! Die bittere Schärfe hätte einen doch wohl warnen sollen!

Im Hinblick auf besagten Sauerampfer trug das Karlinchen nun ihr schuldiges Gewissen hinüber auf die Wiese. Ihr Magen sagte ihr, daß dies gegen den Aurikelkater heilsam sei. Nebenan sprach auch noch eine zweite Stimme. Man wußte nur nicht recht, aus welchem inneren Teile. Die riet dem Karlinchen, jetzt gut aufzupassen, es werde jemand kommen. Darum schaute sie, während sie von Zeit zu Zeit ein Maul voll Ampfer zu sich nahm, sehr fleißig nach dem Dorfe. Doch wollte sich von daher niemand sehen lassen. Aber, kam da nicht jenseits der Häuser jemand vom Berge herab? So eilig, als ob keine Zeit zu verlieren sei? Auf dem Wege, den die Anna aus dem Neuberthofe zu wählen pflegte, wenn sie kam? Ja, ganz richtig! Vielleicht war sie es wirklich!

Karlinchen wartete. Ja, sie wurde sogar bald ungeduldig, denn sie hatte die Anna in ihr Herz geschlossen. Eine Viertelstunde verging, vielleicht gar noch mehr. Da konnte das Karlinchen es nicht länger aushalten. Sie wollte ihr entgegengehen. Da rief man sie. Sie drehte sich um. Die Mutter stand an der Brücke und zankte sie aus, daß sie schon früh am Tage spazierengehen wolle. Man habe die Klöppelkissen schon herausgeschafft, um die Arbeit zu beginnen. Sie sollte also kommen, weil man ohne sie nichts fertig bringen könne. Ihr warmes Frühstück stehe dabei.

Das zog! Zerdrückte Kartoffeln mit etwas Roggenkleie und einer Prise Feldkümmel dazu, das geht sogar über das, was eine Ziege Freundschaft nennt. Vielleicht bei den Menschen auch! Doch nicht so ohne allen Kampf! Das Karlinchen warf den Kopf nach beiden Seiten. Sie schaute nach dem Dorf und schaute nach dem Brückle, wo jetzt auch noch das Herzle erschien, um ihr zu winken. Wahrscheinlich hätte sie nun die Kartoffel mit Kleie-Richtung eingeschlagen; aber da ließen sich auch vom Dorfe her mehrere Gestalten sehen, welche die Absicht zeigten, über die Wiese zu kommen.

»Wer ist das?« fragte das Herzle erstaunt die Mutter. »Das ist doch gar Herr Frömmelt!«

»Ja, und die Anna! Er führt sie an der Hand!« antwortete diese, ebenso verwundert.

»Und hinter ihnen die Gasthofstagelöhner. Was haben sie in den Händen? Stangen, sogar ein Netz. Das braucht der Wirt, wenn er im Teiche Karpfen und Schleien fängt. Wollen sie etwa hier in unserem Bache fischen?«

»Jedenfalls ist es verwunderlich! Und – – – schau unser Karlinchen! Sie springt ihnen entgegen. Sie wird von der Anna gestreichelt. Und jetzt vom Musterwirt! Sie duldet das! Wie still sie steht! Jetzt leckt sie ihm gar die Hand! Herzle, so ein Wunder ist noch nicht geschehen! Sie hat ihn nie erriechen können, hat für ihn stets nur die Hörner gehabt, und dieses Mal tut sie mit ihm wie grad mit uns! Das ist ja ganz so, als ob er jetzt ein anderer sei als sonst!«

Das Herzle nickte und ging der Freundin über das Brückle entgegen. Diese ließ die Hand des Wirtes los, eilte auf sie zu, begrüßte sie und sagte hierauf eilig und leise:

»Ich konnte seit drei Uhr heute nacht nicht schlafen. Weißt du, die Sehnsucht kam über mich. Sie wurde so groß, daß ich herüber mußte. Es war, als ob er mich erwartet habe. Er empfing mich zum ersten Male gleich froh, nicht mit dem gewöhnlichen Zorn, der dann vergeht. Er hatte ein ganz anderes Gesicht; das lächelte immerfort. Er rief die Tagelöhner. Sie mußten die Stangen holen und das Netz. Wozu, das weiß ich aber nicht. Er hat es mir verschwiegen.«

Auch die Mutter war ein Stück herbeigekommen. Sie gab der Anna die Hand und wandte sich dann dem Musterwirte zu. Was hatte der heute für Augen! Grad so lieb und so warm hatte ihr verstorbener Mann sie angeschaut, wenn er von der Arbeit gekommen und hier am Brückle von ihr empfangen worden war. Sie konnte gar nicht anders, sie mußte ihm die Hand entgegenreichen. Er nahm sie, hielt sie fest und sagte:

»Marie, fürchte dich nicht vor mir! Es schickt mich einer zu dir her, dem ich jetzt zu gehorchen habe, obgleich er einst in meinen Diensten stand. Der Anton läßt dich grüßen!«

Hierauf wandte er sich an das Herzle:

»Und zu dir schickt mich ein anderer! Ich war dabei und habe gehört, was du mit dem Musterwirt gesprochen hast, als er den Taler deines Vaters an sich raffte. Du hast dich auf den Herrgott berufen. Du meintest, daß er dir sagen werde, was es mit dem Herde und den Flaschen für eine Bewandtnis habe. Du riefst dem Musterwirt zu: ›Behalte den Taler, denn wo dieser ist, da ist mein toter Vater. Der hält ihn fest. Der hebt ihn auf für den Staatsanwalt!‹ So sagtest du. Jetzt wird es in Erfüllung gehen. Der Staatsanwalt ist da. Der bin nämlich ich, ich, ich, der tote Neubertbauer, der aber nicht gestorben ist! Ich habe mich zum Staatsanwalt gemacht, kurz ehe ich aus meinem Körper ging. Und was ein Scheidender verspricht, das muß er halten. Dies habt ihr aus dem Munde des Pfarrers gehört, als er meiner Leiche die Abschiedsrede hielt. Darum komme ich heute so früh zu euch. Der Weg ist frei, und dein Vater ist da. Man hat ihm die gestohlenen Taler bringen müssen – – – ganz, ganz genau dorthin, wo er damals von dem Dieb und Mörder hingebracht worden ist. Das muß so sein. Die Gerechtigkeit hat es verlangt, und ich, der Staatsanwalt, habe darüber gewacht, daß es geschah!«

Indem er dies sagte, strich er der Ziege, welche ganz nahe bei ihm stand, mit der Hand liebkosend über das Haar.

»Jawohl, Karlinchen,« lächelte er dabei; »wir beide wissen mehr als andere; aber wir verraten es nicht. Man würde uns für wahnsinnig halten – – – mich einfach für verrückt, dich aber für besessen!«

Sie fuhr nach seiner Hand, um ihren Kopf an ihr zu reiben. Vielleicht war sie in diesem Augenblicke die einzige, welche nicht an der Klarheit seines Verstandes zweifelte, denn in den Blicken der anderen konnte man deutlich sehen, daß sie das, was er gesagt hatte, für irre Reden hielten. Er mochte das bemerken, denn er sah sie zwar freundlich, aber so von oben herab an, eine nach der anderen. Dann sprach er weiter:

»Ich bringe euch hier meine Anna. Nehmt sie mit hinauf auf euer Bergle. Wir werden hier inzwischen fischen. Was, das werdet ihr erfahren, wenn wir fertig sind. Dann rufe ich euch. Jetzt geht!«

Er sagte diese beiden letzten Worte in einem Tone, dem man gehorchen mußte. Die erste, die über das Brückle ging, war das Karlinchen, und zwar in auffallender Eile. Droben neben dem Tische stand ihr Frühstück, das allerdelikateste, was sie kannte. Sie hatte es nicht vergessen; aber sie sah es gar nicht an. Sie machte eine kurz entschlossene Schwenkung nach dem Stalle hin und verschwand in seinem Innern.

»Das hat man auch noch nicht gesehen,« sagte die Mutter. »Sie muß doch außerordentlich schläfrig sein, sonst würde sie den Napf nicht stehen lassen!«

Was hätte wohl das Karlinchen gedacht, wenn diese Worte in ihre Ohren gedrungen wären? Es soll zwar Geschöpfe geben, welche alles, was ihre Mitgeschöpfe tun, nur auf den Napf beziehen. Eine Ziege aber ist ein hochbegabtes Wesen. Und wenn ein solches Wesen an Quetschkartoffeln mit Roggenkleie und einer Prise Feldkümmel vorübergeht, ohne sogleich darüber herzufallen, wie geistig tiefstehende Personen sicher täten, so kann es dafür doch wohl noch ganz andere Gründe geben als nur Müdigkeit!

Die Frauen hatten an dem Tische Platz genommen. Sie sprachen von dem Musterwirt. Was er tat, das sahen sie nicht. Manchmal kam eine der Stangen über die Büsche empor, welche an dem Innenufer des Baches standen. Seine heutige Art und Weise war ihnen ein Rätsel, welches ihre Gedanken lebhaft beschäftigte. Sie waren weder Psychologinnen, noch hatten sie von Psychiatrie wohl jemals etwas gehört. Für sie war er der gefürchtetste aller Feinde, der aber plötzlich und zuweilen die ganz unbegreifliche Macht zeigte, ihre Angst und Furcht in Liebe und Vertrauen zu verwandeln. Und diese Macht kam ihnen nicht im geringsten unheimlich vor, sondern so freundlich wie ein Licht, welches einem grauenhaften Dunkel die Schrecklichkeit benimmt.

Jetzt erschien er unten am Brückle und winkte ihnen zu, hinabzukommen. Sie taten es. Er kam ihnen einige Schritte entgegen und sagte:

»Ich möchte euch eine Leiche zeigen. Wird euch das aufregen?«

Sie sahen ihn erschrocken an, ohne zu antworten. Sein Gesicht war ernst, doch dieser Ernst war fern von jeder Trauer. Man sah nicht einmal eine Spur von dem, was man Bedauern nennt. Und seine Stimme klang fast gleichgültig, als er weitersprach:

»Es ist die Rosalia. Sie lag am Brückle da im tiefen Wasser, grad da, wo einst dein Mann gelegen hat, Marie. Wir haben sie herausgefischt. Wollt ihr sie liegen sehen?«

»Nein, nein, nein!« riefen alle drei abwehrend aus.

Sie waren entsetzt. Sie wollten das in Worten ausdrücken. Er aber schnitt ihnen diese Worte ab:

»Schweigt! Ihr steht hier an Gerichtsstelle. Da spricht man nichts, was überflüssig ist. Ich bin der Staatsanwalt und habe euch zu fragen. Die Rosalia hat alle eure fünfzig Taler in der Tasche, auch den mit dem Uhrband. Das ist das Geld, wegen dessen der Musteranton ermordet worden ist. Die Untersuchung über diesen Mord kann also beginnen. Vor welchem Gericht? Es gibt ein irdisches und ein jenseitiges Gericht. Es soll auf euch ankommen, welchem von diesen beiden ihr die Nachforschung und das Urteil überlassen wollt. Uebergebt ihr es dem irdischen Gericht, so haben wir jetzt Anzeige bei der Polizei zu machen. Wollt ihr es aber dem Herrgott und seiner Gerechtigkeit überlassen, so nehmen die sogenannten Toten die Sache in die Hände und übergeben sie dem Richter, der niemals irrt und nie Unrecht spricht. Die Polizei sucht vielleicht jahrelang und wird wahrscheinlich den Täter nicht finden. Gott aber kennt ihn seit dem Augenblicke seiner Tat und hat ihn mir in die Hand gegeben. Ich fasse ihn beim Nacken wie eine giftige Natter, die nicht mehr beißen kann. Ich hebe ihn empor, hoch über eure Köpfe, damit alle Welt ihn deutlich sehen kann. Ich zerdrücke ihm den Kopf, in dem nur giftige Gedanken wohnen konnten. Und was kein irdischer Richter tut, weil er es nicht vermag: Ich leiste Ersatz für alles, was er verbrochen hat, sogar für seine sogenannten Morde. Denn jeder, der bei diesem Strafprozeß die Augen offen hat, der muß erkennen, daß grad die Ermordeten es sind, welche über den Mörder zu Gericht zu sitzen haben! Also entscheidet! Welchem Staatsanwalte soll der Mörder des Musteranton übergeben werden? Mir? Oder dem Anwalte beim Gerichte in der Stadt?«

Sie antworteten nicht. Es wäre ihnen unmöglich gewesen, auch nur eine Silbe zu sagen. Sie schlangen die Arme umeinander, um sich zu stützen. Aber sein Auge ruhte so mächtig fragend auf ihnen, daß die Mutter schließlich doch ihre Scheu überwand und sich die Kraft zu den wenigen Worten nahm:

»Nichts von der Polizei! Der Himmel mag ihn richten!«

»Der Himmel!« sagte der Musterwirt, indem er seine Augen dorthin erhob, wo die Morgensonne jetzt über den Bergen stand. »Der Himmel! Der hat aber Gnade! Selbst für den schwersten Missetäter! Nur fordert er, daß er seine Schuld bereue. Bist du damit einverstanden? Der Anton läßt dich fragen, Maria!«

»Ja,« antwortete sie, so tief ergriffen, daß sie laut schluchzend weinte.

»So segne dich der Himmel, an den du dich gewendet hast! Denn du hast – – – dadurch etwas getan – – – was ich nicht für möglich hielt! Du hast mich überwunden, mich, mich, mich, den – – – Neubertbauer. Was ich gesprochen habe, mit dem Messer in der Brust – – – das muß geschehen; das ist nicht zu ändern. Aber die Qual, die Qual, die fürchterliche Qual, an der er lange, lange leiden und dann sterben sollte, die sei ihm abgekürzt! Jetzt wartet hier, nur eine ganz kurze Zeit!«

Er entfernte sich über das Brückte hinüber. Als er wiederkam, hatte er ein Taschentuch in der Hand, mit etwas Schwerem darin.

»Das ist das echte falsche Geld, welches ich der Rosalia jetzt abgenommen habe. Und den falschen echten Taler mit der Perle, den sie nachgemacht haben, um die Polizei zu täuschen, habe ich hinzugelegt. Habt ihr Papier im Haus? Und Tinte auch und Feder?«

»Ja,« antwortete die Mutter.

»So sollt ihr dieses Geld wiederbekommen. Warum, das ist meine Sache. Und du gibst mir eine schriftliche Quittung, welche ich dir diktieren werde. Kommt mit herauf an den Tisch!«

Sie folgten ihm. Das Nötige wurde herausgeholt. Dann diktierte er der Mutter folgendes:

»Fräulein Aurelia Uhlig, welche das Gewissen ihres Vaters ist, hat mir die gestohlenen fünfzig Taler meines ermordeten Mannes wiedergebracht. Als Zinsen legte sie den Lochtaler hinzu, mit welchem die Polizei betrogen werden sollte. Dann ging sie in den Tod. Der Musterwirt hat also kein Gewissen mehr. Er kann nicht einmal seiner Tochter beichten!«

Als sie ihren Namen daruntergesetzt hatte, nahm er das Blatt, las es durch, sah die Frauen eine nach der anderen lächelnd an und fragte:

»Nicht wahr, das ist verrückt? Vollständig verrückt?«

Sie antworteten nicht. Denn in diesem Augenblicke kam der Herr Lehrer in eiligen Schritten das Bergle herauf. Er hatte nach dem Häusle gewollt und die Leiche am Bache liegen sehen. Ganz gegen sein sonstiges, ruhiges Wesen zeigte er sich im höchsten Grade darüber aufgeregt und stürmte auf den Musterwirt so schnell mit Fragen ein, daß zwischen denselben gar keine Zeit zu ihrer Beantwortung blieb. Da aber hielt er plötzlich inne und schaute dem Genannten entrüstet in das Gesicht.

»Sie lachen, Herr Frömmelt!« rief er aus. »Es ist doch wahr, was man von Ihnen sagt: Sie sind verrückt geworden!«

»Nur übergeschnappt, nämlich aus einem Körper in den anderen,« antwortete der Getadelte. »Was ihr superklugen Menschen euch doch für konfuse Bilder macht! Ihr laßt ganze Bücher von der Macht des Geistes über den Körper handeln. Wenn euch aber einmal ein Geist beweist, daß er sogar fremde Menschenkörper genau so wie seinen einstigen zu beherrschen vermag, so nennt ihr ihn – – – verrückt! Was wißt ihr von dem Geist und der Seele! Nur Falsches, nichts als Falsches! Ihr selbst seid irr! Alle eure Sinne werden nur vom Wahn regiert, und das ist der einzige, der allereinzige Wahnsinn, den es gibt! Mein Geist ist klar. Er hat sich selbst erkannt. Sie aber, Herr Lehrer, sind ganz in demselben Grade irrsinnig wie alle, die an meinem Verstände zweifeln. Sie kommen grad im rechten Augenblick. Hier, lesen Sie diese Zeilen!«

Bernstein nahm die Quittung, überflog sie und schaute dann die Mutter fragend an. Diese zeigte auf das Geld, welches jetzt offen auf dem Tisch lag, und sagte, daß man es bei Fräulein Rosalia gefunden habe. Die Quittung sei ihr von Herrn Frömmelt diktiert worden.

»Für wen?« fragte er hierauf den Musterwirt.

»Für Herrn Frömmelt,« antwortete dieser.

Der Lehrer schüttelte den Kopf und machte ein höchst mitleidiges Gesicht.

»Der sind ja Sie selbst!« sagte er. »Und wozu die Bemerkung über das Gewissen, welche vor den Irrenarzt gehört?«

»Da haben Sie recht. Vor den Irrenarzt! Der werde aber ich sein. Und Sie sind der Patient! Wollen Sie sich von mir unterrichten lassen? Soll ich Ihnen beweisen, daß von uns beiden nicht ich der Wahnsinnige bin, sondern Sie?«

Da sah Bernstein ihm offen und ehrlich in die Augen und antwortete:

»Man soll auf die Ideen Geisteskranker eingehen. Sie sind geisteskrank. Also gehe ich auf Ihren Gedanken ein! Er ist im allerhöchsten Grade interessant. Er wird meine Psychologie bereichern. Ich bitte Sie also, mir Ihren Beweis zu liefern!«

»Wohlan, es soll geschehen. Doch fordere ich zweierlei. Nämlich erstens haben Sie und die Frauen alles zu tun, was ich von ihnen verlange. Es wird zwar verrückt klingen, ist aber nichts Verbotenes. Und zweitens haben Sie gegen jedermann zu schweigen, bis ich ausdrücklich sage, daß Sie sprechen dürfen. Wer einverstanden ist, der gebe mir die Hand darauf!«

Der Lehrer gab sie ihm sofort und nickte den Frauen zu, seinem Beispiele zu folgen. Als es geschehen war, fuhr der Musterwirt fort:

»Hören Sie, Herr Lehrer, was ich sage. Ich werde es so kurz wie möglich machen! Außer uns hier wissen nur die Tagelöhner, was unten am Bache geschehen ist. Ich habe ihnen den Befehl gegeben, die Leiche nach Hause zu tragen und in meine Stube zu schaffen, um sie in mein Bett zu legen. Sehen Sie, dort schaffen sie sie schon über die Wiese! Es wird eine ungeheure Aufregung geben, aber wenn sie oben liegt, darf niemand mehr hinauf. Sie gehen von hier nach dem Gasthofe und sorgen dafür, daß der Weg für Sie frei wird. Dann begeben Sie sich zur Leiche, doch darf das kein Mensch sehen. Sie schieben ihr hier diese Quittung in die Hände und verstecken sich dann in die Nebenkammer, wo die heimlichen Geschäftsbücher liegen. Sie sind ja oben gewesen und wissen also, daß eine Glastür hinausführt, an welcher draußen ein Vorhang ist. Hier ist der Schlüssel dazu. Sie schließen sich ein und ziehen ihn sofort wieder ab. Dann beobachten Sie, was sich bei der Leiche ereignen wird. Verhalten Sie sich still und merken Sie sich jedes Wort, welches der Musterwirt zu seiner Tochter spricht!«

»Der Musterwirt? Also Sie!«

»Nein! Das ist ja eben das Rätsel! Das ist die Wahrheit, welche Sie für Wahnsinn halten! Ich bin der Neubertbauer. Und ich will den Musterwirt durch diese Quittung zwingen, die Beichte abzulegen, in der er alles gesteht, was er verbrochen hat. Haben Sie Zeit, zu tun, was ich Ihnen sagte?«

»Zeit? Jawohl! Ich habe der Ausstellung wegen frei bekommen. Ein Vikar erteilt für mich den Schulunterricht. In Beziehung auf die Zeit steht also nichts im Wege. Aber den heimlichen Lauscher zu machen, das geht mir gegen den Strich!«

»Wirklich? Da fangen Sie ja schon an, klein beizugeben!«

»Wieso?«

»Sie erklären mich für verrückt, weil ich behaupte, der Neubertbauer zu sein. Ich bin in Ihren Augen ja unbedingt der Musterwirt! Nun, dieser Musterwirt fordert Sie auf, ihn zu belauschen. Er hat Ihnen sogar den Schlüssel dazu anvertraut. Wenn Ihnen das gegen den Strich geht, so geben Sie damit zu, daß ich nicht diejenige Person bin, welche das Recht besitzt, Sie in die Nebenkammer einzulassen. Merken Sie, daß meine Beweise schon beginnen? Sie reden ja jetzt schon irr!«

Der Lehrer schaute vor sich nieder. Er fühlte, daß dieser Vorhalt logisch war.

»Nun wohl, ich werde es tun,« sagte er. »Sie behaupten, der Neubertbauer zu sein, aber Sie sprechen nicht wie ein Bauer. Sie sprechen sogar noch höher als der Musterwirt. Das ist es, was mich irr macht.«

»Weil Sie nicht wissen, was Geist ist. Ich bin nicht der Neubertbauer abzüglich seines begrabenen Körpers. Ich bin viel mehr, viel mehr. Sie werden das bald erfahren, wenn Sie gehorchen. Ich rechne mit Dingen, von denen Sie keine Ahnung haben, und ich weiß, daß diese meine Rechnung stimmen wird. Ich bin jetzt nicht mehr Körper, sondern nur noch Gesetz und Kraft. Was ich war, das hat sich aufgelöst und ist mit anderem ein vollständig Neues geworden. Dies Neue besitzt eine Macht, von der Sie keine Ahnung haben. Was Ihrer Polizei und aller Ihrer Anstrengung wohl kaum jemals gelänge, das werde ich im Handumdrehen zum guten Ende führen! Gehen Sie! Tun Sie, was ich sagte! Ich habe nichts hinzuzufügen.«

Er stand hoch aufgerichtet. Seine Augen blitzten. Es war, als ob man ihm nicht widerstehen könne. So wirkte er auch auf den Lehrer. Dieser gab ihnen allen die Hand und entfernte sich. Der Musterwirt sah ihm eine Weile nach und wandte sich dann an die Tochter des Neubertbauers:

»Anna, es wird nachher die Sehnsucht wieder über dich kommen. Du gehst nach dem Gasthofe, gleich die Treppe hinauf, in die Stube des Wirtes. Du lässest dich von niemand abhalten. Du sagst, Herr Frömmelt habe dich hinaufbestellt. Wenn dieser die Tür verriegelt hat, so lässest du ihm keine Ruhe. Er muß, muß öffnen. Wenn er nicht will, so drohst du ihm, du werdest sonst sofort zur Polizei gehen, wegen der Quittung, welche seine Tochter in den Händen habe. Da wird er dich einlassen. Dann schaust du ihm in die Augen und sprichst mit ihm, bis er sich in mich verwandelt hat. Das Weitere wird sich finden. Du hast mir treu gehorcht, du liebes, gutes Mädchen. Es war wohl manchmal schwer, doch nun bekommst du auch das Allerletzte, was dir der Wirt noch schuldig geblieben ist.«

Er zog sie an sich, drückte seine Lippen auf ihr Haar und wollte gehen. Da kam das Karlinchen aus dem Stall.

»Du willst mich wohl bis zu dem Brückle schaffen?« fragte er sie. »Na, so komm! Die Luft ist wieder rein!«

Sie lief an seiner Seite, als ob sie zu ihm gehöre. Unten am Wasser liebkoste er sie und sprach noch etwas zu ihr. Dann ließ er sie allein. Die Frauen sahen, daß er nicht direkt nach dem Gasthofe ging, sondern sich am Bache aufwärts wandte. Er wollte einen Umweg machen. Warum, das wußte er genau.

Nach einer halben Stunde kam er das Dorf herunter. Man grüßte ihn, doch ganz anders als sonst.

»Wie schaut man mich doch nur an!« dachte er. »Als ob etwas geschehen sei! Aber was? Warum bin ich nicht daheim? Wo bin ich gewesen? Als ich mich auf mich besann, stand ich auf der Waldwiese und schaute in das Wasser. Wenn das so weitergeht, da muß ich mich selbst auch für wahnsinnig halten, wie die anderen wohl schon tun, obgleich es bisher falsch gewesen ist!«

Als er den Gasthof erreichte, standen viele Neugierige da, die ihm in scheuer Höflichkeit Platz machten. An der Tür lehnte einer seiner Tagelöhner, der ihnen augenscheinlich etwas erzählt hatte.

»Wir haben sie hinaufgeschafft in Ihre Stube,« meldete dieser nun seinem Herrn. »Sie liegt in Ihrem Bette.«

»In meinem Bette? Wer?« fragte der Wirt.

»Na, doch Fräulein Rosalia. Sie haben es doch befohlen!« antwortete der Mann verwundert.

Der Wirt griff sich an den Kopf und sah den Tagelöhner wie abwesend an. Er ahnte, daß er schon wieder etwas getan habe, wovon er jetzt nichts mehr wisse. Warum diese vielen Leute? War es etwas Schlimmes? Es packte ihn die Angst. Er trat schnell in das Haus und eilte die Treppe hinauf. Droben war es, als ob ihm jemand die Augen zumache. Er trat ein, riegelte von innen zu und schlug sie dann wieder auf. Er sah seine Tochter lang ausgestreckt auf dem Bette liegen. Sie hatte ein Papier in den zusammengelegten Händen und stierte ihn mit weitgeöffneten Augen an, grad wie damals der Neubertbauer. Sie war tot. Ihr Anzug triefte noch. Das Oberbett, auf dem sie lag, war, wie man im Gebirge zu sagen pflegt, vollständig fadennaß.

»Sie hat sich ersäuft, ersäuft!« brüllte er auf, stürzte sich auf sie zu und sank vor dem Bette nieder.

Hierauf war es still in der Stube. An der Glastür wurde der Vorhang leise von innen bewegt. Nach einiger Zeit raffte er sich langsam, langsam wieder auf. In seinem Gesichte arbeitete das sprachlose Entsetzen. Er griff nach dem Zettel, um ihn zu lesen. Als er dies getan hatte, ballte er ihn krampfhaft zusammen. Es sah aus, als ob er dabei die Hände ringe. Dann ließ er ihn auf den Boden fallen.

»Ich hätte kein Gewissen mehr!« rang es sich aus seiner Brust. »Ich könnte dir nun nicht mehr beichten! Und grad auf dich habe ich mich verlassen, auf dich allein, allein! Warum hast du mir das getan – – – warum?«

Er wandte sich von ihr ab und begann, in der Stube hin und her zu gehen, mit unsicheren Schritten, fast taumelnd. Zuweilen blieb er stehen, um das Gesicht in beide Hände zu vergraben. Wollte er weinen? Es kam keine Träne, keine einzige. Dann rief er plötzlich laut und kopfschüttelnd aus, indem er die Hände dabei zusammenschlug:

»Nicht in das Wasser, sondern auf das Bergle hast du das Geld getragen! Sogar den neuen Lochtaler auch dazu! Und dir für mich, für mich die Quittung geben lassen, für mich, für mich! Also du hast gelogen! Hast mir meine Schuld nicht ab- und auf dich genommen! Du warst zu bequem dazu! Darum bist du in das Wasser gegangen! So ein schneller Sprung ist tausendmal leichter als das böse Gewissen, welches du mir nun wieder auf den Hals geworfen hast! Und dazu die Schande, die Schande, die Schande, daß ich nun der Vater einer Selbstmörderin bin, die ohne Sang und Klang in die hinterste Kirchhofsecke gehört! Ganz wie der Neubertbauer – – – der Neu – – –«

Er hielt inne, sah wie unter einem plötzlichen Gedanken zu ihr hinüber, sprang auf sie zu, schüttelte das Kissen, auf dem ihr Kopf lag, und stieß hervor:

»Weibsen – – –! So hat er dich ja auch genannt, damals, als du ihn verhöhntest – – – Weibsen, willst du nun etwa Kompanie mit ihm machen, Kompanie gegen mich? Das bilde dir ja nicht ein! Dazu bin ich euch doch viel zu klug! Ja, wenn er nicht selbst so dumm gewesen wäre, mir zu verraten, wie es nach dem Tode da drüben bei euch Geistern und Gespenstern steht! Das rächt sich nun an ihm und auch an dir!«

Er setzte seine Wanderung durch die Stube fort, jetzt mit fast stürmischen Schritten. Dabei stieß er kurzabgerissene Worte aus, als ob es seine Absicht sei, sich in die Wut hineinzuarbeiten. Nach einiger Zeit blieb er stehen, drehte sich im Kreise und suchte mit den Augen rund um sich her.

»Ich sehe euch zwar nicht, aber ihr seid da; ihr drückt euch hier herum!« spottete er. »Ich weiß ja, wie schnell der Neubertbauer gekommen ist. Fräulein Rosalia wird sich nicht weniger rasch eingestellt haben. Sie war ja stets sofort bei der Hand, wenn es galt, mir etwas abzupressen! So hört denn zu, was ich euch sagen werde!«

Er schaute nach dem Bette hinüber, machte eine Handbewegung, als ob dort diejenigen sich befänden, zu denen er redete, und fuhr dann fort:

»Was ein Mensch kurz vor dem Tode spricht, das hat er auch auszuführen. Da hilft ihm weder Gott noch Teufel los! Wißt ihr das? Ihr habt es ebenso gut wie ich gehört! Was aber hat die Rosalia mir versprochen? Nur zwei Stunden, ehe sie zum Wasser ging? Daß sie mein böses Gewissen auf sich nehmen will und meine ganze Schuld! Das hat sie nun zu tun, ohne Weigern und ohne Widerrede! Oder denkt sie etwa, daß ich so dumm bin, sie nicht beim Wort zu halten? Fällt mir gar nicht ein! Sie hat ja selbst gesagt, daß ich nicht ihr Vater sei! Und hierauf hat sie mir gar noch folgendes in das Gesicht geworfen: ›Am besten ist es, ich schmeiße dich in das Wasser, anstatt den Taler. Du bist der Mörder und gehörst hinein!‹ Da aber hat der Herrgott gerichtet und sie zur Selbstersäuferin gemacht! Und das ist für mich mehr als genug; ich muß ihm seinen Willen lassen. Dieser Wille aber ist, daß ihr mein böses Gewissen und meine Schuld gehört. Sie hat es abzubüßen, nicht ich, sondern nur sie allein. Ich mache mich jetzt von allem frei, indem ich es jetzt vom ersten Anfang bis zum letzten Ende aus mir herausnehme und ihr vor die Füße werfe. Sie hat zwar niemals etwas aufgehoben, was man vor ihr niederwarf; dieses Mal aber weiß ich, daß sie sich zu bücken hat. Ich werde beichten!«

Er ging an das offene Fenster, um es zu schließen, schaute nach, ob die Tür gut verriegelt sei, und lachte dabei wie ein Irrsinniger vor sich hin:

»Nicht wahr, das habt ihr nicht erwartet, ihr armen Seelen aus der ewigen Seligkeit? Für so pfiffig habt ihr mich nicht gehalten! Jetzt werde ich euch zeigen, was es heißt, sich die Rechnung ohne den Wirt zu machen, nämlich ohne mich, den Musterwirt!«

Er ging nun auch an die Glastür. Sie war verschlossen. Da griff er in die Tasche, fand aber den Schlüssel nicht.

»Wo ist er?« fragte er. »Ich weiß ganz genau, daß ich ihn eingesteckt habe! Hast du mir ihn etwa gestohlen, Neubertbauer? Wozu? Da draußen liegen meine Bücher. Du hast mir auch schon hineingeschaut! Wo hast du ihn versteckt – jetzt auf dem Spaziergange? Etwa unter die Holzklafter im Busch, wo schon dein Messer steckt? Die Waldwiese, wo ich stand, liegt ja so in der Nähe, daß –«

Da hielt er plötzlich inne. Er erschrak. Das war ja das Geheimnis, welches er um keinen Preis verraten wollte! Er schlug sich zornig vor den Kopf, war aber nun glücklicherweise von der Glastür abgelenkt.

»Ich gehe nachher hinaus und verstecke es wo anders,« beruhigte er sich. »Jetzt habe ich keine Zeit. Da steht der Tisch. Das soll der Altar sein. Ich lege die Bibel darauf, die dort bei dem Gesangbuch steckt. Die Geister haben Angst vor ihr. Ich schlage den Spruch auf: ›Und ihre Werke folgen ihnen nach!‹ Den habe ich mir eingezeichnet, weil er auf den Neubertbauer geht. Und dann, dann werde ich dem Fräulein Rosalia beweisen, daß ihre Quittung lügt. Ich beichte ihr, obgleich sie es nicht will!« –

*

V.

Es war am Nachmittag. Die Sonne schaute so warm auf das Bergle herab, als ob sie es ganz besonders in ihr Herz geschlossen und heute sehr liebevolle, heimliche Absichten habe, denn sie hatte einen feinen Federwölkchenschleier vor ihr Gesicht gezogen. Das tut sie nämlich immer, wenn sie den Schalk im Nacken hat.

Die Mutter sah mit frohem Lächeln über den Tisch zum Herzle hinüber, denn diese hatte das Klöppelkissen beiseite geschoben und die soeben fertig gewordene Spitze in der Hand.

»Karlinchen, komm her!« sagte sie. »Stelle dich auf wie eine Dame, die beiden Vorderhände hier auf den Stuhl! Ich will dir die Spitzen anprobieren, denn nur dann, wenn sie dir gut stehen, kann man mit ihnen zufrieden sein!«

Das Karlinchen gehorchte. Sie war sich der Wichtigkeit dieses Augenblickes im höchsten Grade bewußt. Denn als die Mutter den Spiegel holte und ihn ihr vor die Nase hielt, machte sie ein Gesicht, als ob sie sich wenigstens für eine Kommerzienrätin, wahrscheinlich aber für eine noch viel höherstehende Dame halte. Sie schielte auf den feinen Spitzenkragen genau wie eine titulierte Exzellenz herab.

Aber ja nicht lange. Denn mit einem Male nahm sie die Beine vom Stuhle, schwenkte vom Tische ab und rannte mit samt dem Spitzenkragen zu gleichen Füßen nach dem Brückls hinunter. Nämlich der Herr Lehrer kam. Da entstand in dem Herzle eine schreckliche Angst, natürlich nicht vor dem Herrn Lehrer, sondern um ihre kostbaren Spitzen. Sie sprang auf und lief hinter drein, dabei laut rufend:

»Meine Dangtell de Brüsell, meine Dangtell de Brüsell!«

Weil man in Brüssel französisch spricht, so stand in den Briefen des dortigen Kaufmanns immer anstatt des deutschen Wortes ›Brüsseler Spitzen‹ das französische Dentelles de Bruxelles. Und es hat kein Mensch das Recht, es einem deutschen Mädchen zu verübeln, wenn es nur in dem ganz besonderen Falle französisch redet, daß ihm die Ziege in die Wicken geht. Dann aber auch ordentlich! So ungefähr wie jetzt das Herzle! Nun war dem Karlinchen zwar alle Weisheit sehr wohl bekannt, von der Zeder bis zum Ysop herunter, genau wie dem Könige Salomo; aber da es kein Institut für höhere Töchter im Dorfe gab, so war sie in keines der französischen Wörterbücher eingeführt worden und wußte also gar nicht, was das Herzle wollte. Einer braven Ziege kommt alles, was wie ang, ong oder öng zu lauten hat, viel mehr chinesisch als französisch vor. Und so kam es, daß das Herzle und das Karlinchen leider erst da zusammentrafen, wo sich der Herr Lehrer unweit des Brückte ihnen beiden mit ausgebreiteten Armen in den Weg gestellt hatte. Er war scharfsinnig genug gewesen, sofort zu erkennen, daß eine von ihnen in die Wicken gehen wollte. Doch welche, das mußte die Untersuchung lehren. Darum hatte er die Absicht, sie um keinen Preis vorüber zu lassen, sondern das Verhör sofort zu beginnen. Sie hatten der Abschüssigkeit des Weges nicht die gehörige Rechnung getragen und kamen angesaust, wie aus einer Doppelpistole geschossen, die Ziege aus dem ersten und das Herzle aus dem zweiten Laufe. Der Herr Lehrer aber war der Kugelfang.

Nun kann man aber sehen, was der Urlaub oder die Ferien auf jeden, der sich mit ihnen abzugeben hat, für einen verderblichen Einfluß äußern. Der Herr Lehrer hatte sein Amt erst seit einigen Tagen an den Vikar abgetreten; aber seine Kenntnisse in der Mathematik waren doch schon so weit zurückgegangen daß er absolut nicht mehr berechnen konnte, wie hoch die Arme eines erwachsenen Mannes sind, und wie niedrig dagegen der Rücken einer Ziege ist. Und doch war er in der Algebra eigentlich sehr wohl zu Hause. Diese lehrt, daß die Armhöhe eines Mannes gleich X, die Rückenhöhe einer Ziege aber gleich Z ist. Der Unterschied zwischen beiden wird Y genannt. Nun war es aber wegen der verderblichen Ferienwirkung und infolge der rapiden Schnelligkeit, mit welcher sich bis beiden Kugeln bewegten, dem Herrn Lehrer nicht möglich, zwischen dem X und dem Z sofort die notwendige Gleichung herzustellen. Darum war es das Karlinchen, welches unter seinem Arm hindurch in die Wicken ging, während das Herzle dagegen zwischen X und Z hängen blieb und von den beiden Armen an dem Y festgehalten wurde.

Da sie von der Algebra soviel wie nichts verstand, so konnte sie das ihr bisher fremde Fazit zunächst gar nicht begreifen. Sie sagte kein Wort. Aber sie blickte so erschrocken zu dem Lehrer auf, daß dieser seine Arme auseinander nahm. Da glitt sie langsam auf den Boden nieder, als ob sie die Kraft, stehen zu bleiben, verloren habe. Das war da beim Rettichsbirnenbaum, genau an der Stelle, wo die Ziege das Fräulein Rosalia niedergeworfen hatte. Wie sonderbar das ist!

»Herzle, mein liebes, liebes Herzle, warum erschrickst du so?« fragte der Lehrer.

Ihr Gesichtchen war wie mit Blut übergossen; aber sie antwortete nicht. Es wäre ihr unmöglich gewesen, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Und nun geschah das gerade Gegenteil von dem, was Fräulein Rosalia gesagt hatte, nämlich nicht das Herzle hob den Herrn Lehrer auf, sondern er sie. Er nahm sie wieder in die Arme und drückte sie fest an sich.

»Weißt du denn wirklich nicht,« fragte er, »daß wir zusammengehören? Daß wir eine einzige Menschenseele sind? Herzle, Herzle, diese Unwissenheit müssen wir der Mutter klagen. Komm!«

Da geschah gleich zweierlei auf einmal. Nämlich die Sonne nahm ihren Federwölkchenschleier ab und lachte der ›einzigen Menschenseele‹ fröhlich in die glückstrahlenden Augen. Und das Karlinchen war nur ein kleines Stückchen bis über das Brückle hinausgeschossen und dann stehen geblieben, ganz ohne jeden Kugelfang. Die Spitzen hingen ihr noch fest am Halse. Jetzt kehrte sie zurück. Sie sah ihre beiden Lieblinge Arm in Arm. Da dachte sie an ihren Lieblingsdichter: »Ich sei, gewährt mir die Bitte, beim Hermann und Herzle die dritte!« Sie schob sich zärtlich zwischen sie hinein, und kam als Mittelste mit ihnen bei der Mutter an.

Da nun die Sache in vollster Ordnung war, legte die Sonne den Schleier wieder vor. Man weiß ja, daß sie nicht so neugierig ist wie andere Leute, zum Beispiel abends der Mond. Der stand heute schon am Himmel, als es noch gar nicht dunkel geworden war. Da sah er am Häusle drei Menschen sitzen, welche trotz der Größe ihres Glückes sehr ernst gestimmt waren. Denn sie sprachen nicht von sich selbst, sondern von dem Musterwirt.

»Die Beichte war grad vorüber, da hörte ich die Anna an der vorderen Tür,« sagte der Lehrer. »Der Wirt wollte sie zunächst nicht hereinlassen, öffnete ihr aber doch. Was sie für einen unbegreiflichen Einfluß hatte! In zehn Minuten war er wie ganz vertauscht. Er klopfte an meine Tür und forderte mich auf, herauszukommen. Ich bin noch blasser gewesen als die Leiche dort im Bette; so sagte Anna. Ich hätte es keinen Augenblick in der Stube aushalten können. Mir war, als ob ich lauter Geister um mich sähe, mit Fratzen anstatt richtiger Gesichter. Darum gingen wir fort. Unten gab er den Befehl, den Arzt aus der Stadt zu holen, der die Rosalia untersuchen und den Totenschein ausstellen solle. Die Anna durfte heim. Mich aber nahm er mit hinaus in den Busch, wo wir das Messer fanden. Er steckte es ein. Was wir dabei gesprochen haben, das werdet ihr erfahren, aber nicht jetzt, und nicht auf einmal, sondern nach und nach. Ich habe nicht nur mit ›ihm‹, sondern auch mit ›ihm‹ geredet. Das klingt zwar irr, ist aber richtig. Denn er verwandelte sich im Laufe des Gespräches. Was ich während dieser Verwandlung beobachtete und was ich dann mit vorher verglichen habe, das war fast zu viel für mich. Es wird lange dauern, ehe es in mir zur Klarheit und zur Ruhe gekommen ist. Dann aber gehe ich meinen richtigen Weg und frage keinen Menschen, ob er mich für verrückt hält oder nicht. Wer Larve bleiben will, der mag es bleiben; ich aber nehme mir die Maske vom Gesicht. Ich laufe dann zwar Gefahr, daß die Larven gerade die Wahrheit dieses Gesichtes für Lüge halten und mich verhöhnen werden, doch ändert das nicht das geringste an meinem Entschlusse. Der Hohn trifft sie selbst, nicht mich!«

Er war vom Tische aufgestanden, um zu gehen.

»Heute war ein großer Tag für mich,« sagte er noch. »Er hat mir wahrscheinlich viel, sehr viel genommen. Ich fühle, das Alte bricht in mir zusammen, um neu, vollständig neu zu werden. Für das Scheidende habe ich mehr als reichen Ersatz. Ohne ihn, den heutigen Tag, würde mir mein Herzle nur ein liebes, liebes Weible werden, weiter nichts. Sie hat mir aber mehr, viel mehr zu werden, und ich ihr ebenso. Ich weiß, daß Ihr mich nicht versteht; verstehe ich mich doch selbst noch nicht genau! Aber bis zum ersten Ausstellungsmorgen werde ich bekommen, was mir noch fehlt. So lange habe ich nämlich dem Musterwirte Frist gegeben. Dann muß ich ihn anzeigen, wenn nicht der Neubertbauer ihm schon vorher das wohlverdiente Urteil spricht. Es werden drüben im Etablissement jetzt einige schwere Tage sein. Die Leiche wurde hinaus auf den Kirchhof geschafft, in die Totenhalle. Hinweg mit ihr! Dort, wo sie lag, da drüben in der Stube, gibt es noch eine andere Leiche. Die sitzt am Tische und schreibt und rechnet in ihren geheimen Büchern. Wir wollen ihr wünschen, daß sie sich mehr herausrechnet als nur den Sarg und das Grab! Jetzt gute Nacht, ihr Lieben, Lieben! Morgen früh komme ich wieder!«

Da stand die Mutter auf und sprach:

»Morgen früh! So sagte auch mein Anton, als wir uns hier am Bergle zum ersten Abende die Abschiedshände reichten. Am nächsten Morgen brachte er mir das Geld.«

»Und ich werde es aber holen. Das mußte ich dem Herrn Frömmelt versprechen. Er will es wiederhaben. Wozu, das bat er, mir noch verschweigen zu dürfen. Werdet Ihr es mir geben?«

»Wie gern! Wenn ich nur wüßte, wem diese stille Hypothek gehört! Wir haben so viel, daß wir sie zurückzahlen können.«

»Das soll sich finden, hat er mir in die Hand gelobt. Wer begleitet mich jetzt bis an das Brückle? Das Herzle oder nur das Karlinchen?«

»Alle beide!« riefen alle beide.

Das heißt, das Herzle sagte es mit Worten, das Karlinchen aber mit den Beinen, jedoch ganz ebenso laut. Sie sprang den beiden voran. Am Brückle machte sie Halt und sah sich nach ihnen um. Als sie kamen, lief sie weiter. Sie dachte, heut' sei ein Ausnahmetag. Wie kam es nur, daß sie hernach auf der Wiese grad da stehen blieb, wo der Musteranton seine Marie damals um den ersten Kuß gebeten hatte? War das vielleicht ein hierfür ganz besonders geeigneter Ort? Wie bereits gesagt, wußte das Karlinchen alles, von der Zeder bis zum Ysop herunter. Sogar den Sauerampfer kannte sie, der hier in großer Menge gegen den Aurikelrausch gewachsen ist. Wahrscheinlich stand da noch etwas, ein Kräutlein, süß und lieb, so ganz zum Küssen! Man muß nur suchen, um es zu entdecken! Und als der Herr Lehrer mit dem Herzle herangekommen war, da machte sich das Karlinchen sofort an das Suchen, und zwar so eifrig, daß ihr dabei Hören und Sehen verging. Als aber nichts, gar nichts zu finden war, da drehte sie sich doch endlich einmal nach ihnen um. Ja, was war denn das? Die hatten sich ja gar nicht mehr! Nach dem Dorfe zu war der Lehrer schon fast verschwunden! Und das Herzle stand auf dem Brückle und schaute herüber! Ob nach ihm oder nach dem Karlinchen, das konnte man bei dieser Dämmerung nicht deutlich sehen. Da hört doch alles und außerdem noch verschiedenes auf! Jetzt geht es aber heim! Denn – – – es wird bald Zeit, die Mutter wieder zu hypnotisieren! Oder war es Suggestion? Sie will zwar freiwillig auflassen, aber besser ist besser! Das Karlinchen hat die Schwachheit der Menschen kennen gelernt. Ohne Suggestion kommt man mit ihnen nicht fort!

Von jetzt an ist auf der Wiese niemand mehr zu sehen. Der Mond steigt höher und immer höher. Er hat das eine Auge zu und das andere auf und blinzelt mit diesem anderen sehnsüchtig nach dem Sauerampfer nieder. Ob er etwa – – –? Hm! Sollte er irgendwo da oben auch über ein Aurikelbeet geraten sein? Jedenfalls hat er es satt. Denn er steigt nun wieder nieder. Im Dorfe klappern noch alle Webstühle. Das geht ihm auf die Nerven. Man sieht es den paar Wolken an, die an seinem Wege stehen, daß er sich beeilt. Es wird auch Zeit, denn soeben schlägt es zwölf. Und – – – was ist denn das? Wer tanzt da plötzlich hier? Erst eine steifbeinige Polakka, hierauf einen Hüppelschottisch, dann einen feschen Linksumgalopp und endlich gar auch noch den wohlbekannten – – – aber nein; das ist heut' ein Menuett! Graziös wiegend, vornehm gütig, herablassend, mit kleinen, hoheitsvollen Schritten. Denn man ist heut' eine Kommerzienrätin gewesen, wenigstens! Vielleicht gar eine Exzellenz! Und man kommt dabei nicht so ganz außer Atem, wie es gestern leider war. Man hat sich doch zu erhalten, sagt Fräulein Rosalia!

Infolge dieses aristokratischen Betragens ist es heut' nicht nötig, die Lunge erst wieder groß in Ordnung zu bringen. Die choreographische Einleitung ist vorüber, und die Wanderung kann sofort beginnen.

Das Karlinchen sieht dabei den Gasthofsgarten wieder vor sich liegen, schlägt aber einen weiten Bogen um ihn herum, denn die Aurikel haben ein höchst unangenehmes Souvenir hinterlassen. Auch gibt es noch ganz andere Delikatessen als bloß Kohl. Besonders Zuckerrüben! Aber die richtige Sorte muß es sein! Die kleine, niedliche; höchstens drei Stück auf ein Pfund! Das ist ungeheuer zart! Das zerläuft fast auf der Zunge! Man weiß auch, wo sie wachsen. Andere Ziegen haben es verraten. Nämlich grad aus dem Wirtshause heraus, bloß über die Straße hinüber und dann die hohe Böschung hinauf, da liegt das große Zuckerrübenfeld. Man geht zwar nicht aufs Stehlen aus; aber die alte Bauernregel sagt: Ein Rüblein in Ehren – – ist nicht zu verwehren. Na, also – –!

Das Karlinchen geht leise um das Etablissement herum, klettert drüben an der Böschung hinauf und sieht dann das Feld wie eine grenzenlose Seligkeit weit vor sich ausgebreitet. Eben will sie das Rüblein, das einzige, beim Schopfe fassen, da hört sie plötzlich ganz in der Nähe sagen:

»Es ist nur eine Ziege. Wir können sitzen bleiben.«

Sie erschrickt zwar ein klein wenig, aber da sie sich an der Rübe noch nicht vergriffen hat, so ist für diesmal ihr Gewissen rein. Es kann sie weder ein Gendarm noch sonst wer arretieren. Dagegen aber hat nun sie die Pflicht, sich angelegentlichst darum zu bekümmern, was für Vagabunden sich bei nachtschlafender Zeit hier in der Nähe der kostbaren Rüben herumzutreiben haben. Im Falle einer Kollision hat sie ja ihre Hörner! Sie tut also, als ob sie es nur auf das jedermann erlaubte Gras der Böschung abgesehen habe, und frißt sich immer näher an den wilden Schlehenbusch, hinter welchem die Worte hervorgeklungen sind.

»Ich bin kolossal neugierig, ob es klappen wird,« sagte jetzt eine zweite Stimme. »Geht er darauf ein, so machen wir einen Schlager, der uns Hunderttausende einbringt.«

»Aber wenn er nicht ehrlich ist, so verlieren wir auch alles, was wir dabei riskieren, und das ist ein Vermögen, wie es in dieser armen Gegend gewiß kein Mensch besitzt!«

»Er ist noch reicher. Für mich gibt es also keine Angst. Bei einem solchen Geschäft ist es selbstverständlich, daß er Vorherzahlung fordert; aber er liefert dann auch zweifellos. Uebrigens gehen wir ja ohne Revers auf gar nichts ein! Wenn ich irgend eine Besorgnis habe, so ist es die, daß er es unserm Kompagnon übelnimmt, uns verraten zu haben, wer das Geldmännle eigentlich ist. Dieser war der einzige, der es bisher wußte. Er hat schon mit dem alten, kleinen Musterwirte lohnende Geschäfte gemacht. Die Höhe der Summen, um welche es sich bei dem jetzigen handelt, wird seinen Verrat wahrscheinlich entschuldigen. Hauptsache ist, daß wir uns so verhalten, wie das Geldmännle es im Verkehr mit ihm eingeführt hat: Vertrauen zu ihm, Zahlung gleich bei der Bestellung, keine überflüssigen Anforderungen, möglichste Kürze in allem, was man tut und sagt. Horch! Die Tür geht auf. Es sind zwei Personen. Er bringt ihn also mit. Das ist ein gutes Zeichen. Er hat ihn überredet. Nun mache mir ja nicht etwa den Fehler, durch Mißtrauen oder Weitschweifigkeiten alles wieder zu verderben.«

»Ich werde schweigen. Sag' du, was zu sagen ist! Aber mache mir auch dann keinen Vorwurf, wenn wir mit einem Schlage zu Bettlern werden!«

»Lächerlich! Uebrigens wären wir dann genau wieder das, was wir gewesen sind, wenn wir nicht gar etwas noch anderes waren!«

Sie hatten bisher gesessen. Jetzt standen sie auf. Das Karlinchen sah, daß sie städtisch gekleidet waren. Sie duckte sich ganz nahe an den Busch, denn diese Sache kam ihr trotz ihrer Hörner denn doch etwas bedenklich vor. Zwei Männer näherten sich über die Straße herüber. Sie stiegen die Böschung herauf. Der eine von ihnen war der Herr Frömmelt. Dieser schaute die Wartenden scharf an, als er sie erreicht hatte, und fragte in kurzem, fast gebieterischem Tone:

»Sie sind Bankiers, meine Herren?«

Der von ihnen, welcher sprechen sollte, antwortete:

»Hm! Aufrichtigkeit gegen Aufrichtigkeit! Sie sind das sogenannte Geldmännle und nennen sich den Musterwirt. Wir sind Ritter des sogenannten Glückes und nennen uns Bankiers. Sie wissen, was wir wollen?«

»Ja. Ich war über die Schwatzhaftigkeit Ihres Kompagnons empört. Sie hätte ihm leicht das Leben kosten können, wird es ihm auch kosten, wenn er weiter schwatzt! Aber Ihre Aufrichtigkeit gefällt mir. Ich bin geneigt, das Geschäft mit Ihnen abzuschließen.«

»Trotz der Sie jedenfalls überraschenden Höhe der Beträge?«

»Grad wegen dieser Höhe. Ueberraschen kann mich nichts. Ich hoffe, daß auch Sie sich nicht überraschen lassen durch das, was ich Ihnen sage, nämlich: Kommt der Abschluß nicht jetzt zustande, so ist es mit Ihnen aus. Wer das Geldmännle kennt, der hat sehr viel gewagt! Ich lasse mich nicht verraten!«

»Keine Sorge, Herr Frömmelt, wir wissen zu schweigen!«

»Das erwarte ich. Sie haben das Geld mit?«

»Ja. Aber es ist unser ganzes Vermögen, und auch noch etwas mehr. Wann werden Sie liefern und wo?«

»Kommen Sie am ersten Ausstellungstage mittags punkt zwölf Uhr in meine Gaststube! Weiter sage ich nichts. Das Geldmännle ist verschwiegen. Gehen Sie darauf ein?«

»Unter der Bedingung, daß Sie uns den Revers ausstellen, den unser Kompagnon Ihnen abverlangt haben wird. In diesem Dokumente erklären Sie unterschriftlich und mit Ihrem Petschafte, daß Sie das Geldmännle sind. Sind punkt zwölf Uhr die falschen Scheine nicht in unseren Händen, so liegt punkt ein Uhr der Revers bei der Polizei. Nehmen Sie uns das übel?«

»Nein. Der Revers ist schon fertig. Ich schrieb ihn sofort und habe ihn in der Tasche.«

»Dann gut. Geld gegen Revers. Wo werden Sie zählen?«

»Gleich hier. Je kürzer, desto besser!«

Er zog eine kleine Blendlaterne hervor, welche jetzt wohl nicht zum ersten Male zu einem solchen Geschäft zu leuchten hatte. Der andere brachte aus seinem Ueberrock eine große, wohlgefüllte Banknotentasche, welche er ihm reichte. Der Wirt begann zu zählen. Es dauerte ziemlich lange, ehe er fertig war. Dann griff er in seine Brusttasche, in welcher der Revers steckte, und gab ihn hin. Die drei betrachteten die Schrift und das Siegel genau und erklärten sich dann zufriedengestellt. Da steckte er die Banknoten zu sich, blies das Lichtchen aus, stand auf und sagte:

»So wie ich dieses Licht verlösche, so sei auch das Leben dessen ausgelöscht, der nicht hält, was er jetzt hier versprochen hat! Sie können gehen!«

Seine Worte hatten einen so schweren, gewichtigen Klang, daß die drei Männer ihnen sofort gehorchten. Sie blieben zwar unten auf der Straße noch einmal stehen, um leise Worte auszutauschen, denn es war kein Spaß für sie, ein ganzes Vermögen einstweilen gegen nur drei geschriebene Zeilen hingegeben zu haben; dann aber entfernten sie sich. Als der Musterwirt ihre Schritte nicht mehr hörte, legte er die Hand auf die Stelle, unter welcher die Banknoten steckten, sah nach dem niedrigen, breiten Fenster der Druckerei hinüber und sagte:

»Verbrecherpack! Wer ist es, der grad heute diese Halunken zu mir schickte? Der Schwiegervater und die Frau, oder der Musteranton? Vielleicht gar alle drei zusammen! Dieses Geld ist Sündengeld. Auf falschem Weg erworben! Heute wird das Geldmännle zum ersten Male etwas tun, was es bisher niemals fertig brachte, nämlich seine Schuld mit echtem Geld bezahlen! Es reicht mit meinem Hab und Gut grad aus, mein irdisches Soll und Haben auszugleichen. Die andere Schuld – – – die habe ich gebeichtet, die liegt im Leichenhaus, die kommt ganz in die hinterste Ecke, wo ich den Neubertbauer hinhaben wollte. Ins Doppelgrab – – – die Schuld und dann das Beichtkind mit dazu!«

Er sah sich um, als ob er jemand suche.

»Wie kommt es doch, daß ich jetzt von den Toten reden kann, ohne daß sie sogleich in mir erscheinen? Der Neubertbauer auch! Ist es mein Entschluß, als ich das Messer so unerwartet in meiner Tasche fand? Warten sie vielleicht von fern, was ich tun werde? Wenn sie mich hören, so will ich es ihnen sagen: Ich zahle für das Geld hier in der Tasche nicht falsche Hundertscheine, sondern ich tue, was ich vorhin mit meinen letzten Worten sagte; das Licht verlöscht. Dann habe ich es mir ehrlich erworben, und ehrlich soll es wieder ausgegeben werden! Nur noch zwei Tage und drei Nächte – – – dann, Neubertbauer, komme ich zu dir!«

Da raschelte der Schlehenbusch neben ihm. Er trat auf die andere Seite desselben und sah die Ziege, die er im Mondschein sofort erkannte! Wie kam es doch, daß ihn ihr Anblick nicht im mindesten befremdete, und daß auch sie so ruhig stehen blieb?

»Karlinchen, du?« sagte er freundlich. »Bist heimlich von dem Bergle fort? Wohl wegen meiner Zuckerrüben hier? Wer dort im Häusle wohnt, der ist kein Dieb, der kann nicht stehlen. Ich stehe in eurer Schuld. Komm her, ich werde dich füttern!«

Er zog so viel Rüben aus dem Acker, wie er dachte, daß die Ziege fressen könne. Die trug er ihr hin und setzte sich dazu. Dann brachte er ein langes Messer aus der Tasche, welches sorgfältig eingewickelt war. Mit diesem putzte er die Rüben und schnitt sie klein. Das Karlinchen stand vor ihm, ohne sich zu scheuen, und fraß aus seiner Hand. Zuweilen hielt es im Kauen inne und sah ihm verwundert in das Gesicht. Wohl weil er weinte, so ganz still, doch immer in einem fort! Wenn doch das Herzle da wäre! Die würde ihm wohl sagen, daß kein Mensch zu weinen brauche, wenn er etwas Gutes tut, an wem, das bleibt sich gleich, sogar an einer Ziege.

Als es so weit war, daß sich das Karlinchen genau so kugelrund fühlte wie gestern und ihr auch ebenso die Beine zu wackeln begannen, stand er auf, steckte das Messer ein und sagte:

»Jetzt ist's genug! Das reicht zur Morgenmilch fürs kleine Häusle. Ich werde dich nun heimbringen. Komm!«

Sie folgte ihm sogleich und willig die Böschung hinab, obwohl das bei ihrem gegenwärtigen Embonpoint eine ganz bedeutende Leistung war, die Straße hinüber und um den Gasthof nach der Wiese. Sie dachte dabei gar nicht an die gestrigen Aurikeln, mit deren Vernichtung sie ihn hatte erbosen wollen. Er sprach so lieb und so vernünftig mit ihr, daß sie bei sich dachte:

»Nein, aber hat sich der verändert! Wenn er mit der Anna auch so gewesen ist, wie jetzt mit mir, da ist es gar kein Wunder, daß er seinen Schnurrbart hat auf ihr Haar drücken dürfen! Ich meinte damals, daß ich an ihrer Stelle ihm die Hörner zeigen würde, aber – – – hm!«

Während dieser ihrer Gedanken war man bei dem Brückle angekommen. Da blieb er stehen und sagte:

»Hier ist die Grenze. Das weißt du wohl am besten. Nun geh hinauf und schlafe dich recht aus! Der Schlaf – – – der Schlaf – – – der Schlaf!«

Er griff sich mit beiden Händen nach dem Kopfe, was er in der letzten Zeit so oft getan hatte. Dann bog er sich nieder und schaute ihr in das Gesicht.

»Was du für gute, gute Augen hast, Karlinchen!« sagte er.

Und was geschah jetzt? War es die Möglichkeit! Sie fühlte plötzlich zwischen diesen ihren Augen seine Lippen. Dann richtete er sich schnell wieder auf, drehte sich um und ging fort. Sie sah ihm so lange nach, bis er verschwand.

»Bin ich denn die Anna?« dachte sie. »Oder irre ich mich in ihm? Ist er ein anderer?«

Diesen Gedankengang verfolgte sie über das Brückle hinüber, das Bergle hinauf bis in den Stall. Dort legte sie sich auf ihr heute sehr gutes Gewissen und schlief darum wohlbefriedigt ein.

Eben, als sie am Morgen aufwachte, kam die Mutter mit dem Herzle, um nach ihr zu schauen. Sie war nicht eine Spur so verschlafen, wie gestern früh und gab doch ganz dasselbe Quantum der schönsten, gelblich weißen Milch. War das ein Verwundern! Wahrscheinlich hat die Luft viel mehr Nährbestandteile, als man meint. Vielleicht grad so viel wie die Leguminosen, wenn auch nicht ganz so viel wie Rind- oder Schweinefleisch. Da versteht es sich ganz von selbst, daß man den Stall nie wieder zuriegeln wird, wenigstens im Sommer. Im Winter aber zehrt die Luft. Das sieht man am deutlichsten, wenn der Schnee immer mehr alle und aller wird.

Nach einiger Zeit kam der Herr Lehrer. Natürlich brachte er heut' nicht eine einzelne Pfennigsemmel, sondern gleich zwei ganze Dreierbrötchen, die aber das Paar bloß fünf Pfennige kosten. Dafür nahm er die wohlbewußten Taler für den Musterwirt mit.

Von jetzt an ereignete sich nichts mehr, was für das Karlinchen von größerem Interesse war. Aber drüben im Dorfe geschah so manches, was andere interessierte. Da hörte man zunächst mit größtem Staunen, daß Fräulein Rosalia ganz ohne Sang und Klang in die hinterste Ecke des Kirchhofes begraben werde, und zwar in ein Doppelgrab, dessen andere Hälfte einstweilen offen bleibe. Das hatte der Musterwirt partout so verlangt, wogegen aller Einspruch des Pfarrers vergeblich gewesen war.

Sodann erregte es großes Aussehen in der ganzen Umgegend, daß alle Schuldner des Musterwirtes ihre Borgbücher sofort einzuliefern hatten. Sehr viele von ihnen taten dies in der Ueberzeugung, daß sie ausgepfändet werden sollten. Diese Angst vergällte fast die ganze Freude, mit welcher man der Ausstellung entgegengesehen hatte.

Auch entstand, man wußte nicht wie, das Gerücht, daß Herr Frömmelt eine ganz besondere Ausstellung eröffnen werde. Was für eine, das konnte man nicht erfahren. Man hörte, daß die Gaststube dazu bestimmt sei. Der Schankbetrieb war also eingestellt. Wenn man bedachte, was die Ausstellung grad diesem Betriebe eingebracht hätte, so gab es gar keine Zweifel mehr, daß der Wirt wirklich wahnsinnig sei.

Ein jeder Dorfbewohner war jetzt in diesen letzten Tagen eifrig bemüht, seine Wohnung festlich einzurichten. Es hatte sich größerer Zuspruch angemeldet, als zu erwarten gewesen war. Man konnte überzeugt sein, daß selbst das kleinste Häuschen von fremden Interessenten besucht sein werde. Das hatte man besonders der geschickten Leitung des Herrn Lehrers zu verdanken, der eine ganz hervorragende Begabung entwickelte, in dieser Weise für das öffentliche Wohl zu wirken.

Herr Frömmelt ließ sich von fast niemand sehen. Es hieß, er arbeite in seinen Büchern. Er hatte sich alles, was zur Buchführung gehörte, in das Gastzimmer bringen lassen, welches außer ihm niemand betreten durfte. Nur einmal stand es offen, nämlich als die Tagelöhner alle die Gegenstände bringen mußten, welche sich in der Druckerstube und in der Stereotypie befunden hatten. Dann schloß er wieder zu. Er war dabei so aufgeregt gewesen und hatte so widersinnige Reden angeführt. Aber man wunderte sich nicht mehr darüber, denn er war ja verrückt!

Natürlich mußte es einen Festplatz geben; das war die Wiese, welche vor dem Bergle lag. Dort wurden viele Tische und Bänke eingeschlagen, von Brettern und Pfählen, die man aus der Schneidemühle holte. Der einzige Ladenbesitzer, der sich nicht durch das ›Etablissement‹ hatte werfen lassen, baute eine große Schank- und Speisebude hin. Weiter oben am Bache, auf der Waldwiese, wurde alles Nötige zu einem Schulfeste eingerichtet, an welchem auch die Jugend der umliegenden Ortschaften teilnehmen sollte.

Nun traten auch die Festjungfrauen in ihre Pflichten ein. Sie hatten die Kirche zu schmücken, denn auf dem Platze vor derselben sollte die Ausstellung eröffnet werden. Auch sollten sie an dem Festzuge teilnehmen und dabei grad hinter der Musik hergehen. Sie hatten dazu ihre gewöhnlichen Werktagsgewänder anzulegen und ihre Klöppelkissen in den Händen zu tragen, mit einigen Blumen geschmückt. Ferner war es ihre Obliegenheit, die Ehrengäste des Festplatzes als Kellnerinnen zu bedienen. Der König hatte nämlich befohlen, daß am Nachmittage alle arbeitsunfähigen Armen des Kirchspieles zu einem Festmahle vereinigt werden sollten. Es waren hierfür zehn Taler pro Person bestimmt. Der Ueberschuß solle jedem bar herausgezahlt werden. Diese Armen waren die Ehrengäste.

Als Bernstein dem Musterwirte heut' früh die falschen Taler von Bergle brachte, legte dieser sie ruhig vor sich hin und sagte:

»Dieses Geld kommt mit in meine Ausstellung. Sie sprachen davon, daß auch Sie eine eröffnen werden – – – gegen mich. In welcher Weise werden Sie das tun?«

»Ich wollte jedem Ausstellenden zwei Exemplare meiner Bücher geben und Sie damit vollständig zu Grunde richten,« antwortete der Lehrer. »Auch sollten sie drüben auf dem Festplatze an jedermann zum Herstellungspreis verkauft werden. Es werden Tausende kommen. Wissen Sie, was das für Sie bedeutet? Den Ruin! Aber nachdem ich Zeuge Ihrer Beichte war, habe ich mich anders besonnen. Ich halte es nicht mehr – – –«

»Warum anders besonnen?« fiel da der Wirt schnell ein. »Der Neubertbauer hat Ihnen in bester Absicht den Schlüssel zu meiner Kammer gegeben. Diese Absicht wurde erreicht. Haben Sie das Recht, nun plötzlich gegen sie zu handeln? Ich verlange von Ihnen, daß Sie unbedingt tun, was Sie beschlossen hatten! Ich verbiete Ihnen, mich zu schonen, denn ich schone mich selbst auch nicht! Hierbei will ich gleich erwähnen, daß ich wegen meiner Tochter vorhin beim Pfarrer war. Sie wird einen Tag später begraben, denn auch ich will dabei sein, und eher kann ich nicht – – – auch – – ich – – will – – dabei sein!«

Der Lehrer fühlte sich von der besonders schwer betonten Wiederholung dieser Worte ganz eigenartig berührt. Frömmelt aber fuhr schnell fort:

»Ich habe für meine Person auf den Schankbetrieb verzichtet. Aber bei dem großen Zuspruch, den Sie erwarten, wird der Gasthof gebraucht, denn es ist kein anderer da. Ich trete ihn für die Ausstellungszeit dem alten, braven Krämer ab, der durch mein Etablissement bankerott geworden ist. Er kann sich die Schlüssel holen. Nur das Gastzimmer bekommt er nicht, denn da stelle ich aus. Er mag sich den Saal dafür herrichten. Dazu braucht er Geld. Bitte, geben Sie ihm diese fünf Hunderttalerscheine. Ich leihe sie ihm. Haben Sie keine Sorge, sie sind echt. Mit der Falschheit ist's bei mir vorüber! Nun gehen Sie!«

Er gab ihm die bereit liegenden Scheine in die Hand und schob ihn zur Tür hinaus. – – –

Am Nachmittag stellten sich die ersten fremden Gäste ein, nämlich die Herrschaften aus Brüssel mit dem Herrn aus Mexiko. Sie nahmen Zimmer im Gasthofe, wo der Krämer schon froh seines Geschäftes wartete, und gingen dann hinüber nach dem Bergle. Der Mexikaner sprach nur sehr gebrochen, was besonders dem Karlinchen sehr viel Spaß machte. Es kam ihr halb deutsch und halb spanisch, keineswegs aber erzgebirgisch vor. Sie konnte vieles nicht verstehen, was er sagte; aber das ihr nun bekannte Wort Rebozo kam so häufig vor, daß sie dennoch wußte, woran sie war. Das Herzle mußte alles vorzeigen, was sie für die Ausstellung bereit liegen hatte. Man war entzückt, so entzückt, daß man eine Tasse Kaffee nach der andern trank, ohne sie zu zählen. Die Mutter mußte die Kanne drei- oder gar viermal neu aufgießen. Nicht etwa ›Bliemchenkaffee‹, der eine riesenhafte Verleumdung ist, denn nirgends wird der Kaffee so gut und so verständnisinnig gekocht wie grad in Sachsen. Das Karlinchen weiß das ganz genau, denn sie kann es täglich dreimal mit eigenen Augen sehen. Von der so hochgepriesenen ›Karlsbader Mischung‹ aber kommt ihr schon der Geruch so widerwärtig panslavisch vor! Eine richtige Ziege beobachtet eben alles!

Der Herr Lehrer ließ sich entschuldigen. Er könne heut' nicht kommen, weil er gar so viel zu tun habe. Man ging zeitig schlafen. Das Karlinchen auch. Sie wollte punkt zwölf Uhr wieder in das Dorf hinüber, denn die Tür stand auf. Es war aber noch nicht ganz um zehn. Darum beschloß sie, vorher ein kleines Nickerchen zu machen. Leider aber ist es mit so einem Nickerchen stets eine eigene Sache. Das nickt und nickt, bis man so fest eingenickt ist, daß man sich gar nicht wieder aufnicken kann! Als das Karlinchen wieder zu sich selbst kam, war es schon heller, lichter Tag, und die Mutter stand mit dem Melkeimer vor dem Stalle. Glücklicherweise hatte die Ziege von Blaukohl und von Rosenkohl, sogar auch von Zuckerrüben geträumt. Vielleicht hatte das einigen Einfluß auf die Wirklichkeit. Sie ging also nicht ganz hoffnungslos hinaus und stellte sich in Positur. Da kam ihr ein köstlicher Gedanke.

»Wie wäre es, wenn ich den Melkeimer hypnotisierte?« dachte sie. »Hilft die Suggestion bei der Mutter, so hilft sie höchst wahrscheinlich auch bei ihm!«

Sie wendete also den Kopf, so weit es ging, nach hinten und nahm ihn scharf und drohend in die Augen. Probatum est! Der Eimer wurde voll. Zwar fühlte sie sich dann etwas angegriffen und ermüdet, aber die Quetschkartoffeln mit Roggenkleie und einer Prise Feldkümmel daran machten das schnell wieder gut. Besonders der Feldkümmel wirkt im höchsten Grade belebend!

Die fremden Herrschaften kamen wieder. Sie brachten den Herrn Lehrer mit, den sie als Schriftführer des Komitees schon brieflich kennen gelernt hatten. Er teilte den Frauen einigermaßen enttäuscht mit, daß ein Brief des Herrn Ministers angekommen sei. Man solle morgen mit der Eröffnung nicht auf ihn warten. Uebermorgen aber werde er sicher im Dorfe sein, und die anderen Herren auch. Das warf eine kleine Trübung auf die frohe Stimmung, in der man sich befand, war aber nicht zu ändern.

Der Mexikaner schien es mit den Herzlespitzen sehr eilig zu haben. Das Karlinchen hörte von einem Kontrakte. Der Herr Lehrer setzte ihn auf; dann wurde er unterschrieben, und zwar von beiden Seiten, und hierauf auch von den Zeugen. Als dies geschehen war, schauten alle verwundert auf die Ziege. Die hatte nämlich bis jetzt erwartungsvoll zugesehen. Nun aber sprang sie auf und begann, die Beine zu bewegen, daß jedem, der sich dabei befand, Hören und Sehen vergehen mußte. Sie rannte, wieder einmal wie aus der Pistole geschossen, das Bergle hinab und über das Brückle auf die Wiese hinüber und tanzte dort zunächst eine steifbeinige Polakka, hierauf einen Hüppelschottisch, dann einen feschen Linksumgalopp und endlich gar ein so tolles Ringelrennen, daß der Herr Lehrer ausrief:

»Wo hat sie das her?! Das sieht doch ganz so aus, als ob sie es in guter Uebung habe! Gibst du ihr etwa heimlich Unterricht, Herzle?«

Man war über diese großartige, equilibristische Leistung der hochbegabten Ziege so entzückt, daß sie nach ihrer Rückkehr sofort das größte Stück Ausstellungskuchen bekam, welches auf dem Teller lag. Dann zählte der Mexikaner auf einem anderen Teller eine ganze Menge Banknoten vor, denn er hatte den sämtlichen Spitzenvorrat des Herzle aufgekauft und dazu eine Bestellung gemacht, welche auf Jahre hinaus sehr lohnende Arbeit gab. Das war die erste Frucht des klugen Versuchs der hiesigen Bevölkerung, sich von dem unlauteren Kapitale zu befreien und auf die eigenen Füße zu stellen.

Ehe der Herr Lehrer sich mit den Herrschaften wieder entfernte, sagte er, das Herzle brauche ihr eigenes Klöppelkissen nicht mit nach dem Kirchenplatze zu bringen. Es sei für ein anderes gesorgt, welches sie im Festzuge zu tragen habe.

Der Tag verging in Ruhe, zwar nicht für das Dorf, doch aber für das Bergle. Gegen die Dämmerungszeit kam die Anna. Sie war von ihrer Gönnerin, der Frau Pastorin, eingeladen worden, einige Tage auf dem Pfarrhofe zu wohnen, um inmitten des Festes zu sein. Kurze Zeit darauf ging noch eine andere Person gerade über die Wiese und auf das Brückle zu. Das war der Musterwirt. Er blieb am Bache stehen und starrte in das Wasser, finster, mit fast drohenden Augen.

Von rechts her, wo droben die Waldwiese liegt, kam der Lehrer. Er hatte den Platz für das Schulfest inspiziert und sah Herrn Frömmelt stehen. Es zog ihn zu ihm hin.

»Hier ging sie in das Wasser,« sagte der Wirt, als sie sich begrüßt hatten. »Genau da, wo ich mein Verbrechen in dasselbe Wasser warf! Es kam in ihrer Gestalt zurück und legte sich mir aufs Bett. Seitdem habe ich keine Stunde geschlafen, keinen einzigen Augenblick. Ob ich wohl jemals wieder schlafen werde? Vielleicht niemals, in alle Ewigkeit! Ich werde es erfahren, und zwar sehr bald – – – sehr bald!«

»Das ist der Musterwirt, nicht der Neubertbauer,« dachte der Lehrer. »Da oben sitzt die Anna. Vielleicht bringe ich ihn durch sie dazu, sich in ihn umzuwandeln!«

Er bat ihn, mit nach dem Häusle zu kommen.

»Nein, nie!« antwortete da der Wirt heftig. »Das Brückle ist die Grenze zwischen Gut und Bös! Der Gute kann herüber, der Böse aber nicht hinüber! Es ist leichter, viel, viel leichter, daß ein Guter bös, als daß ein Böser gut werde!«

»Aber Sie waren ja schon drüben!«

»Ich?! Wann?«

»Als Sie das Geld brachten, welches Sie der Leiche Ihrer Tochter aus der Tasche genommen hatten.«

»Ich? Ich – –? Ich – – –?« rief er fast schreiend aus. »Ich hätte es gebracht? Nicht die Rosalia?«

»Ja, Sie, Sie selbst!«

»Und wer hat die Quittung verlangt?«

»Auch Sie selbst. Sie haben sie sogar diktiert!«

Da war es, als ob der Wirt zusammenbrechen müsse. Er hielt sich an den Lehrer fest.

»So hat sie – – – gar nicht in – – – das Wasser gewollt!« hauchte er, indem sein Kopf schwer nach vorn fiel. »Sie ist – – keine Selbstmörderin, sondern sie ist – – – sie wurde – –«

Er sann – – – er lauschte – – – wie in sich selbst hinein. Dann hob er mit einem Male wieder den Kopf, richtete sich auf und fuhr hastig fort:

»Das war nicht ich, der das tat, sondern der Neubertbauer! Ich habe ihn zum Trunk, zum Spiel verführt, zum Spiel, um ihn zu betrügen. Da hat er sich gerächt! ›Geist gegen Geist!‹ So hat er in der Kirche gesagt, als er in meinem Leibe auferstand. Ich habe es erfahren! Ein abgeschiedener, freier Geist gegen einen Geist, der noch den Körper hat, der noch in Fesseln liegt! Da mußte ich das Spiel verlieren! Er hat mit mir genau eine solche Dame gespielt, wie damals der Musteranton mit meinem Schwiegervater, und hat das Spiel gewonnen. Der Preis war meine Beichte. Ich war betrunken von mir selbst, wie dort mein Schwiegervater von seinem eigenen Weine! Ich bildete mir ein, durch diese meine Beichte für hier und jenseits zu siegen. Und grad durch diese Beichte habe ich alles, alles verloren, sogar vielleicht mich selbst! Der Musteranton hatte seine beiden Damensteine grad auf das Mittelfeld gestellt. Da war das Spiel aus! Und der Neubertbauer hat Sie, seinen besten Damenstein, in meine Kammer gesteckt, damit Sie alles hörten. So ging auch dieses Spiel verloren! Und doch habe ich geglaubt, der beste Spieler zu sein, den es nur geben kann! Herr Lehrer, mir ahnt, mir ahnt etwas! Wenn Menschen es wagen, gegen Mächte zu spielen, die sie nicht begreifen und nicht fassen können, so werden sie zwar manche geringe Partie gewinnen, die wichtigste aber, die größte, die letzte, auf die alles ankommt, nie – – nie – – – nie! Der Neubertbauer hat es mir bewiesen!«

Da kamen die Frauen das Bergle herab, das Karlinchen hinterher. Sie hatten die beiden Männer gesehen und wollten sie bitten, mit hinaufzugehen. Das Karlinchen begrüßte erst den Lehrer, dann den Musterwirt. Sie dachte an die süßen, zarten Rüben und leckte ihm dankbar die Hand. Vielleicht dachte sie gar auch an den sonderbaren Kuß! Der Lehrer beobachtete ihn heimlich, aber scharf. Denn wenn irgend noch jemals, so mußte die Verwandlung jetzt vor sich gehen.

Herr Frömmelt zog erst die Hand zurück. Auch vermied er es, der Anna in die Augen zu sehen. Es wurde dabei Gleichgültiges gesprochen. Bald aber reichte er dem Karlinchen die Hand wieder hin. Dann streichelte er sie. Er wich dem Blicke der Anna nicht mehr aus. Er begann sogar, ihre Augen zu suchen. Die seinen bekamen nach und nach ein milderes, freundliches Licht. Er lächelte. Hierauf kam sogar ein Scherz. Er ging zur Anna hin und faßte ihre Hand. Nach kurzem zog er sie näher an sich heran. Und endlich ließ er ein fröhliches Lachen hören und sprach:

»Warum stehen wir da vor dem Brückle, als ob wir nicht alle hinübergehörten? Gehen wir doch hinauf nach dem Häusle! Komm, liebe Anna, komm! Dort färbt die Sonne schon die Wolken rot und gibt ihnen goldene Ränder. Ich will sie hier noch einmal untergehen sehen!«

Er führte sie hinauf. Die anderen folgten. Droben setzte man sich an den Tisch. Niemand sprach. Er schaute beharrlich nach dem purpurnen Westen. Die anderen hatten alle ein unbestimmtes Gefühl, daß sie ihn nicht durch Worte stören dürften. Bei dem Lehrer kam hierzu noch die Ueberzeugung, daß er jetzt den Neubertbauer vor sich habe, vielleicht zum letzten Male. Wie sonderbar, daß dieser sich grad jetzt zu ihm herumdrehte und ihn fragte:

»Für wen halten Sie mich? In diesem Augenblick?«

»Nicht für den Musterwirt,« antwortete der Gefragte, in dem etwas aufstieg, was ihn zwingen wollte, den Frager zu umarmen und an das Herz zu drücken. Er begnügte sich aber damit, ihm nur die Hand hinüberzureichen. Der Wahnsinnige griff nach ihr, hielt sie fest, schaute wieder nach dem Abendrot und sprach:

»Also sind Sie nicht mehr irre, Herr Lehrer! Sie haben gesagt, ich spreche ganz anders wie der Neubertbauer und sogar noch besser wie der Musterwirt. Das ist doch selbstverständlich! Der Geist hat keine Grenzen, hat weder Konturen noch Linien. Der Geist ist keine Figur. Er ist Kraft, Gesetz und Wille. Das aber sind Dinge, die ineinanderfließen, wenn es gilt, eine Wirkung zu erreichen. Dem Musterwirt mußte der Neubertbauer gegenüberstehen. Das war aber nur der äußere Behelf. Hinter diesem Namen aber gab es noch etwas ganz anderes. So sehen Sie da drüben Wolke an Wolke, Farbe an Farbe, Hauch an Hauch. Hinter dem allen aber steht die Sonne. Sie scheidet. Sie hat ihr Tagewerk vollbracht.«

Er gab die ergriffene Hand wieder frei, stand auf, küßte Anna auf das Haar, legte ihr die Hände auf das Haupt und sprach weiter:

»So gehe nun auch ich. Mein Kind, wenn dich die Sehnsucht nach mir überkommt, so wird es dir von morgen mittag an unmöglich sein, mich aufzusuchen. Gehe auch nicht an mein Grab. Ich bin nicht dort. Gehe zum Herzle! Nur da, wo du Liebe findest, kann ich bei dir sein, obgleich du mich nicht siehst. Sonst nirgendwo! Jetzt scheiden wir. Du und ich. Für dieses Mal. Ich bleibe hier. Denn ich habe hier noch der Musterwirt zu sein – – – hier dieser Körper. Du aber begibst dich zur Frau Pfarrerin. Bete mit ihr morgen mittag für ihn – – – für den Musterwirt. Er wird es nötig haben!«

Es wurde ihr schwer, zu gehen. Aber sie gehorchte. Sie weinte dabei. Er strich sich mit der Hand über die Augen und wendete sich ab, um ihr nicht nachzusehen. Sein Blick war jetzt wieder dorthin gerichtet, wo die Abendröte nun sehr schnell erbleichte. Der Lehrer beobachtete ihn mit der größten Spannung, in der er sich jemals befunden hatte. Nun mußte es sich ja zeigen, ob Wahnsinn oder nicht!

Nach einer Weile zuckte der Wirt zusammen, als ob er wie aus einem Schlaf erwache. Er drehte sich um, sah, bei wem er sich befand, erschrak und rief ängstlich aus:

»Auf dem Damenbergle! Bei der Marie und beim Herzle! Das Brückle ist doch die Grenze! Soeben stand ich noch unten! Ich sollte herauf, konnte aber nicht! Ich will fort, fort, fort – – – denn hier muß mich der Neubertbauer packen!«

Er schob zurück, was ihm im Wege stand, um sich schleunigst zu entfernen. Da sprang der Lehrer auf, hielt ihn fest und sagte.

»Bleiben Sie hier, Herr Frömmelt! Soeben hat der Neubertbauer seiner Tochter anbefohlen, morgen mittag für Sie zu beten! Er hat von ihr Abschied genommen und wird nicht wiederkommen. Denn Sie haben die Grenze zwischen Gut und Bös überschritten. Wollen Sie etwa wieder zurück?«

Da sank der Wirt auf seinen Stuhl nieder, faltete die Hände und fragte:

»Die Anna – – –? Für mich beten – –? Herr Lehrer, ist das wahr?«

»Die vollste Wahrheit! Hier sitzen zwei Zeuginnen, die es auch gehört haben.«

»Ja, dann – – dann – – – dann ist das ja Verzeihung! Der Neubertbauer und seine Anna beten für mich! Und aber ihr – – –? Ihr beiden anderen – – –?«

Da sprang das Herzle auf, ging zu ihm hinüber, legte ihm den Arm um den Hals und sagte:

»Wir verzeihen auch. Wir beten ebenso!«

Da stand er langsam wieder auf, sah sie nacheinander an, breitete seine Hände aus, als ob er sie segnen wolle, und sprach:

»So habt ihr mich erlöst! – – – Ich wollte morgen vor den Herrgott treten und ihn fragen, wer schuld an allen meinen schlimmen Taten ist. Ich dachte mir, ich sei es nicht! Wie ich von dem Geiste meines Feindes gezwungen worden bin, aus meinen Sünden genau so herauszusteigen, wie es in der Kirche auf meinem Altarbild zu sehen ist, so hat es vorher in mir aber einen falschen Freund gegeben, dem zu Gefallen ich alles Böse tat, was er von mir verlangte. Diesen Freund wollte ich mir morgen vor den Herrgott fordern, um mit ihm abzurechnen. Jetzt kenne ich ihn. Es ist der – – – Mensch! Der Mensch in meinem Körper! Und nun ich ihn kenne, rechne ich nicht erst drüben mit ihm ab, sondern schon hier, hier, hier! Er hat gehofft, daß ich ihn mit hinübernehmen werde. Und er hätte sich auch wirklich mit mir hinübergeschlichen, ohne daß ich es ahnte, wenn – – – wenn ich nicht von dem Neubertbauer gezwungen worden wäre, hier bei euch zu hören, daß ihr alle für mich beten wollt! Wie ich euch dafür danke – – – schon hier – – – und dann auch dort, das werdet ihr erfahren!«

Er küßte das Herzle auf das Haar, tat dasselbe auch bei der Mutter, gab dem Lehrer die Hand und ging dann mit schnellen Schritten fort, als ob er keinen Augenblick mehr zu verlieren habe.

Die Mutter zitterte vor Aufregung. Sie sagte:

»Jetzt ist der Wahnsinn vollständig bei ihm ausgebrochen. Nun gibt es für ihn weiter nichts, als nur das Irrenhaus!«

*

Die Glocken begannen zu läuten. Der Kirchhof war ebenso wie der Kirchenplatz voller Leute gewesen, die nun in das Gotteshaus strömten. Viele von ihnen waren in die Leichenhalle getreten, um die Mustertochter anzusehen, welche im weißseidenen Festjungfrauenkleide im schwarzen Sarg mit goldenen Füßen lag, in demselben, den sie für ihren Vater bestellt hatte!

Das Innere der Kirche war mit Girlanden und Kränzen geschmückt. Die Festjungfrauen saßen in ihren Alltagsgewändern auf den vordersten Frauenbänken. Das Herzle auch. Sie war, wie immer, weiß gekleidet, die einzige von allen. Der Pfarrer hielt eine schöne, sehr wohldurchdachte Predigt über das Bibelwort: ›Wirket, so lange es Tag ist, denn es kommt die Nacht, da niemand wirken kann!‹ Nach dem Gottesdienste eilte alles hinaus, um möglichst nahe an die Tribüne zu gelangen, von welcher aus der Herr Lehrer die Ausstellung zu eröffnen hatte. Um das Gedränge zu vermeiden, durften die Festjungfrauen gleich durch die Sakristei hinaus. Da stand ein Fremder. Er hatte einen Touristenanzug an und ein Plaid am Riemen hängen. Der trat auf das Herzle zu und sagte:

»Mein liebes Kind, ich möchte gern alles hören und sehen. Gibt es vielleicht einen Platz, von welchem aus das möglich ist?«

Sie schaute ihn an. Er hatte so brave, treuherzige Augen. Die gefielen dem Herzle so gut, daß sie schnell antwortete:

»Kommen Sie! Ich gebe Ihnen meinen Stuhl.«

Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn mit sich fort.

Vor der Tribüne war ein Platz besonders abgesteckt. Da stand ein blumengeschmückter Webstuhl, ein Scherrahmen, ein Treibrad, ein Spulrad, ein Aufbäumegestell und noch vieles andere, was zur Handweberei gehört, alles mit Kränzen und Blumen behangen. Und da gab es auch die Sitze für die Festjungfrauen. Rundum, bis weit in das Dorf hinein, stand eine Menschenmenge, Kopf an Kopf. Das Herzle brachte den Fremden bis an den Scherrahmen und holte ihm ihren Stuhl. Einen besseren Platz gab es nicht in der ganzen Welt! Zwar hatte sie nun keinen besonderen Sitz, aber bei der bescheidenen Art von Festjungfrauen, wie die gegenwärtigen waren, ist dem leicht abzuhelfen. Es setzen sich einfach drei von ihnen auf zwei Stühle. Das geht sehr leicht, zumal das Herzle nichts in den Händen hat, weil sie ja ihr Klöppelkissen nicht hat mitbringen sollen. Die anderen aber haben die ihrigen alle.

Nun wird von der ersten Klarinette das eingestrichene a angeblasen, damit die anderen Instrumente erfahren, daß sie jetzt b zu sagen haben, worauf sie alle das Lied anstimmen ›Den König segne Gott!‹ Jedermann fällt mit seiner Stimme ein! Am Schlusse des Gesanges besteigt der Herr Lehrer die Tribüne, auf welcher ein Gegenstand liegt, der sehr schön eingewickelt ist. Er hält die Eröffnungsrede. Er spricht vom Weben und Wirken. Das soll ein jeder für sich, aber auch für andere tun! Für das Haus, für die Gemeinde, für das Volk, sogar für die ganze Menschheit. Der Menschheit ist keiner nütze, der immer nur an sich selbst denkt. Für sich selbst sorge man am besten, wenn man für seinen Nächsten sorge. Das tue jeder brave Mensch, sogar auch Seine Majestät der König. Es sei allgemein bekannt, wie huldvoll er sich der hiesigen Armen angenommen habe. Und daß sich auch Ihre Majestät, die Frau Königin, für die fleißigen Klöpplerinnen warm interessiere, das wolle er jetzt beweisen. Sie habe ihm nämlich schriftlich befohlen, das wohlbekannte Herzle freundlich zu grüßen und ihr das hier vor ihm liegende Ehrenklöppelkissen zu überreichen.

Bei diesen Worten öffnete er das Paket und brachte seinem vor Wonne ganz sprachlosen Herzle das königliche Geschenk von der Tribüne herunter. Wenn man aber denkt, daß er wieder hinaufgestiegen sei, um seine Rede zu vollenden und dann ein dreimaliges Hoch auf die Majestäten auszubringen, so irrt man sich. Es war zwar seine Absicht, dies zu tun, aber das Volk wartete diesmal gar nicht darauf, von dem Volksredner erst kunstmäßig begeistert zu werden, sondern die Begeisterung war schon gleich fertig vorhanden. Sie brach sich Bahn, wie damals das Musterbergle, als es aus dem Erdinnern herausgeflogen kam.

»Hurrah der König! Vivat die Königin! Dreimal Hurrah und zehnmal und tausendmal Vivat alle beide! Das Herzle auch! Der Herr Lehrer! Der Herr Pastor! Die Ausstellung! Das Klöppelkissen! Hurrah! Vivat!« so riefen und jubelten viele Hunderte von Kehlen, bis man gar weiter nichts mehr hörte als nur ein einziges großes Gewitter von lauter ›– –rrah‹ und ›– –vat‹.

Der Herr Lehrer hörte eine ganze Weile lachend zu. Aber als es gar kein Ende nehmen wollte, befahl er der Musik, den Festmarsch zu beginnen. Sofort fuhren die Instrumente an die Lippen, und es ging los: »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus, Städtele hinaus!« Das ging sogleich bis in die Beine. Ein jeder hörte, daß man nicht mehr zu vivaten, sondern zu marschieren habe. Man ließ die Musik durch, hinter ihr die Festjungfrauen mit ihren Klöppelkissen, das Herzle mit dem Frau Königlichen! Dann kam das Komitee, und hierauf folgten die Gewerbe und Gewerke in der Ordnung, welche jedermann bekannt gegeben worden war.

Der fremde Herr war auch dabei, denn als der Zug begann, hatte das Herzle ihn wieder bei der Hand genommen und grad vor sich hingestellt. So sah er sich gezwungen, mit als Festjungfrau anzutreten, was ihn aber ganz und gar nicht zu ärgern schien, denn er lachte am ganzen Gesicht. Er marschierte mit, das ganze Dorf hinauf und hinab, bis sich der Zug auf dem Festplatze aufzulösen hatte. Dort fragte er das Herzle, wo es einen Ort gebe, an dem man sich ein Stündchen ausruhen könne, ohne von zu großem Lärm belästigt zu werden. Da nahm sie ihn zum dritten Male bei der Hand und führte ihn über das Brückle und das Bergle hinauf nach dem Häusle, wo er sich zur Mutter setzte, die ihm sogleich den Kuchenteller vor die Hände schob. Das Karlinchen war auch da. Sie sah ihn an und dachte bei sich selbst:

»Der gefällt mir! Dem Herzle auch! Mit dem muß man es also halten!«

Das Herzle hatte nur schnell den Gast abgeliefert und das Kissen auf den Tisch gelegt und war dann wieder fortgeeilt, um ihren vielen Pflichten als ›Oberste‹ der Festjungfrauen zu genügen. Die Mutter wußte schon, woran sie mit dem Kissen war, denn während des Festmarsches durch das Dorf hatten sich alle möglichen Freundinnen bei ihr eingestellt, um es ihr zu berichten und dann schnell in das Dorf zurückzukehren. Man kann sich also denken, wovon und worüber sie mit dem Fremden sprach! Auf dem Tisch lag noch ein kleines Paket, welches der Musterwirt vorhin für den Herrn Lehrer geschickt hatte. Es wurde jetzt gar nicht beachtet.

Als es nach einiger Zeit zwölf schlug, entschuldigte sich die Mutter, daß sie einmal in die Küche schauen müsse, denn halb ein Uhr werde der Herr Lehrer kommen, um mit ihnen zu essen.

»Das Herzle auch?« fragte der Herr.

»Ja.«

»Was gibt es denn heut' Gutes?«

»So was man auf dem Dorfe hat, wenn Ausstellung ist. Eine Griessuppe mit Petersilie, grüngenüffte Klöße mit Sauerbraten und Speckgriefen, einen Eierkuchen mit Heidelbeermansch und hinterdrein einen Apfelbrei mit Zimmetgestreu. Das ist gar etwas Gutes. Man hat es nicht alle Tage, nicht einmal alle Jahre!«

»Ja, wenn man da mittun dürfte!« rief er aus.

»Warum denn nicht? Wollen Sie?«

»Wie gern!«

»Aber wahr muß es auch sein! Nicht so bloß ein Spaß von den vornehmen Stadtherren auf dem Dorfe!«

»Es ist mein Ernst, liebe Frau. Ich bitte, mich vollständig als Ihren Gast zu betrachten. Es gefällt mir hier bei Ihnen. Hier ist ein kleines Paradies. Da müssen gute, gute Geister walten! Gehen Sie also in die Küche, und pflegen Sie Ihres Amtes. Mich stört es nicht, allein zu sein.«

Wie dankbar sie ihn anschaute, ehe sie in das Häusle trat. Nun war er der einzige am Tisch. So dachte er. Aber grad auch am Tisch lag ja das Karlinchen. Während er mit lebhaften Augen das Treiben unten auf der Wiese beobachtete, betrachtete sie ihn immerfort und dachte dabei: »Ich wollte, der wohnte immer hier bei uns! Der ist brav! Der paßt gut zum Herrn Lehrer. Da gäbe es gewiß zweimal Semmel, anstatt täglich nur ein einziges Mal!«

Kurz vor halb ein Uhr kam das Herzle. Sie nahm weg, was auf dem Tische lag, und breitete ein blütenweißes Eßtuch auf.

»Herzle, ich speise auch mit,« sagte der Gast.

»Das habe ich mir gewünscht!« antwortete sie. »Man sieht es Ihnen ja sogleich an, daß Sie anderen Leuten gern eine Freude machen!«

Nun stellte sich auch der Herr Lehrer ein, welcher dem Gaste die Hand reichte und ihn bat, fürlieb zu nehmen. Die Mutter brachte die Suppe, und dann ging es los! Wie es aber auch dem fremden Herrn schmeckte! Man mußte die helle Freude daran haben! Und wie gut und warm er sprach und fragte! Er holte einem alles so recht grad aus dem Herzen heraus. So schön hatte man sich fast noch niemals unterhalten. Besonders der Herr Lehrer, der noch keinen gefunden hatte, bei dem er ein so tiefes und klares Verständnis für das wahre Wohl der arbeitenden Klasse bemerkte. Sie drückten einander schon bei den Klößen die Hände. Und während der Apfelspeise sagte der Fremde im Ton der Ueberzeugung:

»Herr Lehrer, Sie sind in der Dorfschule nicht an der richtigen Stelle. Hätte ich etwas zu befehlen, so wüßte ich, was ich machte!«

»Nun, was?« fragte da das Herzle.

»Das sage ich nicht Ich werde es Ihnen aber zeigen. Warten Sie nur, Sie gutes Herzle, Sie! Wenn Ihr Freund sich nur nicht in so gedrückter Stimmung befände! Er hat etwas auf dem Herzen, was er uns verbirgt.«

»Haben Sie mir das wirklich angemerkt?« fragte Bernstein. »Ich gab mir alle Mühe, es nicht merken zu lassen, weil ich wußte, daß es das Essen verderben würde. Nun dieses aber vorüber ist, kann ich reden. Ihr seid ja berechtigt, es vor allen anderen zuerst zu erfahren.«

Er legte sich in seinem Stuhle zurück, holte tief Atem und sagte.

»Das Geldmännle ist tot und hat sein ganzes, ganzes Geschäft offen zur Schau gestellt, von Anfang bis zum Ende!«

Man kann sich denken, was diese Worte für einen Eindruck machten, den größten vielleicht auf den fremden Herrn, der sich aber Mühe gab, dies nicht merken zu lassen! Die Frauen hatten gleich eine ganze Menge Fragen. Der Herr Lehrer bat aber, ihn ruhig anzuhören.

»Also das Geldmännle hat ausgestellt,« wiederholte er. »Alle seine Geheimnisse. Elf Tische voll. Die Druckmaschine mit den nachgemachten Platten. Die Münzstöcke für das falsche Silbergeld. Einen großen Haufen unechte Hundertscheine. Eure Taler mit den zwei durchlöcherten und den Elsterperlen dabei. Alle Werkzeuge, die in Gebrauch gewesen sind. Viele Chemikalien. Darunter auch das Zeug, an welchem man ersticken muß, wenn es ins Feuer geworfen wird. An jedem Gegenstande, an jeder Flasche befindet sich ein Zettel, welcher den Gebrauch genau bezeichnet. Sodann die heimliche Buchführung vom ersten bis zum letzten Tage. Man sieht da bis auf den Pfennig, welche Summe das Ganze ergibt. Die Namen der Abnehmer aber sind herausgeschnitten und jedenfalls vernichtet worden. Es soll niemand unglücklich gemacht werden. Sodann ist auch die ganze Buchführung des ›Etablissements‹ in Ordnung gebracht und ausgestellt, mit der Bilanz auf den heutigen Tag. Alle armen Schuldner sind ausgestrichen. Ihre Borgbücher liegen in hohen Haufen da, bis auf den letzten Heller quittiert; das wird eine Freude geben, so weit die Kundschaft reicht! Auf einem besonderen Tische liegt ein geschriebenes Heft. Es enthält das ganze, ausführliche Sündenbekenntnis des Geldmännle, seine letzten Gedanken und auch sein Testament. Auf dem letzten Blatte des Hauptbuches steht die Schlußrechnung. Ein eiserner Kasten enthält eine Menge gutes Bargeld in Gold und Silber und mehrere Pakete echter Kassenscheine, ganz außerordentliche Summen. Wenn man zu diesen Beträgen den Wert der Außenstände, des Grundbesitzes und des Inventars addiert und allen verursachten Schaden damit bezahlt, so bleiben noch an die zwanzigtausend Taler übrig, welche den Erben des Musteranton gehören sollen, weil das Geldmännle der Mörder desselben ist.«

Die Mutter und das Herzle waren still, ganz still. Der Fremde aber hatte sich weit herübergebogen und rief aus:

»Aber das ist ja ein Ereignis von allergrößter Wichtigkeit für diese ganze Gegend, und auch für – hm! Bitte, erzählen Sie weiter, weiter, weiter!«

»Punkt zwölf suchte der Gasthofskutscher den Herrn Pfarrer und mich,« fuhr der Lehrer fort. »Der Wirt hatte ihn geschickt, um uns beiden den Schlüssel zur Gaststube zu bringen. Herr Frömmelt erwarte uns dort. Wir gingen sogleich hin, schlossen die Tür auf und traten ein. Was wir sahen, ließ uns beinahe erstarren. Es war die Ausstellung, wie ich sie beschrieben habe. Genau an der Stelle, wo der Neubertbauer sich erstochen hat, stand am Schenktisch ein Stuhl. Darauf saß der Musterwirt, mit demselben Messer im Herzen, bis an das Heft – – – eine Leiche! Wir brauchten einige Zeit, um uns zu fassen. Dann sahen wir die ausgestellten Sachen schnell durch. Wir beschlossen, keinen Menschen hineinzulassen und einen Wagen nach der Stadt zu schicken, um den Staatsanwalt, die Polizei und den Bezirksarzt zu holen. Dann mußte ich hierher zum Essen. Der Herr Pastor hat den Schlüssel. Grad als wir die Tür zuschlossen, kamen drei Fremde, welche zum Musterwirte wollten. Wir sagten ihnen, er sei tot. Sie schienen ungewöhnlich zu erschrecken und behaupteten, daß er ihnen eine Menge Geldes schuldig sei. Sie verlangten in der zudringlichsten Weise, zu seiner Leiche gelassen zu werden, und ließen sogar auf der Straße nicht von uns ab. Da begegnete uns zufälligerweise unser Brüsseler Herr. Kaum sah er sie, da fuhr er auf sie los. Und kaum sahen sie ihn, so ergriffen sie die Flucht. Er rief uns noch zu, zwei von ihnen seien internationale Gauner, die auch ihn bestohlen hätten; dann rannte er hinter ihnen her.«

»Das war eine kleine Nebenszene, weiter nichts,« sagte der Gast. »Solche Individuen scheinen bei jeder Ausstellung unvermeidlich zu sein. Bleiben wir bei der Hauptsache! Sie haben ganz richtig gehandelt, zuzuschließen und nach dem Staatsanwalt zu schicken. Man muß die Ankunft dieses Herrn abwarten und bis dahin verschwiegen sein. Mich aber haben Sie nun einmal eingeweiht, und so bitte ich um die Erlaubnis, einige Fragen aussprechen zu dürfen!«

Natürlich blieb es nicht bei nur einigen Fragen. Der Fremde besaß eine so eigene, gütig zwingende Art, zu erfahren, was er wissen wollte. Es dauerte gar nicht lange, so war er in alles eingeweiht, was sich ereignet hatte. Dann bat er den Lehrer, mit ihm einen Gang durch das Dorf zu machen, um nachzusehen, was von den Bewohnern desselben ausgestellt worden sei.

Sie gingen. Auch das Herzle mußte fort. Sie hatte heut' viele Pflichten, sogar öffentliche, die man noch sorgfältiger zu erfüllen hat, als die gewöhnlichen, häuslichen!

Die Ehrengäste waren mit Musik zusammengeholt worden. Nun speisten sie bei einem lustig schallenden Konzerte. Während desselben kam die Frau Pfarrerin mit der Anna nach dem Bergle. Sie hatte einen köstlichen Gedanken. Wie wäre es, wenn man nach der Speisung der Ehrengäste die sämtlichen Festjungfrauen einlüde, am Nachmittagskaffee hier oben am Häusle teilzunehmen! Die Mutter war sofort einverstanden, und auch das Karlinchen tat einen Freudensprung.

»Habe ich es nicht gesagt!« dachte sie. »Nur eine Festjungfrau hier auf dem Bergle, das war mir viel zu wenig. Ein Dutzend muß es sein. Ich wußte es doch gleich!«

Selbstverständlich dauerte dieser Nachmittagskaffee bis in die blaue Dämmerung hinein. Platz war genug vorhanden, denn man hatte die nötigen Sitzgelegenheiten aus dem Gasthofe holen lassen. Eben hatte die Mutter die letzte Kanne aufgegossen, die aber nun auch wirklich die letzte sein sollte, da kamen noch drei durstige Leute über das Brückle durch das Gärtle herauf, nämlich der Herr Pastor, der Herr Lehrer und der Herr Fremde. Sie fragten, ob es Herren erlaubt sei, sich unter Festjungfrauen zu mischen, worauf das Herzle antwortete, sie habe schon beim Festzuge bewiesen, daß dies nicht verboten sei. Die drei Neuangekommenen setzten sich also zu ihnen.

Wie es schien, hatten sie großen Wohlgefallen aneinander gefunden. Wenigstens zeigte sich der Fremde in alle auf das Bergle bezüglichen Verhältnisse so tief eingeweiht, als ob er schon seit Jahren hier ein täglicher Gast gewesen sei.

»Wer er nur sein mag?« flüsterte das Herzle dem Herrn Lehrer zu.

Dieser neigte sich ganz zu ihr herüber und antwortete leise, leise:

»Er hat es uns doch noch mitgeteilt. Sag' es aber ja nicht weiter, denn er will partout inkognito bleiben. Es ist, denke dir – – – der Herr Minister, Exzellenz!«

Da sprang das Herzle auf, sah den Entlarvten ganz erschrocken an und rief mit lauter Stimme:

»Der Herr Minister, Exzellenz! Mutter, Mutter, der Herr Minister sitzt da neben dir – – – Exzellenz!«

Sofort fuhren auch die anderen elf Festjungfrauen mitsamt der Frau Pfarrerin in die Höhe.

»Exzellenz – – –! Der Herr Minister – – –! Exzellenz – – –! Minister – – –!«

So schallte es um alle drei Tische, daß fast die Tassen wackelten. Wer aber am allerhöchsten auffuhr, das war das Karlinchen.

»Der Herr Minister – – –! Exzellenz!« jubelte es in ihr. »Mir also ebenbürtig! Wenn auch ohne Dangtell de Brüsell! Jetzt weiß man endlich, endlich, was hier die Glocke schlägt!«

Der hohe Herr lachte am ganzen Gesicht und bat, doch ruhig sitzen zu bleiben. Hier auf dem Bergle sei er weder Exzellenz noch Minister, sondern weiter nichts als nur die dreizehnte Festjungfrau. Der Festzug habe das bis zur Evidenz bewiesen! Die dreizehnte pflege zwar nie gern gesehen zu sein, doch bitte er, das Karlinchen als die vierzehnte zu betrachten. Dann sei ja alles gut!

Es muß gesagt werden, daß die Mutter nun doch noch einige Male neu aufzugießen hatte – – – aber um wieviel Uhr zum letzten Male, das hat man zu verschweigen, ganz selbstverständlich aus Rücksicht auf – – – die Exzellenz.

Als dann der Herr Lehrer noch eine kurze Zeit mit der Mutter und dem Herzle allein am Tische saß, fiel der ersteren das Paketchen ein, welches der Musterwirt für ihn geschickt hatte. Sie holte und gab es ihm. Er öffnete es. Es enthielt die Postquittungen. Aber es lag ein Zettel dabei, auf welchem folgendes geschrieben stand:

»Diese Quittungen hat die Rosalia dem Herzle heimlich aus dem offenen Kasten genommen. Nun wissen Sie, Herr Lehrer, wessen Geschöpf Sie sind, das Geschöpf der Liebe, der Sie mit Stolz und gutem Gewissen danken können. Gott segne diese Liebe!« – – –

Buchschmuck

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