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Der Einsiedel.

Buchschmuck

»Reißt aus, reißt aus, der Teufelsbauer kommt!« rief es unter einem Trupp von Schuljungen, welche sich mit ihren Spielen auf der Dorfstraße breit gemacht hatten, und kaum war der ängstliche Ruf erschollen, so stob die Schar lautlos nach allen Richtungen auseinander.

»Macht rasch die Türen zu, und schlagt drei Kreuze; der Einsiedel geht durchs Dorf!« klang es in den Häusern.

Die Fenster und Türeingänge wurden verschlossen, und nur verstohlen lugten die Köpfe der Neugierigen nach dem Manne, dessen bloßes Erscheinen die abergläubischen Dorfbewohner in Furcht zu setzen vermochte.

Es war eine lange, breitschultrige Gestalt, welche langsam dahergeschritten kam, den Blick finster zur Erde gesenkt und scheinbar gleichgültig gegen die verletzenden Demonstrationen.

Aus dem Fenster eines Hauses, neben dessen Tür auf blechernem Schilde das Wort ›Ortsrichter‹ zu lesen war, schaute ein kleines, hageres und spitzes Gesicht hervor.

»Tannenbauer,« tönte es schnarrend zwischen den schmalen, breitgezogenen Lippen hervor, »geh doch nicht durchs Dorf, sondern lauf lieber dahinter weg. Du weißt schon, warum!«

Der Angeredete tat, als habe er die Beleidigung nicht vernommen, und setzte ohne Zögern seinen Weg weiter fort.

Unter dem Torwege eines der größeren Güter lehnte ein hagerer, aber sehnig gebauter Mann, dessen kleine, grünlich schimmernde Augen unter den haarlosen und eigentümlich zwinkernden Lidern hervor neugierig die Straße beobachteten. Als er den Kommenden erblickte, fuhren die eng zusammengezogenen Züge überrascht auseinander, und mit gehässigem Grinsen murmelte er vor sich hin:

»Der Teufelsbauer vom Tannenhofe! Was muß denn den heute zum Sonntage aus seiner Satansklause hervorgetrieben haben? Wenn der sich sehen läßt, so gibt es sicher ein Unglück im Dorfe. Wart', ich fürcht' mich nicht vor ihm und werde ihm gleich zeigen, daß ich noch immer der alte bin!«

»Lebst du denn wirklich noch, Haubold Frieder?« fragte er mit absichtlich erhobener Stimme, damit man ihn in der Nachbarschaft hören könne. »Hab' gedacht, daß du längst mit dem Leibhaftigen fortgeflogen bist! Aber sag' doch mal, wie war denn eigentlich damals die Geschichte mit meinem Bruder? Bist wohl nicht mit dabei gewesen?«

Haubold zog die Brauen enger zusammen, senkte den Kopf noch tiefer und würdigte auch diesen Zuruf keiner Antwort. Als er das scharfe, höhnische Lachen vernahm, welches hinter ihm erscholl, wurden seine trotz des Alters noch immer schön zu nennenden Züge um einen Schatten bleicher; die Lippen legten sich mit herbem Ausdrucke aufeinander, und aus den großen, dunklen Augen fiel ein Blitz zur Erde, in welchem Verachtung und Bitterkeit mit gleicher Stärke leuchteten.

Da klang es halblaut und freundlich aus der Ecke des zu demselben Gute gehörigen Gartens:

»Guten Tag, Herr Haubold!«

Verwundert blieb er stehen und hob den gesenkten Kopf empor. Am Zaune stand mit verlegenem Gesichtchen ein junges, kaum zwanzigjähriges Mädchen, welches unter dem forschenden Blicke des ernsten Mannes die Augen niederschlug, als habe es eine Sünde begangen.

»Grüß Gott, mein Kind!« antwortete er freundlich. »Sag', wer bist du denn, daß du dem Teufelsbauer nicht auch den Gruß versagst?«

»Ich bin die Kathrine, und mein Vater – mein Vater, das ist – das ist der Wiesenbauer, der jetzt zu Euch geredet hat,« lautete die zögernde Antwort.

»Der Wiesenbauer? Du bist seine Tochter und magst mich doch grüßen?«

»Ich grüß' Euch gern!« Ihr Auge hob sich und suchte wie bittend das seine. »Ich habe gehört, was der Vater sagte, und – und –«

»Und wolltest wieder gut machen, was er Böses gesprochen hat?«

»Ja; aber bitte, nehmt mir's nicht übel!«

»Wie könnte ich dir darüber zornig sein, Kathrine? Ich habe dich noch gar nicht gekannt, und vielleicht bist du besser, als dein Vater. Du bist ein unschuldig Blut und kannst ja nichts dafür, daß er so große Feindschaft hegt. Habe Dank für deine gute Rede, und bleibe immer so brav, wie du jetzt alleweil bist!«

Er reichte ihr die Rechte über den Zaun hinüber und wendete sich dann zum Gehen. Sie blickte ihm nach, so lange sie es vermochte, und atmete dann, während ein zufriedenes Lächeln um den kleinen Mund spielte, tief und erleichtert auf.

»Endlich habe ich's mal gewagt! Sie sind alle so schlimm mit ihm, und er ist doch so still und gelassen dabei. Vielleicht ist gar nichts wahr von dem, was die Leute von ihm sagen, und der Gustav – der Gustav ist ganz gewiß auch lieb und gut, obgleich er gerade so finster dreinschaut wie sein Oheim und kein anderer Bursche was von ihm wissen mag!«

Sie zerpflückte sinnend die Blume, welche sie von der Frühkirche her noch an der Brust stecken hatte.

»Wenn man nur mal mit ihm sprechen könnte! Aber ich habe ihn noch niemals gesehen, daß er mit irgendwem geredet hätte, und auf dem Tanze, da ist er erst recht nimmer zu erblicken. Es ist nur gut, daß der Vater gleich in die Stube gegangen ist und nicht hat sehen können, daß ich mit dem Tannenbauer Zwiesprache gehalten habe. Wo der nur hingehen wird? Er kommt kaum alle Jahre mal in das Dorf, und dann wird irgend was hervorgesucht, an dem er schuld sein soll!«

Auch der, nach dem sie sich fragte, konnte seine Gedanken nicht von der unerwarteten Begegnung wenden. Was hatte die Tochter seines Todfeindes veranlaßt, ihn zu grüßen? War das wirklich bloß die Absicht, die Härte ihres Vaters zu mildern? Er hatte sie noch niemals gesehen oder wenigstens ihr bei einer etwaigen Begegnung keine Beachtung geschenkt, und jetzt stellte sie sich ihm auf einmal so freundlich und versöhnend gegenüber. Das mußte wohl einen besonderen Grund haben. Die milde Erscheinung mit dem flehenden Auge hatte ihm, dem Gemiedenen, wohlgetan; er sann und sann im Vorwärtsschreiten und fuhr fast erschrocken auf, als er hinter sich eine rufende Stimme vernahm:

»Was ist's denn, Haubold, daß du vorübergehst? Ich denke, du willst zu mir!«

Er wendete sich zurück und trat auf den Sprecher zu. Dieser hatte schon längst wartend am geöffneten Tore gestanden, dessen altersschwarze Flügel mit drei weißen, riesigen Kreuzen bemalt waren, und hielt ihm jetzt mit sichtbarem Widerstreben die Hand entgegen.

»Ach so, ja; ich war in Gedanken und habe da nicht bemerkt, daß ich schon bei dir bin. Aber behalte deine Hand; du gibst sie mir doch nicht gern!«

Sein Blick fiel auf die zur Abwehr bestimmten frommen Zeichen am Tore.

»Was sollen denn die Kreuze bedeuten?« fragte er.

»Denke ja nicht etwa, daß es wegen dir ist!« lautete schnell die vorbeugende Antwort. »Es ist mir was Heimliches über meinen Stall geraten, und da habe ich die Kreide genommen und die heilige Dreifaltigkeit ans Tor geschrieben. Ich denke, der Knecht hat dir's erzählt!«

»Schon gut! Ich weiß genau, woran ich mit euch bin. Ihr seid einer so dumm und ungut wie der andere, sinnt euch allerlei Fixfaxerei aus über mich und macht euch einander den Unsinn so lange weiß, bis ihr endlich selbst an eure eigenen Lügen glaubt. Und wenn ihr dann den Karren mal tief hineingeschoben habt, so bin ich gut genug, ihn wieder rauszuziehen. Ihr seid alle nichts wert, keinen Kreuzer und keinen Pfennig! Was ist's denn, daß du so pressant nach mir geschickt hast?«

»Ja, denke dir nur, heute früh komme ich in den Stall, da liegt die Schecke am Boden und daneben auch die Kalbe, alle beide tot. Ich schicke sogleich zum Tierarzt, und als der gekommen ist, hat er da gestanden, das Sacktuch vor die Nase gehalten und weder Rat noch Tat gewußt. Und der ist doch ein Studierter; er hat zwar keine gelehrte Schule besucht wie du, als du Student warst, aber er hat heidenmäßig viel Bücher und alte, gute Schriften, und in denen hat er heute nachgeschlagen und gefunden, daß mein Stall verhext ist. Er selber kann dagegen nichts tun, hat er mir sagen lassen, und da ist der Knecht zu dir gelaufen, weil du dich auf die schwarze und weiße Magie verstehst, wie kein anderer nicht. Schau dir nur mal die drei Kühe an, welche noch drin stehen; vielleicht kannst du sie mir retten!«

»Der Knecht sagte, du habest das Vieh gestern auf der Weide gehabt?«

»Ja, sie sind gestern am ganzen Tag drunten auf der Moorwiese gewesen.«

»Du bist wohl nicht recht klug, das arme Tierzeug auf das Moor zu treiben! Die große Sonnenhitze dazu; da versteht sich's doch von selber, was draus werden muß! Was hast du denn mit den zwei toten Stücken getan?«

»Sie liegen noch drüben im Schauer. Ich werde ihnen wenigstens die Häute abziehen lassen.«

»Nach dem, was ich mir denke, hättest du sie schon längst vergraben sollen. Ich werde jetzt in den Stall gehen. Oder hast du vielleicht Angst vor mir?«

»Geh nur immer hinein, es bleibt ja doch nichts anderes übrig, und du wirst mir als Schulkamerad wohl nicht noch größeren Schaden machen, als ich schon habe!«

Haubold zuckte mitleidig die Achsel, öffnete die Tür zum Stalle und trat hinein. Eine dumpfe, üble Luft schlug ihm entgegen, so daß er sich fast wieder umgewendet hätte. Die drei Kühe standen an ihren Plätzen, drehten heftig die Köpfe und stießen von Zeit zu Zeit einen kurzen, stöhnenden Husten aus. Ihre Augen schwammen in Wasser; der Atem ging schnell und ängstlich, und die eingefallenen Flanken bewegten sich zitternd auf und nieder.

»Komm mal her,« gebot Haubold dem Bauer und strich der ihm nächststehenden Kuh mit der Hand die Seite entlang. »Hörst du, wie es knistert? Das ist der Milzbrand und keine Hexerei. Nimm dich in acht; die Krankheit steckt auch Menschen an! Und paß auf, was ich dir sage!«

Er griff in die Tasche des Rockes und zog zwei Tüten hervor.

»Jetzt schickst du sofort zum Richter und meldest, daß der Milzbrand bei dir sei; das mußt du, denn es steht so im Gesetz geschrieben. Die Scheck und die Kalbe gräbst du mit Haut und Haaren im Garten ein, so tief wie möglich und tust Kalk darauf. Und die drei Rinder hier schaffst du hinaus an die frische Luft, wenn du sie dir erhalten willst. Ich hab mir's wohl gedacht, daß es der Milzbrand ist, und dir darum gleich die richtige Medizin mitgebracht. Hier kann niemand helfen, als nur wieder mal der Teufelsbauer allein, und deinem gelehrten Tierarzt darfst du sagen, daß er ein Pfuscher ist! Schau her, hier sind zwei Tüten. Von der ersten gibst du alle drei Stunden einen Eßlöffel voll in Wasser, und von der anderen gleich darauf halb soviel in Honig eingerührt. Aber komm dieser nicht mit Feuer zu nahe; es ist Schießpulver dabei!«

»Ich werde es so tun, Haubold; aber das von dem Milzbrand, das machst du mir doch nicht weiß! Schießpulver hilft bloß gegen Teufelsspuk, und du hast dich also ganz von selber verraten. Aber hab' Dank für –«

»Schon gut, schon gut! Deinen Dank, den brauche ich nicht, und deine Gescheitheit, die heile ich nicht. Was du sonst noch zu tun hast, das kannst du auch ohne mich verrichten. Leb' wohl!«

Ohne auf die weiteren Reden des anderen zu achten, entfernte er sich mit raschen Schritten und schlug jetzt einen Weg ein, welcher ihn hinter dem Dorfe, die Gärten entlang, nach Hause führen mußte. Seine Gemütsruhe war von dem seltenen und nur aus reiner Teilnahme unternommenen Ausfluge bedeutend erschüttert worden; er sehnte sich nach Einsamkeit und fand dieselbe hier auf dem stillen Pfade eher, als auf der belebten Dorfstraße, wo jede Erscheinung darauf angelegt zu sein schien, die in ihm wohnende Bitterkeit zu steigern.

Die Kirchenglocken riefen zum Nachmittagsgottesdienste. Der Eindruck ihres erhebenden Klanges wollte auch hinab in sein Herz dringen. Er blieb stehen und lauschte. Wie viele Jahre waren wohl verflossen, seit er zum letzten Male das Gotteshaus betreten hatte? Und wer trug die Schuld, daß er die Menschen mied, sogar an dem Orte, an welchem die Feindschaft und der Haß des Erdenlebens niemals Zutritt finden sollten? Er strich mit der Hand über die umwölkte Stirn und schritt weiter. Die Glocken waren verstummt; jetzt erhob wohl die Orgel ihr majestätisches Brausen, und die Gemeinde stimmte eines jener Lieder an, in denen jede Strophe, jeder Vers von Liebe und vom Frieden predigt. Wer doch dieser Liebe begegnen und diesen Frieden finden könnte!

»Bist du auch wieder hier, Haubold Frieder?« klang da eine mißtönende Stimme mitten in seine Gedanken hinein. »Hab' gedacht, du schlägst dich mit dem Teufel im Kuhstall herum! Aber sage doch mal, wie war denn eigentlich damals die Geschichte mit meinem Bruder? Bist wohl gar nicht dabei gewesen?«

Haubold fuhr herum und maß den Wiesenbauer, welcher jetzt mit der Ausbesserung des hinteren Gartenzaunes beschäftigt war, mit zornsprühenden Blicken.

»Was bist du doch für ein schlechter Kerl, Heinemann! Wär ich wirklich der, für den ihr mich haltet, so spräche ich jetzt den Spruch, und du solltest sehen, was darauf folgen möchte,« sagte er.

»So sprich ihn doch! Der Leibhaftige ist doch dein Gevatter und wird dir gern zu Diensten sein! Aber ich fürchte mich trotzdem nicht vor dir, und du kannst nur immer Sorge tragen, daß du mir nicht einmal in die Hände läufst. Mich wirfst du nicht vom Felsenbruch herunter, wie damals meinen Bruder, darauf darfst du dich verlassen!«

Die Adern an der Stirn des Beschuldigten traten dunkel hervor; er legte die Hand auf den Zaun und hob den Fuß, wie um hinüberzuspringen.

Da fuhr der Wiesenbauer höhnisch fort:

»Hast recht, Haubold Frieder; wir können die Sache gleich hier ausmachen! Die Hacke habe ich schon bei der Hand, und wer ohne Erlaubnis in meinen Garten kommt, den darf ich niederschlagen. Wer des Nachts gemordet hat, gegen den muß man sich auch bei Tage wehren!«

»Nein, Wiesenbauer,« erwiderte Haubold, indem er sich mit Gewalt zur Ruhe zwang und die Hand vom Zaune nahm, »du bist mir nicht gewachsen, trotz deiner Hacke; dies weißt du ebensogut wie ich, aber ich will mich nicht selbst an dir rächen, sondern dich dem lieben Gott überlassen. Der hat deinen Bruder getroffen und wird auch dich zu finden wissen!«

Er ging.

»Der Teufelsbauer fürchtet sich!« rief es unter höhnischem Lachen hinter ihm. »Laufe nur zu! Vor deinem Advokaten, dem Herrgott, habe ich keine Angst, und du, du kommst mir schon noch hin, wo ich dich haben will!«

Trotz der sommerlichen Hitze, welche auf der Gegend lag, fühlte der Tannenbauer bei dieser Lästerung einen kalten Schauer über seinen Körper gehen. Er dachte nicht mehr an Glockenklang und Orgelton; in seinem Herzen hatte die weiche Stimmung der alten Bitterkeit wieder Raum gegeben; er verdoppelte seine Schritte, um so schnell wie möglich von der Stelle zu kommen, welche den unversöhnlichsten seiner Feinde trug, und atmete leichter und freier auf, als er endlich das Dorf hinter sich hatte und in den Fahrweg einbog, welcher nach dem ›Teufelshofe‹ führte.

Dieser lag seitwärts im freien Felde. Zu beiden Seiten des Einganges erhoben sich zwei mächtige Tannen, welche die Firste des Daches weit überragten und der Besitzung ihren ursprünglichen Namen gegeben hatten, wie auch die Inschrift bezeugte, die einer der früheren Bauern in den Schlußstein des hochgewölbten Torweges hatte graben lassen:

»Dies Haus, das steht in Gottes Hand
Und wird zum ›Tannenhof‹ genannt!«

Auf einer der Moosbänke, welche sich um die Füße der Bäume zogen, saß ein junger Mann, welcher so eifrig mit Lesen beschäftigt war, daß er Haubold erst bemerkte, als dieser schon vor ihm stand. Er schloß das Buch und erhob sich.

»Was hast du hier zu lesen, Gustav?« fragte der Angekommene.

»Es ist das Gesangbuch, Oheim. Hast wohl auch gehört, daß vorhin die Glocken geläutet haben?« antwortete der andere.

»Warum gehst du denn nicht lieber in die Kirche?«

»Ich mag nicht! Der liebe Gott ist alleweil hier beim Tannenhofe auch, und vielleicht noch lieber, als in dem Hause, wo sie singen und beten und doch nichts vom rechten Frommsein wissen.«

Der Bauer legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihm tief in die Augen.

»Armer Bube! Hast du auch schon von dem Gift trinken müssen, das schlimmer ist, als Schlangensaft? Höre, Gustav, wollen hier bei uns recht lieb und gut mit'nander sein, dann brauchen uns die anderen nichts zu kümmern!«

Der Blick des Jünglings drang durch die rasch aufsteigende Feuchtigkeit mit dem Ausdrucke der herzlichsten Liebe zu ihm herüber.

»Oheim, du weißt, wie hoch dich alle hier im Hause halten, darum sollst du dich nicht immer so einsam stellen, sondern mehr bei uns sein, als in deinem alten Turm, an den der Heinemann das Teufelsbild gezeichnet hat!«

»Der Wiesenbauer ist's gewesen? Ich habe mir's wohl gedacht! Woher hast du es erfahren?«

»Von der Magd, die hat es heute daheim gehört. Soll ich das Bild vielleicht mit Lehm überstreichen?«

»Nein, laß es stehen! Ich habe vorhin den Streit dem besten Anwalt übergeben, und der wird sicher dafür sorgen, daß gerade derjenige, der mir den Schimpf hingemalt hat, ihn selber wegtut.«

Er trat in das Haus. Schon im Flur desselben drehte er sich noch einmal zurück.

»Es wird wohl heute noch ein Gewitter geben. Hast du vielleicht noch Garben auf dem Felde?«

»Ja. Aber die Wagen sind schon vorgezogen, und sobald die Kirche aus ist, hole ich, was noch draußen liegt!«

»Gut, ich konnte mir's denken, daß ich dir so was nicht erst zu sagen brauche!«

Ohne in eine der Stuben zu treten, schritt er durch den Flur und Hof hinaus nach dem Garten. Dieser wurde von einer hohen, massiven Steinmauer eingefaßt und stieß mit seinem hinteren Ende an eine alte, halbverwitterte Turmruine. Sie war jedenfalls das letzte Ueberbleibsel eines längst zerfallenen, mittelalterlichen Bauwerkes und hatte, soweit man nur zurückzudenken vermochte, stets den sich zur Ruhe setzenden Tannenbauern als Auszüglerwohnung gedient. Es ging von ihr die Sage, daß hier ein Ritter gehaust habe, der seine Seele dem Teufel verschrieben hatte und von diesem auch geholt worden sei. Seit dieser Zeit litt es niemanden in dem zusammengebröckelten Gemäuer, und der Ort wurde von jedermann geflohen, bis der erste Haubold kam, den Hof erbaute und die Ruine mit in den Bereich des Gartens zog. Da er sich vor dem Spuke nicht fürchtete, so schrieb man ihm geheime Künste zu, welche sich auch auf seine Nachkommen vererbten. Diese hatten es stets verstanden, sich bei den Bewohnern der Umgegend in Respekt zu setzen; sie waren immer kluge Leute gewesen und hatten gar manches zustande gebracht, wozu anderen der Mut oder die Kenntnisse und das Geschick gefehlt hatten. Wenn niemand Obst erbaute, auf dem Tannenhofe mußten die Bäume gestützt werden. Wenn rund umher die Saatfelder versagten oder die Kartoffeln nicht geraten wollten, die Tannenbauern hatten in ihren umfangreichen Räumen kaum Platz genug für die Fülle des Erntesegens. In ihren Ställen standen die glattesten Pferde und die drallsten Rinder. Kam ein Fruchthändler oder Fleischer in das Dorf, er ging immer zuerst nach dem Tannenhofe; dort floß das Geld freiwillig ein, während selbst die Wohlhabenden im Dorfe leicht über Mangel klagten. Wenn irgendwer aus Not ein Stück Land verkaufen mußte, stets waren die Tannenbauern da, um es zu erwerben; ihr Besitztum wuchs und verbesserte sich von Jahr zu Jahr, und da man sich nicht entschließen konnte, durch die Anerkennung fremder Vorzüge die eigenen Fehler in das Licht zu stellen, so griff man zu der alten Sage zurück und schrieb den Wohlstand auf dem Tannenhofe jenen Künsten zu, von denen der Aberglaube erzählt, daß sie unter Aufopferung des Seelenheiles zum Reichtum führen.

Die Haubolde hatten immer darüber gelächelt; ja, es waren einige unter ihnen gewesen, welche sich das Vergnügen gemacht hatten, die Befangenen durch allerhand Sonderlichkeiten in ihrer Ansicht zu bestärken. Sie ließen dabei unbedacht, daß sie dadurch sich selbst und den Ihrigen zu Schaden seien, eine Unvorsichtigkeit, unter welcher ganz besonders der jetzige Bauer zu leiden hatte.

Er mochte daran denken, als er jetzt in den Garten ging und dann vor der Ruine stehen blieb, um den Blick langsam über dieselbe gleiten zu lassen. In ihrem Innern sollten seine Vorfahren den Pakt mit dem Teufel geschlossen haben; durch die Esse, welche das Mauerwerk um einige Fuß überragte, fuhr in finsteren Nächten der Drache hernieder; dunkle oder feurige Erscheinungen zuckten des Mitternachts durch die Luft, und wenn der Sturm über die unheimliche Stätte strich, so fuhren unter herzbrechendem Aechzen und Stöhnen die eingebannten Geister auf und konnten doch nicht loskommen, weil unten im tiefsten Keller das sechste und siebente Buch Mosis an einer Kette festgeschlossen lag.

Er lachte unwillkürlich auf und warf, halb trotzig, halb verächtlich, den Kopf zurück.

»Und so sind die Tannenbauern zu Teufelsbauern geworden, vor denen die Buben auf der Gasse davonlaufen, und die sogar der Richter aus dem Orte hinausweist. Man höhnt und spottet ihrer, bis man mal ihre Hilfe braucht, und malt ihnen am Ende gar noch den Satan an die Mauer. Aber wer den Teufel an die Wand malt, zu dem geht er auch; das ist ein altes, wahres Wort, und so will ich ruhig sein und allen Vorwurf tragen, bis meine Zeit gekommen ist.«

Er mußte sich bücken, um durch die niedrige, enge Pforte zu gelangen, und stieg dann die wenigen Stufen einer schmalen Treppe empor, welche zu einer Tür führte, die in diesem Augenblicke nur angelehnt war. Er wußte ganz genau, daß er sie bei seinem Gehen geschlossen hatte; niemand, selbst Gustav nicht, wagte hier Zutritt zu nehmen, und doch befand sich jemand in der Klause des einsamen Einsiedlers, denn es war eine Stimme zu vernehmen, welche in halblauten, abgerissenen Sätzen mit irgendwem zu sprechen schien.

Er erweiterte leise und vorsichtig die Spalte und blickte hinein. Außer dem einen Kreisabschnitt bildenden Treppenraume befanden sich zwei dreieckige Gemächer in dem Turme, deren rechtem Winkel die von einigen Fensteröffnungen durchbrochene runde Umfassungsmauer gegenüberlag. Die vordere Stube war für einen ›Einsiedel‹ sehr eigentümlich ausgestattet. Die eine Wandseite wurde von hohen, wohlgefüllten Bücherständen vollständig eingenommen; die andere war mit den Insignien des Studententums, Pfeifen, Schlägern, Cerevis und hundert Kleinigkeiten behangen. An einem der Fenster stand ein augenscheinlich viel benutzter Schreibtisch, und in der Nähe desselben enthielt ein mit grünem Vorhange versehenes Fachwerk allerlei ärztliche Instrumente, chemische Werkzeuge und Apparate.

Hier war niemand zu sehen; die Stimme kam aus dem nebenan liegenden Raume, dessen Tür weit geöffnet war. Haubolds Züge verfinsterten sich. Wer konnte es wohl unternehmen, das größte Heiligtum, welches der Tannenhof für ihn barg, zu entweihen? Zornig eilte er hinzu und stand im nächsten Augenblick hinter einer weiblichen Person, welche am Boden kniete und mit Inbrunst ein Bild betrachtete, welches sie mit beiden Händen vor sich hielt.

»Nein, du bist's nicht gewesen,« sprach sie, »das weiß ich sicher und gewiß; aber es darf niemand wissen, wie's gekommen ist, und darum mußt du für mich leiden, ohne daß ich dich davon erlösen kann!«

»Was gibt's hier zu erlösen, und wer hat dir geheißen, in meine Stube zu gehen?« fragte es hinter ihr.

Sie erhob sich erschrocken und wandte ihm ihr blatternarbiges und jetzt vor Verlegenheit hoch errötendes Gesicht zu.

»Nun, kannst du nicht Antwort geben? Was tut das Bild in deiner Hand? Gleich hängst du es wieder hin an seine Stelle und machst, daß du hinausgelangst. Aber komme mir ja niemals wieder herein, sonst magst du sehen, wo du bleibst!«

Die freundliche Ausstattung des Zimmers ließ wohl kaum die Vermutung zu, daß es dem Teufelsbauer zur Wohnung diene. An den Fenstern hingen weiße Gardinen, welche allerdings schon seit geraumer Zeit der Wäsche zu entbehren schienen, deren Feinheit aber darauf deutete, daß sie nur von einer ganz besonderen Rücksicht in die Ruine gebracht worden seien. Das Sofa und die weichen Polsterstühle waren mit mühsamen Filetarbeiten belegt; das hinter einem Vorhange sich verbergende Bett trug einen Ueberzug von gutem, weißem Leinen; der offene Waschtisch zeigte eine sorgfältige Auswahl von für einen Bauernhof ungewöhnlichen Damentoilettegegenständen; auf dem Nähtische stand ein niedliches Necessaire, und unter dem Spiegel waren allerlei Nippes und Kleinigkeiten gruppiert, unter denen jedenfalls eine zarte Frauenhand gewaltet hatte. War es vielleicht die Hand des jungen, schönen Mädchens gewesen, deren blondlockiges Porträt inmitten eines der zwei verwelkten Vergißmeinnichtkränze hing, welche zu beiden Seiten des Spiegels befestigt waren?

Vor Bestürzung noch immer wortlos trat die Gescholtene hinzu und gab das Bild, welches sie gehalten hatte, in den zweiten Kranz hinein. Es stellte einen Jüngling in Studententracht vor, und eine Vergleichung mit Haubold ließ erkennen, daß er selbst dazu gesessen hatte.

»So, nun gehe!« sprach er. »Ich kann hier niemand gebrauchen.«

Sie sah ihn bittend an. Ihre Augen, in denen ein heller Tropfen schimmerte, glichen jetzt fast denjenigen, mit welchen das Mädchenbild so voll und offen aus dem Rahmen schaute.

»Ich sah Euch gehen,« entschuldigte sie sich endlich mit leise zitternder Stimme, »und dachte, ich könnte inzwischen hier mal nach der Ordnung sehen!«

»Das tue ich selbst,« antwortete er in milderem Tone. »Nicht wahr, das hast du gewußt und bist nur aus Neugierde hergekommen?«

Sie schlug beschämt die Augen nieder und bat:

»Seid nur nicht bös, Herr Haubold! Es tut so leid, wenn Ihr mir zornig seid!«

»Das habe ich schon gesehen, Marie! Bist stets ein gutes Herz gewesen, und hätte ich dich nicht gehabt damals in den Jahren voll Trübsal und Traurigkeit, so wäre ich schier ohne Liebe und Trost zu Grunde gegangen. Aber laß nur meine Klause allein! Du hast im Hause genug zu tun und solltest dich nicht auch noch mit mir besorgen.«

»Ich tät's so gerne!« antwortete sie, und bei diesen Worten ging es so hell und warm über ihr Gesicht, daß die Zerstörung, welche die Pocken in demselben angerichtet hatten, sich vollständig vergessen ließ. Dann legte sie die Hand leise in seine dargebotene Rechte und entfernte sich.

Er stand unbeweglich, bis ihre Schritte verschollen waren.

»Was hatte sie mit meinem Bilde zu tun? Und diese Augen! Ich habe diese Aehnlichkeit noch niemals bemerkt. Und hier an derselben Stelle hat die Martha gestanden, als sie plötzlich Abschied nahm, und mit derselben Stimme dieselben Worte gesagt: ›Seid mir nicht bös, Herr Haubold!‹ O, Martha, warum bist du damals fort und hast es auch geglaubt, daß ich der Mörder bin!«

Er nahm das Bild des Mädchens von der Wand und betrachtete es mit dem Ausdrucke unaussprechlicher Liebe.

»Nur noch ein einziges Mal möchte ich dich sehen und wissen, wie dir's geht! Ein einziges Mal nur möchtest du zu mir kommen, um zu erfahren, wie treue Liebe ich gehegt habe und alles hier in deiner Stube gelassen, gerade wie es war, als du gegangen bist! Aber du kommst nimmer wieder, und ich – ich habe vergebens an deine Liebe geglaubt!«

Sie war eine Schauspielerin gewesen und hatte zu einer jener armen Truppen gehört, welche es nicht verschmähen, auch in kleineren Städten oder größeren Dörfern ihre Bühnen aufzuschlagen. Sein Vater hatte, als wohlhabendster Mann des Ortes, sich solcher ›Künstler‹ immer wohlwollend angenommen. Da sie ziemlich regelmäßig kamen, so war im alten Turm dieses Zimmerchen hergerichtet worden, um der Frau ›Direktorin‹ als stets für sie bereite Wohnung zu dienen. Einst aber war eine bisher noch unbekannte Truppe eingezogen, und da es bei dieser noch keine ›Direktorin‹ gab, war das Zimmer der ›ersten Sängerin‹ eingeräumt worden, die man in der vertraulichen Weise der Gebirgsdörfler bei ihrem Vornamen Martha nannte.

Zu der gleichen Zeit war der damalige Student auf Ferien daheim gewesen, und es hatte sich zwischen ihm und der Sängerin eine jugendlich reine, selbstlose Zuneigung entwickelt, welcher aber, wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen, sein Vater und der Bruder des jetzigen Wiesenbauers hindernd entgegengetreten waren. Die Schauspielerin hatte das Haus verlassen müssen, nachdem ein unglückliches Ereignis eingetreten war, über welchem noch heutigestags das Dunkel des Geheimnisses schwebte.

Wie tief der jetzige ›Teufelsbauer‹ von jenen Vorkommnissen berührt worden war, bewies der Umstand, daß er damals sein Studium aufgegeben hatte und das Stübchen der einstigen Freundin noch heute als ein Heiligtum betrachtete, welches kein fremder Fuß betreten durfte. Er war nie wieder auf den Gedanken gekommen, dem Hofe eine Bäuerin zu geben. Martha war eine jener reinen, fleckenlosen Seelen gewesen, welche bei umherziehenden sogenannten Künstlern nur höchst selten zu finden sind. – – –

*

II.

Die letzten Halme waren zusammengeharkt, und Kathrine steckte den Rechen in die Garben, mit denen der Leiterwagen hoch beladen war.

»Nun, was soll's, daß du dir's so bequem machen willst?« fragte der Wiesenbauer, indem er nach den Zügeln griff.

»Darf ich nicht noch ein wenig außen bleiben, Vater? Es ist Sonntag heute, und du brauchst mich jetzt doch nicht weiter.«

»Habe nichts dawider; ihr Weibsleute wißt immer am besten, wann der Sonntag ist, an dem ihr die Hände in den Schoß legen müßt. Aber sei zur rechten Zeit zu Hause, damit das Vieh nicht versäumt wird!«

Das Fuhrwerk setzte sich in Bewegung, zu beiden Seiten von Knecht und Magd geleitet, welche bereit waren, mit den langen Heugabeln die schwanke Ladung im Gleichgewicht zu erhalten. Sie hatten schon eine ziemliche Strecke zurückgelegt, als sie beim Passieren eines Hohlweges lauten Peitschenknall vor sich vernahmen. Heinemann antwortete in derselben Weise. Der Nahende mußte außerhalb der Senkung warten, da innerhalb derselben ein Ausweichen nicht möglich war. Als der Fahrweg wieder offenes Terrain erreichte, sahen sie Gustav, welcher mit seinem Geschirr und einigem Gesinde an der Seite hielt.

»Ah, du bist's?« fragte Heinemann höhnisch. »Erst sieht man den großen und nachher den kleinen Beelzebub; das hat nichts Gutes zu bedeuten! Aber zu verwundern ist es nicht, daß euch das Gewissen aus dem Hofe treibt, denn euer Wappen ist dort an die Wand geschrieben!«

Er zeigte bei diesen Worten nach der Ruine, auf deren von hier sichtbaren Rückseite eine große, schwarze, mit Schwanz, Hörnern und Pferdehufen ausgestattete Teufelsgestalt zu bemerken war. Gustav bog sich mit zornig glühendem Gesichte über den Leiterbaum herüber und antwortete:

»Merks, Wiesenbauer, was ich dir heute sage: Die Erntezeit ist eine heilige Zeit, und wer sie durch Bosheit entweiht, der wird die Strafe finden. Was man in den Acker tut, das gibt er sorgfältig wieder; du hast Wind und Asche gesät, und wirst Sturm und Feuer ernten!«

»Oho!« lachte Heinemann. »Wie kommst denn du zu dieser frommen Predigt? Also Feuer werde ich ernten! Was ihr auf dem Teufelshofe seid, das weiß hier jedermann; wollt ihr mir etwa auch noch den Brand ins Haus legen? Fahr' zu, Teufelsbub! Ich kann dich nicht in meiner Nähe leiden!«

Er hieb mit der Peitsche auf Gustavs Pferde ein; diese bäumten sich erschreckt empor und sprangen zur Seite auf seine eigenen Tiere ein, welche, dadurch scheu gemacht, sich schnaubend in die Stränge legten und mit dem Wagen davonrannten. Sie kamen nicht weit; die hohe Ladung geriet ins Wanken, verlor das Gleichgewicht und stürzte krachend auf die Seite.

»Das ist ein schneller Lohn!« meinte der Tannenhofer, indem er sein Gespann beruhigte und dann die unterbrochene Fahrt fortsetzte. »Es mag ihm nur nicht schlimmer kommen!«

Es waren die letzten Getreideschütten, welche er zu holen hatte; die Arbeit des Aufladens war bald getan, und er übergab das Fuhrwerk dem Knechte, ihm sagend:

»Fahr' du das Fuder heim! Es ist nicht hoch und wird dir keine Mühe machen. Ich geh' derweil ein bißchen hier den Bach entlang und komme schon noch zur rechten Zeit nach Hause. Es ist ja heute Sonntag!«

Wie sein Oheim heute am Vormittage, so fühlte auch er jetzt infolge der inneren Aufregung das Bedürfnis nach Einsamkeit, und einsamer gab es in der ganzen Gegend keinen Ort als denjenigen, nach welchem er seine Schritte lenkte.

In den Höhenzug, welcher das Tal, auf dessen Sohle das Dorf sich streckte, abschloß, schnitt eine enge Schlucht ein, deren hinterer Teil sich erweiterte und einen felsigen Kessel bildete, dem durch den Abbau von Bruchsteinen das ursprüngliche, grüne Pflanzenkleid verloren gegangen war. Fast senkrecht stiegen die hohen, nackten Felsenwände empor, hier und da eine scharfe Spitze hervorschiebend; kein Strauch, kein Bäumchen ließ sich blicken; nur selten spitzte ein dünnes Grasbüschel aus einer schmalen Ritze hervor, und nur da, wo ungefähr in der halben Höhe der Wand vorzeiten eine höhlenartige Vertiefung in das Gestein gesprengt worden war, hatte sich am unteren Rande desselben allerlei Dorngestrüpp und herbeigewehtes Laubwerk angesammelt. Hoch oben an der äußersten Kante des Kessels trat eine balkonartige Hervorschiebung aus dem Felsen heraus, welche mit einer hölzernen Barriere versehen war.

Diese Stelle wurde Sonntags und an anderen arbeitsfreien Tagen von den Dörflern gern besucht, da sie durch die Schluchtöffnung hindurch einen weiten Ausblick in das Land hinaus eröffnete.

Der einsame Kessel führte in der Umgegend den Namen ›Felsenbruch‹ und war für nächtliche Verirrte eine gefährliche Stelle, da er, ringsum von Hochwald umgeben, ganz unvorbereitet plötzlich und beinahe lotrecht hinunter in das Tal fiel und jedem, der im Finstern den Schritt über seinen Rand hinausleitete, Tod und Verderben bringen mußte.

So gern man den dunklen Forstweg betrat, welcher zu der ›Kanzel‹ führte, wie der Balkon genannt wurde, der Grund des Felsenbruches wurde nur wenig betreten; es knüpfte sich an ihn die Erinnerung an ein grausiges Verbrechen, welches vor Jahren hier verübt worden war und von dem man noch heute mehr und öfter im Dorfe erzählte, als es bei der seitdem verflossenen Zeit zu vermuten war.

Aus einer kleinen Oeffnung des sonst festgeschlossenen Gesteines floß ein klarer Quell hervor, dessen leise murmelnden Wellen sich erst durch allerlei Bruchgeröll einen vielgekrümmten Weg suchten und dann die Schlucht entlang den Ausgang in das von ihnen befeuchtete Tal fanden.

Seinem Ufer entlang schritt jetzt Gustav langsam dahin. Er hatte keine dringende Arbeit vor und konnte sich die Kühlung gönnen, welche ein Gang an dem von Büschen bestandenen Bache nach dem heißen Tage gewährte. Nur mit seinen Gedanken beschäftigt, achtete er weder auf Zeit und Ort und war darum beinahe verwundert, als er, unwillkürlich aufblickend, die Bemerkung machte, daß er die Schlucht passiert habe und bereits am Eingange zum Bruche stehe. Es gab für ihn allen Grund, diesen Ort zu meiden, und er hatte ihn darum auch seit Jahren nicht betreten; heute aber trieb es ihn vorwärts nach der Stelle, auf welche der Ursprung so mancher bitterer Erfahrungen zurückzuführen war.

Gerade unter der Kanzel, und nur wenige Schritte von der Felsenwand entfernt, stand ein hölzernes Kreuz mit einer Inschrift auf dem Querbalken, deren Leserlichkeit unter dem Einflusse von Regen und Wetter sehr gelitten hatte. Sie lautete: »Hier starb am 10. September 1845 der wohlachtbare David Friedrich Heinemann eines gewaltsamen Todes. Er war 26 Jahre alt und wurde meuchlings von der Kanzel herabgestoßen von –« Ueber den boshaften Gedankenstrich hatte eine übelwollende Hand mit Bleistift die zwei Worte: ›dem Teufelsbauer‹ gesetzt, und hinter ihnen folgte die Bemerkung: »Zur Erinnerung an den Mörder, errichtet von Andreas Heinemann.«

An dem Kreuze lehnte eine Mädchengestalt, welche von Gustav erst bemerkt wurde, als er um ein herabgestürztes Felsstück trat, dessen zerborstene Masse sich gerade vor das Erinnerungszeichen gelegt hatte. Er wäre gern zurückgewichen, aber es war zu spät dazu; sie hatte ihn schon bemerkt.

»Grüß Gott, Mamsell Heinemann!« klang es kurz und fremd. »Ich habe nicht gewußt, daß jemand hier ist, den ich störe. Aber brauchst dich nicht zu fürchten; ich gehe schon wieder!«

»Gustav!« hörte er die zögernde Stimme, als er sich bereits gewendet hatte. Er kehrte sich ihr wieder zu.

»Was ist's? Willst du etwas sagen?« fragte er.

»Ja,« antwortete sie schüchtern. »Ich möchte dich gern um etwas bitten!«

»Habe nichts dawider. Sprich!«

»Ach nein; wenn du so feindselig redest, so getrau' ich es mir nicht!«

Er überflog sie mit fragendem Blicke. Er war ihr oft begegnet, aber noch nie hatte er bemerkt, was ihm jetzt so deutlich in die Augen fiel; sie war schön, schöner vielleicht als alle Mädchen, welche er kannte. Und wie mild und freundlich lag es auf ihrem offenen, rosigen Gesichtchen! Es ging eine eigentümliche und ihm bisher fremde Bewegung durch sein Inneres, und in sanfterem Tone sprach er:

»Ich bin dir nicht feind. Sage nur immer, was du begehrst!«

»Ich möchte, daß du nicht wieder so zu mir sagst, wie vorhin!«

»Wie denn anders?«

»Hast du denn noch nicht gehört, wie mein Name lautet?«

»O ja, Kathrine; aber hast du auch gehört, wie der unsere klingt? Dein Vater hat mich vorhin Beelzebub geheißen; willst du etwa mit dem Teufel vertraulich tun?«

»Der Vater? Bist du ihm auch begegnet?«

»Ja.«

Sie trat einen Schritt näher, hielt ihm die Hand entgegen und fuhr fort:

»Ich habe nichts gemein mit dem, was der Vater treibt, ich nicht und die Mutter auch nicht. Komm, vergib mir das, was er euch tut, und nenne mich nicht anders, als wie ich's gewöhnt bin. Willst du?«

»Ja, ich will, Kathrine! Ein gutes Wort findet seine gute Statt, und dir könnte ich erst recht nimmer was abschlagen!«

Sie entzog ihm die Hand nicht, welche er ergriffen hatte und festhielt. Sie fragte:

»Ist's wahr? Aber es ist nur so schwer, dir eine Bitte zu sagen. Dich sieht man nur höchstens einmal auf dem Felde, doch sonst bist du gar nirgends zu finden!«

»Möchtest du mich denn auch wo anders sehen?« fragte er.

Er kam sich wie ein Fremder vor, und es war ihm, als sei alles Leid und alles Bittere plötzlich in ihm heil geworden. Sie antwortete:

»Wenn du's gern tust und es dir nicht Schaden bringt!«

»Schaden? Mir nicht, aber dir! Schau, hier steht das Kreuz. Mein Oheim hat den deinigen von der Kanzel herabgestürzt, sagen die Leute, und die Haubolde sind alle miteinander dem Satan verfallen. Magst du mich dennoch sehen, Kathrine?«

»Ja, Gustav!«

»Und nicht bloß sehen, sondern noch was anderes!« bat er, indem er sich zu ihr niederbog und den Arm um sie zu legen versuchte.

»Was denn?« fragte sie, sich gegen die Umarmung sträubend.

»Auch lieb haben!« sagte er, sie an sich ziehend.

»Nein, das ist gleich zu viel!« antwortete sie, sich von ihm befreiend, und als er sie noch immer festzuhalten strebte, war sie mit einem: »Leb' wohl, Gustav!« hinter dem Felsenstücke verschwunden.

Er folgte ihr nicht, sondern blieb zurück.

Lange Zeit stand er bewegungslos da, den Blick auf die Stelle geheftet, die ihren Fuß getragen hatte; er wurde sich seines Gedankenganges kaum bewußt, bis er endlich wie aus einem Traum erwachte und dabei die Bleistiftworte bemerkte, deren Sinn ihm schneidend durch die so glücklich bewegte Seele fuhr.

»Nein, solche Tücke läßt sich fast gar nicht denken! Aber darum soll es jetzt auch aus sein mit dem Kreuz!«

Er faßte es an dem Querbalken, ein kurzes Rütteln, dem ein kraftvoller Stoß folgte, und das morsche Holz war hart am Boden abgebrochen. Dann hob er es auf und schlug es an den Felsen, daß die abgeschmetterten Stücke weit umherflogen.

»So! Gegen die Inschrift konnten wir nichts tun; aber wenn man nun gar noch unseren Namen darauf kritzelt, so dürfen wir uns wehren. Und wie das Kreuz zu nichte ist, so soll auch der böse Leumund weichen müssen, ob im guten oder durch Gewalt, das mag die Zukunft lehren. Ich habe dieses armselige Leben satt und werde den Leuten zeigen, daß ich mich nicht zu schämen brauche und gar wohl auch ein Recht besitze zu dem, was andere tun und treiben!«

Er ging.

Der Bach murmelte seine melancholische Weise; aus den Zweigen der Tannen und Fichten tönte ein monotones Rauschen in den Grund herab; die Dämmerung begann sich herniederzusenken, und über den Himmelsstreifen, welchen die Schlucht erkennen ließ, zogen vom Abendrote bronzierte Wolkenschichten.

»Es ist doch gut gemeint und wunderbar eingerichtet vom lieben Gott, daß die Farbe, welche für uns das Abendrot bedeutet, für fernere Orte zur Morgenröte wird!« flüsterte er vor sich hin. »Ob es wohl wahr ist, daß das Unglück eines Menschen sich stets allemal für den anderen in Glück umwandelt? Dann könnte man sich wenigstens trösten. Aber ich habe noch nicht gesehen, daß der Haß, der uns verfolgt, irgendwem Heil und Segen gebracht hat. Es bleibt dabei; ich stemme mich dagegen und zahle von jetzt an alles mit gleicher Münze zurück. Die Kathrine soll sehen, daß ich mich nimmer fürchte!«

Man hatte mit dem Abendbrote auf ihn gewartet.

Trotz seiner Jugend vertrat er in allem die Stelle des Hauswirtes, welcher letztere nur in höchst dringlichen Fällen einmal die Ruine verließ, um die Wohn- oder Wirtschaftsräume zu betreten. Marie, welche seit einer langen Reihe von Jahren die Wirtschaft führte, genoß die Achtung, welche man sonst nur der Hausfrau zu zollen gewohnt ist. So schwer es einem Dienstboten ankam, als Ingesinde auf den Teufelshof zu ziehen, war er einmal da und hatte das allgemeine Vorurteil überwunden, so sehnte er sich gewiß nicht wieder zu einer anderen Herrschaft, und so hatte sich denn, obgleich von einem eigentlichen Familienleben nicht die Rede sein konnte, zwischen den Bewohnern des Tannenhofes ein Verhältnis herausgebildet, welches in Beziehung auf gegenseitige Anhänglichkeit und Liebe nichts zu wünschen übrig ließ.

Besonders war es Marie, deren stilles, geräuschloses und aufmerksames Walten wohltuend auf den Kreis der Hausgenossen wirkte. Eine Mutter hätte nicht besser für die Ihren sorgen können, als sie es tat. Gustav galt ihr fast mehr als Sohn, und wenn sich gar die Rede auf Haubold lenkte, so glänzten ihre Augen in sichtbarem Feuer, und über ihre zerrissenen Züge breitete sich eine Verklärung, die nur dem tiefsten Innern entstammen konnte.

Als nach Tische der junge Tannenbauer aus seiner Stube, in welche er sich begeben hatte, wieder herabkam, blickte sie ihn erstaunt an. Er hatte sich zum Ausgehen angezogen.

»Willst du noch fort, Gustav?« fragte sie. »Das ist doch gerade so ein Wunder, als wenn der Oheim jetzt noch vor zu uns kommen wollte!«

»Hast recht, Marie! Aber es muß auch mal ein Wunder geben, damit die Welt zum Glauben kommt.«

Sie schien eine Erklärung der sonderbaren Worte zu erwarten; er aber enthielt sich jeder Beifügung und verließ schweigend den Hof. Sein Weg führte ihn durch das Dorf nach dem Gasthause, aus dessen oberen Räumen lustige Tanzmusik durch die geöffneten Fenster herab auf die Straße schallte.

Während das junge Volk sich munter im Saale herumschwenkte, saßen die älteren Männer in einem Nebenzimmer und unterhielten sich über die größte Neuigkeit des Tages.

»Ein gescheiter Kerl ist er,« klang es am unteren Ende des Tisches, wo die weniger wohlhabenden Bauern saßen, während oben die reichen Vierspänner ihren Platz behaupteten. »Ich habe ganz genau acht gegeben; er strich die Kühe nur so über den Leib und hat sich seinen Spruch dabei gedacht, und davon sind sie schon bis zum Abend so besser worden, daß ich glaube, ich werde sie noch erhalten. Das mit den Tüten ist ja nur zum Schein gewesen, denn bei dem Streichen hat es geknistert, wie bei einer Elektrisiermaschine; das war Teufelswerk und kommt von dem Zauber, dem er überlegen gewesen ist.«

»Ja, den Teufel hat er; das ist gewiß!« versicherte mit schnarrender Stimme der Ortsrichter. »Ich habe ihm auch die Leviten tüchtig gelesen und ihm gesagt, daß er vom Dorfe lassen soll.«

»Besser hast's ihm nicht gesagt, als ich!« behauptete Heinemann. »Aber das mit dem Teufel nehme ich bloß, um ihn zu ärgern, denn ich glaube nicht dran, obgleich ich nicht weiß, wie ich's erklären soll, daß stets ein Unglück geschieht, wenn er aus seiner Klause hervorkommt. Heute ist er ausgewesen, und paßt auf, wir werden schon morgen wissen, was wir davon haben. Es sollte geboten werden, daß ihn keiner zu sich kommen läßt!«

»Zu wem sollen wir denn in der Krankheit gehen, wenn kein Arzt und niemand helfen kann? Wir können doch nicht an dem mit leiden, was du von ihm denkst!«

»Und ist das etwa nicht wahr? Wer soll's denn sonst gewesen sein, als er? Als die Schauspieler in das Dorf gekommen sind, hat die Martha bei seinem Vater, der noch lebte, in der Ruine gewohnt, und mein Bruder, der David, hat sie gern gehabt. Der Haubold ist damals als Student auf der Universität gewesen und auf die Ferien nach Hause gekommen. Da hat sich die Martha in ihn verschameriert, und mein Bruder hat das Nachsehen gehabt. Die beiden sind nachher hier auf dem Saal, wo die Bühne aufgerichtet war, zusammengeraten. Haubold ist nach der Vorstellung, wie allemal, mit der Sängerin hinaus auf die Kanzel spazieren gegangen, mein Bruder ihnen nach, und am anderen Morgen hat der arme Tropf zerschmettert im Felsenbruch gelegen. Die Martha ist verschwunden, und der Teufelsstudent hat nichts von der Sache wissen wollen. Aber warum ist es denn sogleich mit seinem Studium zu Ende gewesen? Das böse Gewissen hat ihm zum Weiterlernen nicht Ruhe gelassen; er ist auf dem Hof geblieben und so trübsinnig geworden, daß er sich endlich gefürchtet hat, vor die Leute zu treten!«

»Wißt ihr auch schon, wer da ist?« fragte in diesem Augenblicke der Wirt, welcher herbeigetreten war, um die leeren Gläser fortzunehmen.

»Wer denn?«

»Der Gustav vom Teufelshof.«

Diese Nachricht erregte allgemeines Aufsehen. Es konnte sich keiner erinnern, den Mann jemals im Wirtshause oder gar beim Tanze auf dem Saale gesehen zu haben. Jeder vermutete einen besonderen Grund, den sein Erscheinen haben mußte, und die Neugier aller war so groß, daß der Tisch bald leer stand, da sich die Gäste hinaus auf den Tanzboden begeben hatten, um den Ankömmling mit eigenen Augen zu sehen.

Dieser war erst vor kurzem eingetreten und hatte an einem der Seitentische Platz genommen. Die bereits daran Sitzenden hatten sich sofort erhoben und waren davongegangen. Nun saß er allein; niemand sprach mit ihm, und selbst der Wirt fragte ihn nicht, ob er etwas trinken wolle.

Er schien sich aus diesem Verhalten wenig zu machen, vielmehr lag eine gewisse Befriedigung auf seinen wohlgeformten, regelmäßigen Zügen. Er hatte Katharina gesehen, welche, von einer Schar junger Burschen umschwärmt, dem Eingange gegenübersaß und bei jeder Tour zum Tanze gefordert wurde.

Eine Vergleichung mit den anderen Mädchen brachte ihn zu dem Resultate, daß keine sich mit ihr zu messen vermöge, und es überkam ihn eine wunderbar glückliche Regung, wenn er an die Art und Weise dachte, in welcher sie mit ihm gesprochen hatte.

So wenig er sich um andere Personen kümmerte, er selbst war doch der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die Alten hatten ihre Neugier nun befriedigt und waren, da sie an seinem Verhalten nichts Besonderes bemerkten, zu ihren Gläsern zurückgekehrt; die Jungen beobachteten ihn verstohlen und flüsterten sich hier und da ihre Bemerkungen zu. Und die Mädchen? Es gab keinen Burschen, der so hübsch und reputierlich aussah, wie er; das sagten sie sich alle, und gar mancher heimliche Blick flog aus verlangendem Auge zu ihm hin. Wenn er nur nicht gerade der Teufelshaubold gewesen wäre!

Auch Katharina blickte öfter nach ihm herüber, aber nicht verstohlen, sondern offen und freundlich, so, wie sie ihn am Nachmittage in das zum ersten Male beseligte Gesicht gesehen hatte. Der Wunsch, welcher am Zaune über ihre Lippen gekommen war, hatte schnell und vollständiger noch, als sie geglaubt, seine Erfüllung gefunden. Sie hatte Gustav gesprochen, ja, er war nun auf dem Saale erschienen, und aus welchem Grunde, das ahnte sie. Darum tat es ihr umsomehr wehe, daß ihm das Vorurteil so schroff gegenüber trat und er so verlassen an seinem Tische sitzen mußte. Wie gern wäre sie aufgesprungen und zu ihm hingegangen! Aber das durfte sie nicht, und dabei mußte sie all den vielen Drängern Rede und Antwort stehen und sich gar noch über den Sohn des Richters ärgern, welcher sie in der auffälligsten Weise in Beschlag genommen hatte und gar nicht von ihrer Seite weichen wollte. Er war ein kleines, unansehnliches Kerlchen.

Sie hatte ihm den nächsten Rheinländer versprechen müssen, und er nahm daraus die Veranlassung, bei ihr zu bleiben, um den Tanz nicht zu versäumen.

Was mußte Gustav denken, wenn er sah, daß sie immer inmitten von Burschen saß, von denen doch nicht loszukommen war!

Die Zeit verging, und niemand bemerkte bei der allgemeinen Fröhlichkeit, daß das Gewitter, welches der Tannenbauer schon für den Nachmittag erwartet hatte, seine drohenden Wolkenmassen zusammenballte und schon einzelne schwere Tropfen herniederfallen ließ. Da erklangen die ersten Takte einer neuen Tour, und jeder eilte, sich eine Tänzerin zu suchen.

Der Halbkreis, welcher Katharina umschlossen hatte, fuhr auseinander, als drohe ein Unheil.

Gustav war herbeigetreten und bot dem überraschten Mädchen die Hand.

»Ich bitte, Kathrine, mache diesen Tanz mit mir!« sagte er.

Sie erhob sich und legte den Arm in den seinen.

»Nein, das geht nicht!« rief protestierend des Richters Sohn. »Das ist der Rheinländer, den du mir versprochen hast. Geh weg, Teufelsbauer, und rühre mir mein Mädchen nicht an!«

Gustavs Auge überflog den Sprecher von oben bis unten; dann bog er sich leicht zu Katharina nieder.

»Hast's ihm versprochen?« fragte er.

»Ja.«

»Mit wem tanzest du lieber? Sag's grade und aufrichtig, Katharine!«

Sie hörte es dem Tone seiner Stimme an und sah es dem tiefen, forschenden Blicke seiner Augen an, daß sich diese Frage auf mehr als nur den Tanz bezog. Ihr Arm zitterte leise in dem seinigen, aber sie wagte trotz der kritischen Lage die Antwort:

»Mit dir!«

»So bist du von jetzt an meine Tänzerin, und kein Mensch hat mehr etwas an dir zu präsentieren. Geh fort, Kleiner, und schaff Raum! Du hast gehört, wie nun die Aktien stehen!«

»Das wollen wir sehen! Die Kathrine hat mir zugesagt, und ich trete nicht zurück, am allerwenigsten aber vor dir!«

»Sie hat dir wieder abgesagt. Hier ist ein jedes sein eigener Herr und kann tun, ganz was ihm beliebt. Mach' dich zur Seite; ich könnte dir sonst auf die Füße treten!«

»Nein, wir leiden's nicht, daß einer vom Teufelshof hier tanzen darf. Gib das Mädchen her, sonst kommst du durch die Tür!«

Er faßte Gustav bei der Schulter, während noch mehrere herzutraten, um sich an dem Streite zu beteiligen.

»Was, du greifst mich an? Glaubst du denn, daß ich mich fürchte, und wenn die ganzen Kerle nach mir langen! Laß los, sonst spielst du Luftballon!«

Als der Gewarnte der Mahnung nicht Folge leistete, drückte ihm Gustav mit einem raschen Griffe die Arme an den Leib, hob ihn hoch empor, schleuderte ihn über den Knäuel der Umstehenden weg, hinter denen er zu Boden stürzte. Dann nahm er wieder Katharinas losgelassenen Ann und drängte mit drohender Miene vorwärts.

»Nun wird getanzt. Schafft Platz, wenn ihr nicht auch das Fliegen lernen wollt!« rief er den ihn im Wege Stehenden zu.

Es lag in seinem kräftigen Auftreten eine solche Macht, daß die Kampfeslustigen furchtsam zurückwichen. Er schritt zur tanzenden Reihe und wollte eben beginnen, als plötzlich die Musik verstummte. Der Ortsrichter stand in der Mitte des Saales und hatte mit erhobener Hand zum Schweigen gewinkt.

»Was ist denn hier für ein Teufel los?« fragte er, die kleine Gestalt möglichst emporreckend, mit wichtiger Amtsmiene. Sein Sohn stand neben ihm und rieb sich die malträtierten Glieder. »Komm mal her, Haubold, gerade hierher vor mich! Ich habe dich was zu fragen!«

Er zeigte bei diesen Worten mit dem Finger auf den Punkt, bis zu welchem Gustav sich ihm nähern sollte. Dieser antwortete:

»Zu fragen? Willst du etwa ein Mittel wissen, noch drei Ellen höher zu werden? Stelle dich auf den Tisch, dann bist du grad groß genug zum Richter!«

»Her kommst du!« rief das Ortsoberhaupt, ergrimmt über diese Beleidigung. »Sonst laß ich dich durch den Büttel hertransportieren!«

»Dann bist du auch ein rechter Kerl, wenn du den Spitz auf mich hetzen kannst! Komme her, wenn du mit mir zu reden hast!«

Da fühlte er eine Hand an seinem Arme. Es war der Wiesenbauer, welcher sich herbeigedrängt und mit Erstaunen seine Tochter an der Seite des Verhaßten gesehen hatte. Er fragte überlaut:

»Was ist mir denn das? Hat dich etwa der Drache um den Verstand gebracht, daß du es wagst, das Mädel anzurühren? Gleich laß los! Man muß ja ganz gewärtig sein, du machst mir die Kathrine zur Hexe!«

»Das werde ich jetzt auch tun. Paß auf, Wiesenbauer, wie ich es mache!«

Er legte beide Arme um das Mädchen, dem unter dieser kräftigen Berührung ein Widerstreben gar nicht möglich war, zog die vor Schreck und Scham Erglühende zu sich empor und küßte sie auf den Mund.

»So, nun ist die Hexe fertig und dem Beelzebub verfallen! Und wenn –«

Er konnte nicht weiter sprechen; Heinemann hatte seine Tochter von ihm weggerissen, packte ihn wütend bei der Brust und schrie:

»Das werde ich dir bezahlen, du Teufelsbube, aber mit anderem Gelde, als du gegeben hast!«

»Bilde dir nichts ein, Heinemann; du bringst dein Geld bei mir nicht an den Mann!«

Er schob ihn von sich ab, umspannte dann seine Hände mit solcher Festigkeit, daß dem zornigen Manne fast der Atem versagte, und fügte hinzu:

»Du hast uns den Teufel an die Wand gemalt, und nun ist er zu dir gekommen. Er hat deine Tochter geküßt und gibt sie nicht wieder her, du magst nun machen, was du willst. Gehe hin in Frieden, und trage dein Schicksal still und mit Geduld; das ist das Beste, was ich dir raten kann!«

Er gab ihn frei. Da brüllte Heinemann:

»Nicht um die Seligkeit möchte ich diese Schande erleben, und du darfst nur dann an sie denken, wenn – wenn,« setzte er mit grinsendem Lächeln hinzu, »wenn auch ich im Felsenbruche liege! Willst du mich etwa hinunter expedieren? Dann tu's nur nicht eher, als bis ich das Feuer gesehen habe, das du mir heute versprachst!«

Die Antwort hierauf wurde Gustav abgeschnitten, denn in diesem Augenblick zuckte ein grelles, blendendes Licht an den Fenstern des Saales vorüber; ihm folgte ein krachender Donnerschlag, unter dem das Haus zu beben schien, und bei der augenblicklich eingetretenen tiefen Stille war das Brausen des Windes zu vernehmen, welcher draußen heulend die Wipfel schüttelte. Das Gewitter war da, und gleich sein erster Schlag war ein so furchtbarer, daß der Schreck darüber aller Gesichter erbleichen machte.

»Da hast du das Feuer, Wiesenbauer!« tönte die Stimme Gustavs durch das Schweigen.

Es leitete ihn bei diesen Worten keine bestimmte Absicht, und er sprach sie nur unter dem Eindrucke der Situation, aber es lag in Ton und Haltung etwas unwiderstehlich Ueberzeugendes, daß sofort der Ruf erscholl:

»Es hat eingeschlagen. Der Wiesenhof brennt!«

Der Streit war vergessen, und eine angstvolle Beweglichkeit kam über die Versammlung. Die Tür war zu eng, um die Andrängenden schnell genug hindurchzulassen, unter deren vordersten Heinemann sich befand. Er dachte nicht an den Gegner, dachte nicht an seine Tochter; er stürzte die Treppe hinab und hinaus in die vom Sturme durchfegte Nacht. In wenigen Minuten war der Saal geleert; nur zwei Personen befanden sich noch in demselben.

Gustav stand noch an derselben Stelle, an welcher er den verhängnisvollen Ruf ausgestoßen hatte. Er hätte nicht vermocht, sich Rechenschaft über denselben zu geben, aber er glaubte selbst so fest an die Wahrheit seiner Worte, als läge der Wiesenhof schon in Schutt und Asche vor ihm.

Ein klagender Laut ließ ihn zur Seite blicken. Dort saß mit tränenden Augen und gefalteten Händen Katharina zusammengesunken auf der Bank.

Er trat zu ihr hin.

»Bist wohl matt vom Schreck, Kathrine?« fragte er sie.

»Ist's wahr vom Feuer?« stieß sie hervor.

»Ich habe nicht gesehen, ob's brennt und wo.«

»Aber du sagtest doch, daß es bei uns sei!«

»Nicht ich hab's gesagt; die Ahnung hat aus mir gesprochen. Komm, geh', ich will dich führen.«

»Ich weiß nicht, ob ich kann. Ach Gott, was hast du heute getan!«

»Ist's bös gewesen, Kathrine? Dann will ich die ärgste Strafe erleiden, die es gibt; du sollst mich nimmer wieder anschauen, und ich gehe!«

»Nein, bleib', Gustav! Der Vater hat mich verlassen, und kein anderes hat an mich gedacht. Ich kann ohne deine Hilfe nicht von hier weg. Komm, ich will mich auf dich stützen!«

Er nahm sie in den Arm, um sie fortzugeleiten. Als sie auf die Straße traten, war dieselbe fast tageshell erleuchtet. Kein Regentropfen fiel zur Erde; nur den einen Blitzstrahl hatte das Wetter herabgeschleudert und war dann vom Sturme hinweggetrieben worden.

Aber oberhalb des Gasthofes stieg eine rotglühende Lohe flackernd empor, in welcher brennende Garbenbüschel wirbelten. Das Feuer mußte die kaum eingeheimste Ernte ergriffen haben.

»Die Erntezeit ist eine heilige Zeit, und wer sie durch Bosheit entweiht, der wird die Strafe finden!« hatte Gustav heute zu Heinemann gesagt. Er hörte noch die letzten Worte desselben: »Dann tu's nicht eher, als bis ich das Feuer gesehen habe, das du mir heute versprachst!« in seinem Ohre klingen, und als er jetzt forschend aufblickte, um zu bestimmen, wo es brenne, ergriff ihn ein heiliges Grauen vor der Sicherheit seiner eigenen unwillkürlichen Prophezeiung.

Es war kein Zweifel möglich: der Wiesenhof stand in Flammen.

*

III.

Als Heinemann in die Nähe seiner Wohnung kam, drohten ihm die Kniee zusammenzubrechen. Er war nächst dem Tannenbauer als der reichste Mann im Dorfe bekannt und hatte auf den Mammon gepocht, ohne für Unglücksfälle, wie der jetzt ihn treffende einer war, die gewöhnlichen Vorkehrungsmaßregeln zur Sicherung seiner Habe zu treffen. Der Bauer befreundet sich nur langsam mit Einrichtungen, deren Nützlichkeit ihm nicht sofort und schwerwichtig in die Augen fällt, nimmt der Spekulation gegenüber gern eine mißtrauisch zuwartende Haltung an und betrachtet selbst das Versicherungswesen mit einer Vorsicht, deren Folgen er nicht selten zu beklagen hat.

Der Wiesenhof war nicht versichert, und sein Besitzer dachte in diesem Augenblick nicht an die Gefahr, in welcher sich Weib und Kind befanden, sondern nur an den schweren Verlust, den das gefräßige Element ihm bereiten mußte.

Sowohl die mit Getreide gefüllte Scheune als auch die Stallung, in deren oberen Räumen ein bedeutender Vorrat duftenden Gebirgsheues untergebracht war, brannte lichterloh; der funkensprühende Schwalch leckte bereits an dem Hauptgebäude, und doch war kein Mensch in dem tageshell erleuchteten Hofe zu sehen. Die Bewohner schienen nur mit ihren nächsten Habseligkeiten beschäftigt und an das arme Vieh nicht zu denken, welches ängstlich nach Rettung brüllte.

Heinemann schwankte nach dem Stalle und öffnete die Tür. Mit Hilfe der jetzt auch herbeieilenden Nachbarn gelang es ihm, die Tiere in das Freie zu bringen; damit war es aber auch vollständig mit seiner Kraft zu Ende, und zusammenbrechend sank er auf einen der Sessel nieder, welche man aus der Wohnstube mit anderen Möbeln herbeigetragen brachte.

»Steh' auf, Wiesenbauer,« mahnte ihn eine schnarrende Stimme. »Es ist von deinem Gesinde gar niemand zu sehen, und es muß doch auch wer da sein, der in dem Gedränge auf Ordnung sieht!«

»Laß mich!« antwortete er. »Ich mag gar nichts mehr wissen auf der Welt! Du bist doch der Richter und kannst die Ordnung führen!«

»Ich habe nicht Zeit dazu. Jetzt kommt die Spritze, und bei der muß ich sein, damit sie die richtige Stelle im Auge behalten!«

»So geh! Mit mir ist's aus; mir ist nun alles gleich!«

Es stürmte vom Turme. Das waren dieselben Glocken, deren frommes Mahnen er heute von sich gewiesen hatte. Wie ganz anders klang jetzt ihre Stimme! Er hörte sie nicht; er hatte keine Sinne mehr für die Außenwelt; es war ihm, als läge er selbst in Asche. – Asche? Wie hatte die Drohung des jungen Teufelsbauern gelautet? »Du hast Wind und Asche gesäet und wirst Sturm und Feuer ernten!« Sie hatte sich erfüllt; die Flamme stieg breit und groß vor ihm zum blutrotgefärbten Himmel auf, und der Sturm drehte sie zusammen, riß sie wieder auseinander und warf einen zündenden Funkenhagel auf das teilweise noch mit Stroh gedeckte Wohnhaus nieder, dessen Rückwand nach dem unvorsichtigen Gebrauche der Gebirgler bis hoch hinauf mit kurzem Reisig und kleingehacktem Brennholze belegt worden war.

Die Erinnerung an seine Begegnung mit Gustav gab ihm neue Kraft; er sprang empor und blickte mit verstörtem Gesichte um sich. In einem wirren, fürchterlichen Durcheinander eilten, sich mehr hindernd als helfend, die mit Löschen und Retten beschäftigten Leute hin und her; es fehlte gänzlich an der notwendigen Leitung. Jeder tat, was ihm beliebte, und der kleine Ortsrichter ließ dem Wasserstrahle der Spritze eine solche Leitung geben, daß derselbe kaum irgend einen Nutzen schaffen konnte.

»Was ist denn das für ein unseliges Getue, ihr Leute?« donnerte da eine Stimme durch den wüsten Lärm. »Macht eine Reihe mit euern Wassereimern von hier bis an den Teich, und schafft die Spritze rasch in den Garten, sonst brennt das Reisig an, und alles ist verloren!«

Der Richter fuhr herum, erzürnt über das Korrigieren seiner Anordnungen.

»Hast etwa du hier was zu befehlen, Teufelsbauer?« fragte er. »Mache dich schnell aus dem Dorfe fort, sonst wirst du hinausgebracht; du weißt wohl schon, warum!«

»Bist du wieder da, Haubold Frieder?« erscholl es plötzlich auf der anderen Seite, von welcher Heinemann mit vor Grimm verzerrtem Gesicht herbeigesprungen kam. »Willst wohl sehen, ob ich mich schon vor deinem Advokaten fürchte? Ich bin noch immer der Wiesenbauer, und du – weißt noch immer nicht, wie's damals war mit meinem Bruder? Kommt her, ihr Leute, und werft ihn in das Feuer! Er hat es angezündet!«

»Um Gottes willen, was tust du, Vater?« warnte ihn Katharina, indem sie sich zwischen die beiden Männer stellte. Auch ihr hatten die Kräfte versagt, sodaß sie erst jetzt herbeigekommen war. »Hast du die Mutter gesehen?«

»Die Mutter? Nein, ich habe noch niemanden gesehen. Geh in das Haus; dort wirst du sie treffen!«

Mit einem kurzen Aufschrei eilte sie fort. An der Tür kam ihr ein Trupp Flüchtiger entgegengestürzt, denen ein dunkler, brenzliger Rauch nachwirbelte. Unter ihnen befand sich auch die Magd, beladen mit einem Pack von Kleidungsstücken. Diese rief:

»Kannst nicht mehr hinein, Kathrine! Das Feuer hat das Reisig ergriffen, und in der Stube steht alles in Brand.«

»Wo ist die Mutter?« schrie das Mädchen.

»Die Mutter? Ich habe sie jetzt gar nicht gesehen. Als das Wetter kam, da ist sie mit der Laterne nach dem Boden gegangen, um die Laden zu schließen. Darauf kam sogleich der Blitz, und seitdem weiß ich nichts mehr von ihr.«

»Mein Gott, die Mutter verbrennt!« kreischte die Tochter auf. »Ich muß sie holen!«

Sie konnte diesen Vorsatz nicht ausführen. Schon beim ersten Schritte wurde sie von dem dicken Rauche, welcher ihr entgegendrang, zurückgeworfen, und wehklagend eilte sie zum Vater zurück. Dieser erschrak aufs höchste und machte den gleichen Versuch wie sie, aber mit demselben Erfolge.

»Die Wiesenbäuerin steckt im Feuer! Wer will hinein zu ihr?« ging es von Mund zu Mund, aber niemand fühlte sich berufen, diese Frage durch die Tat zu beantworten. Die Flammen schlugen schon aus den unteren Räumen, und die Treppe war unmöglich mehr zu erreichen.

Da brachen sich zwei mit einer Leiter Bahn, welche sie zur Giebelseite des Hauses trugen und dort an eines der oberen Fenster lehnten.

»Halte fest, Gustav; ich steige hinauf!« sagte der eine.

»Nein, Oheim; hinauf gehe ich, und du hilfst mir nachher von außen!« erwiderte der andere.

Er drängte den Tannenbauer auf die Seite, klomm die Sprossen empor, zertrümmerte mit einigen Schlägen der Faust das Fensterkreuz und stieg dann hinein.

»Die Teufelsbauern tun's!« rief einer verwundert.

»Die können's auch,« lautete die Antwort. »Der Haubold kann den Feuersegen sprechen, der im siebenten Buch Mosis steht. Er setzt sich auf seinen Rappen, reitet dreimal im Galopp rund um das Haus, und das Feuer ist erloschen. Er mag's dem Heinemann nur nicht zum Gefallen tun. Zwar habe ich's von ihm noch nicht gesehen, aber von seinem Vater, als damals der Pfarrhof brannte.«

»Ja, und von ihm haben's die beiden gelernt, sodaß ihnen nun das Feuer nichts anhaben kann. Kein anderer hätt's gewagt, in diese Glut zu steigen; aber paß auf, der Gustav bringt die Bäuerin ganz heil heraus!«

»Nein, das ist nun nicht mehr möglich! Schau, die Flamme ist schon ganz nahe am Fenster!«

»Und doch! Da kommt er schon; er ist mitten durch das Feuer hindurch!«

Es war so. Gustav erschien an der Oeffnung, einen dunklen, schweren Gegenstand tragend. Er rief schwer atmend herab:

»Komm herauf, Oheim; ich muß sie dir hinausgeben; aber mach' schnell, sonst faßt mich der Brand!«

Der Teufelsbauer stieg empor und nahm die besinnungslose Bäuerin in Empfang.

Während er sie nach unten brachte, schwang sich der Jüngling heraus. Noch im letzten Augenblicke hatten die Flammen seine versengte Kleidung ergriffen; er stürzte sich mehr von der Leiter, als er sie herabklomm, und eilte dann der Richtung zu, nach welcher die Spritze ihren Wasserstrahl sandte.

»Löscht mir das Feuer!« rief er dem Richter zu.

Dieser, welcher jetzt die Mündung des Schlauches selbst leitete, zögerte, dem Rufe Folge zu leisten. Da legte Haubold die Gerettete zur Erde, sprang herbei, stieß ihn hinweg und ließ einen dichten Tropfenregen auf den Neffen fallen. Dieser war zu Boden gesunken; die Anstrengung und der Schmerz hatten ihm das Bewußtsein geraubt.

Katharina kniete mit ihrem Vater bei der Mutter, um welche sich, ebenso wie um Gustav, ein Kreis Neugieriger bildete.

»Er ist verbrannt!« bemerkte der vorige Sprecher. »Sie haben den Segen gar nicht gesprochen oder einen Fehler dabei gemacht.«

»So kommt die Strafe für solches Satanswerk, und wenn er stirbt, fährt seine Seele zur Hölle!« meinte ein anderer.

»Nehmt euch in acht, daß ihr nicht selbst hinfahrt statt seiner!« zürnte Haubold, welcher, jetzt mit der Untersuchung des Neffen beschäftigt, die lieblosen Worte vernommen hatte. Er blickte suchend im Kreise herum und gewahrte einen seiner Knechte. »Spring rasch nach dem Tannenhof, und hole die Trage samt noch dem anderen Mann. Ihr müßt den Gustav nach Hause schaffen!« gebot er ihm.

»Ist's bös, Herr Haubold?« fragte der Angeredete.

»Nein, lange nicht so schlimm, als ich vorerst gedacht habe. Aber laufe, damit ich nicht zu lange zu warten brauche!«

»Können wir nicht hier jemanden finden und eine Trage dazu?«

»Geh nur! Die Leute sollen mit dem Teufelshof gar nichts zu schaffen haben; ich will sie nicht um ihre Seligkeit betrügen!«

»Ihr dürft nicht gar so bitter sein, Tannenbauer!« klang da eine milde Stimme. »Die Leute haben doch vielleicht nicht ganz allein die Schuld an dem, was euch kränkt.« Es war der Pfarrer, welcher sich noch nicht gar lange Zeit im Amte befand und hier die ihm willkommene Gelegenheit ergriff, gegen das Vorurteil und den Haß, wovon er so viel gehört hatte, nach besten Kräften anzukämpfen. »Ihr habt mehr als eure Schuldigkeit getan und es sehr wohl verdient, daß euch Hilfe geleistet wird. Ist die Trage wirklich notwendig?«

»Ja, weil es so weit nach Hause ist, Herr Pastor, sonst könnte man sich auch ohne sie behelfen. Er wird wohl arge Schmerzen leiden, wenn er aufwacht.«

»So dürft ihr ihn gar nicht so weit transportieren. Schafft ihn nach meiner Wohnung; die ist ganz in der Nähe, und wenn sich niemand findet, der mit zugreifen will, so fasse ich selbst mit an!«

»Ich danke Ihnen schön, Herr Pastor,« meinte Haubold, innig erfreut über diesen ersten Beweis einer freundlichen Gesinnung, welcher ihm seit langer Zeit entgegengebracht wurde. »Ihr Anerbieten nehme ich um des Neffen willen gern dankbar an. Aber dann sind wir schon selbst genug, ich und der Knecht. Ich verlangte nur den anderen noch, weil ich gleich nach der Felsenkanzel wollte, um da etwas Notwendiges zu holen.«

»Nach der Felsenkanzel? Und jetzt, mitten in der Nacht? Was habt ihr von dort so sehr nötig?«

»Es steht dort ein Kraut, welches gegen die Brandwunden hilft und sonst nirgends mehr zu finden ist. Ich hab's auch nicht daheim, weil es nur frisch angewendet werden darf.«

»So geht! Den jungen Mann könnt ihr mir bis dahin anvertrauen, ich werde für ihn die beste Sorge tragen. Kommt her, ihr Männer; greift mit an, aber fein säuberlich, damit ihr ihm nicht wehe tut!«

Das Beispiel des Pfarrers war von dem besten Erfolge begleitet. Die Verständigeren unter den Umstehenden fühlten die Rücksichtslosigkeit ihres bisherigen Verhaltens und waren jetzt zu der geforderten Hilfeleistung gern bereit.

Als man im Begriffe stand, den Verletzten davonzutragen, trat Katharina herbei. Sie hatte das hochherzige Beginnen der beiden Tannenbauern mit angstvoller Spannung verfolgt und war seit dem Gelingen desselben mit ihrer nun wieder erwachten Mutter beschäftigt gewesen.

»Was ist's mit ihm?« fragte sie besorgt. »Ist er tot?«

»Nein, meine Tochter,« antwortete der Pfarrer; »er ist nur von Hitze, Rauch und Schmerz ohnmächtig geworden.«

»Darf ich ihn sehen, Herr Pastor? Komm her, Mutter; er hat dich aus dem Tode fortgerissen!«

»Bleibt nur zurück!« gebot Heinemann. »Er ist ein Haubold, und ihr habt mit ihm nichts zu tun. Oder willst du etwa gar die Pflaster für ihn streichen?«

»Ja, Vater, das werde ich auch, wenn's welche für ihn zu streichen gibt! Es hat's keiner gewagt, in das Feuer zu gehen, kein einziger, auch du nicht, aber er ist hineingestiegen, obgleich man ihn auf alle Weise verfolgt und böse Dinge von ihm ersinnt. Die Mutter wäre elendiglich verbrannt, wenn er nicht mutiger gewesen wäre als ihr, und nun muß er auch sehen, daß wir ihm den Dank nicht schuldig bleiben!«

Sie hatte noch niemals in diesem Tone zu ihm gesprochen; sie wußte selbst nicht, woher ihr die Kühnheit dazu kam, zumal es nicht unter vier Augen, sondern vor so vielen Leuten geschah. Liebe, Dankbarkeit und Entrüstung hatten ihr die Worte diktiert, und sie war der Stimme ihres guten Herzens gehorsam gewesen, ohne nach den Folgen zu fragen.

Heinemann fand im ersten Augenblicke vor Erstaunen gar keine Worte; dann aber nahm er sie beim Arme, schleuderte sie weit von den Trägern weg und schrie sie an:

»Was willst du? Mir die Moral lesen? Ich werde dir zeigen, wem du zu danken hast! Schafft mir den Kerl vom Hofe, sonst werfe ich euch samt ihm hinaus! Und du, Haubold Frieder, troll' dich auch rasch von dannen; ihr habt mir jetzt die Frau erhalten, aber wir sind noch nimmer quitt; ein Mord wiegt schwerer als die paar Blasen, die der hier auf die Hand bekommen hat!«

»Ich gehe schon, Wiesenbauer,« antwortete Haubold mit finsterer Ruhe; »aber denke an den Advokaten, den ich mir angenommen habe; er hat dich schon gepackt und wird dich nicht so bald wieder losgeben. Und was den Mord betrifft, so merk's: Ich gehe gerade jetzt zur Felsenkanzel; du kannst mir auch nachschleichen, wie mir damals dein Bruder nachgeschlichen ist!«

Er wendete sich ab und schritt durch das zertrümmerte Tor davon.

Heinemann blickte ihm mit funkelnden Augen nach. Seit dem Begebnisse im Felsenbruche hatte er das Verlangen gehegt, mit dem vermeintlichen Mörder Abrechnung halten zu können, und es war ihm selbstverständlich gewesen, daß dies auf der Kanzel geschehen müsse. Er war mit diesem Gedanken schlafen gegangen und mit ihm erwacht und hatte denselben in sich eingesogen, daß er ein Teil seines Selbst geworden war. Er hatte sich Mühe gegeben, ihn zu verwirklichen, hatte an jedem arbeitsfreien Tage draußen über dem Kessel auf der Lauer gelegen, aber niemals war es ihm gelungen, dem Todfeinde einmal an dieser Stelle zu begegnen. Der Haß ließ ihn niemals bemerken, wie gottlos und verbrecherisch sein Beginnen sei, und daß ein Fluch von demselben ausgehe, der seine Wirkung auch auf die äußeren Verhältnisse des Verblendeten erstreckte. Jetzt war der Wiesenhof zu einem rauchenden Schutt- und Trümmerhaufen geworden; Heinemann sah die Zerstörung vor sich liegen; die hin- und hereilenden Gestalten bewegten sich wie in einem Nebel vor seinem Auge; das Stimmengewirr drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr; er sah nur wie im Traum; er hörte nichts, als nur das eine Wort: ›Ich gehe gerade jetzt zur Felsenkanzel; kannst mir nachschleichen!‹ Er wischte sich den perlenden Angstschweiß von der Stirn, schritt um die Brandstätte herum nach dem Garten und starrte hinaus in das nächtliche Dunkel, nach der Richtung, in welcher die Schlucht sich öffnete. Sollte er gehen, sollte er bleiben? Der Hof war nicht mehr zu retten; ein einzelner Mensch vermochte auch keine Wunder zu verrichten, und der Teufelsbauer war sicherlich niemals wieder auf der Kanzel zu treffen. Das Gute kämpfte in ihm mit Mächten, welche so dunkel waren, wie die vor ihm liegende Finsternis, welche unter den um die Brandstätte zuckenden Lichtern sich nur zu verdichten schien. –

Der Pastor begleitete seinen Patienten nach dem Pfarrhofe, wo demselben in einer der hinteren, ruhigen Stuben ein weiches Lager bereitet wurde.

Gustav war schon während des Transportes wieder zum Bewußtsein gekommen; man kühlte seine Wunden einstweilen mit schmerzlindernden Mitteln, wie sie jeder Haushalt bietet, und ließ ihn dann allein. Nach Entfernung der Kleider hatten sich die Verletzungen als nicht sehr bedeutend gezeigt; er war eine starke, robuste Natur und achtete der Schmerzen, welche er empfand, nur wenig; die meiste Schuld an seiner Ohnmacht trugen der erstickende Qualm und die fürchterliche Hitze, durch welche er hatte dringen müssen, und so schienen ihm nur einige Stunden der Ruhe nötig, um neuerholt das Lager verlassen zu können.

Was war das heute doch für ein ereignisvoller Tag gewesen! Er verfolgte den Lauf desselben von Stunde zu Stunde und verweilte dabei am längsten bei der Begegnung mit Katharina im Felsenbruche. Was wird wohl der Wiesenbauer sagen, wenn er sein Kreuz nicht mehr vorfindet?

Er horchte erschrocken auf. Gerade aus der Gegend her, an welche er soeben gedacht hatte, war ein lautes, dröhnendes Krachen erschollen, welches noch mehrere Sekunden lang rollend in der Luft nachzitterte. Was konnte das gewesen sein? Er hatte erfahren, daß der Oheim nach der Felsenkanzel gegangen sei, um eine heilende Pflanze für ihn zu holen, und fast wollte es ihn wie Besorgnis überkommen, wenn er an die Gefahr dachte, welche ein nächtliches Besteigen des Altanes bot. Er wußte auch, daß die Kanzel nicht mehr zuverlässig sei; Wind und Wetter hatten auf sie eingewirkt, und es war mit der Zeit ein Riß entstanden, welcher früher oder später ihren Einsturz herbeiführen mußte. Aber seine Befürchtungen waren nicht so groß wie die Müdigkeit, welche er fühlte; er schloß die Augen und war in kurzer Zeit eingeschlafen.

Als er erwachte, war es schon spät am Morgen; die Pfarrfrau saß an seinem Bette; sie hielt seinen Zustand für bedenklicher, als er war, und fragte ihn nach seinen Schmerzen.

Er antwortete lächelnd:

»Verbranntes tut nicht schön; aber daraus braucht man sich nicht viel zu machen. Ist der Oheim schon hier gewesen?«

»Nein; aber die Wirtschafterin war hier und hat auch nach ihm gefragt.«

»Die Marie? Dann ist er nicht zu Hause? Frau Pfarrerin, ich muß aufstehen; es ist etwas passiert!«

»Was denn?«

»Ich weiß selbst noch nicht; aber ich habe heute nacht gehört, daß im Felsenbruch etwas eingestürzt ist, und der Oheim war draußen. Wäre ihm nichts geschehen, so hätte er mich schon längst aufgesucht. Ich muß auf!«

»Das wird wohl schwerlich gehen!«

»Es geht ganz leicht; die Haut ist nur ein wenig eng geworden, und bei dem Liegen kommt auch nicht viel heraus. Bitte, darf ich gehen?«

»Mir soll es lieb sein, wenn die Wunden nicht gefährlich sind; aber Schmerz bereiten sie genug; das kann ich mir denken. Hier ist ein anderer Anzug, den die Wirtschafterin mitgebracht hat.«

Sie entfernte sich, und er begann, sich anzukleiden. Es ging doch nicht so leicht, wie er gemeint hatte; aber die Sorge um den Oheim ließ ihn die Schmerzen überwinden, und bald hatte er dankend Abschied genommen und verließ das Haus.

Als er an der noch rauchenden Ruine des Wiesenhofes vorüberkam, erblickte er Katharina, welche suchend unter den Gegenständen umherging, die verstreut und vielfach beschädigt im Garten lagen.

»Kathrine!« rief er sie.

Sie blickte auf. Als sie ihn erkannte, kam sie auf ihn zugeeilt.

»Gustav, bist du schon wieder gesund?« fragte sie, indem es freudig über ihre kummervollen Züge glitt. »Ich denke, du bist fast ganz verbrannt!«

»Ich nicht, sondern bloß die Hosen und die Jacke. Die paar Male, die ich dabei bekommen habe, werden bald vergehen. Was tut dein Vater?«

»Ach Gott, der ist fort, und wir wissen nicht, wohin. Wir haben ihn schon im ganzen Dorfe gesucht; aber er ist nirgends zu finden.«

Ihre Tränen flossen wieder. Er ergriff ihre Hand.

»Laß gut sein, Kathrine; er wird schon wiederkommen, und das Unglück hier läßt sich wohl auch noch übersehen. Hat es der Mutter etwas getan?«

»Sie ist unverletzt, aber schwach und ganz trübselig. Ach, Gustav, wie ist's doch so gar anders geworden, seit wir uns gestern im Bruch gesehen haben!«

Die Erwähnung des Felsenkessels erinnerte ihn an den Oheim; er zog trotz der Leute, welche vereinzelt umherstanden, das Mädchen an sich und fragte:

»Kathrine, darf ich dich lieb haben? Gestern wolltest du mir's nicht sagen; erlaube mir's heute!«

Sie nickte weinend.

»Dann mache dir keine Sorge; du wirst noch weiter von mir hören! Jetzt aber muß ich fort. Lebe wohl, Kathrine, und grüß' mir auch die Mutter!«

»Leb' wohl!« Trotz dieses Wortes hielt sie seine Hand fest und sah schluchzend zu ihm empor. »Gustav, tue mir heut' was zulieb'!«

»Sag's; ich will's gern tun!«

»Bitte deinen Oheim, daß er dem Vater Verzeihung gibt! Der liebe Gott wird uns sonst noch mehr heimsuchen, als bisher.«

»Ich werd's ihm sagen, und er wird dir deine Bitte erfüllen, Kathrine. Darauf darfst du dich verlassen!«

Als er den Tannenhof erreichte, waren die Bewohner desselben ebenso erfreut über sein unerwartetes Erscheinen wie besorgt über das unerklärliche Wegbleiben Haubolds. Er hatte sich seit gestern abend nicht wieder sehen lassen, und niemand konnte sagen, wo er zu suchen sei. Marie befand sich in einem hohen Grade von Aufregung, die sie vergeblich zu verbergen suchte. Gustav kannte ihre außerordentliche Anhänglichkeit für den Oheim und verschwieg ihr darum schonend seine Vermutung. Unter dem Vorwande einer Feldarbeit nahm er die beiden Knechte zu sich und begab sich mit ihnen nach dem Felsenbruche.

Dort angekommen, erblickte er einen mächtigen Trümmerhaufen, welcher die Stelle bedeckte, an der das Kreuz gestanden hatte; die Kanzel war herabgestürzt und hatte ein breites Stück des Kesselrandes mit sich herniedergerissen. Sprachlos vor Entsetzen blieb er an der Mündung der Schlucht stehen, dann ermannte er sich und trieb vorwärts, indem er rief:

»Der Oheim ist zerschmettert und verschüttet. Vorwärts, wir müssen ihn finden, ihn oder seine Leiche!«

Im Nu stand er bei den Trümmern; mit einem raschen, angstvollen Blicke hatte er die zerborstene Masse überflogen und dabei gefunden, daß die Oberfläche derselben keine Spur von dem Gesuchten sehen lasse; er mußte unter ihr vergraben sein.

»Helft mit wegräumen! Ich muß ihn sehen; ich muß ihn haben, und wenn ich den ganzen Bruch umstürzen soll!«

Mit fast übermenschlicher Anstrengung wühlte er sich in das Gestein; die schweren Stücke flogen wie leichte Nußschalen zur Seite; der Schweiß rann ihm aus allen Poren, und von Schritt zu Schritt vorwärts rief er mit lauter Stimme den Namen des Vermißten.

»Horch, Gustav!« rief einer der Knechte. »Ich habe was sprechen hören!«

Die drei Männer lauschten gespannt auf jedes, auch das geringste Geräusch. Endlich, nach längerem Horchen vernahmen sie eine schwache, menschliche Stimme; aber sie kam nicht aus der Tiefe, sondern von der Höhe herab.

»Da oben ist jemand an der Felsenwand. Es muß in der Höhle sein, dem Schalle nach. Aber dort kann doch kein Mensch hineinkommen!«

Wieder ließ sich der gedämpfte Ruf vernehmen. Es klang, als befände sich jemand in der dringendsten Gefahr und habe doch nicht die Kraft, laut nach Hilfe zu schreien.

»Kommt an der Seite hinauf! Dort können wir von oben hinabblicken und am Ende sehen, wer es ist!«

Sie eilten durch die Schlucht zurück und stiegen mit möglichster Geschwindigkeit an dem Rande des Bruches empor. Oben, an der Stelle angekommen, welche der Höhlung gegenüberlag, sahen sie zwei menschliche Gestalten in derselben liegen, deren eine den Oberkörper so weit wie möglich hervorgeschoben hatte, um eine Gelegenheit zur Rettung zu erforschen.

»Wer ist da drüben?« fragte Gustav mit lauter Stimme.

»Ich bin's!« antwortete es matt und kaum vernehmlich.

»Wer denn?«

»Der Heinemann!«

»Und wer ist der andere?«

»Der Teuf– der Tannenbauer!«

»Der Oheim ist mit dabei!« jubelte Gustav; schnell aber dämpfte er seine Freude und fragte hinüber: »Warum spricht der Tannenbauer nicht?«

»Er ist tot!«

»Tot?« zitterte es von den Lippen des Jünglings. Dann aber ballte er die Faust und warf sie drohend hinüber. »O, jetzt weiß ich alles! Der Oheim ist nach der Kanzel gegangen, um das Kraut zu suchen, und der Wiesenbauer hat ihn verfolgt und sich über ihn hergemacht. Da oben haben sie miteinander gekämpft, und von der Last und dem Gestampf ist die Kanzel vollends losgebrochen. Dabei hatten sie sich fest gepackt und sind nicht mit hinabgestürzt, sondern seitwärts hinüber nach der Höhle geschleudert worden. Das ist das größte Wunder, was es geben kann! Aber was soll es helfen? Den Oheim hat's zerdrückt, und der Mordtäter ist dafür noch am Leben. Aber heraus müssen sie beide! Lauft nach dem Dorfe, und macht Lärm; man soll soviel Stricke und Leitern mitbringen, als man fassen kann; auch eine Schnur ist vielleicht zu gebrauchen, so lang als möglich. Lauft; ich bleibe alleweile hier, bis ihr wiederkommt, und werde mich umschauen, wie die Hilfe am besten geht!«

Die Nachricht, welche die Knechte in das Dorf brachten, erregte ein ungeheures Aufsehen. Wer sich von zu Hause losmachen konnte, der eilte nach dem Felsenbruche, und in kurzer Zeit hatte sich eine zahlreiche Menschenmenge in dem Kessel und an den Seiten desselben versammelt. Jeder hatte irgend ein Werkzeug mitgebracht, von dem er glaubte, es hier gebrauchen zu können, und es wurden die verschiedensten und abenteuerlichsten Ansichten darüber laut, in welcher Weise die Verunglückten aus ihrer jetzigen Lage befreit werden könnten.

»Ich habe mir die Sache gehörig angeschaut und gefunden, daß mit Leitern doch nicht viel auszurichten ist,« meinte Gustav, auf einige Männer zeigend, welche beschäftigt waren, einige Exemplare der erwähnten Werkzeuge zusammenzubinden. »Man müßte sie mit dem Seile emporziehen, und dann treffen sie noch immer nicht richtig an.«

»Was hast du hier zu gebieten!« wies ihn der kleine Richter zurück. »Hier sind noch ganz andere Leute als du, und die werden schon noch sagen, was zu tun ist!«

»Ja, das ist wahr! Und du verstehst's gewiß am allerbesten. Du wartest, bis du groß genug geworden bist, langst dann hinauf in die Höhle und nimmst den Oheim samt dem Heinemann herunter. Ein andermal aber wartest du, bis ich mit dir gesprochen habe; das merke dir!«

Hierauf wandte er sich von ihm ab.

Den Oheim mußte er haben, gleichviel, ob derselbe tot oder lebendig war; jede verlorene Minute wurde ihm zur Ewigkeit; aber er sah ein, daß er hier nichts als warten könne. Seine Ansicht erwies sich als die richtige; Leitern waren bei der beträchtlichen Höhe, in welcher die Höhle lag, nicht anwendbar; auch ein von oben herabgelassenes Seil reichte nicht nahe genug an sie heran, da die Felsenwand gerade über ihr um mehrere Fuß hervortrat. Diese beiden Umstände versetzten die Versammlung in allgemeine Ratlosigkeit, und mit dem Zeichen des Beileides betrachtete man zwei Frauen, welche den bisherigen Bemühungen mit gespanntem Interesse gefolgt waren.

Katharina und ihre Mutter hatten sich eingefunden, und als jetzt keine Hilfe möglich schien, irrten die Augen der ersteren angstvoll unter den Anwesenden umher, bis sie einige Gestalten entdeckten, welche abseits von den anderen an dem Felsen lehnten.

»Komm, Mutter, dort ist der Gustav! Der weiß vielleicht noch Rat und Tat!« meinte die Tochter.

Sie zog die Angeredete zu der kleinen Gruppe und reichte dem Genannten die Hand.

»Ist's wirklich wahr, Gustav, daß es kein Mittel gibt, den Vater herabzuholen?«

»Ich weiß noch etwas, Kathrine! Der Knecht hat schon die Schnure und auch die Seile, und hier kommt grad der Bote, den ich nach dem Hammer geschickt habe und nach dem Spitzeisen. Paß auf, jetzt wird's versucht!«

Ein Riß, zuweilen senkrecht aufsteigend, zuweilen wagerecht fortlaufend oder eine kurze Bogenlinie beschreibend, zog sich in der Steinwand vom Boden aufwärts und strich ganz nahe an der Oeffnung der Höhle vorüber. Auf ihn hatte Gustav sein Augenmerk gerichtet. Es war, allerdings unter vielen Gefahren, vielleicht möglich, die bald enge, bald sich erweiternde Spalte zum Erklimmen der Felsenmauer zu benutzen.

Nachdem er das Nötige zu sich gesteckt hatte, begann er das schwierige, höchst wagehalsige Unternehmen. Sich nach Art der Schornsteinfeger mit Knie und Ellbogen emporschiebend, gelangte er langsam und stetig höher und höher; hunderte von Augen verfolgten seine Bewegungen, und je weiter er aufrückte, desto stiller wurde es unter den atemlos spannenden Zuschauern. Jeder falsche Tritt oder Griff, die leiseste Unvorsichtigkeit oder das geringste Nachlassen seiner Kraft mußte ihn in die Tiefe stürzen. Die Spalte war der Verwitterung mehr ausgesetzt, als die geschlossene Felsenmasse; das Gestein bröckelte bei jeder Berührung, und wenn es ihm auch gelang, die Höhle zu erreichen, so war doch vorauszusehen, daß er sie auf demselben Wege nicht wieder verlassen könne.

»So etwas kann nur ein Haubold wagen, der den Teufel hat!« bemerkte der Richter. Er vermochte dem kühnen Jünglinge doch seine Anerkennung nicht zu versagen.

»Schweigt mit dem Teufel, Richter!« mahnte der Pfarrer, welcher in der Nähe stand. »Das ist nicht Satanswerk, sondern ein Mut und eine Hochherzigkeit gegen den Wiesenbauer, die eure harten Herzen erweichen und euren Aberglauben besiegen sollten!«

Der Zurechtgewiesene gab keine Antwort; er fühlte die Wahrheit dieser Worte, obgleich sein Vorurteil ihnen widerstrebte. Ein lauter Jubelruf ließ ihn wieder zur Höhe blicken. Gustav hatte die Höhle erreicht, schwang sich hinein und blieb für eine geraume Zeit für die Umstehenden verschwunden.

Sein erster Blick fiel auf den Oheim, welcher wie tot am Boden lag. Ohne an die eigene Ermüdung zu denken, kniete er bei ihm nieder, um ihn zu untersuchen. Das Klopfen des Pulses war leise und langsam, aber deutlich zu vernehmen.

»Es ist noch Leben in ihm!« rief er freudig. »Der Fall hat ihn betäubt, und wenn im Innern nichts zerrissen ist, so kommt er wohl wieder auf! Wie steht's denn nun aber mit dir, Heinemann? Ist's noch immer wie gestern, als du sagtest: ›Fahr zu, Teufelsbube; ich mag dich nicht in meiner Nähe leiden!‹ Oder ist dir jetzt vielleicht mein Kommen recht?«

Der Gefragte gab keine Antwort; er sah schrecklich angegriffen aus und barg stöhnend das Gesicht unter beide Hände.

»Ich werde dich mit dem Seile hinunterlassen. Stehe auf, und ziehe es mit herauf!«

»Ich kann nicht,« wimmerte der Bauer. »Mir ist das eine Bein entzwei.«

»Da wirst du viel auszustehen haben, ehe du hinabgelangst. Aber nimm die Plage zu Herzen, Wiesenbauer, und frag' dich, wer's auf dem Gewissen hat, wenn der Oheim stirbt!«

Er zog Hammer und Spitzeisen aus der Tasche und trieb das letztere so weit in das Gestein, daß der hervorstehende Teil einen festen und sicheren Anhalt bot, dann langte er eine aufgerollte Leine hervor und warf, während er das eine Ende derselben festhielt, dieselbe über den Rand der Höhlung hinab. Nun bog er sich weit vor und rief dem untenstehenden Knechte zu:

»Paß auf; jetzt kommt die Schnur! Mache das Seil daran, und schicke auch Tücher und Decken herauf!«

Dem Gebote wurde Folge geleistet, und bald sah man den an das Seil befestigten Wiesenbauer in der Höhe erscheinen und sich an der steilen Wand herabgreifen. Als er den Boden erreichte, schloß er die Augen, und einige unartikulierte Laute waren alles, was die Herbeieilenden aus ihm herausbrachten. Katharina und ihre Mutter sanken weinend bei ihm nieder.

Einige Zeit darauf schwebte ein umfangreicher Pack herab. Es war der in die verlangten Decken geschnürte Tannenbauer.

»Er ist tot,« berichtete man sich, als er aus der Umhüllung gewickelt war. »Der Böse hat ihn zerschellt; er ist ganz blau im Gesicht, und die Zunge hängt ihm gar weit heraus! Jetzt kommt auch sein Neffe; schaut zu, ob der nicht stürzt!«

Gustav hatte die Schlinge des Seiles um das Spitzeisen befestigt und turnte sich mit langsamen Griffen zur Erde hernieder. Er hatte das fast Unmögliche geleistet, und je näher er kam, desto deutlicher war zu bemerken, daß ihn die übermäßig angestrengten Kräfte verließen. Noch hatte er den Boden nicht erreicht, da ließen die Hände vom Seile, und er stürzte vollends herab.

Katharina hatte der gefährlichen Seilfahrt mit angsterfülltem Herzen zugeschaut, sie warf sich mit einem Schrei des Entsetzens über ihn und küßte, ohne auf die Umstehenden zu achten, seine erbleichenden Lippen.

»Gustav, ich bitte dich um Gottes willen, stirb mir nicht!« rief sie. »Schlage doch die Augen auf, und schau mich an! Was soll sonst aus uns werden?«

Eine leise, zuckende Bewegung ging über sein totenblasses Gesicht. Dann flüsterte er:

»Kathrine, laß uns alle nach dem Tannenhof tragen, und bleibe auch du da mit der Mutter!«

Der Klang ihrer Stimme hatte die fliehende Besinnung für einen Augenblick noch festgehalten, nun aber senkten sich die wieder geöffneten Lider von neuem. Drei Männer lagen bewußtlos nebeneinander, und es schwieg die Feindschaft, welche eine so tiefe Kluft zwischen ihnen gerissen hatte.

*

Es war Nacht, und der trübe Schein eines kleinen Lämpchens erhellte das vordere Zimmer der Ruine nur notdürftig. Heinemann erwachte aus dem ersten ruhigen und tiefen Schlafe, welchen die Schmerzen seines gebrochenen Beines ihm gegönnt hatten. Nur wenige Tage waren vergangen, seit er dem Feinde zum Hohne und Aerger den Teufel an das alte Gemäuer gemalt hatte, und nun war ihm die Klause des verhaßten ›Einsiedels‹ zum wohltätigen Asyle geworden. Seit dem Augenblicke, an welchem er unter seinem Torwege die Worte: »Wenn sich der Teufelsbauer sehen läßt, so gibt es sicher ein Unglück im Dorfe; warte, ich will ihm zeigen, daß ich noch immer der Alte bin!« zu sich gesprochen, hatte ihm der Advokat des Genannten tief hinab in das haßerfüllte Herz gegriffen und vernichtend Schlag auf Schlag gegen ihn geführt. Die Vergangenheit war mit ihren finsteren Gestalten an sein qualvolles Krankenlager getreten, und jede Stunde, an welche sie ihn erinnerte, hatte eine neue Anklage enthalten, war eine neue Drohung für ihn gewesen. Sollte es keine Sühne, keine Verzeihung geben? Ist im Himmel nicht mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, denn über neunundneunzig Gerechte, welche der Buße nicht bedürfen?

Da vernahm er durch die nur angelehnte Tür des Nebengemaches die leisen Worte des Tannenbauers:

»Marie, ich kann nicht schlafen und will mir Bücher suchen. Fahre mich hinein in die Stube, aber recht leise und heimlich, damit wir den Wiesenbauer nicht aufwecken!«

Die Tür wurde geräuschlos geöffnet, und unter derselben erschien Haubold, welcher blaß und leidend in einem Rollstuhle lag. Er war bei dem Falle von der Felsenkanzel äußerlich unverletzt geblieben, und seine starke Konstitution hatte die dabei erfolgte innere Erschütterung beinahe überstanden.

»Du wachst, Heinemann?« fragte er, als er die offenen Augen desselben auf sich gerichtet sah. »Hast mehr geschlafen, als den ganzen Tag. Wie geht's nun alleweile?«

»Im Bein mag's leidlich sein, aber wo anders ist's nicht so gut. Laß deine Bücher, und komm her zu mir, ich habe mit dir zu reden, oder hast du nicht Zeit dazu?«

»Die Zeit ist da. Ich kann den Schlaf nicht finden und mag schon bei dir sein, wenn du's verlangst. Schiebe mich hinzu, Marie, und bleibe dabei, für den Fall, daß mich die Schwäche überkommt!«

Die Wirtschafterin brachte den Stuhl in die unmittelbare Nähe des Bettes. Sie hatte mit Katharina die wechselweisen Nachtwachen übernommen und widmete dabei den Kranken und besonders ihrem Herrn eine Aufmerksamkeit, welche selbst den kleinsten seiner Wünsche liebevoll zu erraten suchte.

»Weißt du noch, als wir miteinander in der Schule gewesen sind?« fragte der Wiesenbauer. »Wir waren gute Freunde; ich sagte ›Friedemann‹ zu dir, oder kurzweg ›Frieder‹, und du hast mich Andres genannt. Denk' mal, wir sitzen noch beisammen auf der Bank, und reiche mir deine Hand!«

»Die sollst du haben, Andres,« antwortete Haubold bereitwillig. »Es war die schönste Zeit in meinem ganzen Leben; das übrige ist lauter Leid und Zorn gewesen!«

»Aber daran trägst nicht du die Schuld, sondern ich allein. Seit der Bruder tot ist, habe ich dich beleidigt auf alle Weise, habe das Dorf gegen dich aufgehetzt und dir Schaden getan, wo ich nur immer konnte! Du weißt am besten, wie ich dich verfolgt habe und gekränkt zu jeder Zeit und bei jeder Gelegenheit; aber dies weißt du nicht, daß ich viele Jahre hindurch auf dich gelauert habe, um meine Rache zu stillen. Und in der Nacht, wo bei mir Feuer war, bin ich dir nachgefolgt und habe mich auf dich geworfen, um dir das zu tun, was du dem Bruder getan hast. Aber du warst stärker als ich und hast dich gewehrt, so daß unter uns der Stein zerbrochen ist.«

Er machte eine Pause. Auch Haubold schwieg. Er dachte an die fürchterlichen Augenblicke, in denen er unter dem grimmen Feinde gelegen und alle seine Kräfte aufgeboten hatte, um dem Tode zu entgehen. Noch vernahm er den donnernden Krach, welcher dem Kampfe ein Ende gemacht hatte; an das weitere konnte er sich nicht erinnern; er war erst in der Ruine wieder erwacht.

»Dann kam die Nacht in der Höhle,« fuhr Heinemann fort. »O, diese Nacht werde ich nimmer vergessen! Da hat dein Advokat die Akten hergenommen und mir die ganze Sündenschuld verlesen, und da drin im Gewissen hat der Richter gesessen und mir mein Urteil gesagt. ›Was bist du doch für ein schlechter Kerl, Heinemann!‹ so hast du an dem Sonntag zu mir gesprochen; aber ich bin noch viel schlimmer gewesen, als du denkst. Daß mir der Hof verbrannt ist, das ist noch gelinde Strafe, die größte sitzt hier innen; da nagt der Wurm, der nie stirbt, und da frißt das Feuer, welches nimmer verlischt. Friedemann, gibt's keine Hilfe gegen diesen Brand? Du hast mir die Frau mit aus der Flamme gerettet; du könntest auch hier der Helfer sein, wenn du nur wolltest!«

Haubolds Stimme zitterte, als er fragte:

»Wie soll ich helfen, Andres?«

»Vergib mir alle die Missetat, die mir die Seele zermalmt wie ein Gebirge, das auf ihr liegt. Ich weiß, es ist schier unmöglich, was ich verlange, aber du bist bei all meiner Schlechtigkeit mir nimmer feindselig gewesen, und du hast vielleicht auch jetzt Erbarmen!«

»Denkst du wirklich, daß ich zu all der früheren Ueberwindung auch das noch fertig bringe? Sollst dich nicht täuschen, Andres! Hier ist die Hand und auch die andere noch. Ich habe unsere Sache Gott überlassen, und der hat dir das Herz gelenkt. Es soll alles vergeben und vergessen sein!«

»Habe Dank, Friedemann! Ich weiß noch ganz genau, was ich beim Feuer zu dir gesagt habe: ›Wir sind noch nimmer quitt; ein Mord wiegt schwerer, als die paar Blasen, die der Gustav auf die Haut bekommen hat!‹ Jetzt aber ist es anders. Er hat nicht bloß der Frau, sondern auch mir das Leben erhalten und liegt nun selber auf den Tod darnieder, weil er beim Aufsteigen in der Spalte die Brandwunden strapaziert hat. Das hebt den Tod vom Bruder auf. Wir sind jetzt quitt!«

Haubold schob die gefaßten Hände des Sprechers mit einer hastigen Bewegung zurück.

»So glaubst du auch jetzt noch, daß ich es war, der ihn hinabgestürzt hat?« fragte er.

»Es kann doch gar nicht anders sein, Friedemann! Aber laß dich's nicht verdrießen; ich werde nimmer wieder davon sprechen!«

»Aber ich weiß ja wirklich nichts davon. Ich bin so unschuldig daran, gerade wie die liebe Sonne am Himmel! Die Martha hat mich lieb gehabt und ihn nicht leiden mögen; er ist mir nachgefolgt auf Schritt und Tritt, um mir etwas anzutun; ich aber habe ihn gemieden und bin an jenem Abende gar nicht mit zur Kanzel hinaufgestiegen. Der Vater hat es nicht gewollt, daß ich die Martha nehmen sollte, und mich damals mit ihr getroffen. Ich mußte mit ihm nach Hause, und sie ist dann allein geblieben. Da drin in der Stube hat sie gewohnt, und da drin hat sie am anderen Morgen gestanden und zu mir gesagt, daß sie gehe und niemals wiederkommen werde. Ich habe gebeten und gefleht, aber es hat nichts geholfen. Sie ist so verstört gewesen; ich habe gedacht, von wegen dem Vater; aber als ich nachher hörte, was mit deinem Bruder geschehen ist, so habe ich gleich gewußt, daß zwischen ihnen irgend etwas vorgefallen sein muß.«

»Und das soll wahr sein, Friedemann?«

»Ja, es ist so, Wort für Wort!«

Diese Beteuerung kam nicht aus dem Munde Haubolds. Die beiden Männer blickten erstaunt nach der Ecke, in welche sich Marie zurückgezogen hatte. Sie war die Sprecherin gewesen.

»Wie kommst du zu dieser Rede?« fragte der Tannenbauer. »An dich war damals noch nicht zu denken!«

»Und doch war ich dabei und weiß ganz genau, wie's hergegangen ist. Ich hab's bisher nicht über mich vermocht, aber weil ihr in dieser Weise zusammen seid, so will ich sprechen!«

»Was kannst du zu sagen haben?« klang es gespannt aus dem Munde Haubolds.

Da fuhr die Wirtschafterin fort:

»Die Martha hat dich lieber gehabt noch als ihr Leben und konnte nichts dafür, daß sie bloß Schauspielerin und nicht eine reiche Bauerstochter war. Darum ist ihr so weh geworden, als dein Vater die harten Worte sprach und dich von ihrer Seite riß. Sie ist allein hinauf zur Kanzel gestiegen, hat sich an die Brüstung gelehnt und dabei gedacht, ob es nicht besser sei, hinabzuspringen in die schwarze Tiefe. Da plötzlich ist der rote David, der Heinemann, bei ihr gestanden und hat den Arm um sie gelegt. Er ist gar schlimm gewesen, hat erst viele gute Worte gegeben, und als das nichts geholfen hat, so ist er wild geworden und hat gedroht, sie in den Bruch zu stoßen, wenn sie von dir nicht lassen will. Dann haben sie miteinander gerungen, und dabei ist er ausgeglitten und hinabgefallen. Sie hat nichts dafür gekonnt, aber es ist ihr gerade gewesen, als ob sie die Mörderin sei, und das hat ihr nicht Ruhe gelassen und sie aus dem Dorfe und von dir fortgetrieben.«

Haubold atmete in schnellen und tiefen Zügen. Sie nannte ihn ›du‹, was noch niemals vorgekommen war; sie wußte den Hergang so genau; er dachte an die Aehnlichkeit der Augen, an die ungewöhnliche Aufmerksamkeit, welche sie stets für ihn gezeigt, an die selbstlose und aufopfernde Tätigkeit, die sie seinem Hauswesen so unausgesetzt gewidmet hatte, und stieß die hastige Frage hervor:

»Du warst mit dabei? Sprich, wie ist's möglich?«

Sie zögerte mit der Antwort.

»So sage, was aus der Martha dann geworden ist! Du kannst es nicht mehr verschweigen. Ich flehe dich an, sprich alleweile die Wahrheit!«

»Nun wohl, du sollst es hören, doch mußt du mir versprechen, mir nicht bös und zornig zu werden! Es wäre niemals ein Wort davon über meine Lippen gekommen, aber heute war es notwendig, dem Wiesenbauer zu beweisen, daß du nicht der Mörder bist!«

»Ich zürne dir nicht. Erzähle und säume nicht lange!«

»Sie ist weit fortgegangen zu einer Theatertruppe, die nicht in diese Gegend kommen konnte. Die Sehnsucht nach dir hat sie nimmer verlassen wollen, aber dein Vater hat sie nicht leiden mögen, und auch wenn er nichts gegen sie gehabt hätte, als Mörderin konnte sie doch niemals Tannenbäuerin werden. Sie hat sich viel nach dir erkundigt und auch gehört, daß du nicht Arzt geworden, sondern zu Hause geblieben bist, weil dir nun alles gleich gegolten hat. Da ist ihre Gesellschaft wohingekommen, wo die Pocken ausgebrochen sind; sie hat die Krankheit auch bekommen und darnach so ausgesehen, daß sie gar nicht mehr zu erkennen war. Das hat sie aber nicht geschmerzt, sondern ist ihr lieb gewesen; denn nun ist es möglich geworden, dich wiederzusehen. Zuerst hat sie sich als Magd verdingt, um die Wirtschaft zu lernen, und dann –«

»Dann,« rief der Tannenbauer, trotz seines leidenden Zustandes in lautem Jubel, »dann bist du zu mir gezogen, hast mich gepflegt und auf den Händen getragen, hast mich vom Tiefsinn geheilt und mir den Mut zum Leben zurückgebracht. Und ich habe dich nicht erkannt, habe niemals daran gedacht, in dem Papier, das jetzt noch wohl beim Richter liegt, nach deinem vollen Namen zu schauen. Martha, komm, geh' her! Das Herz möchte mir vor großer Freude zerspringen; ich habe ja nicht vergebens an deine Liebe geglaubt, wie ich noch dachte, als ich dich dort in deiner Stube überraschte, und der Teufelsbauer – dem ist nun alles gleich, was die Leute von ihm sagen; er hat die Martha wieder und auch das Glück, das du mit von ihm nahmst!«

Der starke Mann schluchzte vor tiefer Seligkeit. Sie lag in seinen Armen und das tränennasse, blatternarbige Gesicht an seiner Brust, die keinen Schmerz mehr fühlte; und auch der Wiesenbauer fuhr sich mit der Hand über die Augen. Es waren seit langer Zeit die ersten Tropfen, welche seinem vorher so harten Herzen entstiegen; seine zusammengezogenen Züge verschönten sich unter dem Ausdrucke der freudigen Teilnahme welche auf ihnen lag, und mild und dringlich klang seine Bitte:

»Friedemann, ich bitte dich noch einmal um Verzeihung! Erst jetzt erkenne ich, wie bös ich war und wie gut du gewesen bist; was ich sühnen kann, werde ich sühnen und das übrige streiche aus deinem Gedächtnisse fort! Die Leute sollen alle erfahren, ob bei dir der Drache zu finden ist und das siebente Buch Mosis. Und den Teufel, den ich dir an die Wand gemalt habe, werde ich selbst fortwischen, sobald ich wieder auf die Beine kann!« – –

Als nach einiger Zeit die Wirtschafterin die Ruine verließ und das Wohngebäude betrat, stieg sie die Treppe empor und öffnete leise eine Tür. Auch hier gab es ein Krankenzimmer. Gustav ruhte auf dem Lager, und Katharina war eben beschäftigt, ihm die Medizin zu reichen. Er sagte zu ihr:

»Wie bist du doch so gut, Kathrine! Gestern hast du in der Klause gewacht, und heute willst du nicht schlafen und bleibst bei mir. Geh' doch nun zur Ruhe; ich kann dir gar nicht vergelten, was du an mir und dem Oheim tust!«

»Sprich nimmer vom Vergelten!« bat sie. »Wir sind so sehr in eurer Schuld, daß ich fast Angst davor bekomme. Wenn das doch auch der Vater einsehen möchte!«

Da bog sich das freundliche Gesicht der einstigen Schauspielerin über die beiden, und ihre beruhigende Stimme sprach:

»Er hat es eingesehen und Frieden geschlossen mit dem Oheim!«

»Ist's wahr, Marie?« fragte Katharina.

»Ja. Ich war mit dabei. Sie haben sich versöhnt, und ihr dürft euch nun ohne Sorge lieb behalten.«

»Hat es der Vater so gesagt?«

»Ja. Der Oheim war lange Zeit in seiner Stube, und als dieser ihn verlassen hatte, rief er mich zu sich und sagte: ›Wenn du den Gustav und die Kathrine beisammen siehst und sie dich etwa nach meiner Meinung fragen, so erinnere sie an die Worte, die ich im Saal gesprochen habe: Du darfst nur dann an sie denken, wenn ich auch im Felsenbruche liege! Der Haß hat mich hineingeschleudert, und die Liebe hat mich daraus erlöst. Das Wort ist eingetroffen, und wenn sie sich gern haben, so ist ein Teil von meiner Schuld bezahlt!«

Buchschmuck

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