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Fünftes Kapitel.

Auf, zum Kampf!

Wenn ich die Ereignisse der letzten Tage überdenke, so stellen sie sich mir derart zwingend und drängend dar, daß es fast zum Verwundern ist. Am Montag war es, als die Ussul meinen Halef ergriffen und ich dafür ihren Scheich gefangennahm. Am Dienstag waren wir nach Ussula geritten, und nachts stand ich mit der Priesterin und Taldscha auf dem Tempel. Am Mittwoch, also gestern, wurde der Kriegszug gegen die Tschoban und unsere Beteiligung daran zur fest beschlossenen Sache. Und am Donnerstag, heut, befand ich mich mit Halef schon unterwegs, um nach dem Schauplatz dessen, was geschehen sollte, voranzureiten. Das war doch wohl ein Stringendo, welches zum Nachdenken trieb. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß, wenn die Ereignisse einander so trieben, der Schluß fast immer kein befriedigender war. Warum wohl das? Höchstwahrscheinlich aus dem Grund, daß der Mensch dabei die innere Ruhe und den scharfen Blick des Auges verliert, die beide unumgänglich nötig sind, wenn man wünscht, Herr der Begebenheiten zu bleiben. Was die Schärfe des Blickes betrifft, so war sie mir wohl nicht verlorengegangen; ich hatte vielmehr Gelegenheit gefunden, sie zu üben. Auch die innere Ruhe war mir geblieben. Nichts hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht, und selbst wenn so etwas geschehen wäre, so hätte mir die tiefe Einsamkeit und Stille des Urwaldes, durch den wir heute während des ganzen Tages geritten waren, die vortrefflichste Gelegenheit gegeben, mich selbst wieder finden zu lassen.

Es waren große, verantwortungsvolle Pflichten vor mir aufgetaucht, aber ich stand ihnen außerordentlich sachlich gegenüber. Ich war plötzlich sozusagen unpersönlich geworden. Ich befand mich in einer mir unbekannten Stimmung und hatte das Gefühl, als ob sich das, was mir bevorstand, gar nicht auf mich beziehe und nur darum von mir miterlebt werden müsse, weil es bestimmt war, nicht nur den Beteiligten, sondern auch mir zum Segen zu gereichen. Es kam mir vor, wie eine Übung in der schweren Kunst, Gottes führende Hand im Leben zu erkennen, um dadurch die Befähigung zu erlangen, dann auch mit eigenen Händen die Zügel der Ereignisse zu führen. Es gibt Menschen, die nicht leben, sondern gelebt werden, weil sie erst lernen müssen, was leben heißt. Einst hatte auch ich zu ihnen gehört. Ich war gelebt worden und hatte dies mit schwerem, bitterem, viele Jahre langem Weh bezahlen müssen. Dann hatte ich mich von denen, die mich lebten, freigemacht. Eine böse, mühe- und enttäuschungsvolle Lehr- und Gesellenzeit war gefolgt. Und heute nun sah ich mich endlich, endlich vor die Notwendigkeit des Beweises gestellt, nicht mehr Knecht, sondern Herr meiner selbst zu sein.

Das war es, was ich bei Beginn unseres weiten Rittes über mein Inneres zu sagen habe. Halef mag für sich selbst sprechen. Ich will nur andeuten, daß er sehr ernst gestimmt war, ernst und weich. Er sprach ganz wenig, nur das Allernotwendigste. Infolgedessen, was er am gestrigen Abend auf der Zinne des Tempels gesehen und empfunden hatte, schaute er heute tief in sein Inneres hinab und suchte mir dies dadurch zu verbergen, daß er sich äußerlich sehr lebhaft mit Hu und Hi, seinen beiden Hunden, beschäftigte. Er hatte sich vor unserer Abreise über ihre Dressur genau instruiert und versuchte nun zunächst, sie in allen ihren Stücken durchzuprobieren. Es freute mich, daß sie sich als sehr brauchbar erwiesen. Meine beiden Riesen Aacht und Uucht standen aber auch in dieser Beziehung hoch über ihnen. Sie gingen auf Mann und Tier in jeder Lage. Sie rissen den Reiter im Galopp vom Pferd; sie gehorchten in allen Stücken sofort und unbedingt. Aber was sie taten, das taten sie nicht aus Angewöhnung, sondern mit Einsicht und Überlegung. Sie wußten mit beinahe menschlicher Intelligenz sehr wohl zwischen den rechten und den falschen Mitteln zu unterscheiden, und es wird sich im Laufe der Ereignisse wohl oft herausstellen, daß sie zuweilen richtiger und klüger handeln als ich selbst.

Alle vier Hunde waren mit Riemenzeug und einer Art von Sattel ausgerüstet, auf dem sie ihren eigenen Proviant und einen Wasserschlauch trugen. Der letztere war für Gegenden bestimmt, die jenseits der Tschobangrenze lagen. Die Traglast war so berechnet, daß sie ihnen nicht zu schwer wurde. Sie freuten sich im Gegenteil, so oft sie ihnen angeschnallt wurde. Diese Freude tat sich niemals in lautem, unnützem Bellen kund, sondern nur im Mienenspiel. Einer ihrer größten Vorzüge war die Schweigsamkeit, die sie stets beobachteten. Wir kamen ja sehr oft in Lagen, in denen jeder laute Ton zu vermeiden war. Gelegentlich aber, wenn es ohne Nachteil geschehen konnte, gab ich den braven Tieren dann auch gleich selbst die Veranlassung, sich nach Herzenslust auszubellen.

Was nun unsere eigene Ausrüstung betrifft, so waren wir so vortrefflich beritten als nur immer möglich. Ben Rih, den Halef ritt, ist schon oft beschrieben worden. Wie ich zu meinem Syrr kam, ist in meiner Erzählung »Im Reiche des silbernen Löwen« zu lesen; dort sind auch die hervorragendsten Eigenschaften dieses unvergleichlichen Pferdes beschrieben. Auch unsere Waffen waren vortrefflich, die meinigen sogar unschätzbar, wir selbst dabei kerngesund und frohen Mutes, voller Unternehmungslust und Zukunftsfreude. Mehr kann man von zwei Menschen, von denen der eine der Sohn eines blutarmen, deutschen Leinewebers und der andere der Sproß einer ebenso armen, nordafrikanischen Beduinenfamilie war, wohl kaum verlangen.

Wir waren von heut früh an fast den ganzen Tag geritten, hatten nur zu Mittag eine Stunde Rast gemacht und sahen uns darum jetzt, wo der Abend nahte, nach einem Platz um, der sich zum Nachtlager eignete. Wir befanden uns mitten in einem uralten Zedrelawald, der sich längs des Wassers, an dem wir ritten, hinzog. Leider aber waren diese Zedrelen von der Gattung Toana, deren Rinde, Blätter und Früchte einen starken, knoblauchartigen Geruch aushauchen. Es war ratsam, eine Rast unter solchen Bäumen zu vermeiden, und so wollten wir nicht eher halten, als bis wir eine andere und weniger duftende Vegetation erreichten. Das geschah erst dann, als es bereits zu dämmern begann. Da ging der Toanabestand in einen fast ganz reinen, lederblättrigen Schoreawald über, der nur dann und wann von einer Gruppe von Sissubäumen unterbrochen wurde. Das Unterholz bestand teils aus immer-, teils aus nur sommergrünen Sträuchern.

Wir hielten an. Auch die Hunde blieben stehen. An Hu und Hi war nichts zu bemerken. Aacht und Uucht aber schauten mich fragend an, als ob sie sagen wollten: »Ihr haltet hier? Warum gehen wir nicht weiter?« Das war jedesfalls nicht ohne Grund. Uucht ging noch einige Schritte vor, hob den rechten Vorderfuß, sog die Luft in die Nasenflügel und richtete, leise mit dem Schwanz wedelnd, die Augen dann wieder auf mich.

»Da vorne gibt es etwas!« sagte Halef.

»Und zwar Menschen!« stimmte ich bei.

»So bleibe ich mit den Hunden und Pferden hier?«

»Ja. Und ich gehe, um zu sehen, wer es ist. Sorge dafür, daß alles stillbleibt!«

Wir stiegen ab und ließen die Pferde sich legen. Die wußten nun, daß sie nicht schnauben und überhaupt nicht laut werden durften. Die Hunde mußten sich zu ihnen setzen und bekamen das Zeichen, sitzen zu bleiben und sich ruhig zu verhalten. Dann legte ich die beiden Gewehre ab, die mich im Anschleichen gehindert hätten, und ging zunächst, um mich unsichtbar zu machen, vom Fluß weg, etwas tiefer in den Wald hinein, worauf ich die Richtung einschlug, die ich eigentlich beabsichtigte. Am Fluß, über dem der freie Himmel lag, war es noch hell gewesen; hier unter den Bäumen aber, deren Kronen ein dichtes Dach bildeten, war es fast schon ganz dunkel. Dennoch versäumte ich nicht die gebotene Vorsicht, von Baum zu Baum hinter den starken Stämmen Deckung zu suchen, um nicht etwa eher entdeckt zu werden, als bis ich entdeckt sein wollte. Ich legte mehrere hundert Meter zurück, ohne etwas zu spüren. Indem ich parallel mit dem Fluß ging und den Wasserstreifen, der zwischen den Büschen und Baumstämmen schimmerte, nicht aus den Augen ließ, mußte ich alles entdecken, was nicht in diesen Teil des Waldes gehörte. Kein Lüftchen regte sich. Kein Geräusch war zu vernehmen. Aber der Geruch, der bekanntlich der schärfste aller Sinne ist, sagte mir, was Gesicht und Gehör mir jetzt noch nicht sagen konnten: ich roch Feuer. Erst leise, ganz leise, dann aber, je weiter ich ging, immer stärker und stärker. Zunächst roch es nur ein klein wenig nach Kien, dann nach schwelendem Harz, hierauf nach Holz und rußendem Harz und endlich nach bratendem Fleisch. Der Schoreabaum liefert bekanntlich ein sehr reiches, wertvolles Harz, welches sogar bis nach Europa durch den Handel vertrieben wird. Aber Fleisch an harzigem Holz zu braten, dessen Geruch und Geschmack es annimmt, das fiel doch keinem Menschen ein, der auch nur einigermaßen vertraut ist mit dem Leben im freien Feld und im freien Wald, und so wurde mir durch diesen einzigen Umstand schon verraten, daß die Personen, welche da ihr Abendessen bereiteten, weder Ussul noch Tschoban sein konnten. Sie waren auf alle Fälle Leute, welche die Pfahlbauten-, Jäger-, Fischer- und Nomadenzeit überstanden hatten und nun schon nicht mehr wußten, wie ein saftiger, reinschmeckender Braten unter freiem Himmel zubereitet werden mußte.

Endlich, nachdem ich fast einen Kilometer weit gegangen war, sah ich auch das Feuer. Man denke sich, wie glücklich ich mich fühlte, zwei Hunde mit so scharfen Sinnen zu besitzen! Um so weniger bewunderte ich die Leute, die so unvorsichtig gewesen waren, dicht am Flußufer ein so großes Feuer anzuzünden, daß man einen Ochsen daran hätte braten können. Der Fluß bildete eine sehr breite, für das Auge völlig freiliegende Strecke. Ein an seinen Ufern brennendes Feuer mußte weithin gesehen werden. Es war gewiß nur Zufall, daß er hier eine Biegung machte, sonst hätten wir die Flamme sicher schon vor einer Stunde entdeckt. Vielleicht hatten diese Leute es nicht nötig, sich zu verbergen, um so geratener aber war es für mich, nicht offen hinzugehen, sondern mich heimlich anzuschleichen, um zunächst zu sehen, wer sie waren. Ich hatte mich also dem Fluß nun wieder zu nähern.

Es war inzwischen Nacht geworden. Das Feuer blendete, und so kam es, daß ich auch den Fluß nicht mehr von weitem sah. Als ich mich genug genähert hatte und hinter einem der letzten Bäume stand, war es mir möglich, den Lagerplatz zu übersehen. Hier herrschte die Zahl Sechs. Ich zählte sechs Männer, sechs Pferde und sechs Kamele. Man schien bereits seit Stunden hier zu lagern. Das Feuer wurde wirklich mit kienigem Schoreaholz genährt. Es stammte von alten, abgefallenen Ästen, die in der hiesigen Feuchtigkeit sehr schnell vermodert waren, so daß der unzerstörbare Rückstand harzige Knorren bildete, die zwar leicht brannten, im übrigen aber nicht nur wertlos, sondern schädlich waren. Die Kamele waren schwere Lastkamele. Man hatte ihnen die Lasten abgenommen. Sie lagen frei und ungefesselt und kauten wieder. Sie hatten eine ziemliche Anzahl von Wasserschläuchen und einige wenige Pakete zu tragen gehabt. Die lagen jetzt neben ihnen, zu einem Haufen aufgestapelt. Die Pferde waren nicht übel; sie gefielen mir sogar sehr. Eine persisch-indische Kreuzung, bei der aber nur der persische, nicht auch der indische Teil von wirklichem Adel war. Wer weithin leuchtende Schimmel zu reiten wagt, darf keine böse Absichten haben, oder er ist ein dummer, unerfahrener Mensch! Vier von den Männern waren Untergebene; das sah man ihnen mit dem ersten Blick an. Sie beschäftigten sich teils mit den Tieren, teils auch mit dem Fleisch, das über dem Feuer hing. Es schien von einer Tschikara – Vierhornantilope – zu sein und war durch den Qualm des Harzes schon ganz verdorben. Die beiden übrigen Männer waren die Herren. Sie saßen abseits, an den dicken Stamm eines uralten Sissubaumes gelehnt, von Feuer, Mensch und Tier so weit entfernt, als ob sie sich fürchteten, durch die Berührung mit ihnen verunreinigt zu werden. Solche Absonderung kommt doch nur bei den Kastengenossenschaften Indiens vor! Wer waren also diese beiden? Sie trugen krumme Säbel in ledernen Scheiden; aber die Ringe, Schnallen und andere Metallteile dieser Scheiden und Wehrgehänge waren aus purem Gold. Ihre Gürtel und ihre Pistolengriffe funkelten von Halbedelsteinen. An ihren Händen blitzten schwere Diamanten, Rubine und Smaragde. Ihre Turbane, nach indischer Art gewunden, waren mit Perlenschnüren verziert, und der eine von ihnen, der Augengläser trug, hatte es sogar fertiggebracht, in die Scharniere seiner Brille rechts und links einen Diamanten von der doppelten Größe einer ausgewachsenen Linse einsetzen zu lassen. Er schien der Vornehmere von ihnen zu sein. Wozu im Urwald solche Pracht? Diese beiden Männer trugen Anzüge aus jenem unendlich feinen, gelblichweiß glänzenden Dholeragespinst, welches in hindustanischen Gedichten als »gewebte Luft« gepriesen wird! Was sollte man hierzu sagen?

Ich bitte meine Leser, mich nicht falsch zu verstehen, wenn ich eine solche Frage ausspreche. Ich war zu ihr nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet. Diese sechs Männer kamen von Norden, nicht von den Tschoban, sondern noch weiter her. Sie ritten nach Süden, also zu den Ussul. Wer waren sie, und was wollten sie? Hinter den Weidegebieten der Tschoban liegt Dschunubistan und dann das eigentliche Ardistan. Konnte von dorther etwas Gutes kommen? Zumal in jetziger Zeit, wo die Tschoban hier hereinbrechen wollten? Hing die Absicht dieser Leute etwa mit diesem Einbruch zusammen? Warum kleidete man sich in dieser sumpfigen, dunstigen Niederung genau so köstlich wie auf der offenen Straße oder dem sonnenbeleuchteten Tempelvorplatz von Delhi oder Benares? Doch nicht nur, um zu prunken! Vor wem denn wohl? Natürlich nur, um auf den einfachen, bescheidenen Ussul gleich beim ersten Zusammentreffen solchen Eindruck zu machen und sie derart zu blenden, daß man das, was man wollte, ebenso schnell wie sicher erreichte. Aber was wollte man? Ich hoffte, etwas hierüber zu erfahren, falls es mir gelang zu hören, was man sprach.

Die Erfüllung dieses Wunsches war nicht nur möglich, sondern sogar sehr leicht. Der Sissustamm, an dem die beiden Herren saßen, wurde rechts und links von so fetten und so dicht stehenden Farnkräutern flankiert, daß man bis zur anderen Seite des Stammes kriechen und sich dort unter den schützenden Wedeln verbergen konnte, ohne gesehen zu werden. Es fiel mir gar nicht schwer, dies zu tun. Ich erreichte den Stamm des Sissu, ohne bemerkt zu werden, und lag dann, auf der weichen Modererde lang ausgestreckt, so bequem wie auf einem Kanapee. Nur der Baum trennte mich von den beiden Männern. Sie sprachen nicht laut, sondern mit halber Stimme, aber doch so, daß ich alles hörte, was sie sagten. Eben als ich diese meine Stellung eingenommen hatte, schnitt einer der Diener zwei Stücke Fleisch von dem Braten und legte sie auf eine funkelnde Metallplatte, die gewiß aus Gold war. Er tat zwei kleine Kuchen dazu, die schon vorher gebacken worden waren, und trug die Platte dann den beiden Herren zu. Der eine von ihnen schien Hunger zu haben. Er zog sein Messer aus dem Gürtel, um sofort mit dem Essen zu beginnen. Der andere aber, der die Diamantenbrille trug, hielt ihm die Hand und sagte:

»Nicht so! Ich verbiete es dir! Vergiß nicht, daß du der oberste Minister des Scheichs von Dschunubistan bist und zur höchsten Kaste der Menschheit gehörst! Du darfst keine Speise genießen, die von der Hand einer niederen Kraft berührt worden ist, außer sie wird vorher von Priesterhand gesegnet und geheiligt.«

»Das weiß ich wohl«, antwortete der Gescholtene. »Aber auf der Reise ist es doch erlaubt!«

»Nur dann, wenn kein Priester vorhanden ist. Ich aber bin nicht nur Priester, sondern sogar der höchste aller Priester, die es gibt. Ich bin der Maha-Lama von Dschunubistan! Ich bin sogar noch mehr! Ich bin Gott! Ich werde, wenn ich in dem einen Leib sterbe, in dem andern immer wieder von neuem als Gott geboren! Es würde also nicht nur zehnfache, sondern hundert- und tausendfache Sünde von dir sein, in meiner himmlischen Gegenwart eine Speise zu genießen, die aus der Hand eines Menschen kommt, der niedriger steht als du! Halte sie mir her! Ich werde sie von der Sünde befreien und für uns genießbar machen.«

Der »Minister« hielt ihm die goldene Platte hin; der »Maha-Lama« machte mit beiden Händen die Bewegung des Segnens darüber, und dann begannen sie zu essen, und zwar in jener lauten, schmatzenden Weise, die bei gewissen Leuten für vornehm gilt. Diese beiden hohen oder gar allerhöchsten Personen aßen wie die Ferkel. Sie verschlangen das Fleisch und das Gebäck fast ungekaut und ließen sich noch zweimal neue Portionen geben, die ebenso wie die erste gesegnet wurden. Während des Essens fiel kein einziges Wort. Es wurde dabei soviel geschnalzt, geschmatzt, geschnauft und gerülpst, daß weder Zeit noch Raum für eine gesprochene Silbe blieb. Auch die Dienerschaft aß nun, also die Niedrigstehenden, die Verachteten, deren Berührung den Vornehmen verunreinigt; aber sie taten es in stiller, anständiger Weise und machten darum einen viel besseren Eindruck auf mich als ihre Herren.

Meine Leser wissen, daß es für mich keinen Zufall gibt. Darum kann ich auch nicht sagen, es sei ein günstiger Zufall für mich gewesen, daß ich gleich bei den ersten Worten dieser Leute erfuhr, wer sie waren. Der eine bezeichnete sich selbst als den Maha-Lama von Dschunubistan. Maha-Lama heißt so viel wie »Großpriester«. Aber damit nicht genug. Er nannte sich sogar »den höchsten aller Priester, die es gibt«. Es ist möglich, daß sich hier und da irgend jemand findet, der dies für unbescheiden hält. Der andere war der »oberste Minister des Scheichs von Dschunubistan«. So hohe Personen waren wohl noch nie von auswärts her nach dem Land der Ussul gekommen. Was wollten sie da? Offiziell war ihre Reise wohl nicht, denn ihr Stand hätte in diesem Fall eine viel größere, prunkende Begleitung verlangt. Sie kamen vielmehr in ganz auffällig heimlicher Weise, wie es scheint. Aber heimlich für wen? Für die Ussul oder für die Tschoban? Jedenfalls für die letzteren. Aber diese Karawane von sechs Reitern, sechs Pferden und sechs Kamelen hatte doch durch das Gebiet der Tschoban gemußt! War es gelungen, es unbemerkt zu passieren? Die Bewohner von Dschunubistan werden Dschunub genannt; ein einzelner ist ein Dschunubi. Sie leben mit den Tschoban in Feindschaft. Wenn der Scheich der Dschunub eine Botschaft zu den Ussul sendet, die sich heimlich durch das Land der Tschoban zu schleichen hat, so muß der Grund wohl ein wichtiger sein. Und wenn er mit dieser Botschaft nur seinen höchsten Geistlichen und seinen höchsten Minister betraut, so hat man sich diese Wichtigkeit als eine ganz außergewöhnliche zu denken. Ich muß gestehen, daß ich gespannt war, etwas hierüber zu erlauschen; aber es hatte nicht den Anschein, als ob die hohen Herren gesonnen seien, sich über diesen Gegenstand zu äußern. Sie verhielten sich auch nach dem Essen noch eine Weile still. Dann sprachen sie sehr einsilbig über gewöhnliche Dinge, die mich gar nicht interessierten. Aber die Diener, die jetzt mit ihrer Arbeit und auch mit dem Essen fertig waren und nun tabakrauchend beieinandersaßen, führten ein Gespräch, welches zwar leise begonnen hatte, aber nach und nach lauter wurde, so daß ich wenigstens einen guten Teil von dem zu hören bekam, was sie sagten. Sie unterhielten sich über den Verlauf ihrer bisherigen Reise. Den eigentlichen Zweck derselben schienen sie nicht zu kennen, aber daß er den Tschoban verschwiegen zu bleiben hatte, das wußten sie. Ebenso wußten sie, daß die Tschoban einen Kriegszug planten, um in das Land der Ussul einzufallen. Die Tschoban hatten aus diesem Grund ihre Krieger in der Mitte ihres Landes zusammengezogen und die Seiten von ihnen entblößt. Darum war es den Dschunub gelungen, ihre heimliche Reise durch den westlichen Teil längs der Meeresküste auszuführen, ohne auch nur ein einziges Mal bemerkt zu werden. Dieses gute Gelingen war besonders auch dem Umstand zuzuschreiben gewesen, daß sie sich, wie bereits erwähnt, sehr reichlich mit gefüllten Wasserschläuchen versehen hatten und also nicht gezwungen gewesen waren, im Land nach Wasser herumzusuchen und sich dabei erwischen zu lassen. Vorgestern hatten sie den Engpaß von Chatar erreicht und dort übernachtet. Gestern früh waren sie von dort aufgebrochen und dem Fluß bis hierher gefolgt, um nach einem zweiten und dem heutigen dritten Nachtlager morgen früh nach Ussula weiterzureiten.

Als das Gespräch der Dienerschaft bis hierher gelangt war, fühlten sich nun endlich auch die beiden Herren angeregt, ein Wort dazu zu sagen, aber nur unter sich, ohne daß die Untergebenen es hörten. Ich aber lag nahe genug bei ihnen, um die halblaut gesprochenen Sätze zu vernehmen, die sie miteinander wechselten. Der Minister begann zuerst. Er sagte:

»Nur weiter solches Glück, wie bisher! Die Tschoban sahen uns nicht. Ob wohl die Ussul uns zu sehen bekommen?«

»Körperlich jedenfalls, denn das wollen wir ja, doch geistig aber nicht!« antwortete der Maha-Lama.

»Du meinst, sie dürfen uns sehen, aber nicht durchschauen?«

»Ja, das meine ich.«

»Nichts leichter als das! Der Scheich ist ein Dummkopf. Seine Frau ist klüger, aber arglos. Sie glaubt alles. Sie wird auch glauben, daß wir nur das Glück ihres Volkes wollen. Wie aber steht es mit der Priesterin? Sie soll großen Einfluß haben.«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete der Lama in geringschätzigem Ton. »Wie kann ein Weib als Priesterin von Einfluß sein!«

»Dann aber wohl ihr Mann, der Zauberer, der Sahahr?«

»Auch dieser nicht. Er ist ja nur der Abglanz oder vielmehr der Schatten seines Weibes! Und was für eine Religion ist das! Ein Gott, der geistig verborgen bleibt! Der nie sich zeigt, niemals geboren wird, wie ich geboren bin und immer von neuem geboren werde! Wer mich sieht, der sieht Gott. Wer mit mir spricht, der spricht mit Gott! Also, wer mich hat, der hat Gott! Wen aber haben die Ussul? Ein Nichts, eine Null, einen Dunst, ein Schemen, das sie als Gott bezeichnen. Der Sahahr ist der einzige Mann dieses unwissenden Volkes, von dem zu glauben ist, daß man mit ihm sprechen kann. Was aber ist er gegen mich, der ich als wahrer, wirklicher Gott und Herr der Welt in menschlicher Gestalt erschienen bin! Wenn er den Mund zu öffnen wagt, schmettere ich ihn mit zwei, drei Worten derart nieder, daß er ihn für immer schließt und niemals wieder öffnet! Ich bin vom Himmel herniedergestiegen, um so lange immer wieder von neuem geboren zu werden, bis ich die Menschheit von den Leiden des irdischen Kreislaufes befreit habe. Dies geschieht, indem alles, was auf Erden lebt, in das Nirwana sinkt. Ist dies geschehen, so ist mein irdisches Werk vollbracht, und ich steige zu andern Sternen auf, um es dort fortzusetzen. In dieser meiner Erlösungstat bin ich jetzt bis Dschunubistan gelangt und beabsichtige nun, die Gebiete der Tschoban und der Ussul hinzuzufügen. Unser Scheich hat mich begriffen. Er vereint seine weltliche Macht mit meiner geistigen und geistlichen. Indem er das tut, wird er alles Land, welches südlich von uns liegt, erobern. Wir schließen einen Bund mit den Ussul. Wir sagen ihnen, daß wir ihnen die Tschoban zugetrieben bringen. Indem wir die Tschoban zwischen uns und den Ussul zerquetschen, zermalmen und vernichten, ziehen wir in das Land der Ussul ein, darauf Bedacht nehmend, daß auch sie durch die Tschoban aufgerieben werden. Dieser Einzug wird eine Besitzergreifung sein, denn wir werden das Land der Ussul nie wieder verlassen ...«

»Vorausgesetzt, daß es uns gelingt, jetzt Glauben dort zu finden!« fiel der Minister ihm hier in die Rede.

Da warf der Maha-Lama einen Blick so unendlichen Erstaunens und so unendlicher Entrüstung auf ihn, als ob er ihn damit vernichten wolle, beobachtete ein minutenlanges, empörtes Schweigen und antwortete dann mit ganz besonderer Betonung:

»Als ob es überhaupt einen Menschen geben könnte, der mir keinen Glauben schenkt, sobald ich persönlich mit ihm spreche! Ich bin der Maha-Lama von Dschunubistan, der höchste aller Priester, die es gibt! Das merke dir! Wie der Glanz unserer äußeren Personen die Ussul augenblicklich für uns gewinnen wird, so werden sie sich auch innerlich sofort beugen, sobald ich nur erscheine und meine Stimme erschallen lasse. Bedenke die Ehre, die ungeheure Ehre, die ihnen widerfährt, indem wir zu ihnen kommen und sie mit unserer Gegenwart beglücken!«

»Kämen wir mit großem, glänzendem Gefolge, würde es mehr Eindruck machen!«

»Sehr richtig! Man stehe innerlich noch so hoch, so darf man doch das Äußere nicht versäumen. Selbst Gott, der Geist, braucht die Körperwelt, um angebetet zu werden. Aber wir mußten für dieses Mal verzichten. Die Tschoban durften nichts erfahren. Es war die strengste Heimlichkeit geboten. Aber auch das hat Vorteile, die von hohem Wert sind, wenn wir sie nur zu benutzen wissen. Was uns an Prunk und Pomp verlorengeht, gewinnen wir an Vertraulichkeit und Wohlwollen zehnfach wieder. Diese niedrigstehende Menschheit mag an Liebe glauben, an Humanität, Barmherzigkeit und Frieden auf der Erde. Sie ist nicht reif. Sie würde sich entsetzen, wenn sie die Wahrheit hörte. Die Liebe ist die größte Lüge, die es gibt; nur der Haß allein ist wahr. Jedes lebende Wesen trachtet nach sich selbst, ist Egoist. Auch Gott! Je größer ein Wesen ist, desto gewaltiger ist seine Selbstsucht. Gott ist der Größte, der Höchste; darum ist sein Egoismus ohnegleichen. Es ist ein Wahnsinn, ihn als ›Vater‹ zu beschreiben. Er ist nur der Verderber, weiter nichts. Er gibt nicht das Leben, sondern nur den Tod, nicht den Frieden, sondern nur den Kampf, den Streit, die Vernichtung. Als er das All schuf, vernichtete er sich selbst. Der Geist verwandelte sich in Stoff; der Schöpfer wurde Geschöpf. Um sich als Gott wiederherzustellen, muß er den Stoff in Geist zurückverwandeln, muß er die Schöpfung wieder vernichten, Schritt um Schritt, in umgekehrter Reihenfolge, wie sie entstanden ist. Das ist nicht Liebe und Leben, sondern Haß und Tod, Zerstörung, ewiger, endloser Weltenmord! Je höher Gott wächst, um so kleiner wird das Geschöpf. In dem Augenblick, an dem der letzte Rest des Alls verschwindet, wird Gott am größten sein. Darum klug und selig der Mensch, der nicht nach Erdenglück und Menschenwohl, sondern nach Gottes Größe trachtet! Er wird immer unwägbarer, immer kleiner und kleiner werden, bis seine Existenz vollständig zu Ende ist und er ganz in Gott verschwindet. Dieses Aufhören alles eigenen Seins, dieses völlige, restlose Aufgehen in Gott, so daß es nicht mehr die geringste Spur von Erinnerung gibt, ist unsere Seligkeit, ist unser einziges und höchstes Ziel, ist – Nirwana!«

Er hatte, während er sprach, seinen Sitz verändert, war mehr nach der Seite gerückt. Darum sah ich jetzt sein Gesicht, zwar nur im Halbprofil, aber wenn er es dem Minister zuwendete, hatte ich es beinahe en face vor mir. Es war ein schönes, beinahe ehrwürdiges, geistreiches Männergesicht mit silberglänzendem Vollbart; aber es hatte einen Fehler, der ihm alle seine Schönheit und Würde wieder benahm; er schielte nämlich, und zwar so stark, daß es jedermann gleich beim ersten Blick auffallen mußte, sogar solchen Leuten, die nicht gewohnt sind, auf die Fehler ihrer Mitmenschen aufzupassen. Ließ schon dieses sein Äußeres erraten, daß er kein gewöhnlicher Mensch sei, so zeigten auch seine Worte, daß er ebenso auf intellektuellem Gebiet auf Wegen wandelte, die der Fuß alltäglich denkender Menschen nicht betritt. Er schien sich sogar über die Grenzen, welche den Gedanken der Sterblichen gezogen sind, hinausgewagt zu haben. Ich bin überzeugt, daß gar mancher andere an meiner Stelle das, was ich gehört hatte, für puren Wahnsinn erklären würde; ich aber war geneigt, es einstweilen als die allerdings höchst seltsame Übertreibung einer an sich ganz gesunden Idee zu betrachten, der man im geistigen Leben der Völker auf Schritt und Tritt zu begegnen pflegt, ohne sie sonderlich zu beachten. Während diese Idee dem gebildeten Europäer nur als nebensächlich erscheint, lieferte sie dem Maha-Lama das Milieu, in dem er aufgewachsen und unterrichtet worden war. Aus ihr bestand seine ganze Atmosphäre. Er atmete in ihr. Sie verursachte die religiöse Überspanntheit, an der er litt. Darum fiel es mir nicht ein, mich über das, was er gesagt hatte, zu wundern oder gar darüber zu lächeln. Ich sah ihn in diesem Augenblick nicht als Oberhaupt einer zahlreichen Glaubenssekte vor mir, sondern als einen mächtigen, hochinteressanten Gegner meiner Freunde, der gekommen war, sie zu überlisten und um ihre Selbständigkeit zu betrügen. Grad jetzt, in diesem Augenblick, wo sie einem raffinierten Feind so viele und so gefährliche Angriffspunkte boten! Ich konnte über das, was ich zu tun hatte, nicht im Zweifel sein. Ich hatte erreicht, was ich erreichen wollte. Ich wußte, wen ich vor mir hatte. Ich kannte sogar die Absichten, welche diese beiden Männer verfolgten. Nun fragte es sich, ob ich mich wieder zurückziehen oder ob ich bleiben sollte, um vielleicht noch mehr zu erfahren. Da wendete sich der Lama den Dienern zu und sagte in befehlendem Ton: »Die Zeit des Nachtgebetes ist gekommen!«

Einer von ihnen stand auf und holte einen Gong, der bei den Gepäckstücken lag. Dann beiseite tretend, verbeugte er sich nach den vier Himmelsgegenden und ließ bei jeder dieser Verbeugungen das Metallbecken dreimal erklingen. Dann kniete er nieder und betete. Auch die andern falteten die Hände und murmelten die vorgeschriebenen Worte. Nur der Maha-Lama betete nicht. Er war ja Gott selbst. Zu sich selbst zu beten, hält er für unsinnig; aber sich für Gott selbst zu halten, das dünkte ihm kein Wahnsinn! Es waren nur wenige Augenblicke, aber sie ergriffen mich doch sehr tief. Vor mir hatte ich das langsam sich bewegende Wasser des Flusses, der mit phosphoreszierendem Schein aus dem Dunkel des Urwaldes trat und dann quer durch den farbigen Glanz des brennenden Feuers flutete: die phantastisch beleuchteten Gestalten der Pferde und Kamele; die fünf am Boden knienden Beter; den einzigen sechsten, der nicht betete, sondern hoch und stolz erhobenen Angesichtes hinauf zu den Sternen sah, als ob er die emporsteigenden Gebete da oben in Empfang zu nehmen habe. Die zwölf Schläge des Gongs hatten jenseits des Flusses an der dichten Wand des Urforstes ein zwölffaches Echo erweckt, welches abwärts bis an die Krümmung des Wassers schallte und von dort wieder zurückgeworfen wurde. Das gab in die bisherige Stille hinein ein plötzliches, schmetterndes Rasseln, Donnern und Dröhnen, als ob alle die Kämpfe, die man in das friedliche Land des Ussul schleppen wollte, schon ausgebrochen seien. Ich sah unwillkürlich hinter mich. Es überkam mich ein Art von Angst. Nicht, daß ich mich etwa um mich selbst sorgte; o nein! Aber es ergriff mich eine Art von Grauen um den vor mir sitzenden, immer wieder von neuem geborenen Gott, in dessen Gefolge dieses Getöse entstand, ohne daß er davon berührt zu werden schien. Es gehört zur Eigenart solcher überspannter Wesen, daß sie bei allem Unheil, welches sie anzurichten pflegen, so ruhig bleiben, als ob sie völlig unschuldig daran seien. So saß auch der Maha-Lama da. Sein Bart glänzte; sein Angesicht leuchtete im Schein der flackernden Flammen. Er schien tief in seine persönliche Gottheit versunken und ganz entzückt zu sein. Da war nicht daran zu denken, noch etwas Weiteres zu erfahren. Ich gab meinen Lauscherposten auf und zog mich so leise und so vorsichtig zurück, wie ich gekommen war.

Mittlerweile war es nicht nur unter den Bäumen, sondern auch draußen am freien Fluß Nacht geworden. Ich hatte also nicht nötig, mich, um nicht gesehen zu werden, im tiefen Schutz des Waldes zu halten, wie es beim Herbeischleichen notwendig gewesen war. Ich blieb nur so lange unter den Bäumen, bis ich den Schein des Feuers hinter mir hatte; dann aber trat ich heraus auf den baumlosen Uferstreifen und konnte nun den Rückweg verfolgen, ohne auf Schritt und Tritt gegen die Bäume zu stoßen.

Als ich bei Halef ankam, fand ich ihn genau so, wie ich ihn verlassen hatte. Ich setzte mich an seine Seite und erstattete ihm Bericht. Früher hätte er in seiner bekannten Lebhaftigkeit meine Erzählung gewiß zehn- und zwanzigmal unterbrochen. Aber er hörte mich ruhig an. Als ich geendet hatte, ließ er ein kurzes, vergnügtes Lachen hören und sagte:

»Also Gott ist da! Allah, der allmächtige und allweise Herr und Schöpfer des Himmels und der Erde! Und den nehmen wir gefangen! Dem fesseln wir die Hände und die Füße! Den binden wir auf sein Pferd, damit es ihm nicht einfallen kann, uns auszureißen! Welcher Mensch hat wohl schon so etwas fertiggebracht!«

»Du wohl nicht!« antwortete ich.

»Nein, noch nicht! Allah war noch nicht so dumm, mir in die Hände zu laufen. Jetzt aber kommt er doch! Er sitzt schon da! Bei seinen Kamelen und Pferden! Und ich gehe hin, um ihm zu zeigen, daß Hadschi Halef Omar, der Scheich der Haddedihn, sogar den Schöpfer und Regierer aller Welt beim Kragen nimmt!«

»Das wirst du bleibenlassen!«

»Bleibenlassen? Ich? Fällt mir gar nicht ein! Ich bin ein Freund der Ussul! Ich habe sie zu behüten und zu bewahren! Und das werde ich tun, denn es ist meine Pflicht! Ich würde sie gegen den Teufel verteidigen, wenn er käme, um sie zu bekämpfen! Und ich werde mich ihrer auch gegen den falschen Allah annehmen, der da am Fluß herabgeritten kommt, um sie zu überlisten! Ich halte ihn fest und zwinge ihn, auf die Fortsetzung seiner Reise zu verzichten!«

Er sagte das in sehr energischem Ton; ich aber wiederholte meine Worte:

»Das wirst du bleibenlassen!« und fügte dann hinzu: »Du kommst ja gar nicht dorthin, wo er jetzt lagert. Du bekommst ihn gar nicht zu sehen, wirst gar nicht mit ihm sprechen.«

»Nicht sehen? Nicht sprechen?« fragte er erstaunt. »Aber wir müssen doch unbedingt hin, um ihn gefangenzunehmen!«

»Nein, das müssen wir nicht, und das werden wir nicht. Unsere Aufgabe ist, so schnell wie möglich nach dem Engpaß Chatar zu reiten, um dort die Einleitung für spätere Ereignisse zu treffen. Meinst du, daß wir uns da mit Gefangenen herumschleppen könnten?«

»Hm!« brummte er. »Freilich! Sie zählen sechs Personen; wir aber sind nur zwei! Aber laufen lassen können wir die doch auch nicht!«

»Warum nicht?«

»Weil, weil – hm, ja! Wenn man wüßte, daß sie dem Dschirbani in die Hände fallen und daß der sie genau so behandelt, wie wir sie behandeln würden.«

»Ich bin überzeugt, daß er das tut.«

»Ich nicht.«

»So können wir es auch nicht ändern. Er ist sein eigner Herr und tut, was ihm beliebt.«

»So will ich hoffen, daß er diesen Maha-Lama von Dschunubistan auch wirklich erwischt und mit nach dem Engpaß bringt, wo wir ihn zwischen die Fäuste nehmen werden, um ihm zu zeigen, daß wir ihn sofort in sein Nirwana sperren, wenn er uns nicht gehorcht. Aber sehen werde ich ihn doch, denn wir müssen ja morgen früh aneinander vorüber.«

»Nein. Wir tun das schon heut.«

»In dieser Dunkelheit?«

»Ja. Und zwar nicht am Fluß hin, sondern in einem Bogen durch den Wald, um sie herum.«

»Das ist in hohem Grade unbequem. Wir rennen an die Bäume!«

»Ja, das würde allerdings geschehen, wenn wir diesen Umweg zu Fuß machen und unsern Pferden vorangehen wollten. Aber wir reiten. Du weißt, daß die Pferde des Nachts besser sehen als wir. Der Wald hat nur am Rand Unterholz. In der Tiefe sind die Zwischenräume frei. Es wird also besser gehen, als du denkst. Übrigens gibt es hier viel langes, dünnes Stangenholz am Wasser. Wenn wir uns jeder eine solche Stange herausschneiden und sie so, wie die Schnecken ihre Fühler, voraushalten, bewahren wir uns vor den Zusammenstößen, die du fürchtest.«

»Sehr richtig, Effendi! Der Emir Kara Ben Nemsi und der Scheich der Haddedihn sind zwei Schnecken, jede mit einem hölzernen Fühlhorn vorn am Pferdekopf! Sihdi, das wird gemacht, und zwar gleich! Je länger wir hierbleiben, desto mehr drücken wir das Gras nieder, und das muß doch morgen früh wieder aufgestanden sein, damit die Leute aus Dschunubistan, wenn sie hier vorüberkommen, nicht sehen, daß jemand hier gewesen ist. Ich werde die Fühlhörner schneiden, ich selbst, weil ich es als meine Aufgabe betrachte, dir die kluge Vorsicht und die zarte Empfindlichkeit der hiesigen großen, schwarzen Waldschnecken beizubringen. Du siehst, wie entzückt ich darüber bin, daß du, wie überall so auch hier, dich bemühst, nur edlen Vorbildern nachzustreben.«

Er wählte zwei lange Schößlinge aus, schnitt sie ab und gab mir einen davon. Dann stiegen wir auf die Pferde und begannen, um die Stelle, an der sich die Fremden befanden, langsam einen Halbkreis zu reiten, dessen Halbmesser so groß war, daß wir von ihnen nicht gehört werden konnten. Für unsere Pferde ebensowohl wie auch für unserer Hunde genügte das einfache Wort »uskut« – schweig! –, sie zu veranlassen, jeden Laut und jedes Geräusch zu vermeiden. Indem wir die Stangen wie Lanzen vor uns hielten, war es uns nicht schwer, jedem Baumstamm, der uns im Weg stand, auszuweichen. Übrigens waren die Augen unserer Pferde so gut, daß wir auf diese »Fühlhörner« füglich hätten verzichten können. Trotzdem dauerte es eine ziemlich lange Zeit, bis wir den Bogen geschlagen hatten und weit oberhalb der Dschunub das Ufer des Flusses wieder erreichten. Wir stiegen da noch nicht ab, sondern wir ritten noch einige Kilometer weiter, um ganz sicher zu sein, auf keinen Fall bemerkt werden zu können. Dann machten wir halt und lagerten zur Ruhe für die Nacht, ohne ein Feuer anzuzünden.

Ich habe nicht die Topographie des Landes, durch welches wir ritten, zu behandeln, sondern meine Leser wünschen, daß ich ihnen so viel wie möglich Ereignisse bringe, für die sie sich interessieren. Da wir von jetzt an unterwegs nichts erlebten, überschlage ich die Zeit, bis wir unser Ziel erreichten, und beginne da von neuem, wo das allmähliche Versiegen des Wassers uns darauf aufmerksam machte, daß wir uns der Landesgrenze näherten. Der Fluß wurde immer seichter und seichter. Seine Breite blieb, denn die war von alters her, als er noch aus dem hochgelegenen Norden kam, fest in das Land gegraben, aber der Inhalt schwand und verlor sich in dem porösen, schwammig weichen Boden. Der Grund trat zutage, erst stellenweise, so daß sich Inseln bildeten, die nach und nach immer größer und immer häufiger wurden. Dann gab es längere, zusammenhängende Bänke, die durch schmale Wasserstreifen, später nur durch Pfützen voneinander getrennt wurden. Und endlich verliefen diese Streifen und Pfützen in ganz vereinzelte Tümpel, deren Wasser immer schlechter schmeckte und zuletzt gar nicht mehr zu genießen war. Da machte Halef ein sehr bedenkliches Gesicht und sagte:

»Sihdi, du hast einen großen Fehler begangen!«

»Welchen?« fragte ich.

»Du hättest da, wo das Wasser noch schmeckte, anhalten sollen, um unsere Schläuche zu füllen.«

»Wer? Ich?«

»Ja, du!«

»Du nicht auch?«

»Nein, ich nicht! Was gehen denn gerade mich die Fehler an, die gemacht werden? Ich bin doch nicht verpflichtet, mir welche auszusinnen. Das überlasse ich dir.«

»Schön!« lachte ich. »So denke wenigstens darüber nach, in welcher Weise es möglich ist, diesen Fehler wiedergutzumachen!«

»Ja, Sihdi, das werde ich. Und ich bin überzeugt, daß es gar nicht lange dauern wird, so habe ich es gefunden.«

Von jetzt an zeigte sein Gesicht einen sehr tiefsinnigen Ausdruck, ich sollte hieraus ersehen, wie angestrengt er nachdachte. Zuweilen tat er einen tiefen Atemzug, oder es erklang ein schwerer Seufzer. Die Trinkwasserversorgung hat schon manchen Oberbürgermeister von London, Paris, Peking, Berlin und ähnlichen Orten viel Kopfschmerzen bereitet. Mein guter Hadschi Halef war jetzt von ähnlichen Sorgen erfüllt. Seine Brauen zogen sich immer mehr zusammen; seine Mundwinkel hingen abwärts, und seine Augen bekamen eine sehr finstern, verhängnisvollen Blick. Endlich, nach fast einer Stunde, stieß er einen Jubelruf aus, schnalzte mit der Zunge und rief mir zu:

»Hamdulillah! Ich hab's! Komm, Sihdi, komm!«

Er drehte sein Pferd herum und machte Miene, dahinzureiten, woher wir soeben kamen.

»Wohin?« fragte ich.

»Zurück! Selbstverständlich zurück! Das ist das einzige, das unbedingt richtige!«

»Beweise es!«

»Beweise? Wozu? Das sagt doch schon der gesunde Menschenverstand!«

»Was?«

»Daß wir umkehren und zurückreiten müssen bis dahin, wo das Wasser noch trinkbar war. Dort füllen wir unsere Schläuche!«

»Hm! Dieser Gedanke kommt dir erst jetzt?«

»Ja, erst jetzt! Und ich bin ganz glücklich darüber, daß er mir überhaupt gekommen ist. Du nicht auch? Ohne ihn würden wir für heut kein Wasser haben.«

»Also dauert es bei dir eine volle Stunde, ehe dir das kommt, was du den gesunden Menschenverstand bezeichnest! Was hattest du denn vorher für eine Art von Verstand?«

»Deinen jedenfalls nicht, Effendi! Denn der wäre wohl nicht auf den einzig richtigen Gedanken gekommen, wieder umzukehren!«

»Allerdings nicht!«

»So komm, und folge mir zurück! Ich führe dich dorthin, wo wir heut früh getrunken haben. Dort war das Wasser noch gut.«

»Also über sechs Stunden weit rückwärts, denn jetzt ist es Mittagszeit! Ich danke!«

»Du willst nicht mit?«

»Nein.«

»So reite ich allein!«

»Tue es! Leb wohl, Halef! Laß deinen gesunden Menschenverstand ja nicht in das Trinkwasser fallen. Du wirst ihn nötig haben, um mich im Laufe dieses Jahres wieder einzuholen!«

Ich ritt weiter; er aber blieb halten. Er schickte mir verschiedene Rufe und Ermahnungen nach. Ich antwortete nicht; ich sah mich gar nicht einmal um. Nach einiger Zeit wurde es hinter mir still. Dann hörte ich die Sprünge und lauten Atemzüge seiner Hunde, die bei ihm geblieben waren, mir aber jetzt nachkamen. Und als hierauf wieder eine Weile vergangen war, ertönte hinter meinem Rücken der scharfe Trab seines Pferdes. Er holte mich ein, kam an meine Seite und klagte in seinem vorwurfsvollsten Ton:

»Sihdi, es ist nicht auszuhalten mir dir! Willst du es denn mit Gewalt herbeiführen, daß wir verschmachten und verdursten?«

»Willst du ewig im Sumpf und Moor der Ussul bleiben?« antwortete ich.

»Wie kommst du zu dieser Frage? Ich begreife sie nicht!«

»So sag, wo wollen wir hin?«

»Zunächst nach dem Engpaß Chatar und dann in das Land der Tschoban.«

»Kennst du dort Wasserquellen?«

»Nein!«

»Willst du alle Tage zurückreiten, um hier Wasser zu holen?«

»Gewiß nicht! Da kämen wir ja gar keinen Schritt vorwärts!«

»Aber Wasser brauchen wir dort doch auch!«

»Wir werden schon welches finden!«

»Wo?«

»Das weiß ich freilich nicht. Ich verlasse mich da ganz auf dich.«

»Ah, so! Also ganz auf mich! Warum denn nicht auf deinen gesunden Menschenverstand?«

»Allah w' Allah. Das ist Hohn! Das ist Spott! Das ist nicht schön von dir!«

»Wenn nicht schön, so aber doch jedenfalls sehr richtig. Wer in seinem Leben so glücklich ist, das Land des Sumpfes hinter sich zu haben, der soll lieber verschmachten, als sich vom ordinären Durst verleiten lassen, in den Sumpf zurückzukehren! Wasser gibt es überall, sogar auch in der ödesten, trockensten Wüste; man muß es nur zu finden wissen. Und daß es im Sand der Wüste reiner und bekömmlicher ist als im Moderboden des Schwemmlandes, das weißt du, der du aus der Wüste stammst, doch ebensogut wie ich.«

»Ja freilich!« nickte er. »Aber was du sagst, das klingt, als ob du auf solches reines, lauteres Sandwasser rechnest?«

»Das tue ich allerdings. Der Fluß kann doch unmöglich aus dem Gebiet der Tschoban gekommen sein, ohne den dortigen Sand mit herüberzuschwemmen. Je mehr wir uns dem Engpaß nähern, desto größer wird für uns die Wahrscheinlichkeit, auf sandige Stellen zu stoßen ...«

»Aber nicht auf Wasser«, unterbrach er mich.

»O doch! Nach den dir allerdings vollständig unbekannten Gesetzen der Fenni mizani mejah – der Hydrostatik – und nach den Regeln der ...«

»Schweig!« fiel er mir in die Rede, indem er sich für einige Augenblicke mit den Händen beide Ohren zuhielt. »Ich mag von dieser deiner Fenni mizani mejah ebensowenig wissen wie von allen deinen anderen Wissenschaften! Es kommt dabei doch weiter nichts heraus, als daß man aus dem Unterbewußtsein in das Oberbewußtsein klettert und aus diesem schmählich wieder herunterstürzt! Ich habe das erlebt! Nein, wenn ich Durst habe, will ich keine Fenni mizani mejah, sondern Wasser trinken, und ich bitte dich also ...«

Er hielt mitten in der Rede inne. Er sah etwas, was ihn verstummen ließ. Das war eine helle Stelle im alten, dunkeln Moorboden des Flußlaufes. Ich sagte nichts, sondern lächelte nur. Als er mich wieder anblickte, und dieses Lächeln bemerkte, senkte er den Blick und gestand mir in seiner lieben, aufrichtigsten Weise unumwunden zu:

»Sihdi, ich bin ein Ochse, ein Esel, ein Schaf, kurz und gut, ein jämmerlicher Kerl, bei dem der gesunde Menschenverstand eine ganz, volle Stunde braucht, um sich auf sich selbst zu besinnen. Und selbst dann, wenn er das getan hat, kommt nichts Gutes heraus, sondern immer nur etwas Dummes! Nicht wahr, diese lichte Stelle da drüben ist Sand?«

»Ich vermute es. Laß uns nachsehen! Wir nähern uns dem Engpaß. Ich hoffe, daß wir ihn schon lange vor Abend erreichen.«

Wir stiegen von den Pferden und gingen nach der betreffenden Stelle. Ja, sie bestand aus Sand, der nur wenige Zentimeter tief trocken war, dann aber feucht zu werden begann. Diese Feuchtigkeit wuchs mit der Tiefe. Halef pflegte jeden Fehler oder Irrtum, den er eingesehen hatte, mit wahrer Begeisterung wiedergutzumachen; so auch hier. Er eilte zu den Pferden zurück und schnallte seine beiden metallenen, arabischen Steigbügelschuhe aus den Riemen. Ihrer Gestalt nach waren sie zu Handscharren vortrefflich geeignet. Er nahm einen und ich einen. Wir gruben in kürzester Zeit ein Loch, in welchem sich ein klares, wohlschmeckendes Wasser sammelte. Es war durch den Sand filtriert. Wir tranken uns beide satt. Auch die Hunde bekamen genug. Wir erweiterten die Grube und tränkten auch die Pferde. Dann sickerte das Wasser so rasch nach, daß wir es abklären lassen und die Schläuche füllen konnten. Als wir damit fertig waren, hatten wir zu alledem nicht viel über eine halbe Stunde gebraucht. Nun stiegen wir wieder auf und ritten weiter. Halef fühlte sich beschämt. Er sagte:

»Wie rasch und bequem das gegangen ist! Ich aber hätte über zwölf Stunden gebraucht, um Wasser zu finden und dich wieder einzuholen!«

»Falls ich gewartet hätte, ja! Ich aber wäre weitergeritten, und so hättest du mich in zwölf Stunden nicht erreicht. Zudem mußt du bedenken, daß wir jetzt gutes, gereinigtes Sandwasser haben, während du nur gewöhnliches Moorwasser hättest bringen können.«

»Meinst du, daß wir auch jenseits des Engpasses immer Wasser haben werden?«

»Ich hoffe es.«

»Aber die dortige Wüste ist berüchtigt. Sie soll die trockenste sein, die es gibt.«

»Das glaube ich nicht. Ich bin überzeugt, daß sie besser ist als ihr Ruf. Sie ist im Norden von Bergen umkränzt, hinter und über denen sich die Gebirgsmassen von Dschinnistan erheben. Das ergibt einen Wasserdruck, der jedenfalls auch bis in das Land der Tschoban reicht. Übrigens habe ich auf der Landkarte, welche der Dschirbani mir gegeben hat, Ortszeichen gefunden, welche jedenfalls Wasserstellen bedeuten. Sie stammen von seinem Vater, der die Wüste oft durchquerte und sie darum sehr gut kannte. Man sagt, er habe das Gelingen dieser seiner Reisen nur dem Spürsinn seiner Hunde zu verdanken. Ich will das nicht in Abrede stellen, füge aber hinzu, daß seine eigene Kenntnis der Wasserstellen noch wichtiger gewesen ist als die Nasen seiner vierfüßigen Begleiter. Ich glaube nicht, daß du ahnst, wie groß diese Wichtigkeit auch für uns werden kann.«

»Für uns? Wieso?«

»Wir wollen doch die Tschoban besiegen. Nicht?«

»Ja. Aber wir wollen nicht nur das, sondern wir wollen sie unterwerfen, wollen von ihrem Land Besitz ergreifen.«

»Ganz recht! Was gehört aber zu einem solchen Sieg?«

»Tapferkeit.«

»Weiter nichts?«

»Freilich noch viel mehr. Mut, List, Klugheit, Übung, Ausdauer, Geschicklichkeit und noch vieles andere. Sihdi, du lächelst! Du machst dich lustig über mich. Gestehe es!«

»Ein wenig allerdings. Deine Aufzählung paßt ebensogut auf jede Prügelei unter zweien. Wie wir seit gestern abend wissen, wird es nicht nur einen Kampf zwischen den Ussul und Tschoban geben, sondern auch die Dschunub werden sich beteiligen. Den Sieger kenne ich schon heut.«

»Der sind natürlich wir!«

»Oho! Der wirkliche Sieger heißt ganz anders als wir!«

»Kenne ich ihn?«

»Ja.«

»Wie heißt er?«

»Wasserschlauch.«

»Was ...!«

Das Wort blieb ihm im Munde stecken. Er sah mir ganz verständnislos in das Gesicht. Dann aber schien ihm die Einsicht zu kommen. Er schloß den Mund, der ihm offengeblieben war, nickte mir zu, machte ein pfiffiges Gesicht und fuhr fort:

»...serschlauch! Ganz richtig! Der Wasserschlauch! Wer genug Wasser hat, der hält es am längsten aus. Wer aber keines hat, der muß verschmachten, und sei er noch so stark oder noch so klug. Daher also die Tausende von Wasserschläuchen, die du bestellt hast! Du, Sihdi, ich glaube, der Hinweis auf diese Schläuche war Eingebung. Nicht?«

»Vielleicht hast du nicht ganz unrecht, wenn du es so nennst.«

»Aber woher das viele Wasser nehmen für eine solche Menge von Gefäßen?«

»Du meinst für eine solche Menge von Tieren und Menschen. Denn diese sind doch die Hauptsache, die Gefäße aber Nebensache.«

»Mir wird angst, wenn ich daran denke!«

»Mir nicht.«

»Aber grad von dir wird man es fordern! Auf dich wird die Verantwortung fallen! Wirst du sie tragen können?«

»Wahrscheinlich. Ich habe da drei Verbündete, die mich nicht im Stich lassen werden.«

»Höre, Sihdi, was machst du für ein Gesicht, indem du das sagst! Diese deine Miene kenne ich! Wenn du die vorsteckst, so hast du immer einen guten, pfiffigen Gedanken! Bin etwa ich einer von diesen deinen drei Verbündeten?«

»Nein, mein lieber Halef, du leider nicht. So viel Wasser, wie ich brauche, wirst du mir wohl nicht schaffen können.«

»Ganz sicher nicht! Aber auch du hast doch nicht, wie einst Musa – Moses –, einen Stock, mit dem du nur an den Felsen zu schlagen brauchst, damit Wasser aus ihm springe!«

»Ich habe sogar drei solcher Stöcke!«

»Wo? Wieso? Du meinst das natürlich nur bildlich?«

»Allerdings. Ich meine natürlich unsere drei Verbündeten. Der erste von ihnen ist die Landkarte des Dschirbani, die ich hier in meiner Tasche habe. Ich glaube, daß sie sich außerordentlich gut bewähren wird.«

»Wenn du dich nicht täuschst!«

»Ob ich mich täusche, wird sich noch heut vor Abend zeigen. Täusche ich mich aber nicht, so ist diese Karte von einem Wert, den man gar nicht taxieren kann.«

»Weiß das der Dschirbani?«

»Nein. Es handelt sich um ein geheimnisvolles Zeichen des Dschinnistani auf der Karte. Wenn ich es richtig deute, werden wir wohl nie zu dürsten brauchen.«

»Und der zweite Verbündete?«

»Ist eben mein Zweifel daran, daß die Wüste der Tschoban so ganz und gar wasserlos sei. Wie ich dir bereits andeutete, weisen die Gesetze der Fenni mizani mejah daraufhin, daß ...«

»Allah sei mir gnädig!« fiel er mir da schnell in die Rede. »Laß mich mit dieser deiner Fenni mizani mejah in Ruhe, und sage mir lieber, wer dein dritter Verbündeter ist!«

»Mein dritter sind die Vulkane von Dschinnistan.«

»Die feuerspeienden Berge?«

»Ja.«

»Die jetzt allabendlich in Glanz und Flammen stehen?«

»Dieselben.«

»Deine Verbündeten? Das begreife ich nicht!«

»Du mußt bedenken, daß sie nicht nur allabendlich in Glanz und Flammen stehen, wie du sagst, sondern Tag und Nacht, also immerfort, nur daß man es beim Licht des Tages nicht so sehen kann wie während der Dunkelheit der Nacht. Diese vulkanischen Ausbrüche wiederholten sich, wie Taldscha und die Priesterin erzählten, in Zwischenräumen von ungefähr hundert Jahren, und jetzt besinne ich mich, in der Bibliothek unserer Marah Durimeh gelesen zu haben, daß Ssul, der Fluß, der ausgetrocknet ist, weil er gezwungen war, nach seiner Quelle zurückzufließen, in jedem Jahrhundert einmal den Versuch macht, aus dem Paradies zurückzukehren. Es stand da: ›Dann wird sein Lauf von Sehnsuchtstränen feucht, und Nachtigallen trinken Morgentau, wo sonst sogar der Stein vor Durst verschmachtet!‹ Diese beiden Sagen, nämlich daß die Vulkane alle hundert Jahre leuchten und daß Ssul, der Fluß des Friedens, in jedem Jahrhundert einmal seinen Lauf befeuchtet, scheinen meiner Ansicht nach im Zusammenhang miteinander zu stehen. Das eine scheint die Ursache oder die Folge von dem andern zu sein.«

»Daß die Vulkane speien, wenn der Fluß feucht wird?« fragte Halef ernst.

»O nein«, lachte ich. »Sondern grad umgekehrt. Nämlich, daß der Fluß Wasser bekommt, wenn die Vulkane sich in Tätigkeit befinden. Denke dir die Massen ewigen Eises, welche da oben in den Bergen aufgestapelt liegen. Dieses Eis, welches man mit dem Tode vergleicht, verbirgt eine unendliche Fülle des Lebens; nur muß man das dem kurzsichtigen Menschen erst extra zeigen und sagen. Und denke dir zu diesem Eis eine wochen- oder gar monatelange Periode vulkanischer Ausbrüche, durch welche eine Glut entwickelt wird, der keine Kälte, und sei sie noch so stark, widerstehen kann. Da schmelzen ganz gewaltige Mengen Eises. Sie werden zu Wasser. Sie rauschen, stürzen und fließen zu Tale. Je größer die Hitze ist und je länger sie dauert, um so mehr wird das tiefere Land vom Wasser getränkt und gesättigt. Die Feuchtigkeit füllt nicht nur Bäche und Flüsse, sie wird auch von der durstigen Erde aufgesaugt wie von einem ausgetrockneten Schwamm und geht in seinen Poren heimlich und ungesehen abwärts bis in die Wüste, wo sie gezwungen ist, in den tiefen Rinnen alter, veschmachteter Wasserläufe zutage zu treten und sich zu offenbaren. Ich halte es für ein großes Glück für uns, daß grad jetzt eine solche Periode begonnen hat. Sie wird unsere Verbündete sein. Sie wird uns selbst in der trockensten Wüste der Tschoban das Wasser geben, welches wir brauchen, um unsere Zwecke zu erreichen. Wir haben weiter gar nichts nötig, als daß wir die Gegend, durch die wir ziehen, nach den Gesichtspunkten des Wasf ul arz oder der Ilmi tabakat i arz – der Geologie – auswählen. Wenn wir das tun, so ...

»Sei still, sei still!« fiel er mir in die Rede. »Wir brauchen Wasser, aber keine Wasf ul arz und auch keine Ilmi tabakat i arz. Nimm Rücksicht auf mein Unterbewußtsein, wenn ich oben sitze, und erbarme dich meines Oberbewußtseins, wenn ich unten liege, aber verschone mich mit diesen Wissenschaften, die man weder in Schläuche füllen noch in der Kaffeekanne wärmen kann!«

»Gut, lieber Halef! Ich wollte dir nur andeuten, daß es gar nicht schwer ist, eine Gegend daraufhin zu betrachten, welcher Teil von ihr verborgenes Wasser enthält. Wir werden welches finden; ich bin fest überzeugt davon. Und das wird dann wie die Erfüllung einer Verheißung sein, wie die Offenbarung eines großen, seligmachenden Zusammenhanges. Da oben in Dschinnistan öffnen sich in feuersprühender Nacht die Pforten des Paradieses, und die Flammen leuchten die Engelsfrage in alle Welt hinaus, ob endlich Friede sei auf Erden. In der Glut dieser Flamme schmelzen die Gletscher und Firnen und kommen dem Menschen mit ihrer Hilfe sogar bis in die Wüste entgegen, damit es ihm möglich sei, den Frieden, der ihm von aller Welt verweigert wird, mit dem Säbel zu erzwingen!«

Da zuckte ein Strahl des Glückes über das Gesicht meines guten Hadschi, und er rief aus:

»Effendi, du weißt, daß ich die Feigheit hasse, die Tapferkeit aber liebe und mich vor keinem Feind fürchte. Der Kampf ist mir, wenn er gute Gründe hat und ehrlich vor sich geht, eine Wonne. Aber ich sehe ebenso ein wie du, daß der Friede besser ist als der Krieg. Wir beide, du und ich, haben kriegerischen Ruhm wohl mehr als genug geerntet; es ist uns erlaubt nun nach dem Frieden zu trachten, ohne daß man uns für mutlos hält. Wir können heimziehen aus der Welt, die sich niemals verträgt und darum unaufhörlich schlägt. Wir können uns Wohnungen bauen, in die der Haß und Streit nicht dringen können. Ich kehre heim zu meiner Hanneh, der herrlichsten Blume, die auf Erden duftet, und bringe ihr zehn Kamelladungen von Teppichen, Decken, Schals und Leinwänden mit, um ihr das schönste aller Zelte zu bauen, das man jemals gesehen hat. Und auch du kehrst heim zum harrenden Weib, welches du deine ›Seele‹ nennst. Du bringst ihr – ja, Sihdi, was bringst du ihr denn mit? Ihr wohnt ja nicht in Zelten, die man aus leinenen oder baumwollenen Stoffen macht, sondern in Häusern, die man aus – höre, Sihdi, woraus werden diese Häuser gemacht?«

»Aus Mauer- und Ziegelsteinen, aus Holzbalken und Brettern und so weiter.«

»Womit werden sie gedeckt?«

»Mit Schiefer, Ziegeln, Schindeln, Dachpappe und so weiter.«

»Ist ein Garten drum herum?«

»Bei dem meinigen, ja.«

»Und wie heißt so ein Haus, welches mitten im Garten steht und nur Vergnügen macht?«

»Man pflegt es eine Villa zu nennen.«

»Nun gut, so kannst du dich bei deiner Heimkehr nicht mit Teppichen, Decken, Schals und Leinwänden beladen, welche dir unnütz sind, sondern du nimmst aus Ägypten, Arabien oder Persien folgendes mit nach Hause.«

Er spreizte, indem wir dabei weiterritten, die fünf Finger der linken Hand weit auseinander und zählte an ihnen mit dem Zeigefinger der rechten Hand die einzelnen Posten ab, die er der Reihe nach aufführte:

»Erstens zehn Kamelladungen Mauersteine und Ziegelsteine und so weiter. Zweitens zehn Kamelladungen hölzerne Balken und Bretter und so weiter. Drittens zehn Kamelladungen Dachschiefer und Dachziegeln und so weiter. Viertens zehn Kamelladungen Dachschindeln und Dachpappe und so weiter. Und fünftens zehn Kamelladungen heilige Erde aus Mekka, Medina, Jerusalem und Kairuan, auf welche du dem Weib deines Herzens eine neue Villa baust. Auch in den Garten, der drumherum liegt, kannst du von dieser Erde streuen, weil sie die köstliche Eigenschaft besitzt, alle wilden Tiere und alle bösen Menschen von euch abzuhalten.«

»Gut, ich werde das tun«, nickte ich belustigt. »Was soll ich noch mitnehmen?«

»Weiter nichts, denn ich bin doch schon bei fünftens angelangt und habe keine Finger mehr, um fernere Sachen daran herzuzählen. Begnüge dich also mit dem, was ich dir angegeben habe. Es ist genug. Bedenke, das macht schon fünfmal zehn Kamele, also fünfzig! Wenn du die von Persien, Arabien oder Ägypten bis nach Deutschland führen, in Ordnung halten und ernähren sollst, hast du unterwegs so viel zu tun, daß du fast gar nicht fertig wirst. Ich rate dir also, ja nichts weiter mitzunehmen und dich mit dem zu bescheiden, was du hast! Ein wahrhaft kluger Mann verlangt von Allah nie zu viel!«

»Besonders, wenn es sich um Balken, Bretter und Dachschindeln handelt!«

»Schweig! Zieh die Villa nicht ins Lächerliche! Ich habe sie ernst gemeint! Du hast überhaupt die Eigenheit, über mich zu lachen, wenn ich ernstlich rede, und mich nur dann ernst zu nehmen, wenn ich scherze. Das muß ich mir verbitten und – schau, Sihdi, hier hat ein Feuer gebrannt.«

Er hielt an, ich auch. Wir befanden uns noch immer an dem Flußbett aufwärts, welches aber nun ohne Wasser war. Auch heut hatten wir zu unserer Rechten den Wald, doch war er nicht so dicht wie gestern, weil hier die Feuchtigkeit fehlte. Unten im Flußbett gab es hier eine Wasserlache mit sehr trübem Inhalt, aus welcher, wie wir aus den Spuren ersahen, die Pferde und Kamele getränkt worden waren. Die Reiter hatten am Waldesrand gelagert und gegessen. Das waren natürlich die Dschunub gewesen. Wir stiegen gar nicht von den Pferden. Der Umstand, daß diese Leute hier kurzen Halt gemacht haben, war mir von keiner Wichtigkeit. Ich überflog den Platz nur oberflächlich mit den Augen und ritt dann weiter. Halef blieb noch kurze Zeit halten und kam mir dann nach. Aber er war unruhig. Er drehte sich wiederholt um und schaute zurück.

»Was hast du?« fragte ich ihn.

»Eigentlich nichts, gar nichts«, antwortete er. »Aber es ist mir so sonderbar.«

»Wie?«

»Wie eine Ahnung.«

»Was für eine Ahnung?«

»Daß wir noch dort hätten bleiben sollen.«

»Etwa wie ein böses Gewissen? Wie eine Angst, als ob wir etwas Gutes unterlassen hätten?«

»Ja, eine Angst! So, genau so ist es.«

»Das kenne ich! Wir kehren zurück und werden den Platz genau untersuchen. Ich bin überzeugt, daß wir etwas finden werden, was nichts Gleichgültiges ist.«

Wir lenkten also wieder um. An dem Platz angekommen, stiegen wir ab und untersuchten ihn, fanden aber nichts. Wir wiederholten das Nachforschen, doch ebenso vergeblich. Die Spuren stammten zwar von gestern, waren aber noch ziemlich deutlich zu sehen, weil die Dschunub keine Veranlassung gekannt hatten, vorsichtiger zu sein. Zwei Diener waren mit den Pferden und Kamelen unten an der Wasserpfütze gewesen. Die andern zwei hatten oben am Rand gesessen und dem Tränken zugeschaut. Die beiden Herren hatten sich abseits davon nebeneinander an einer Stelle niedergelassen, die eine sehr dunkelbraune, sammetweiche Moosdecke hatte. Weggeworfene Haut- und Sehnenstücke des genossenen Fleisches bewiesen, daß gegessen worden war. Aber weiter als das war trotz alles Suchens nicht zu entdecken. Ich ging also zu meinem Pferd zurück und gab das vergebliche Forschen auf. Da warnte mich Halef:

»Effendi, bleibe noch! Es wird mir bang, ganz eigentümlich bang, wenn ich sehe, daß du fort willst. Es muß etwas hier geben, was wir wissen sollen; es muß, es muß! Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Angst gehabt wie jetzt. Schau mich an!«

Er kam zu mir herbei, damit ich ihn betrachten möge. Ich sah, daß seine Wangen feucht waren. Über seinen Brauen glänzte die Stirn von Schweiß.

»Das ist Angstschweiß!« sagte er, indem er ihn wegwischte. »Ich bin noch nie so voller Unruhe gewesen wie in diesem Augenblick. Mein Herz schlägt so laut, daß ich es innerlich höre. Ich bitte dich, suchen wir noch einmal!«

»So wird auch mir fast angst! Derartige innere Erregungen pflegen ihren guten Grund zu haben. Verfahren wir also sorgfältiger! Wir haben bis jetzt nur stehend gesucht. Knien wir nun nieder! Wenn etwas Wichtiges zu finden ist, liegt es wahrscheinlich da, wo die beiden Gebieter gesessen haben. Also komm!«

Wir kehrten zu der betreffenden Stelle zurück und knieten nieder, um das Moos nun nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Fingern abzutasten. Kaum war das geschehen, so rief Halef: »Hamdulillah, ich hab's!« Und ich sagte zu gleicher Zeit: »Hier ist es, da, im Moos!« Und in demselben Augenblick griff er zu und auch ich. Wir zogen, er mit seiner Rechten und ich mit meiner Rechten, ein Messer heraus, das bis ans Heft im Moos steckte. Dieses Heft war von Metall, aber so gedunkelt, gealtert, verrostet oder vergrünspant, daß es ganz genau die Farbe des Mooses hatte und, von oben betrachtet, nicht von ihm zu unterscheiden gewesen war. Erst als wir niedergekniet waren und unsere Blicke nun von der Seite kamen, hatten wir es bemerkt, und zwar sofort. Die Klinge war blank und scharf, als käme sie erst heut vom Messerschmied, war aber doch vom feinsten, besten, altindischen Stahl. Man konnte mit ihrer Schärfe ein frei schwebendes Haar durchschneiden. Bei näherer Betrachtung sah man, daß das Heft eingravierte Linien und Punkte zeigte, doch waren sie nicht deutlich zu erkennen, und wir gaben uns in diesem ersten Augenblick ganz selbstverständlich nicht gleich die Mühe, diese Figuren zu enträtseln. Unsere Aufmerksamkeit richtete sich vielmehr sofort auf den starken, sonderbaren Rücken der Klinge, welcher rechtwinkelig eingekerbt war, und zwar verschiedentlich breit und tief. Ich kann das nicht deutlicher machen, als indem ich bitte, an unsere neuen, seit einiger Zeit in Mode gekommenen Kofferschlüssel zu denken, die nur aus dem breiten Bart bestehen und deren eingeschnittene Kerben mit den im Schloß vorhandenen Sicherheitsstiften korrespondieren. Diese eigentümliche Klinge steckte nicht fest und unbeweglich im Heft, sondern sie war durch ein Scharnier mit ihm verbunden und konnte also eingebogen werden.

»Ein Messer, ein Taschenmesser!« sagte Halef. »Das hat entweder der ›erste Minister‹ oder der ›höchste aller Priester, die es gibt‹ während des Essens hier in das Moos gesteckt und dann vergessen. Wenn es dem letzteren gehörte, so haben wir das Messer gefunden, mit dem der ›Gott‹ ißt! Hier nimm es, Sihdi! Und nimm noch etwas dazu!«

Er gab mir das Messer, welches er festgehalten hatte, und zu gleicher Zeit auch einen Kuß grad auf den Mund. Auf den fragenden Blick, der ihn deshalb aus meinen Augen traf, entschuldigte er sich:

»Verzeih den Kuß, Sihdi! Ich kann nicht anders. Ich mußte dir ihn geben. Aus Dankbarkeit, daß du erlaubt hast, noch einmal zu suchen. Es ist etwas in mir, was ich nicht selbst bin. Dieses Etwas freut sich unendlich darüber, daß wir das Messer gefunden haben. Es ist für uns bestimmt. Sein Eigentümer ist gezwungen worden, es hier in das Moos zu spießen und dann steckenzulassen. Dieses innerliche Etwas sagt mir, daß dieses Messer von einem Wert für uns ist, den wir noch gar nicht ahnen. Ich bin so froh, so glücklich, daß es von uns entdeckt worden ist! Begreifst du das? Ich nicht! Die Freude gebot mir, dich zu küssen. Wozu aber die Einschnitte im Rücken der Klinge? Ich habe das noch bei keinem andern Messer gesehen. Errätst du ihren Zweck?

»Ja.«

»Welcher ist es?«

»Dieses Messer war einst das Schlachtmesser für kleinere Opfertiere und zugleich der Schlüssel zu dem Tempel, in dem diese Opfer gebracht wurden.«

»Ein Schlüssel? In welcher Weise?«

»Schau her! Man schlägt das Einbiegemesser auf und steckt die Klinge in das Schlüsselloch. Dann macht man das Messer halb wieder zu, indem man das Heft nach unten drückt. Ist dies geschehen, so bildet das Heft einen Drehung, also eine Kurbel, und die Klinge den eigentlichen Schlüssel, den man am Heft solange dreht, bis das Schloß geöffnet ist.«

Indem ich das Messer abwechselnd einbog, öffnete, halb wieder zusammenbog und dann am Griff drehte, zeigte ich dem Hadschi, wie dieser altindische Messerschlüssel zu handhaben war. Er sah mir zu, schüttelte dann langsam den Kopf und sagte:

»Die Sache ist zwar hochinteressant, aber sie erscheint mir nicht als sehr hoffnungsvoll. Wir haben einen Schlüssel, aber kein Schloß dazu. Und wenn wir es hätten, woher nehmen wir den Tempel, zu dem es gehört? Dieser Tempel hat im alten Indien gestanden. Steht er noch? Und wo? Mit diesem Schlüssel ist es ganz dasselbe, als wenn ich z. B. einen Sporn habe, aber kein Pferd dazu. Ja, wir sind sogar noch schlimmer daran, denn ein Pferd läßt sich jedenfalls eher und auch leichter beschaffen, als ein alter hindustanischer Götzentempel, der höchstwahrscheinlich längst in Trümmern liegt. Ich freue mich unendlich darüber, daß mein Gefühl mich nicht betrogen, sondern uns dazu geführt hat, diesen Schlüssel zu finden; lieber aber wäre es mir, wenn wir anstatt des Schlüssels den Tempel gefunden und anstatt des Tempels nur noch den Schlüssel zu erwarten hätten!«

»Du verlangst zu viel. Mir genügt das, was ich habe!«

»Also der Schlüssel!«

»Nein. Denn wir haben nicht nur ihn, sondern noch viel mehr.«

»Möchte wissen, was!«

»Nicht was, sondern wen. Nämlich den, der ihn hierhergebracht und steckengelassen hat. Ob dies der Maha-Lama oder der Minister ist, das bleibt sich für mich gleich. Ich werde bis zum Beweis des Gegenteils der Ansicht sein, daß nicht der Minister, sondern der Oberpriester das Messer besessen hat. Ich will zwar nicht annehmen, daß er es amtlich überkommen hat, aber der Besitz steht höchstwahrscheinlich mit seiner heiligen Würde in irgendeiner Beziehung. Es ist ganz und gar nicht ausgeschlossen, daß er weiß, zu welchem Gebäude der Schlüssel gehört. Ist dies der Fall, so erfahren wir es von ihm, denn wir kommen ja wieder mit ihm zusammen. Dann wird sich herausstellen, ob der heutige Fund uns irgendwelchen Nutzen bringt oder nicht.«

»Wenn es nach dem Gefühl geht, welches mich zwang, wieder umzukehren und nochmals nachzuforschen, so ist er uns von Nutzen, und zwar von einem sehr großen. Ich bitte dich, Sihdi, das Messer gut aufzuheben. Wenn du wirklich ahnst, daß wir das finden werden, was dazu gehört, nämlich den Tempel, dessen Schlösser es öffnet, so will ich meinen Ausdruck, daß die Sache nicht sehr hoffnungsvoll sei, hiermit zurücknehmen. Auf alle Fälle habe ich hier etwas gelernt, was ich nicht wußte, nämlich, daß es geheimnisvolle Dinge oder gar Personen außer uns gibt, deren Stimmen bis tief in unser Inneres reichen. Denn die Mahnung, zurückzukehren und noch einmal zu suchen, stammte nicht von mir selbst, sondern sie kam von außen; das habe ich deutlich gefühlt. Ich bitte dich, jetzt nicht mit mir zu sprechen. Die Sache kommt mir außerordentlich wichtig vor. Ich werde über sie nachdenken.«

Als er dies sagte, kam mir ein ironischer Hinweis auf seinen »gesunden Menschenverstand« auf die Lippen, ich drängte ihn aber zurück, weil der liebe Kleine hier nur Aufmunterung, nicht aber Spott verdiente. Er verhielt sich, während wir nun weiterritten, vollständig schweigend. Auch ich war still, doch in Gedanken ebenso beschäftigt wie er, wenn auch auf anderem Gebiet. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Gegend, durch die wir kamen, und auf die Veränderung, welche sie erlitt, je weiter wir vorwärts rückten. Der Boden verwandelte sich. Der Humus verschwand. Die Moorerde ging in Sanderde über. Es versteht sich von selbst, daß diese Veränderung sich auch auf die Pflanzenwelt erstreckte. Unser Weg lag zwischen den beiden Extremen des Urwaldes und der Wüste. Er führte von dem einen zu dem andern. Es war im höchsten Grade interessant, nicht nur an den Bäumen, sondern auch an den Büschen, Sträuchern, Stauden, Kräutern und Gräsern zu beobachten, wie sie verschwanden, um von ähnlichen, aber doch ganz anderen ersetzt zu werden. Es war, als ob wir jetzt den Vorzug hätten, den weiten Weg von den hinterindischen Dschungel nach den westafrikanischen Wüstenregionen in der Zeit von wenigen Stunden zurückzulegen. Der Wald verschwand schließlich ganz. Wir ritten durch eine Steppe, die der Kalahari glich. Ich sah Bastard- und Kameldorne stehen, und daß sich da auch sofort die wilde Gurke einstellte, ist selbstverständlich. Nur da, wo der Sand noch Moor enthielt, traten noch einzelne oder weitläufig gruppierte Bäume auf, doch glichen sie den weitästigen Lebbek- und anderen schattenlosen Albizzia-Arten, welche den Ausdruck der Wüste nicht mildern, sondern steigern.

Halef schien von dem allen nichts zu bemerken. Sein Blick irrte zwar überall herum, war aber inhaltslos. Auch die Arm- oder Fußbewegungen, welche die Verbindung mit dem Pferd forderte, waren rein mechanisch. Er sann und sann und ließ zuweilen einen entweder freudigen oder verdrießlichen, kurzen Ausdruck hören, je nachdem er etwas gefunden zu haben glaubte. Schließlich aber wurde er doch auch auf das, was vor unsern Augen lag, aufmerksam und rief aus:

»Maschallah! – Wunder Gottes! Seit ich mich nur immer von innen betrachtet und gar nicht mehr nach außen geschaut habe, ist ja die Gegend ganz anders geworden! Ganz anders und viel schöner, viel schöner!«

»Schöner? Wirklich?« fragte ich.

»Ja, wirklich schöner!« antwortete er. »Der Wald ist weg! Der Fluß ist weg! Die Bäume, Sträucher und Gräser sind weg! Die fruchtbare Erde ist weg! Es ist nichts mehr zu sehen als Sand, nur immer Sand, weiter nichts als Sand!«

»Und das nennst du schöner?«

»Natürlich! Genau so wie hier war es da, wo ich geboren wurde! In den Wüsten des Maghreb! Der Mensch findet alles schön, was ihn an seine Heimat, an seine Jugend, an das Glück seiner Kinderzeit erinnert. Schau, wie unsere Pferde hier ganz anders atmen! Wie ihre Muskeln schwellen, ihre Schweife wehen und ihre Hufe spielen! Das kommt vom Sonnenschein, vom Licht und von der freien Luft. Kein stehendes Gewässer dunstet mehr; kein Moderholz, kein giftiger Schwamm hemmt unsern Weg! Der reinste Sand rundum, wie durch ein feines Sieb herabgeweht, im Licht bläulich wie Perlmutter schimmernd. Das ist die Wüste, die ich liebe! Komm, machen wir den Pferden diese Freude! Laß uns einmal jagen! Galopp, Galopp, Galopp!«

Er ließ sein Pferd ausgreifen, und ich war ihm ganz und gern zu Willen. Wir flogen über die vollständig vegetationslose Ebene wie im Sturm dahin. Ben Rih schnaubte vor Wonne. Die Hunde bellten jauchzend. Mein edler Syrr war still, aber jeder Schritt oder Sprung, den er tat, war ein ebenso schöner wie beredter Ausdruck des Entzückens, welches in ihm wohnte und seinen herrlichen Gliedern heut einen ganz besonderen Bewegungsausdruck gab.

Wir ritten so, daß wir eng nebeneinanderblieben.

»Schau, Sihdi!« sagte Halef, indem er nach vorn deutete. »Siehst du es?«

»Ja«, antwortete ich.

»Wie herrlich! Was mag das sein?«

Es gab da vor uns ein Leuchten, Blitzen, Sprühen und Glühen, wie aus einem mitten aus der Wüstenebene hoch emporragenden Leuchtturm, der aber nicht nur oben auf seiner Zinne leuchtete, sondern in seinem ganzen Bau aus Flammen bestand. Aber dieses Feuer loderte nicht. Es blitzte in kurzen, durcheinander gezückten Strahlen, wie aus lauter eng aneinanderliegenden, geschliffenen Facetten. Es war, als rage dort ein riesiger Diamant empor, an dem Millionen von Edelsteinschleifern jahrhundertelang gearbeitet hätten, um seiner ganzen, ungeheuren Fläche die Fähigkeit zu erteilen, das große, ewiggewaltige Unisono des Sonnenlichts in unzählbare, zeitlich kurze Minuten und Sekunden zu differenzieren. Nach langem, schwerem Urwalddunkel bot dieser Strahlenjubel auf unbegrenzter, offener Erdenfläche einen Anblick, den kein Mensch, der ihn gehabt hat, in seinem Leben jemals vergessen kann.

»Was mag das sein?« fragte der Hadschi, indem er sein Pferd zügelte, um wieder langsam zu reiten und so das Schauspiel länger zu genießen.

»Fragst du die Poesie des Gottesglaubens? Oder fragst du die kalte, zersetzende Wissenschaft?« antwortete ich. »Die erstere nennt dieses Zwiegespräch des scheinbar toten Steines mit der Sonne ein Wunder. Wie stets und überall, so führt die wissenschaftliche Erklärung des Wunders aber auch hier zur nüchternen Alltäglichkeit zurück. Sie sagt: Was wir da vor uns sehen, ist ein aus dem Boden emporragendes, glimmerreiches Felsenstück, dessen glasähnliche Partikelchen im Sonnenstrahl funkeln.«

»So? Das ist also eine wissenschaftliche Erklärung?«

»Ja.«

»So sage dieser deiner Wissenschaft, daß ich ihr nicht erlaube, mir das Wunder, welches ich vor mir sehe, zu verkleinern. Was Glimmer ist, weiß ich nicht. Ob dieses Zeug in das Reich der Pflanzen oder der Elefanten gehört, ist mir gleichgültig; ich mag es gar nicht wissen. Ich sehe es nur, daß es funkelt, viel schöner und viel entzückender als deine ganze, dunkle Wissenschaft, und daß nicht der Glimmer, sondern dieses Funkeln für mich ein Wunder und eine Wonne ist, das darfst du mir wohl glauben! Schon eher möchte ich fragen, wie dieser hohe Stein hier mitten in die niedrige Wüste kommt?«

»Wahrscheinlich befinden wir uns eben nicht mitten drin. Wir nähern uns der Landenge, von der wir wissen, daß sie aus Felsblöcken besteht, welche die Überreste eines gewalttätigen Naturereignisses sind. Wahrscheinlich ist dieser Glimmerfelsen der am weitesten vorgeschobene Block aus jener Periode und – ah, schau! Jetzt wird er dunkel. Siehst du die Gestalt?«

Von dem feuchten Land, welches hinter uns lag, war eine Wolke aufgestiegen und so vor die Sonne getreten, daß ihr Schatten zu uns her nach Norden fiel. Er verdunkelte den Felsen für eine kurze Zeit, so daß seine Konturen hervortraten und die Figur, die er bildete, in ihrer ganzen Schärfe zu sehen war.

»Ein Melek – Engel –, ein Melek! Wahrhaftig, ein Melek!« rief Halef aus. »Mit einem Friedenszweig in der Hand! Er hat zwei Flügel und steht auf einem Postament von mehreren Felsentrümmern!«

Es war so, wie Halef sagte; der Steinkoloß besaß die von ihm beschriebene Gestalt. Als ich das sah, hielt ich mein Pferd ganz an und griff in die Tasche, um die Karte hervorzuziehen, welche mir der Dschirbani gegeben hatte.

»Was willst du? Warum hältst du an?« fragte Halef.

»Um die Landkarte zu befragen. Ich sagte dir, ob sie uns täusche, das werde sich heut noch vor Abend finden. Diese Zeit ist nun gekommen.«

»Es handelte sich da aber nicht um das Funkeln dieses Steines, sondern um das Vorhandensein von Wasser!«

»Ich werde mich auch nicht um das Funkeln, sondern nur um das Wasser bekümmern.«

Ich trieb mein Pferd ganz eng an das seinige hin, schlug die Karte auf, zeigte sie ihm vor und fuhr dann fort:

»Hier ist der Engpaß, die Grenze zwischen dem Land der Ussul und dem Gebiet der Tschoban. Das letztere ist zum großen Teil wüst. In diese Wüste siehst du hier eine Reihe von Punkten gezeichnet, welche sich von Süd nach Nord ziehen und alle mit einem Mim und Hah – den arabischen Buchstaben M und H – bezeichnet sind. Erkennst du sie?«

»Ja«, nickte er. »Was sind das für Punkte, für Orte?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber du scheinst etwas zu vermuten?«

»Allerdings. Diese Punkte, welche mitten durch die Wüste führen, haben unbedingt etwas zu bezeichnen, was für die Wüste wichtig ist. Und was ist da wohl als das Wichtigste zu nennen?«

»Wasser?«

»Ja, freilich! Ich nehme also an, daß wir es hier mit Stellen zu tun haben, an denen Wasser gefunden wird, und zwar kein salziges oder überhaupt ungenießbares, sondern trinkbares.«

»Und was sollen da diese beiden Buchstaben m. h. bedeuten?«

»Moje hilwe – trinkbares Wasser –; es ist fast gar nicht anders möglich. Meinst du nicht, Halef?«

»Ja; das meine ich auch. Diese Punkte liegen jedenfalls auf dem Weg, den der Dschinnistani jedesmal eingeschlagen hat, wenn er nach seiner Heimat reiste. Für sich brauchte er diese Aufzeichnung nicht, aber wohl für seinen Sohn, dem die Karte gewidmet war.«

»Wenn das stimmt, so ist uns der Sieg fast nach allen Richtungen hin gewiß, denn wir haben die Hauptsache, nämlich Wasser.«

»Was aber hat das mit dem heutigen Tag zu tun? Daß wir noch vor Abend sehen werden, ob die Karte stimmt?«

»Schau her! Hier liegt der Engpaß. Ganz nahe, südlich davon, ist ein Punkt, der als ›El Melek‹ bezeichnet wird, also, der Engel, den wir da vor uns sehen. Und darunter stehen dabei dieselben Buchstaben m. h., die wir als ›Wasser‹ deuten. Wenn wir jetzt bei dem Engel Wasser finden, so ist es für mich gewiß, daß es auch in der Wüste der Tschoban an allen den Punkten Wasser gibt, die mit m. h. bezeichnet sind. Begreifst du nun, wie wichtig dieser Felsen hier für uns ist?«

»Gewiß! Aber, Effendi, erlaube mir, ein wenig zu zweifeln. Ich frage dich, wo hier das Wasser herkommen soll? Betrachte diesen Sand! Es ist Flugsand, fast wie Mehl so fein! Von dem Wind aus der Wüste der Tschoban über die Landenge herübergetragen. Und er ist tief, sehr tief. Kein einziger Grashalm läßt sich sehen! Ich glaube, hier wird kein einziger Tropfen Wasser zu finden sein.«

»Warten wir es ab! Wer nach Wasser sucht, der darf nicht nach dem Sand der Oberfläche urteilen. Die darunterliegende Formation hat das entscheidende Wort zu sprechen.«

»Allah! Jetzt kommt wieder deine berühmte Ilmi tabakat i arz! Laß sie sein; laß sie sein! Ich mag nichts von ihr hören! Wenn wir Wasser finden, bin ich zufriedengestellt, denn nicht die Ilmi, sondern das Wasser will ich haben!«

»So komm! Ich hoffe, wir werden es finden!«

Wir ritten weiter. Die Wolke war inzwischen fortgegangen; darum funkelte der Engel wieder, doch nicht für lange Zeit, denn je mehr wir uns dem Felsen näherten, um so mehr veränderte sich sein Sonnenwinkel zu uns, und endlich waren alle die strahlenden Reflexe verschwunden, obgleich die Sonne noch immer schien. Und nun sahen wir etwas, was mich mit Freude erfüllte. Nämlich der Felsen des Engels war, obgleich er mitten in unfruchtbarem Flugsand lag, von Sträuchern umgeben, über welche sogar die kräftigen Wipfel einiger Bäume emporragten. Und ringsum wuchs Gras, welches um so gesünder und saftiger war, je näher es dem Engel stand.

»Sihdi, du hattest doch recht. Es gibt hier wirklich Wasser«, sagte Halef, indem er sein Pferd traben ließ, um die letzte Strecke schnell zurückzulegen. Ich aber blieb bei dem bisherigen Tempo. Ich wußte wohl, was er beabsichtigte. Er wollte vor mir am Felsen sein, um des Ruhmes willen, das Wasser entdeckt zu haben. Er pflegte dann aber fast stets das Gegenteil von dem zu erreichen, was er erreichen wollte. So auch dieses Mal. Als ich bei dem Engel ankam, war Halef schon längst vom Pferd gestiegen und kroch hin und her, rund um den Felsen herum, ohne aber eine Spur von Wasser zu finden. Ich wartete geduldig, bis er schließlich eingestand:

»Ich finde nichts, Sihdi, gar nichts! Wir haben uns getäuscht.«

»Das glaube ich nicht«, antwortete ich.

»O doch! Wäre Wasser hier, so müßte ich es doch finden?«

»Warum grad du? Bist du klug genug dazu?«

»Ich denke doch!« fuhr er auf.

»Wirklich? So hast du also nachgedacht, ehe du suchtest?«

»Nein. Ich habe eben gesucht. Ist das nicht genug?«

»Ja, es ist allerdings genug, nämlich um nichts zu finden! Schau, ich bin noch nicht einmal vom Pferd gestiegen. Vielleicht suche ich gar nicht, sondern ich bleibe im Sattel sitzen und finde das Wasser doch. Und warum? Weil ich überlege, anstatt blind draufloszusuchen.«

»Erlaubst du mir, mit zu überlegen?«

»Ja. Zwei bringen immer mehr fertig, als nur einer.«

»So laß uns anfangen, nachzudenken! Wer soll beginnen? Ich oder du.«

»Du natürlich, denn du bist eher dagewesen, als ich.«

»Ich danke dir, Sihdi! Aber beim Nachdenken ist es immer besser, daß du den ersten machst, und ich komme später dazu, um die Sache zu bestätigen. Denn, weißt du, in der Bestätigung liegt ja alles!«

»Sehr richtig! Fangen wir also an! Du wirst gleich sehen, wie schnell wir auf das Wasser kommen, ohne daß wir lange suchen. Sag mir vor allen Dingen, wo es zu finden ist!«

»Sonderbare Frage!« antwortete er verwundert. »Natürlich da unten, in der Erde! Hoffentlich suchst du es nicht da oben in jener Wolke, die übrigens nun vorüber ist!«

»Spotte nicht, sondern denke nach! Was nützt es uns da unten? Wir brauchen es hier oben!«

»Das weiß ich ebensogut wie du! Es wird wohl eine Stelle geben, die da hinunterführt!«

»Aber wo?«

»Das weiß ich nicht.«

»So such nach ihr!«

»Suchen? Ich? Höre, Effendi, ich begreife dich nicht! Erst lachst du mich aus, daß ich gesucht habe, ohne vorher nachzudenken, und nun störst du mich im tiefsten Nachdenken, damit ich suchen soll! Ich sage dir, mein Nachdenken ging so tief, daß ich beinahe schon unten beim Wasser war! Warum hast du mich gestört? Wenn ich nun nichts finde, bist nur du daran schuld!«

»Ich habe nicht gemeint, daß du ausschließlich nur denken und sinnen sollst. Du sollst auch sehen! Schau dir den Felsen des Engels an! Meinst du, daß seine Gestalt eine rein natürliche, nur zufällige ist? Je länger ich ihn betrachte, desto wahrscheinlicher kommt es mir vor, daß Menschenhände nachgeholfen haben. Das Wasser in der Wüste gleicht einem Rettungsengel. Dieser Stein inmitten der Wüste hatte eine Form, aus der sich leicht ein Engel hauen ließ. Man tat dies, allerdings nur in der rohen, kunstlosen Weise, die du vor dir siehst. Wir stehen wahrscheinlich an einem uralten Brunnen, der aber nur für Freunde war; der Weg zum Wasser wurde verborgen gehalten.«

»Und du willst ihn finden? So schnell? Nach so langer, langer Zeit?«

»Vielleicht habe ich ihn schon!«

»Oho!«

»Jawohl! Der Eingang zum Wasser kann nicht in der Ferne, sondern muß hier in der Nähe sein. Er ist nicht offen, sondern verborgen, verdeckt. Es gibt ein Loch, welches hinabführt, mit einem Deckel darauf. Wenn dieses Loch im Sand oder im Gras läge, würde sich seine Form und seine Stelle trotz des Deckels abzeichnen, infolge der Feuchtigkeit, welche den Deckel von unten herauf direkt berührt. Siehst du eine solche Stelle?«

»Nein.«

»Ich auch nicht.«

»So liegt diese Stelle nicht im Sand und nicht im Gras, sondern im Gesträuch.«

»Nein. So sehr viele Büsche gibt es hier nicht, daß man ein Wasserloch zwischen ihnen verbergen könnte. Und zu denken, daß man es mit Erde bedeckt und auf diese Erde dann Sträucher gepflanzt habe, wäre ganz und gar verfehlt, weil jeder Gang zum Wasser diese Sträucher töten würde, und dann wäre das Geheimnis verraten. Bleibt also nur noch der Stein selbst.«

»Wie? Du meinst, im Felsen selbst sei der Weg zum Wasser hinab?«

»Ja, ganz unbedingt.«

»So muß ich gleich suchen!«

»Unten herum?«

»Natürlich!«

»Würde vergeblich sein. Das Loch ist oben.«

»Maschallah! Bist du allwissend?«

»Nein. Aber ich öffne die Augen, und ich denke nach. Wäre das Loch in die Seiten des Felsens gehauen, so würde sich die Decke desselben gewiß auf irgendeine Weise verraten. Man hat es also da angebracht, wohin das Auge nicht dringt, und das ist oben auf der Höhe des Blockes, auf dem der Engel steht. Es scheint, man kann nicht hinauf; aber in die hintere, linke Kante sind Vertiefungen gehauen, von denen ich annehme, daß sie für die Fußspitzen und Finger bestimmt worden sind. Traust du dir es zu, da hinaufzuklettern?«

»Aber gewiß! Paß auf, wie schnell das geht!«

Er ging nach der angegebenen Stelle, griff sich sehr leicht an der Kante empor, sah sich oben um und sagte dann:

»Auch da ist nichts zu sehen, am allerwenigsten aber ein Loch!«

»Das habe ich gar nicht anders erwartet. Oder meinst du, daß man so töricht gewesen sei, das Loch zu einem verborgenen Brunnen offenzulassen?«

»Aber ich sehe auch keinen Deckel!«

»Wenn der Deckel so dumm gearbeitet wäre, daß man ihn sofort sieht, so hätte man das Loch doch lieber gleich offenlassen können! Wahrscheinlich ist die Fläche da oben, auf der du stehst, mit Flugsand überweht?«

»Ja, das ist sie.«

»Sehr hoch?«

Halef bückte sich, um zu probieren, und antwortete dann:

»Fast einen ganzen Finger hoch.«

»Und ist dieser Flugsand unberührt?«

»Ja. Es gibt einige Spuren von Vogelfüßen, weiter nichts.«

»So ist höchstwahrscheinlich niemand da oben gewesen, seit der Dschinnistani seine Frau holte und sich hier mit Wasser versorgte. Es steht zu erwarten, daß die Brunnenöffnung sich an einer der Seiten des Steines befindet, nicht aber in der Mitte, also entweder rechts oder links.«

»Warum nicht in der Mitte? Ich hätte grad das gedacht!«

»Weil es sich hier ganz unmöglich um einen Ziehbrunnen, sondern einzig nur um einen Steigbrunnen handeln kann. Es führen also Stufen hinab. Stufen aber brauchen Platz. Sie gehen nicht senkrecht, sondern schief nach unten. Führen sie von rechts nach links, so ist das Loch auf der rechten Seite des Felsens zu suchen. Führen sie von links nach rechts hinab, so liegt es auf der linken Seite. In der Mitte würde es nur dann sein, wenn die Stufen gerade und senkrecht nach unten gingen, was ich aber für ausgeschlossen halte. In diesem Fall würde es sich nicht um eine Treppe mit Stufen, sondern um eine sogenannte ›Fahrt‹, also um eine Leiter mit Sprossen handeln, und das wäre ganz und gar gegen die Gewohnheiten derer, von denen vor vielen Jahrhunderten dieser Brunnen angelegt worden ist.«

»Du meinst also, daß ich zunächst nur an den Seiten suche?«

»Ja.«

»Gut! Also zunächst hier links.«

Halef war an der linken Seite des Felsens emporgeklettert. Er stand noch dort. Jetzt band er sich seinen Schal von den Hüften, legte ihn mehrfach zusammen und begann an der Stelle, wo er sich befand, den Flugsand fortzustäuben. Nachdem er eine ziemliche Stelle freigelegt hatte, erklärte er:

»Hier ist nichts. Ich werde es also drüben auf der rechten Seite versuchen.«

Er ging hinüber. Der Engel stand nicht, wie der Hadschi von weitem gemeint hatte, auf einem Postament von mehreren Felsentrümmern, sondern auf einem einzigen, kompakten, riesigen Block. Nur infolge der Bäume hatte es aus der Entfernung den Anschein gehabt, als ob dieser Block geteilt sei. Die Figur des Engels war nicht etwa nach ihrer Anfertigung auf den Felsen gestellt worden, sondern sie gehörte zu ihm; sie war sein oberster Teil; sie bildete mit ihm ein Ganzes. Der untere Teil, das Postament, war breiter als der obere. Als ich dann selbst hinaufstieg, sah ich, daß hier künstlich nachgeholfen und mittels Werkzeugen eine ebene Fläche gebildet worden war, auf die sich das breite, faltige Gewand des Engels stützte, ohne daß die Füße aus demselben hervortraten. Kaum hatte Halef angefangen, in der Nähe der äußersten rechten Falte des Gewandes die Sanddecke zu entfernen, so hielt er wieder inne, bückte sich zum Boden nieder, betrachtete ihn und rief:

»Hier ist etwas, Sihdi! Etwas, was von Menschen stammt, nicht von der Natur.«

»Was?« fragte ich.

»Eine Figur mit drei Spitzen.«

»Was für eine Figur und was für Spitzen?«

»Frag doch nicht so unklug, Sihdi! Es ist eine Figur mit drei Spitzen! Anders kann ich es doch nicht sagen!«

»Aber die Figur muß doch eine Gestalt haben!«

»Nein. Sie hat keine Gestalt, sondern nur die drei Spitzen!«

»Sonderbar! Warte! Ich komme selbst hinauf!«

»So komm! Aber du wirst es auch nicht anders finden, als ich es gefunden habe!«

Ich sprang aus dem Sattel und stieg in derselben Weise hinauf, wie Halef hinaufgestiegen war. Als ich zu ihm getreten war und die Stelle sah, die er meinte, mußte ich lachen.

»Da sagt man doch nicht, das ist eine Figur mit drei Spitzen!« verbesserte ich ihn.

»Wie denn?« fragte er.

»Man sagt sehr einfach, das ist ein Dreieck!«

»So! Ein Dreieck! Ich ahne schon! Da willst du mir wieder einmal mit irgendeiner Wissenschaft kommen! Wie heißt sie? Sprich!«

»Ilm el mesacha – Geometrie –.«

»So? Also Ilm el mesacha? Bilde dir ja nicht ein, daß du stolz auf deine Mesacha sein darfst! Es geht dir mit ihr nicht besser, als mit allen deinen andern Wissenschaften, die gar keine Wissenschaften sind, sondern denen, die sich mit ihnen befassen, nur die Köpfe und den Verstand verdrehen. Schau dir den Stein hier an! Ist das, was du da siehst, eine Figur oder keine?«

»Es ist eine«, antwortete ich, innerlich belustigt.

»Also habe ich recht! Ferner: Wieviel Ecken hat sie! Etwa vier oder fünf?«

»Nur drei.«

»Also habe ich recht! Ferner: Sind diese Ecken etwa rund?«

»Nein.«

»Sondern wie?«

»Spitz.«

»Also habe ich recht! Ich wiederhole infolgedessen mit allergrößter Feierlichkeit: Eine Figur mit drei Spitzen. Du siehst also, wie schlimm es um deine Wissenschaft steht. Sie sind mir vollständig gleichgültig! Auch diese lächerliche Ilm el mesacha, die nicht einmal weiß, daß jede Ecke spitz verläuft! Aber der Klügere ist immer auch der Noblere. Ich will mich also zu deiner Ausdrucksweise herablassen und mich so stellen, als ob wir hier nicht eine Figur mit drei Spitzen, sondern ein Dreieck vor uns hätten, und frage dich, von wem dieses Dreieck stammt.«

»Das werden wir sehr bald erfahren.«

Indem ich dieses sagte, kniete ich nieder, um die Figur genau zu betrachten. Das Dreieck war vertieft, sein inneres aber wieder als Relief behandelt. Die Vertiefung war mit feinstem, mehligem Flugsand ausgefüllt, welchen der nächtliche Tau in eine Kruste verwandelt hatte, die man nicht einfach durch Fortblasen entfernen konnte. Ich mußte die Spitze des Messers zu Hilfe nehmen, und indem ich dies tat, trat der Inhalt des Dreieckes immer deutlicher als ein Auge hervor, ungefähr in der Weise, wie es als Symbol Gottes, des Vaters, gebraucht zu werden pflegt, nur daß an dem, welches ich hier vor mir hatte, auch die oberen und unteren Wimperhärchen angebracht waren, und zwar in einer Anordnung und Feinheit, durch welche der Bildner dieses Symbols als Künstler erschien.

»Ein Auge!« rief Halef aus. »Ein richtiges, wirkliches Auge! Ich frage dich, was es sagen soll? Was hat es zu bedeuten?«

»Wie ich von Sitara her weiß, ist dieses Auge das Handzeichen und Siegel des Mirs von Dschinnistan«, antwortete ich. »Wir wissen also, daß dieser Engel weder von den Ussul noch von den Tschoban stammt, sondern auf Anregungen aus Dschinnistan entstanden ist. Wann, wie und warum dies geschah, muß uns jetzt gleichgültig sein. Wir haben es nur mit der Frage zu tun, was dieses Auge gerade hier an dieser Stelle soll.«

»Das ist doch sehr einfach und leicht zu sagen! Man soll dadurch erfahren, wer der Schöpfer des Brunnens ist.«

»O nein! Hätte das Auge nur diesen Zweck, so wäre was an einer ganz anderen Stelle angebracht worden. Hier ist es von unten nicht zu sehen, und die Stelle ist, wenn kein anderer Grund vorläge, so vollständig unsymmetrisch und täppisch gewählt, daß man sich darüber verwundern müßte. Ich bin überzeugt, daß dieses Symbol gerade die Stelle betonen soll, auf der es angebracht worden ist. Diese Stelle ist wichtig! Von welcher Art aber kann diese Wichtigkeit nur sein?«

»Meinst du, daß sie sich auf den Eingang zum Brunnen bezieht, Sihdi?«

»Das meine ich allerdings. Das Auge ist das Zeichen für den Brunnendeckel. Ich nehme an, daß man es nicht am Rand, sondern in der Mitte des Deckels angebracht hat. Wir haben also rund um das Auge herum nach der Linie zu suchen, welche die Kante des Deckels mit dem Stein bildet. Haben wir sie entdeckt, so ist der Deckel gefunden.«

»Das soll wohl schnell geschehen!« meinte Halef, indem er sich zu mir niederkauerte, um suchen zu helfen.

Aber es ging nicht so rasch, wie er dachte. Es zeigte sich nicht die geringste Spur einer Spalte, eines Risses, einer Linie. Der Stein schien kompakt zu sein, und nichts, gar nichts deutete darauf, daß es möglich sei, einen Teil von ihm zu entfernen.

»Sihdi, es ist nichts, und es wird nichts!« sagte Halef. »Du hast dich geirrt. All dein Denken ist überflüssig gewesen. Das meinige aber nicht! Hättest du mich nicht gestört, als ich mit meinen Gedanken fast unten beim Wasser war, so wäre uns jetzt das nutzlose Suchen erspart!«

»Und das Auge, das wir gefunden haben?«

»Das Auge? Hm, das ist allerdings etwas!«

»Und, horch!«

Ich klopfte in der Nähe des Auges auf den Stein, und ich tat es in angemessener Entfernung von ihm.

»Das klingt allerdings anders, ganz anders«, gestand der Hadschi ein.

»Es klingt nicht nur anders, sondern es sieht auch anders aus. Schau her!«

Die von dem Auge entfernte Stelle war durch die Berührung meiner Hände und durch das Klopfen vom Flugsand freigeworden. Der Fels erschien, und es fiel mir sogleich auf, daß er von anderer Beschaffenheit und anderer Farbe war. Diese Verschiedenheit war freilich keine große und in die Augen springende, entging mir aber nicht. Ich untersuchte, betastete und verglich, bis sich das erfreuliche Resultat ergab:

»Dieser Dschinnistani ist ein außerordentlich kluger, umsichtiger Mann. Er versteht es, mit Tatsachen zu rechnen, an die kein anderer denken würde. Er hat den Brunnendeckel mit Wasser begossen und dann Flugsand daraufgestreut. Unter der hierdurch entstandenen Kruste sind die Spuren des Deckels derart verschwunden, daß kein Auge sie entdecken kann. Der Wind hat dann das Übrige getan und die Umrisse völlig verweht. Hol Wasser, Halef, hol Wasser! Steig hinab und binde mir einen der vollen Hundeschläuche an den Lasso! Ich ziehe ihn mir herauf, und dann wirst du sehen, wie schnell sich uns das Geheimnis dieses Engels und seines Brunnens offenbart!«

Er stieg hinab und tat, was ich ihm aufgetragen hatte; dann kam er wieder herauf. Ich befeuchtete den Stein rings um das Auge her, und er scheuerte gleich mit der bloßen Hand die sich rasch auflösende Kruste weg. Und richtig, da geschah, was ich erwartet hatte: Die Umrisse des Brunnendeckels erschienen, und zwar sehr deutlich, scharf und bestimmt. Auch darin hatte ich recht gehabt, daß sich das Auge mitten auf dem Deckel befinde. Diesen Umrissen nach war der Deckel ungefähr anderthalb Meter lang und ebenso breit und stieß eng an die letzte, rechte Falte des steinernen Gewandes der Figur. Aber wie nun den Deckel entfernen? Sein Gewicht war auf weit einen Zentner zu taxieren; er lag in tiefen, fest geschlossenen Fugen und besaß weder ein Loch oder einen Griff noch irgendeine Spur einer Vorrichtung, die es ermöglicht hätte, ihn zu fassen, zu heben und zu bewegen. Ich sann und sann; ich versuchte alles und alles, doch vergeblich. Die Ritze zwischen Deckel und Stein schloß so vorzüglich, daß man nicht die dünnste Messerklinge zwischen sie hineinschieben konnte. Und selbst wenn dies möglich gewesen wäre, hätte man nicht daran denken können, eine zentnerschwere Last mit einer solchen Klinge emporwuchten zu können! Halef machte seinem Mißmut Luft, indem er klagte:

»Da sitzen wir nun wie die Kamele, kauen wieder und sehen einander an! Ich bin mit meinem ganzen Witz zu Ende, und du wohl auch!«

»Ich noch nicht! Es fällt mir gar nicht ein, das Spiel schon aufzugeben. Es handelt sich nur darum, unser Nachdenken nicht auf falsche Wege geraten zu lassen. Wir haben eine Steinplatte hier, welche gehoben werden soll. Das kann nur durch mechanische Kraft geschehen. Aber von welcher besonderen Art ist diese mechanische Kraft? Werkzeuge sind ausgeschlossen, denn es gibt weder ein Schlüsselloch noch sonst etwas, wo ein Werkzeug angesetzt werden könnte. Die Steinplatte, welche wir vor uns haben, ist also lediglich durch sich selbst zu bewegen. Aber wie? Geht sie auf Rollen oder Rädern? Nein! Ist sie zu verschieben? Nein! Wahrscheinlich handelt es sich um eine sehr einfache und sehr leichte Verlegung des Schwerpunktes, die an sich weder Kraft noch Anstrengung erfordert! Für den, der es weiß, ist es zum Lachen, daß man darüber nachdenkt, ohne es zu finden!«

»Dem Kerl, wenn ich ihn erwische, haue ich die Peitsche über das Gesicht, sobald er lacht!« zürnte Halef in seiner drolligen Weise. Und in ironischem Ton fügte er hinzu: »Sei doch so gut, und wende dich an deine Wissenschaften, auf welche du so große Stücke hältst! Ist es ihnen denn nicht möglich, dich aus dieser Verlegenheit zu reißen?«

»Nur möglich? Ich sage dir, sie können und werden mir helfen! Nur darf ich nicht so dumm sein, mich in verkehrter Weise an sie zu wenden.«

»Wie heißen sie denn? Nämlich diejenigen, welche?«

»Es sind ihrer nur zwei: die Ilm tabijat – die Physik – und die Dscherri eskal – die Mechanik –. Ich habe sie bereits zu Rate gezogen, denn die Fragen, die ich soeben aussprach, waren an sie gerichtet.«

»Und da antworteten sie nicht?«

»O doch! Sie haben mir ja gesagt, daß es sich jedenfalls um eine höchst einfache und sehr mühelose Verlegung des Schwerpunktes handelt. Wir müssen also nachforschen, wo er jetzt liegt, und wohin wir ihn sodann zu verlegen haben.«

»So bitte ich dich, diese Aufgabe zwischen uns zu teilen: Du schaust jetzt nach, wo er liegt, und ich lege ihn dann weiter; wohin, das wird sich finden! Übrigens, wer ist denn das eigentlich, dieser Schwerpunkt? Wenn er nicht bald aufhört, uns den Punkt so schwer zu machen, wie bisher, kann er uns nicht zumuten, uns noch länger mit ihm abzugeben! Es ist jammerschade, daß der Engel, zu dessen Füßen wir uns über deine Ilmi tabijat und Dscherri eskal die Köpfe zerbrechen, nur von Stein ist. Wenn er ein wirklicher Schutzengel wäre, würde ich mich an seine Hilfe wenden und ...«

»Er ist einer; er ist einer!« unterbrach ich da den Hadschi. »Paß auf, er wird uns helfen!«

»Er? Der Engel? Dieser hier?« fragte der Hadschi verwundert.

»Ja, er, dieser Engel«, antwortete ich. »In dem Augenblick, an dem du ihn nanntest, kam mir der Gedanke, der höchstwahrscheinlich der richtige ist. Und als mein Auge diesem Gedanken folgte, stieß es auf das, was uns bisher entgangen ist, obwohl wir es sofort hätten sehen sollen. Halef, wir sind dumm gewesen, außerordentlich dumm!«

»Ihr? Also du und deine Wissenschaften? Da sagst du mir nichts Neues! Das weiß ich ja schon längst! Sie werden dir nie von Nutzen sein! Dagegen aber ich! Schau mich an Sihdi! Kaum öffne ich den Mund, um von dem Engel zu sprechen, so kommt dir sofort der richtige Gedanke! Der ist also doch von mir! Hoffentlich siehst du nun endlich einmal ein, wie hoch ich über deiner Gelehrsamkeit stehe, die dich stets und gerade dann im Stich läßt, wenn du sie brauchst! Aber sag, was ist denn das, was du erst jetzt gesehen hast und was wir doch sofort hätten sehen sollen?«

»Ich frage dich, welche Form hat die Steinplatte, welche den Deckel des Brunnens bildet?«

»Sie ist viereckig.«

»Wieviel Kanten muß sie also haben?«

»Vier. Das ist ja selbstverständlich!«

»Zeige sie mir, nämlich diese vier!«

Das Viereck lag vor uns, aber nur von drei Seiten sichtbar umrissen. Die vierte stieß an die schon erwähnte Gewandfalte des Engels, und es gab da weder eine Spalte noch auch den dünnsten Strich oder Riß, welcher die Platte von der Falte trennte. Beide, Plane und Falte, bildeten vielmehr ein Ganzes; sie gehörten zusammen. Das war es, was ich erst jetzt gesehen hatte, und dann allerdings auch noch etwas anderes dazu. Halef kam meiner Aufforderung nach und zählte die Seiten des Viereckes, indem er auf die sichtbar gewordenen Umrisse deutete:

»Hier die erste; hier die zweite; hier die dritte, und hier ...« Da hielt er inne, denn nun sah auch er, daß die Platte nicht aufhörte, wo sie die Falte erreichte, sondern mit ihr ein Ganzes bildete.

»Sihdi, sie hat nur drei; die vierte fehlt«, fuhr er fort.

»Sie fehlt nicht; nur ist sie an einer anderen Stelle, nämlich höchstwahrscheinlich weiter oben, quer über die Falte«, antwortete ich. »Wir haben bisher nicht beachtet, daß auch der Saum dieser Falte über einen Meter hinauf mit der künstlichen Sandkruste überzogen ist, die wir von der Platte zu waschen hatten.«

»Maschallah!« rief er aus, indem er die Stelle betrachtete und befühlte. »Das ist richtig! Also Wasser her, Wasser! Wir wollen uns sofort Gewißheit schaffen!«

Er griff wieder zum Schlauch, benetzte die Falte mit Wasser und scheuerte dann die Kruste weg. Da geschah, was ich erwartet hatte. Es erschienen die bisher verborgenen Umrisse, und nun sah man ganz deutlich, daß die Platte nicht eine gerade Fläche, sondern einen rechten Winkel bildete und halb zum waagerecht liegenden Fußboden, halb aber zur senkrecht auf ihn stoßenden Falte des Gewandes gehörte. Sie ruhte da, wo sie den Winkel bildete, wahrscheinlich auf einer im Loch befestigten Achse, auf der sie sich bewegte. Ihre aufrecht stehende Hälfte war genau so hoch wie die Breite oder Länge ihres waagerecht liegenden Teiles. Es war also anzunehmen, daß beide einander das Gleichgewicht hielten und es eines gar nicht bedeutenden Druckes bedurfte, den Schwerpunkt zu verlegen und die Platte dadurch zu bewegen, daß man den aufrechten Teil in das Innere der hohlen Falte drückte und dadurch den liegenden Teil in die Höhe hob. Es machte mir Spaß, dies nicht selbst zu tun, sondern es Halef tun zu lassen. Er stand vor der Gewandfalte, betrachtete sie und sagte:

»Sihdi, deine Wissenschaften sind doch vielleicht nicht ganz so dumm, wie ich dachte; aber daß auch ein Teil des Gewandes dieses Engels mit zum Brunnendeckel gehört, darauf bist du nur durch mich gekommen. Was soll nun geschehen?«

»Schiebe den Teil des Deckels, der zur Falte gehört, in die Falte hinein!« forderte ich ihn auf.

Er versuchte, es zu tun, brachte es aber nicht fertig, weil er auf dem andern Teil des Deckels, der gehoben werden sollte, stand.

»Es geht nicht, Sihdi« sagte er. »Wie kommst du überhaupt auf die Idee, daß hier etwas hineingeschoben werden kann?«

»Tritt vom Deckel herunter, auf die Seite, und schieb noch einmal!« antwortete ich.

Er tat es und schrie fast erschrocken auf, als der Teil des steinernen Gewandes, den er berührte, unter seinem Druck wich und nach innen ging, während die waagerechte Hälfte des Deckels zu seinen Füßen sich aus dem Boden hob und nun das Brunnenloch zu sehen war, nach dem wir trachteten. Nie habe ich bei ihm ein so erstauntes, ja fast betroffenes Gesicht gesehen wie jetzt, in diesem Augenblick. Er starrte mich, das viereckige Loch in der Falte und die Brunnenöffnung abwechselnd an, blieb eine Zeitlang offenen Mundes stumm und jubelte dann:

»Hamdulillah! Das Loch ist gefunden! Sihdi, du bist ein Zauberer, ein Hexenmeister! Zwar deine Wissenschaften taugen alle nichts, doch bist du glücklicherweise zuweilen so klug, deine eigenen Gedanken zusammenzunehmen, und dann sind wir immer, besonders wenn ich auch die meinigen dazu gebe, eines guten Erfolges sicher. So auch hier! Schiebe ich die Falte ganz hinein?«

»Ja.«

Indem er den quadratischen Teil der Falte, welcher beweglich war, in diese hineinschob, wurde der andere Teil, welcher den eigentlichen Brunnendeckel bildete, so völlig in die Höhe gehoben, daß sich das Brunnenloch vollständig öffnete. Wir schauten hinein. Es führten Stufen hinunter, feste, steinerne Stufen, von rechts nach links in den harten Fels gehauen. Sie waren fast gar nicht feucht, und die kühle Luft, welche aus dem Innern stieg, zeigte nicht die geringste Spur von Moder und ähnlichen Dingen. Halef wollte sofort hinabsteigen. Ich hielt ihn aber zurück, um ihn auf das Gebahren unserer Hunde aufmerksam zu machen, welche mit lautem, freudigem Bellen an dem Felsen emporsprangen.

»Schau! Sie spüren das Wasser«, sagte ich.

»Ja; es scheint so«, antwortete er. »Aber ich schlage vor, sie noch besonders auf die Probe zu stellen.«

»Weil ihr Bellen und Springen auch nur den einfachen Grund haben kann, bei ihrem Herrn sein zu wollen.«

»Gut; steigen wir also hinab!«

Wir taten das. Aber als wir dann unten waren, achteten sie gar nicht auf uns. Vielmehr verdoppelte sich ihr Eifer, am Felsen in die Höhe zu kommen. Das war freilich, weil keine Stufen hinaufführten, unmöglich. Auch wären sie bei der Untersuchung des höchstwahrscheinlich sehr tief hinabgehenden Brunnenschachtes gewiß hinderlich gewesen. Darum machten wir ihnen begreiflich, daß wir sie verstanden hätten, daß wir wüßten, was sie uns sagen wollten, worauf sie sich schnell beruhigten und neben den Pferden wieder niederlegten.

Hierauf turnten wir uns wieder hinauf und stiegen in das Innere des Hügels hinab. Dieses bestand aus mehreren untereinanderliegenden Abteilungen, die ich als Stockwerke bezeichnen will. Zu dem oberen Stock führten genau zwanzig Stufen. Als wir die letzte hinter uns hatten, drang das Licht des Tages nur als Dämmerung zu uns herab. Aber schon nach kurzer Zeit, als unsere Augen sich akkommodiert hatten, konnten wir deutlicher sehen. Zur rechten Hand von uns stand ein großer, steinerner Würfel, auf dem eine dünne Steinplatte lag, die sich verschieben ließ. Als wir sie ein Stück zurückschoben, sahen wir, daß er hohl war und also einer Lade oder einer Kiste glich, in der sich allerlei Gegenstände befanden, die uns natürlich in hohem Grade interessierten. Obenauf lagen Rollen aus starkem Leder, die oben und unten zugebunden waren, um ihren Inhalt gegen Feuchtigkeit zu schützen. Wir öffneten eine. Sie enthielt eine sehr gut erhaltene Kerze, aus ungereinigtem Bienenwachs hergestellt. Wir wickelten noch eine zweite aus und brannten beide an. Sie hatten dicke, gut brennbare Dochte und spendeten Licht genug für unsere Zwecke. Außer diesen Kerzen gab es ein sehr wohlverwahrtes, uraltes Fiedelbogen-Instrument zum Licht- und Feuermachen. Wir brauchten es nicht, weil wir Zündhölzer bei uns hatten. Auch Schnuren, Stricke, Schläuche und ähnliche Dinge waren da, die mit dem Zweck des Ortes in Verbindung standen. Es gab lange, breite Riemen aus festem Rindsleder, deren Zweck uns nicht sofort in die Augen fiel. Bald aber sahen wir, daß sie zur Reparatur des Schöpfwerkes dienen sollten, welches uns zunächst in die Augen fiel.

Nämlich in der Mitte des ziemlich großen, unterirdischen Raumes, in dem wir uns befanden, stand ein langer, breiter Felsentrog mit je einem Rad vorn und hinten. Wenn man das eine drehte, so bewegte sich auch das andere mit. Über die beiden Räder war ein Lederriemen gelegt, an dem in gewissen Abständen Krüge hingen, die, mit geschöpftem Wasser gefüllt, auf der einen Seite aus dem Boden kamen, im Weitergleiten sich ihres Inhaltes in den Trog entleerten und dann auf der andern Seite nach unten zurückkehrten. Zur Reparatur des Riemens, der die Krüge trug, lagen die andern Riemen gewiß schon seit vielen Jahrhunderten da. Der Schöpfer dieses Werkes hatte einen Blick besessen, der sich durch keine zeitliche Schranke beirren ließ. Wer war er gewesen? Hoch über der Treppe, die wir heruntergekommen waren, sah ich das Zeichen des Mirs von Dschinnistan eingegraben und darunter im alten Brahmavartadialekt das einzige Wort »Erbaut«. Dieses Wort bildete den Anfang eines Satzes; die Fortsetzung und das Ende desselben fanden wir, indem wir weiter abwärts stiegen, was uns durch die Kerzen sehr erleichtert wurde.

Im nächst tieferen Stock fanden wir ganz dieselbe Einrichtung und auch dieselben Gegenstände, nur daß hier der Krüge tragende Riemen hinzukam, der nach oben führte. Über der Treppe war unter demselben Zeichen und in demselben Brahmavartadialekt das Wort »zum Sieg« zu lesen. Eine weitere Treppe tiefer, wo der Raum den beiden vorigen Räumen bis auf das Tüpfelchen glich, stand unter dem Auge »im Kampfe« eingemeißelt. Und ganz unten, wohin die vierte Treppe führte, standen wir vor einem weiten, sehr tiefen Wasserbassin, dessen Inhalt für viele Hunderte von Menschen und Tieren reichte, und, wie es schien, aus adernweise eingesprengtem Sandgeschiebe immer nachfiltriert und nachgesickert kam. Hier schöpfte das unterste Rad, um den Bottich der nächsthöheren Etage zu füllen. So wurde das Wasser von Trog zu Trog nach oben getragen, und indem dies geschah, kam es derart mit der Luft in Berührung, daß es sich mit Kohlensäure sättigte und die Eigenschaft annahm, nicht nur durstlöschend, sondern auch erquickend zu sein. Über der Treppe war hier unter dem Auge die Inschrift »für den Frieden« zu sehen, so daß der ganze Satz nun also lautete:

»Erbaut zum Sieg im Kampfe für den Frieden.«

Wie mich das ergriff! Auch Halef wurde doppelt ernst, als ich ihm die Zeichen, die er nicht kannte, erklärte. Wir standen im Innern der Erde. Achtzig Stufen tief. Über uns der Engel von Stein. Inmitten der Wüste. Sie hatte Sonne, aber nicht Wasser. Hier aber gab es Wasser die Hülle und die Fülle, doch keinen Sonnenstrahl. Um die Wüste zu befruchten, hatte das Wasser zur Sonne emporzusteigen. So tief und noch viel tiefer, als dieses Wasser lag, ruhte die Vergangenheit, in der dieser Brunnen erbaut worden war, unter der Gegenwart, in der wir beide, Halef und ich, vor seinem Wasser standen. Auch sie, die Vergangenheit, hatte, um für die Gegenwart fruchtbar zu werden, zur Sonne emporzusteigen, und Gott, der allweise und allgütige Mir von Dschinnistan, hat auch zum Wohl der Gegenwart einen hochragenden, weit über die Wüste dahinleuchtenden Engel erbaut, in dessen wunderbaren Gedankeninnern wir in die Tiefe zu steigen haben, um mit dem befruchtenden Wasser der Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft zu durchtränken. Wer dieser Engel ist, bedarf wohl nicht erst der Frage.

Wir kosteten von dem Wasser des Bassins. Es war sehr frisch und rein und ohne jede Spur von Beigeschmack, aber tot. Da begannen wir, die Räder zu drehen. Ich hatte gedacht, daß dies nach so langem Stillstand ein lautes Knarren und Kreischen ergeben werde; dem war aber nicht so, denn die Achsen bewegten sich in einer dicken, fettartigen Masse, die zwar eingetrocknet war, durch die Reibungswärme aber sofort wieder in ihren ursprünglichen halbweichen, elastischen Zustand zurückgeführt wurde. Als das Wasser von Trog zu Trog nach oben gestiegen war und wir dann oben in der höchsten Etage kosteten, war es nicht mehr tot, sondern hatte beinahe den lebendigen Geschmack einer fließenden Quelle. Dieses Wasser war bedeutend besser als das, welches sich in unsern Schläuchen befand; wir ließen das letztere also auslaufen, um sie mit dem ersteren zu füllen und gaben auch unsern Pferden und Hunden soviel zu trinken, als sie konnten. Nachdem dies geschehen war, verschlossen wir das Brunnenloch, indem wir den Deckelstein in seine vorherige Lage zurückbrachten.

»Streuen wir nun auch Sand auf Wasser, um die Spuren und Ritzen verschwinden zu lassen?« fragte Halef.

»Nein«, antwortete ich. »Diese Vorsicht ist für uns nicht nötig, weil es keinen Feind gibt, der den Brunnen entdecken wird und wir ihn unsern Freunden nicht zu verbergen, sondern vielmehr bekannt zu geben haben. Ich sage dir, lieber Halef, daß dieser Brunnen mir als wahrer Engel erschienen ist, und zwar nicht nur aus einem einzigen Grund. Erstens hat er mich aus aller Sorge um unsern Zug durch die Wüste der Tschoban befreit, denn so genau wie die Karte des Dschinnistani hier an dieser Stelle stimmt, wird sie gewiß auch an den andern Punkten stimmen, und ich kann also sicher sein, daß wir nicht dürsten werden. Und zweitens erleichtert uns dieser Brunnen den Sieg an der Landenge in höchst willkommener Weise. Nämlich, um Blutvergießen zu vermeiden, werden wir die Tschoban auszuhungern und auszudursten haben. Um dies zu können, müssen wir aber selbst sehr reichlich mit Proviant und Wasser versehen sein. Das letztere ist die Hauptsache. Wir hätten eine immerwährend bewegte Reihe von Reitern gebraucht, um die große Menge des Wassers, die für uns nötig ist, vom Fluß nach der Landenge zu schaffen. Die uns nächstliegende Stelle des Flusses, die ein solches Quantum liefert, ist aber wenigstens einen und einen halben Tagesritt von hier entfernt. So lang müßte die Reihe der Reiter sein, und du kannst dir also denken, welche Zahl von Menschen und Pferden und welche Zeit und Arbeit uns dieser Brunnen erspart, der so nahe an der Landenge liegt, daß man die Entfernung gar nicht mit in Berechnung zu ziehen braucht.«

»Glaubst du wirklich, daß wir uns ihr bereits so sehr genähert haben?«

»Ja.«

»Aber man sieht noch keine Spur von ihr!«

»Das glaube ich. Aber die Spur von ihrem Gegenteil!«

»Ihr Gegenteil? Was ist das?«

»Das Meer.«

»Allah w' Allah! Du siehst es?«

»Ja.«

»Wo?«

»Da rechts, genau im Osten. Schau hinaus, ganz, ganz hinaus!«

»Das tue ich ja. Aber ich sehe nichts, als nur den Sand der Wüste, der vom Licht der sich neigenden Sonne leicht gerötet wird.«

»Und dann? Noch weiter hinaus?«

»Dann kommt der Himmel, der unten, wo er auf der Erde hegt, einen Glanz wie Silber zeigt.«

»Dieses Silber ist nicht der Himmel, sondern das Meer. Stände die Sonne im Osten, so würde dieser jetzt lichte Streifen dunkel erscheinen; das sie aber im Westen steht, so sehen wir ihn im silbernen Licht. Wenn aber das Meer so nahe herangetreten ist, daß wir es bereits sehen können, so dürfen wir annehmen, daß wir bis zur Landenge nicht mehr zu weit zu reiten haben.«

»Seit wann siehst du schon das Meer?«

»Erst nur seit wenigen Augenblicken. Indem ich von dem Engel sprach, fiel mein Blick dort in die Ferne hinaus. Wenn wir uns nicht hier oben auf der Figur befänden, hätte ich es wohl noch gar nicht bemerkt. Steigen wir hinab, und reiten wir weiter!«

Unten von der Erde aus war die See allerdings kaum mehr zu sehen, aber je weiter wir nun kamen, desto näher trat sie uns. Ihr Streifen wurde breiter und breiter, verlor aber dadurch seinen Silberglanz. Man sah, daß das, was dort lag, eine Wasserfläche war. Bald bemerkte man auch, daß sie sich in Bewegung befand. Es schien, als ob sie atme. Auch der Boden unter uns veränderte sich. Der Sand begann, sich in Gras und Geröll zu verwandeln, und dieses vermischte sich nach und nach mit Steinbrocken, die an Größe immer mehr wuchsen. Es erschienen Felsenstücke, die zerstreut im weiten Kreis umherlagen, bald aber sich einander näherten und dabei zur Höhe wuchsen. Das alte, eigentliche Flußbett trat mit größerer Deutlichkeit hervor als bisher. Es war steil und tief und von Blöcken besät, deren abgerundete Kanten Zeugnis dafür ablegten, daß sie in früheren Zeiten mit dem Wasser in langer Berührung gestanden hatten. Die Ufer wurden von Felswänden begleitet, deren Höhe sich immerwährend vergrößerte. Sie bildeten Hügel, dann sogar Berge, die sich kulissenförmig ineinander schoben und das Auge verhinderten, einen freien Ausblick nach rechts oder links zu suchen. Wir konnten also das Meer nicht mehr sehen, aber das Grün, mit dem diese Felsenzüge bewachsen waren, deutete seine Nähe an. Ohne die Feuchtigkeit der See wäre diese Vegetation unmöglich gewesen. Sie bestand allerdings nur aus Salzstauden, Gestrüpp und niedrigen Büschen; ein Baum war nicht zu sehen.

Wir mochten wohl eine Viertelstunde lang zwischen diesen Höhen dahingeritten sein, als sie ganz nahe aneinandertraten und eine Stelle bildeten, welche genau so aussah, als ob ein Geschlecht von Giganten hier vor Tausenden von Jahren aus riesigen, rohen Felsstücken einen Tunnel gebaut habe, um die Landenge quer abzuschließen, dabei aber dem Wasser des Flusses die Fortsetzung seines Weges zu gestatten. Einem der größten Quader waren die Worte eingegraben »Fum eß Ssachr«, was soviel wie »Felsenmündung« oder »Felsenloch« bedeutet. Der Durchmesser dieses Loches war höchstens fünf oder sechs Schritt größer als die Breite des Flußbettes. Zu beiden Seiten aber stiegen die Felsen so steil in die Höhe, daß es nur an einer einzigen Stelle möglich war, zu Fuß emporzuklettern. Das Letztere taten wir, nachdem wir von den Pferden gestiegen waren. Der Zweck, der uns hierher geführt hatte, machte es uns zur Pflicht, gerade diesen wichtigen Teil der Gegend so genau wie möglich kennenzulernen. Die beiden Hunde Halefs blieben bei den Pferden, ohne daß wir es ihnen besonders zu befehlen brauchten. Als aber die Meinen sahen, daß es sich um eine Kletterpartie handele, gaben sie ihren Wunsch, mitzudürfen, in zwar nicht lauter aber doch so bittender Weise zu erkennen, daß ich ihn erfüllte. Unser Ziel lag hoch oben im Bergland, und so wollte ich gern sehen, was sie für Kletterer seien. Sie machten mir Freude. Kaum hatten sie die Erlaubnis bekommen, so schnellten sie uns voran von Kante zu Kante, von Zacke zu Zacke die in steilem Winkel ansteigenden Felsen hinan, nicht laut, sondern still, und nicht etwa unvorsichtig und unbedächtig, sondern von Schritt zu Schritt vorausschauend und überlegend, wo leichter und sicherer Fuß zu fassen sei, hier oder an einer anderen Stelle. Es war, als ob sie sich die Aufgabe gestellt hätten, den besten Weg für uns zu suchen, und als wir ihnen folgten, sahen wir allerdings, daß wir nicht klüger hätten wählen können als sie. Und dabei trugen sie ihre vollen Packsättel auf dem Rücken! Wir hatten noch nicht den vierten Teil des Aufstieges hinter uns, so standen sie schon oben auf der höchsten Felsenkante, gerade senkrecht über dem »Fum eß Ssachr«, eng nebeneinander und mit den Schweifen uns die Bitte zuwedelnd, ihnen doch schnell nachzukommen. Andere Hunde hätten gebellt oder wenigstens Laut gegeben; sie aber taten das nicht; sie waren von echtem Adel und, wie wir gesehen haben, auch streng erzogen.

Es gab eine Überraschung, die unser da oben wartete. Wir befanden uns auf der Ostseite. Noch hatten wir die Höhe nicht ganz erklommen, so traten da, wo wir waren, die Spitzen der Felsen auseinander, und was sahen wir vor uns liegen? Das Meer, das Meer, das weite, blaue Meer, welches inzwischen ganz zu uns herangetreten war, ohne daß wir es hatten bemerken können. Und als wir den höchsten Punkt erreichten, wo die Hunde auf uns warteten und nun auch die andere Seite vor uns lag, schrie Halef vor Verwunderung laut auf, denn auch da war inzwischen das Meer erschienen und, einen jähen, tiefen Einschnitt des Landes benutzend, so schnell und so nahe zu uns herangekommen, daß es nun gerade und genau zu unseren Füßen lag.

»Die See! Das Meer! Der Ozean!« rief Halef aus, die Hände zusammenschlagend. »Hältst du das für möglich, Sihdi? Hast du dir das gedacht? Das herrliche, blauwallende Wunder ist da! Nicht bloß hier, sondern auch dort! Auf beiden Seiten! Und was ist das da draußen, ganz im Norden? Es sieht aus wie ein Baum von so riesiger Höhe, daß er bis zum Himmel ragt. Man sieht den Stamm, und man sieht auch die Krone, die er trägt. Es scheint, als ob Bewegung in ihr sei!«

»Das ist die Rauchsäule der Vulkane von Dschinnistan«, antwortete ich.

»Welche des Nachts zur Feuersäule wird, ganz so, wie es im heiligen Buch und von dem Volk Gottes geschrieben steht! Der Herr ging ihm voran, des Tages in einer Rauch- und des Nachts in einer Feuersäule. Und schau, wie sonderbar! Dies Tor, gerade vor uns! Es scheint, genau wie diese unsere Sperre, auf deren Höhe wir uns jetzt befinden, auch die ganze Breite der Landenge einzunehmen. Wir können nicht weiter, weder nach hüben noch drüben; wir müssen wieder hinab, woher wir emporgestiegen sind.«

Das »Tor«, von dem er sprach, lag grad im Norden von uns, vielleicht eine halbe Wegstunde entfernt. Es war gewiß auf ganz natürliche Weise entstanden, hatte aber auch das Aussehen, als ob es ein Werk von Menschen- oder vielmehr von Titanenhänden sei. Eine hohe, festgefügte Mauer lag quer über der Enge, von Küste zu Küste, von Wasser zu Wasser. Grad in der Mitte der Landzunge ging eine einzige Lücke von oben nach unten durch diese Mauer. Sie war so breit, daß einst der Fluß und neben ihm ein schmaler Weg hindurchgekonnt hatten. Oben lag eine Felsenplatte querüber, auf der es einige Büsche und eine von uns aus winzig erscheinende Erhöhung gab, die man für einen Steinhaufen halten mußte. Wenn diese Mauer keinen andern Durchlaß hatte, als nur die Mittespalte, die wir sahen, so war der Raum zwischen uns und ihr die vortrefflichste Falle für die Tschoban. Als ich dem Hadschi das sagte, stimmte er mir gern bei. Leider war es für heut zu spät, noch bis dorthin zu kommen. Die Sonne stand bereits am Horizont, und die Nacht bricht in jenen Gegenden so schnell herein, daß es uns gar nichts genutzt hätte, uns zu beeilen. Wir hätten die Mauer höchstens erreicht, aber doch keine Zeit gefunden, sie noch heute zu untersuchen. Wir begnügten uns also damit, festzustellen, daß es wenigstens hier am Felsenloch kein anderes Durchkommen gab als eben nur durch dieses Loch. Dann stiegen wir wieder hinab, um unten die Passage zu betrachten.

Sie war, wie schon gesagt, so eng, daß, wenn der Fluß Wasser gehabt hätte, nur ein vielleicht drei Meter breiter Weg geblieben wäre, um durch das Loch zu kommen. Dieser Weg war wohl fünfzig Schritte lang; er ging durch Felsen, war also unterirdisch, verlief aber so frei, daß er auf seiner ganzen Strecke mit Kugeln bestrichen werden konnte. Die unten im Flußbett zerstreut liegenden großen Steinblöcke boten zwar einigen Schutz gegen Schüsse, aber nur vereinzelten Personen, nicht etwa ganzen Ansammlungen von Menschen. Das war uns sehr günstig.

Wir stiegen wieder auf und ritten durch das Loch. Jenseits desselben war es unmöglich, die Höhe zu ersteigen, und zwar auf beiden Seiten. Wenn sich meine Vermutung bestätigte und die vor uns liegende, eine halbe Gehstunde lange Strecke als Falle für die Tschoban ausersehen werden sollte, so war vor allen Dingen die Frage zu erledigen, ob die Felswände, welche die Seiten des Engpasses bildeten, leicht gangbar seien oder nicht. Dieser Paß hieß Chatar, ein Name, der soviel wie »Gefahr« bedeutet. Das ließ vermuten, daß es nicht ungewagt sei, ihn im Kriegsfall zu passieren. Wahrscheinlich hatten Ereignisse dies bewiesen. Wir durften also annehmen, daß die Beschaffenheit der Strecke für uns günstig, für die Tschoban aber ungünstig sei, und es stellte sich auch sehr bald in Wirklichkeit heraus, daß es so war. Wir ritten nur langsam vorwärts, um beide Seiten des Weges genau zu betrachten. Wir legten wohl drei Vierteile seiner Länge zurück und kamen dem Felsentor, welches wir von weitem gesehen hatten, ziemlich nahe, ohne eine einzige Stelle gefunden zu haben, an der es möglich war, an den regellosen, schroffen, oft sogar weit überhängenden Steinwänden emporzusteigen. Wenn es uns gelang, die Tschoban hier hereinzulocken, so gab es für sie kein Entrinnen.

Auch die Wasserverhältnisse waren für uns günstig. Wir hatten ganz selbstverständlich angenommen, daß es hier gar kein trinkbares Wasser gebe, und waren daher einigermaßen überrascht, als wir an einer tieferen und sandigen Stelle des Flußbettes bemerkten, daß sie feucht sei. Wir stiegen sofort hinab, um sie zu untersuchen. Da stellte sich zu unserer Beruhigung heraus, daß sie bei längerem Nachgraben allerdings Wasser gab, aber dieses enthielt soviel Salz und widerlich schmeckende Bestandteile, daß es sowohl für Menschen als auch für Tiere vollständig ungenießbar war. Diese Stelle hing mit dem Meer zusammen, welches hier am Engpaß nur eine geringe Tiefe besaß. Die gutes Trinkwasser führende Ton- oder überhaupt undurchdringliche Schicht, welche von den fernen Bergen kam und sich im Brunnenengel öffnete, schien tiefer als der Meeresboden zu verstreichen.

Wir fanden, noch ehe die Dämmerung vorüber war, eine Stelle, welche sich zum Lagern eignete. Gras gab es freilich nicht, aber weich war das Fleckchen doch, weil es aus einer Ansammlung von Flugsand bestand, der eine kleine, abgeschlossene Bucht im Felsen bildete. Da machten wir es uns bequem. Die Hunde bekamen jeder ein Stück Fleisch, die Pferde ihre erste Wüstenration getrockneter Körner, und für die Menschen, nämlich für Halef und mich, hatte Taldscha so gut gesorgt, daß wir noch auf Tage hinaus mit Delikatessen versehen waren, nämlich aber, was bei den Ussul als Delikatesse bezeichnet wird. Mit dem Wasser wurde gespart. Pferde und Hunde bekamen nur einige Schlucke, mehr um sich die Mäuler anzufeuchten, als um den Durst zu stillen, den sie auch gar nicht haben konnten, weil sie sich am Engelsbrunnen mehr als satt getrunken hatten. Ein Feuer wurde nicht angebrannt, einesteils weil es keine besonderen Gründe gab, es zu tun, und andernteils weil es hier schwer war, das nötige Brennmaterial zusammenzusuchen. Auch war keineswegs anzunehmen, daß wir vollständig sicher seien, nicht gesehen zu werden. So einsam die Gegend war, in der wir uns befanden, wer von drüben herüber und von hüben hinüber wollte, mußte sie doch passieren; der Prinz der Tschoban war hier vorübergekommen, ebenso der Maha-Lama und der oberste Minister von Dschunubistan; es konnten also wohl auch noch andere kommen, vor denen wir uns nicht sehen lassen durften. Wir nahmen uns vor, recht baldigst einzuschlafen. Das konnten wir, denn die Hunde hielten Wacht.

Es wurde Nacht; aber ihr Dunkel dauerte nicht lange; der zunehmende Mond stieg herauf. Es herrschte ringsum tiefe Stille, und doch war diese Stille nicht vollständig still. Was war es doch, die Meeresbewegung oder etwas anderes, was ich vernahm, als ob es nicht innerlich, sondern äußerlich und doch nicht äußerlich, sondern innerlich sei? Es schien in der Luft zu sein, und doch auch in der Erde, auf der wir lagen. Der Mond war sonderbar goldig gelb. Sah man ihm direkt in das freundliche Profil, so erschienen seine Strahlen bläulich gefärbt, wohl infolge der Feuchtigkeit der Luft. Es ging ein leises, heiliges Auf- und Niederatmen durch die sonst vollständig ruhende Welt. Kam das etwa von den Bewegungen der See? Halef betete still, ich auch. Eben hatte ich in meinem Innern Amen gesagt, da klang es plötzlich laut und vernehmlich durch die stillhelle Nacht:

»Ia Kudah, ia Kudah, ia Kudah – o Gott, o Gott, o Gott!«

Es kam wie von oben, wie von einer schönen, volltönenden, reinen Altstimme, die aus dem geöffneten Himmel niederklingt. Und als ob dieser Gottesgruß im Herabschweben auch eine tiefere Stimme erhalte, wiederholte er sich im weithin schallenden Bariton:

»Ia Kudah, ia Kudah, ia Kudah – o Gott, o Gott, o Gott!«

»Sihdi, was ist das? Wer ist das? Wo kommt es her?« fragte Halef, indem er sich überrascht in die sitzende Stellung aufrichtete.

»Still!« bat ich. »Hören wir weiter!«

»Glaubst du, daß es sich wiederholt?«

Ja, es wiederholte sich und zwar mit vereinten Stimmen. Im Alt und Bariton zugleich scholl es zu uns herab:

»Ia Kudah, ia Kudah, ia Kudah – o Gott, o Gott, o Gott!«

Das klang so un- oder überirdisch! Es war, als ob Geister über uns schwebten, deren Stimmen uns fassen wollten, um uns hinaufzuheben. Nach einer kurzen Stille folgte diesen einleitenden Ausrufungen etwas vollständig Unbeschreibliches, für das wir in unserer abendländischen Musik und Kunst nicht einen einzigen Ausdruck haben, mit dem es möglich wäre, das, was wir hörten, auch nur annähernd zu bezeichnen. Es waren zwei Stimmen. Ein wunderbarer, jugendlich frischer Alt oder Mezzosopran und ein ebenso wunderbarer, tief ergreifender Baßtenor, bei uns Bariton genannt, die so fern voneinander und doch so nahe beieinander klangen, als seien alle himmlischen und alle irdischen Lobpreisungen in diesem einen »Ia Kudah« und was darauf folgte, vereint. Und was nun hoch in den Lüften über uns betete und flutete, das war ein Duett und dennoch keines; das waren Lieder, ohne Lieder zu sein; das war Gesang in seiner allerhöchsten, weil einfachsten Kunst, und doch kein Gesang, sondern nichts als Sprache, nur Sprache, aber jene vollendete Sprache, die erst dann über die ganze Erde klingen wird, wenn die Kunst nicht mehr zu herrschen, sondern zu dienen strebt und die Güte und Barmherzigkeit die Grammatik des einen, großen, humanisierten Menschheitsvolkes lehren.

Warum ich da gerade die köstlichen Eigenschaften der »Güte« und der »Barmherzigkeit« in Erwähnung bringe, wird der Leser wohl morgen früh schon merken, wenn wir erfahren, wessen Stimmen es waren, die wir hörten. Es handelte sich jedenfalls um eine männliche und eine weibliche Person, welche, wie es schien, hoch oben auf der Platte des Felsentores standen. Sehen konnten wir sie nicht. Höchstwahrscheinlich aber hatten sie uns gesehen. Daß sie trotzdem sangen, sich also nicht vor uns verbargen, war ein Beweis ihrer Friedfertigkeit und Ungefährlichkeit. Und auch fromme Menschen waren sie. Wer an nichts glaubt und kein Bedürfnis hat, sich innerlich zu erheben, dem fehlen Worte und Töne, wie die waren, die wie auf Engelsflügeln jetzt droben im Mondschein schwammen. Sie verklangen in einer langsamen, feierlichen Melodie, welche von dem Alt gesungen, vom Bariton begleitet wurde und mit demselben Ruf schloß, mit dem der Gesang begonnen hatte: »Ia Kudah – o Gott!«

Als nun wieder Stille um uns herrschte, versuchte Halef, seiner Gewohnheit nach, sich in Fragen und Vermutungen über den Sänger und die Sängerin zu ergehen; ich aber wollte mir den tiefen Eindruck, den die Stimmen auf mich gemacht hatten, nicht hinwegschwatzen lassen und gab ihm eine so kurze Antwort, daß er mich begriff und infolgedessen schwieg. Als ich dann einschlief, trat ein lieber, holder Traum zu mir heran und zeigte mir herrliche Wesen, die mich umschwebten. Ihre Farbe war die des leuchtenden Goldes und weißer, duftiger Rosen. Ihre Gestalten erschienen mir köstlicher und schöner, als Menschen je gestaltet gewesen sind. Und ihre Stimmen erklangen in liebevollen, beglückenden Tönen, die mir die Brust so weit und selig machten, daß ich rief Atem holte, die frische, weiche Morgenluft einsog und dann die Augen öffnete. Ich wachte auf. Die Gestalten waren nicht mehr zu sehen, aber ihre Stimmen erklangen weiter, nicht mehr so nahe bei mir, sondern, wie gestern abend, von hoch oben herab. Ich schaute hinauf und konnte die beiden Singenden ganz deutlich erkennen. Es war so, wie ich vermutet hatte: Sie standen auf der Querplatte des Felsentores, ganz vorn, auf einer kühn vorspringenden Stelle. Sie mußten völlig schwindelfrei sein, um dies zu wagen. Es war eine männliche und eine weibliche Person, deren Alter ich der Entfernung wegen nicht bestimmen konnte. Ihre hellen, weiten Gewänder flatterten im Hauch des jungen Tages, der da oben natürlich kräftiger war als hier unten bei uns in der geschützten Tiefe. Vom Morgenrot umflossen, erhielten sie dadurch, daß die Falten ihrer Kleidung sich bewegten, den Anschein, als ob sie selbst in Bewegung seien und den Fels verlassen wollten, um zu uns niederzuschweben.

»Sihdi, die springen noch herab!« sagte Halef, der schon munterer als ich und nur noch nicht aufgestanden war, um mich nicht zu stören. Jetzt sprang er auf, wirbelte die beiden Arme in der Luft und schrie zum Fels empor, daß man sich doch um Allahs willen in acht nehmen und ja nicht heruntergeflogen, sondern heruntergelaufen kommen möge.

Da verstummte der Gesang. Sie lauschten. Sie hatten zwar gesehen und gehört, daß er sprach, ihn aber nicht verstanden. Er legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und wiederholte, was er gesagt hatte. Da wurde er verstanden. Die Sängerin machte mit ihren Händen denselben Gebrauch wie er mit den seinen, und rief uns zu:

»So wartet! Ich komme hinunter!« Dann traten beide von der gefährlichen Stelle zurück, worauf sie verschwanden. Halef sagte, indem er erleichtert aufatmete:

»Allah sei Dank! Das war ja gar nicht mehr anzusehen! Soviel Augenblicke es gab, so vielmal schienen sie im Abstürzen zu sein! Darf ich denn endlich von ihnen sprechen? Gestern abend war es verboten.«

»Weil man so tiefe, heilige Regungen zu achten hat, lieber Halef! Auch jetzt wäre es besser gewesen, wenn du ihren Gesang nicht vor dem Schluß abgebrochen hättest.«

»Verzeih, Effendi! Ich konnte es nicht länger aushalten. Ich hatte Angst, sie würden stürzen. Sag, wer werden sie sein?«

»Das weiß ich nicht. Ihre Sprache ist kein Dialekt, sondern rein und edel, wie nur ein vornehmer Mund sich auszudrücken pflegt. Wir werden ja sehen. Sie will kommen. Wir reiten ihr die wenige Schritte entgegen.«

Gereinigt und gesattelt war schnell. Dann stiegen wir auf und wendeten uns dem Tor zu, welches zu erreichen nur ganz kurze Zeit erforderte. Auch bis dorthin gab es weder auf der einen noch auf der andern Seite des Flußbettes eine Stelle, an der man emporklettern konnte. Die Falle war also in unserm Sinne vollständig tadellos gebaut. Auch die beiden Sänger hatten nicht hier hinaufgekonnt. Der Weg, der die Altistin herunterführte, mußte jenseits des Tores liegen, auf der Nord- oder Außenseite desselben. Wir ritten also hindurch. Jenseits angekommen, avancierten wir nur noch einige Schritte weiter und hielten dann, um die Ankunft der Frau – oder war es ein Mädchen? – zu erwarten.

Es vergingen einige Minuten. Niemand kam. Halef wurde ungeduldig. Er meinte, daß wir noch ein Stück weiter vorwärts müßten; ich aber riet, zu bleiben. Ich hielt still; er dagegen ritt langsam hin und her. Da sah ich, daß er plötzlich eine Bewegung der Überraschung machte, die Hand nach seinem Gesicht bewegte und dann nach oben sah.

»Was ist?« fragte ich.

»Es fiel ein Steinchen herab«, antwortete er.

Nach einiger Zeit machte er dieselbe Bewegung, und dann auch noch zum dritten Male.

»Sihdi, man wirft!« sagte er, indem er wieder nach oben schaute. »Man zielt sehr genau, nämlich immer nach meinem Gesicht. Da oben steckt jemand!«

»Wohl kaum! Kein Mensch kann da hinauf und wieder herunter!«

»Und doch muß jemand es können, denn die Steinchen kommen von oben! Wer mag es sein, der es wagt, mit mir zu spaßen?«

»Ein Mädchen. Ein liebes, munteres Kind von noch nicht siebzehn Jahren.«

»Siehst du sie etwa?« fragte er da schnell.

»Nein«, antwortete ich.

»Wie kannst du da wissen, daß sie lieb ist und munter und noch nicht siebzehn Jahre alt?«

»Weil eine, die nicht mehr so jung ist und auch nicht lieb und munter ist, wohl nicht mit dir scherzen würde.«

»Ja, das stimmt allerdings. Kennst du etwa auch schon ihre Gestalt?«

»So ziemlich.«

»Woher?«

»Ich beurteile sie nach der Kraft und Fülle und dennoch außerordentlichen Weichheit ihrer Stimme, denn ich nehme an, daß es die Sängerin ist, die versprochen hat, herabzukommen. Sie ist gewohnt, tief zu atmen; sie klettert gut; sie ist schwindelfrei. Sag, was hieraus zu schließen ist!«

»Hm!« antwortete er verlegen. »Willst du das nicht selbst sagen, Sihdi?«

»Nein. Ich möchte es von dir hören.«

»Schön – gut – also, ich schließe daraus, daß sie scharfe Augen hat, eine kühne, vortretende Nase, einen kräftigen, breiten Mund, einen starken, dicken Hals, aus dem die lauten, vollen Töne kommen, sehr tüchtige Schultern und Achseln, zwei eisenfeste Kletterhüften ...«

Er wurde unterbrochen. Ein kurzes, fröhliches Lachen erscholl. Halef richtete den Blick wieder in die Höhe und fragte:

»Hast du es gehört, Effendi? Sie lacht über ihre eigenen Hüften! Das kommt mir wie ...«

Jetzt unterbrach er sich selbst, griff sich mit der Hand nach dem Gesicht und fuhr dann fort:

»Da wirft sie wieder! Und zwar nicht mit einem, sondern gleich mit mehreren Geschossen! Ich steige ab; ich muß sie fangen!«

Er sprang aus dem Sattel und untersuchte den Riesenpfeiler des Tores, in dessen Nähe wir hielten, mit scharfen Augen. Er glaubte wirklich, der Schalk sei da oben versteckt. Ich aber hatte, so oft er getroffen wurde, aus seinen Bewegungen ersehen, aus welcher Richtung die kleinen, mit so großer Sicherheit geschleuderten Steinchen kamen. Sie kamen nicht von oben sondern von unten her, aus der Nähe des Pfeilers, wo eine Menge zwei, drei und vier Meter hoher Felsenstücke wie durcheinandergeworfen lagen, hinter denen sich eine vollständig senkrechte Tafelwand so glatt in die Höhe hob, daß sie nicht einmal für ein Eichkätzchen oder einen Kletteraffen, also noch viel weniger für einen Menschen zu passieren war. Hier konnte die Sängerin ganz unmöglich herunterkommen, und darum hatte ich dieser Stelle gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Nun aber lenkte ich meinen Rappen hin.

»Sihdi!« rief es da leise.

»Ja«, antwortete ich. »Wo bist du? Komm hervor!«

Niemand kam. Da ging ich auf den Scherz ein und stieg vom Pferd, um zu suchen.

»Sihdi!« klang es wieder, und zwar links; aber als ich hinkam, stand ich vor der nackten Tafelwand, und kein Mensch war zu sehen. »Effendi!« rief es von rechts. Ich wendete mich dorthin, zwischen allen Steinen hindurch, erreichte aber nur wieder die Wand und weiter nichts. »Sihdi – Effendi«, und »Effendi und Sihdi«, so klang es bald hier und bald dort, aber der Schabernack war nicht zu sehen und also auch nicht zu fassen. Halef mußte jetzt einsehen, daß er sich geirrt hatte. Er gesellte sich zu mir und suchte mit, doch ebenso ohne Erfolg.

»Sie ist unsichtbar!« lachte er, aber ziemlich ärgerlich.

»Nein, sondern nur barfuß«, antwortete ich. »Hätte sie Schuhe an, so würden wir sie hören.«

»Aber ein Mann, wie du bist, sollte sich doch nicht von einem Mädchen, welches noch nicht siebzehn Jahre zählt, an der Nase führen lassen!«

»Da hast du freilich recht. Ich werde sie also binnen zwei Minuten fangen!«

Da erklang links von mir ein halblautes, herzliches herausforderndes Lachen, aber nur einige Augenblicke später rief es rechts von mir:

»Sihdi, in zwei Minuten!«

»Wahrscheinlich schon in einer!« antwortete ich. »Nimm dich in acht!«

Ich hatte den Spaß bis jetzt in aufrechter Haltung mitgemacht; jetzt aber, da es sich sozusagen um den Befähigungsnachweis handelte, drang ich schnell zwischen die Steine ein und legte mich dann nieder, um mich auf Händen und Füßen weiterzubewegen. Ich ahnte die Stelle, um die es sich handelte, hatte sie aber bisher vermieden, um der kleinen Humoristin die Neckerei nicht zu verderben. Es gab hier unbedingt ein Versteck, und zwar ein nicht leicht auffindbares Versteck. Dieses konnte nicht zwischen den einzelnen Steinstücken liegen, denn da war ich schon überall gewesen, ohne etwas zu sehen. Es mußte sich vielmehr in der Felswand selbst befinden und durch ein vorliegendes Felsenstück dem Auge entzogen sein. Einen solchen Ort gab es allerdings. Ich war beim Suchen schon vorbeigekommen, Halef auch. Da lag ein vielleicht fünf Meter breiter Stein, unten von der Felswand abgerückt, oben aber fest an sie gelehnt, wie ein schief abfallendes Dach. Der Zwischenraum war schmal und nicht so hoch, daß man drin stehen konnte. Man mußte sitzen oder knien. Ich hatte beim Suchen schon zweimal hineingeschaut, aber nichts gesehen. Der Raum war nach beiden Seiten offen; man sah hindurch. Aber von ihm aus mußte ein Loch oder so etwas Ähnliches in die Felswand gehen, und das war das Versteck, in welches sich unser Kobold schnell wieder verbarg, so oft er uns geworfen oder angerufen hatte.

So dachte ich, und es zeigte sich sehr schnell, daß dieser Gedanke der richtige war. Ich kroch bis an den schief vorliegenden Stein, lehnte mich eng an ihn an, um möglichst wenig Raum einzunehmen, und wartete. Ja, da kam es zu meiner linken Hand herausgehuscht und zwischen die Steine hinein, so schnell, daß ich nur etwas Weißes sah, weiter nichts. Ebenso schnell kroch ich nun zu meiner rechten Hand in den Zwischenraum hinein, und zwar bis in die Mitte desselben, wo ich zu meiner Genugtuung eine fast zwei Meter hohe und über mannesstarke Öffnung fand, durch die ich kroch, denn gehen konnte man nicht, da sie oben zu schmal war. Sie war gar nicht lang und führte zu meinem Erstaunen nicht in die Felsenwand hinein, sondern aus ihr schnell wieder heraus in das Freie. Diese Wand war nämlich nur auf ihrer vorderen Seite kompakt, hinten aber zerrissen und zerklüftet. Diese Risse und Klüfte griffen ineinander ein und bildeten in ihrer Gesamtheit einen gar nicht schwer zu gehenden Zickzackweg nach oben, der aber von der Außenseite nicht zu sehen war. Der Anfang dieses Zickzackweges, nämlich die Öffnung, die ich jetzt hinter mir hatte, war früher jedenfalls nicht verborgen, sondern unverdeckt gewesen; sie hatte offen in das Tal des Flusses gemündet. Später aber hatte es Gründe gegeben, diesen Zugang zu der Höhe des Felsentores zu verstecken. Der Stein war vorgelegt worden, um die Stelle so zu maskieren, daß man sie wenigstens nicht gleich beim ersten Male sah. Ich richtete mich zunächst auf, um das alles mit einem raschen Blick zu überfliegen; dann setzte ich mich auf einen Stein, der neben dem Loch lag, durch welches ich soeben gekommen war und durch welches nun schleunigst auch die Sängerin kommen mußte, um sich wieder zu verstecken, während wir draußen vergeblich nach ihr suchten.

Und sie kam wenige Augenblicke nach mir und genau so gekrochen wie ich! Dann richtete sie sich auf, von mir abgewendet, so daß ich hinter ihr saß und von ihr nicht gesehen wurde. Ein halblautes, unbeschreiblich liebes, süßes Lachen entquoll ihrer Brust. Hätte man weiter nichts von ihr gehört als nur dieses eine, einzige Lachen, so hätte man sie doch schon lieben müssen! Sie trat einen Schritt zurück; dabei berührte sie mich. Sie fuhr augenblicklich herum, während ich mich zu gleicher Zeit erhob.

»Sihdi! Effendi!« rief sie erschrocken aus, während ihr schönes, edles Gesicht in glühender Röte flammte.

»In einer Minute! Habe ich Wort gehalten?« fragte ich.

»Ja«, antwortete sie, indem ihr Auge, um mich zu betrachten, größer zu werden schien. »Du hältst wohl immer Wort?«

»Woher weißt du das?«

»Ich sehe es dir an. Ich wagte nur, ihn zu werfen, nicht aber dich. Wie heißt er?«

»Hadschi Halef Omar.«

»Ein Hadschi ist er? Also ein frommer Mann? Das will mir wohlgefallen. Hätte ich das gewußt, so hätte ich nicht mit ihm gescherzt. Aber als ich ihn sah, kam es mir vor, als müsse man mit ihm spielen!«

»Er liebt den Scherz, doch nicht das Spiel. Er ist ein tapferer, treuer, weitgereister Mann, der oberste Scheich eines berühmten Stammes.«

»Von welchem Volk?«

»Vom Volk der Araber.«

»Von jenseits des Meeres?«

»Ja.«

»Ein – Araber! Von – jenseits des Meeres!« wiederholte sie für sich, als ob ihr das von einem ganz besonderen, persönlichen Interesse sei. »Bist du auch Araber?«

»Nein. Ich bin Europäer!«

»Ein Europäer?« fuhr sie auf. »Aus welchem Land? Verzeih, Effendi, daß ich dich frage!«

»Kennst du denn die Länder von Europa?«

»Auch ihre Völker. Mein Vater hat mich das gelehrt. Er weiß sehr viel, fast alles.«

»Ich bin Alemani – Deutscher –.«

Das schlug sie die kleinen, außerordentlich schön gebauten Hände froh zusammen und rief aus:

»Ein Alemani! Wie ihn das freuen wird! Sobald ich ihm das mitteile, wird er dich lieben! Wenn er mich fragt, wie du heißt, was soll ich ihm da sagen?«

»Man nennt mich Kara Ben Nemsi.«

»Nemsi ist dasselbe wie Alemani. Mein Vater heißt Abd el Fadl – Diener der Güte – und ich, ich heiße Merhameh – Barmherzigkeit –.«

»Waret ihr beide es, die gestern abend und heute früh gesungen haben?«

»Ja. Kennst du das, was wir sangen?«

»Nein.«

»Es ist das Morgen- und Abendgebet von Dschinnistan. Wir singen sie beide täglich.«

»So kennst du Dschinnistan?«

»Es ist mein Vaterland. Das Geschlecht Fadl ist so alt, wie die Menschheit dort überhaupt. Mein Vater ist ein treuer Diener des Herrschers. Er wurde von ihm ausgesandt, um ...«

Sie hielt plötzlich inne, als ob sie etwas gesagt habe, was sie nicht sagen dürfe, und fuhr dann fort:

»Nun wohnen wir jetzt hier auf dem Felsentor und warten, daß in Erfüllung gehe, was uns verheißen wurde.«

Sie gab diesen Worten einen Ton, der mich zu der Frage drängte:

»Meinst du etwa eine Verheißung, die aus Sitara kommt?«

Da hob sie ihr Gesicht und ihre Augen mit dem Ausdruck größter Spannung zu mir empor und fragte:

»Kennst du Sitara, Effendi? Kennst du es?«

»Ich kenne es.«

»Aber nicht seine Herrscherin?«

»Auch diese.«

»Dem Namen nach?«

»Persönlich.«

»Du hast sie gesehen?«

Sie fragte so langsam, so gewichtig. Ihre langen, schweren Wimpern beschatteten dabei einen Blick, der voll Erstaunen, Wißbegier und verhaltener Freude zu mir herüberleuchtete.

»Nicht nur gesehen, sondern auch gesprochen. Ich war ihr Gast.«

»In Ikbal?«

»Ja, in ihrem Haus.«

»Du hast bei ihr gewohnt?«

»Ja.«

»Du kommst etwa von ihr? Sie hat dich etwa gesandt?«

»Warum fragst du das?«

Sie war wie begeistert gewesen. Bei diesen meinen Worten beherrschte sie sich und fuhr ruhiger fort:

»Verzeih, Sihdi! Ich weiß, ich bin noch zu jung zu solchen Fragen. Aber ich bitte dich: Erlaube mir, dich einmal zu berühren!«

»Gern! Greif zu!«

Ich nahm an, daß sie nach meiner Hand fassen wolle. Sie tat das aber nicht, sondern sie trat näher zu mir heran, hob die ihrige empor und klopfte mir mit den Spitzen des Zeige- und des Mittelfingers auf die Brust, indem sie ihr Köpfchen mir horchend entgegenneigte.

»Er hat ihn; er hat ihn!« jubelte sie auf. »Ich dachte es mir! Ich habe es geahnt! Er hat ihn!«

»Wen habe ich? Was?«

»Den Schild! Ich fühle ihn! Oder ist die Platte, welche dein Herz zu beschützen hat, nicht ein Schuld, den dir die Herrin von Sitara mitgegeben hat?«

»Allerdings. Weißt du, wie diese Herrin heißt?«

»Marah Durimeh! Ich muß fort! Ich muß zum Vater! Ich muß ihm melden, daß ...«

Sie konnte den Satz, den sie angefangen hatte, nicht vollenden, denn in diesem Augenblick ereignete sich etwas, was mit dem tiefen Ernst, der uns beide beherrschte, in grellem Widerspruch stand. Nämlich zu unseren Füßen, ganz unten am Boden, bewegte sich etwas. Halefs Kopf erschien. Dann kamen die Hände und die Arme aus dem Loch heraus. Die Schultern schoben sich nach. Er sah unsere Füße, überhaupt die unteren Körperteile von uns, stemmte die Ellenbogen fest auf und hob den Kopf empor, um uns anzuschauen. Das sah so drollig aus, und sein Gesicht zeigte dabei einen so belustigenden Ausdruck, daß wir beide ganz den Ernst vergaßen und herzlich zu lachen begannen.

»Ihr lacht?« fragte er, indem er nicht wußte, ob er in unsere Heiterkeit mit einstimmen oder sich über sie ärgern sollte. »Ich finde die Sache gar nicht so lächerlich wie ihr! Sie ist sogar sehr wichtig!«

»Wichtig?« fragte Merhameh, ohne ihr Lachen einzustellen, weil er, ohne sich aufzurichten, mit halbem Leib im Loch steckenblieb. »Weshalb?«

»Als Beweis! Der Sihdi hat sein Wort gehalten, dich in einer Minute zu entdecken. Und ich habe bewiesen, daß auch ich nicht länger brauche, es zu tun. Das muß doch anerkannt werden! Oder nicht?«

»Allerdings!« stimmte ich heiter ein. »Wie hast du den Weg so schnell gefunden?«

»Auf die pfiffigste und einfachste Weise, die es gibt. Ich schlich mich heimlich und leise hinter dir her, denn ich sagte mir: Was der kann, das kann ich auch! Als du dich eng an den Stein lehntest, lag ich schon hinter dem nächsten Stein. Als du die – die – den Spaßvogel forthuschen sahst, sah ich ihn auch. Als du hinter den Stein krochst, nahm ich schnell die Stelle ein, an der du dich soeben befunden hattest. Ich hörte das Vöglein »Effendi, Effendi« rufen; dann kehrte es wieder zurück und verschwand, ohne mich zu sehen, zwischen dem Stein und der Felsenwand. Ich wartete noch einige Augenblicke und folgte ihr. Sie war verschwunden. Wohin? Ich suchte; ich fand das Loch und kroch hinein, genau so, wie auch ihr hineingekrochen seid. Was lacht ihr mich da aus! Übrigens höre ich, daß sie dich bereits Sihdi nennt; ihr scheint also schon auf sehr vertraulichem Fuß miteinander zu stehen. Woher weiß sie denn, daß du mein Sihdi bist?«

»Das habe ich nicht erst hier, sondern schon draußen gehört«, antwortete sie. »Du hast ihn ja laut genug Sihdi und Effendi genannt, als du immerwährend hinauf zum Himmel gucktest. Jetzt scheinst du die Erde zu lieben!«

»Die Erde?« fragte er. »Wieso? Ach so! Ich stecke noch drin!«

Er kam vollends herausgekrochen und richtete sich empor. Er sah sie nun nicht mehr von unten herauf, sondern in waagerechter Augenebene. Und da geschah etwas so Überraschendes, so Seltenes, so Tiefergreifendes, daß ich es selbst noch heute nicht ohne Rührung niederschreibe. Er sah sie an, trat einen halben Schritt zurück und sah sie wieder an. Sein Gesicht veränderte sich. Es wurde ernst, dabei aber weich und immer weicher. Sein Auge befeuchtete sich. Es nahm den mildesten und zartesten Ausdruck an, dessen es fähig war. Und doch strahlte es auch in Begeisterung auf. Es war, als ob er träume. Dann griff er nach dem Ärmel ihres weißen, leinenen Gewändes, küßte den Saum desselben und sagte, sich an mich wendend:

»Sie ist schön! Sie ist sehr schön, Sihdi! Unendlich schön!«

Sie errötete nicht, und sie antwortete nicht, wie ein anderes Mädchen wohl geantwortet hätte, sondern sie sagte ebenso ernst und ebenso aufrichtig wie er:

»Er sieht nicht mich; er sieht nur meine Seele; darum spricht er so!«

»Deine Seele?« fragte er. »Ja, diese auch! Doch meinte ich zunächst nur die Gestalt. Grad so, wie du, muß Marah Durimeh, die Menschheitsseele, vor den Augen derer, die das Glück hatten, sie zu sehen, gestanden haben, als sie noch jung und von dem Schmerz des Lebens unberührt, in deinem Alter war!«

Da antwortete sie:

»Du küßtest mein Gewand. Dieser Kuß galt nicht mir, sondern ihr. Was von euch schön an uns gefunden wird, was euch an uns beglückt, veredelt und erhebt, das kommt von ihr. Ich sende ihr den heiligen Kuß, der ihr gehört, indem ich ihn dem gebe, der sie kennt.«

Sie trat schnell zu mir heran und drückte ihre Lippen auf den Saum meines Ärmels. Dann fuhr sie fort:

»Vater läßt euch fragen, ob er herunterkommen soll, oder ob ihr vorzieht, zu ihm hinaufzusteigen?«

»Wir steigen hinauf, antwortete ich, »möchten aber unsere Pferde nicht in der Weise stehenlassen, daß jemand, der inzwischen kommt, sie sieht.«

»Ich kenne einen Ort, der sich sehr gut zum Versteck für sie eignet«, erklärte sie. »Er liegt ganz in der Nähe. Ich werde ihn Halef zeigen. Es genügt, daß er mit mir geht. Du aber, Effendi, steig voran! Der Weg ist nicht zu verfehlen. In kurzer Zeit holen wir dich ein.«

Ich nickte ihr zu, sah nur noch, daß Halef sich bückte, um wieder im Loch zu verschwinden und wendete mich dann ab, nach ihrem Willen zu tun.

Der Weg war, wie bereits gesagt, ein Zickzackweg, durch enge Risse und Klüfte zur Höhe hinauf. Indem ich ihm langsam folgte, dachte ich an das junge, schöne, unendlich sympathische Wesen, welches soeben in meinen Gesichtskreis getreten war. Sie hieß Merhameh, »die Barmherzigkeit«, und gehörte dem uralten, berühmten Geschlecht der Fadl, zu deutsch »der Güte« an. Viele Söhne dieses Geschlechtes sind erleuchtete Herrscher, bahnbrechende Gelehrte und berühmte Künstler gewesen. Wer die Geschichte der Menschheits- und Völkerentwickelung kennt, der weiß, wie groß die Zahl der bedeutenden und einflußreichen Männer gewesen ist, die Fadl, Ben Fadl oder Abd el Fadl geheißen haben. Und jetzt sollte ich so ganz unvermutet einen Abd el Fadl kennenlernen, der ein Abgesandter des Mirs von Dschinnistan war und gegenwärtig mit seiner Tochter hier auf dem Felsentor wohnte! Welche Zwecke und Gründe hatte das?

Es fällt mir nicht ein, die Schönheit Merhamehs zu beschreiben; die wahre Schönheit hat ja eben das Erkennungszeichen, daß sie nicht beschrieben werden kann! Ich will nur sagen, daß sie nicht etwa nach Art wohlhabender Leute, sondern sehr arm gekleidet war. Sie ging barfuß, also wirklich so, wie ich vermutet hatte. Darum, und weil der Boden aus Geröll und nicht aus Sand bestand, hatte ich während des scherzhaften Suchens keine Fußspuren von ihr finden können. Ihr einfaches, orientalisches Gewand wurde von einem Ledergürtel zusammengehalten. Es bestand aus gewöhnlichem, billigem Linnen, war aber weiß und gänzlich fleckenlos, was ich bei der Seltenheit des Wassers in dieser Gegend besonders hervorzuheben habe. Ihr starkes, dunkles, welliges Haar war nicht geflochten, sondern wurde im Nacken von einer Schnur mit Blumen zusammengehalten und fiel von da wieder offen und in seltener Länge hernieder. Alles übrige, was an ihr zu erwähnen ist, wird man im weiteren Verlauf der Ereignisse kennenlernen.

Ich war noch nicht weit gekommen, so hörte ich Geräusch hinter mir. Als ich mich umschaute, sah ich Aacht und Uucht, meine beiden Hunde, die von Halef die Erlaubnis bekommen hatten, mir sogleich zu folgen. Sobald sie mich erreichten, fragten sie mit den Augen und den wehenden Ruten, ob sie voraneilen dürften; ich aber bat sie, indem ich sie streichelte, bei mir zu bleiben. Da taten sie es gern. Man kann nämlich auch Tiere bitten, indem man das, was man von ihnen wünscht, nicht befehlend, sondern durch Liebkosungen sagt. Sie tun es da viel lieber, und ich meine, daß dies auch ihrer Zuneigung und Treue förderlich sei.

Der Zickzackweg hatte mich erst im Zick nach links und dann im Zack nach rechts geführt. Jetzt wendete er sich wieder nach links. Da hörte ich unter mir Stimmen. Merhameh und Halef kamen. Sie befanden sich auf dem tieferen Zick; ich ging auf dem höheren Zack. Ich konnte sie ebensowenig sehen, wie sie mich; aber ich hörte alles, was sie sagten. Soeben sprach Halef:

»Du kannst sehr ernst sein, aber auch sehr heiter, grad so wie ich. Warum warfst du nach mir?«

»Es fiel mir so ein. Es kam mir so in die Hand. Ich konnte nicht anders. Du sahst so streitbar-sanftmütig und so – so – scherzerweckend aus!«

»Scherzerweckend? Maschallah! Scherzerweckend heißt doch so viel wie lächerlich! Da bitte ich doch sehr, deine Meinung über mich zu ändern! Wenn du wüßtest, wer ich bin, so würdest du ...«

»Wer du bist, das weiß ich!« fiel sie ihm in die Rede.

»Wirklich? Nun, also wer?«

»Du bist der Scheich eines berühmten Stammes!«

»Das stimmt!« bestätigte er stolz.

»Bist ein Araber!«

»Natürlich! Ewas anderes möchte ich gar nicht sein!«

»Bist ein tapferer, treuer und weitgereister Mann!«

»Auch das weißt du? Höre, das gefällt mir sehr von dir, sehr, sehr! Aber woher weißt du es?«

»Vom Effendi.«

»Von ihm? Konnte es mir denken! Er hat es dir also mitgeteilt? Genau so, wie du es sagtest?«

»Ja, genau so!«

»Ein tapferer, treuer, weitgereister Mann?«

»Ja.«

»Allah segne ihn! Er sagt niemals eine Lüge. Er redet stets die Wahrheit, stets. Besonders dann, wenn er mich lobt! Er ist ein ganz bedeutender Menschenkenner. Das sieht man aus der Meinung, die er von mir hat.«

»Allerdings! Seine Menschenkenntnis ist jedenfalls größer als die deinige!«

»Oho! Warum denkst du das?«

»Weil seine Meinung über dich viel richtiger ist, als die deinige über mich.«

»Woher weißt du das? Wer hat dir diese Unwahrheit gesagt?«

»Du selbst!«

»Nein!«

»O doch!«

»Beweise es mir!«

»Sogleich! Denke doch an meine kühn hervortretende Nase!«

»Allah w'Allah! Welch ein Fehler von mir!« rief er bedauernd aus.

»An meinem kräftigen, breiten Mund!«

»O Traurigkeit!«

»An meinem starken, dicken Hals!«

»O Wehklage!«

»An meine tüchtigen Schultern und Achseln!«

»O Jammer!«

»An meine eisenfesten Kletterhüften!«

»Halt auf, halt auf, halt auf! Das war ja bloß Vermutung! Das habe ich gesagt, noch ehe ich dich sah; die Menschenkenntnis aber beginnt doch wohl erst dann, wenn man die Person, von der man spricht, gesehen und beobachtet hat. Meine von dir beleidigte Menschenkenntnis zwingt mich, dir mitzuteilen, wie ich nun jetzt über dich denke, da ich dich hier bei mir gehen sehe. Ich fange da beim niedrigsten Reich, nämlich beim Steinreich an, gehe auf das Pflanzen-, Tier- und Menschenreich über, komme von da zu den Engeln und höre dann droben bei den Sternen auf.«

»Du machst mich wißbegierig!« versicherte sie.

»Ja, das glaube ich. Also höre! Du bist der schönste Edelstein, den es gibt. Kein Jaspis, kein Amethyst, kein Rubin, kein Diamant kann dich erreichen! Bitte, geh langsamer! Du bist sogar eine Perle! Aber sag, warum läufst du jetzt plötzlich so schnell?«

»Weil ich den Effendi einholen will.«

»Das ist gar nicht nötig. Wir erreichen ihn auch droben noch zeitig genug! Also du bist die prächtigste von allen Blumen. Kein Veilchen, kein Tausendschönchen, keine Lilie, keine – so lauf doch nicht; so warte doch! – Tulpe und Rose ist mit dir zu vergleichen! Langsamer, langsamer, sonst komme ich dir nicht nach!«

»Mach schnellere und größere Schritte!« rief sie lachend zurück.

Da sie sich beeilte, ihm voranzukommen, erhob er seine Stimme immer mehr und mehr, indem er nun zum Tierreich überging:

»Du bist der lieblichste aller Schmetterlinge – ein süßes, goldglänzendes Käferlein – eine flötende Nachtigall – ein schimmernder Paradiesvogel – ein – ich bitte, bleib doch stehen! Du raubst mir sonst den Atem!«

»Wenn ich Schmetterling oder Vogel bin, so muß ich doch fliegen!« scherzte sie zurück.

Der Stimme nach schien sie ihm schon sehr weit vorangekommen zu sein. Um von ihr gehört zu werden, genügte es schon nicht mehr, laut zu sprechen, sondern er mußte rufen:

»So höre ich mit den Tieren auf und komme zu den Menschen! Du bist ein Kind der Holdseligkeit und Liebenswürdigkeit – eine Tochter des Ebenmaßes und der Wohlgestalt – so höre doch! Bleib an der Ecke stehen! – Eine Schwester der Anmut und der Augenweide – bist eine Prinzessin, eine junge Königin, zu deren Füßen – o Qual, o Pein, o Schmerz; sie bleibt nicht stehen! Sie verschwindet um die Ecke! Und ich habe ihr noch gar nicht gesagt, daß sie ein Engel ist, sogar ein Stern, ein Stern, der sich ...«

Mehr hörte ich nicht, denn hinter mir rief es:

»Effendi, siehst du mich? Ich komme!«

Ich schaute zurück. Sie war soeben um den letzten Winkel des Weges gebogen und für Halef unsichtbar, für mich aber sichtbar geworden. Ich blieb stehen und ließ sie herankommen. Ihr Gesicht glänzte vor Vergnügen, und aus ihren Augen strahlte ein seelischer Lebensüberschuß, der in ihrer jetzigen Einsamkeit in Gefahr gewesen war, zu verkümmern. Es ging ihr genau so wie der großen Menschenfreundin, deren Namen sie trug, nämlich der Barmherzigkeit: wenn sie sich nicht bestätigen kann, verschwindet sie in sich selbst.

»Ich bin nur zehn Minuten lang mit deinem Hadschi allein gewesen«, sagte sie, »aber ich kenne doch schon seine ganze Berühmtheit nebst sämtlichen Vorzügen, die er besitzt. Auch Hanneh, die lieblichste unter den Blumen, kenne ich bereits, und ebenso auch Kara Ben Halef, seinen Sohn, der einst noch viel berühmter als sein Vater sein wird. Effendi, ich bin ihm entflohen, weil er die Absicht hatte, mich zu loben und zu preisen. Er wollte unten bei den Steinen beginnen und erst oben am Himmel aufhören. Aber nicht ich verdiene dieses Lob, sondern er selbst. Er funkelt wie ein Edelstein und leuchtet wie ein Stern. Zwischen beiden hegt das Pflanzen-, das Tier- und das Menschenreich mit all den schönen Namen, die auf ihn noch besser passen würden, als auf mich. Seine Liebe zu dir aber ist so innig, so grenzenlos und rührend, wie die Liebe des Leibes zur Seele. Sie hat ihm sofort mein ganzes Herz gewonnen!«

Wie die Liebe des Leibes zur Seele! Welch ein Ausdruck, welch ein Vergleich. Von einem so jungen Mädchen! Ich sah von der Seite in ihr liebes, schönes Gesicht herunter. Der Ausdruck desselben war gar nicht so, als ob sie etwas Besonderes gesagt hätte. Wenn dieser Ton für sie der gewöhnliche war, in dem sie mit ihrem Vater verkehrte, so stand mir die Freude bevor, heut einen hochdenkenden Orientalen kennenzulernen.

Der Weg war an vielen Stellen so schmal oder so steil, daß Merhameh vorangehen mußte. Eine Unterhaltung zu führen, war also nicht bequem. Sie zog aber auch ohnedies meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Eine jede ihrer kräftig schönen, harmonischen Bewegungen nahm das Auge gefangen. Sie kam mir vor wie ein Gedicht, wie ein lebendiges Sonett, von Gott selbst in Fleisch und Blut geschrieben, um zu der Schönheit ihres Namens die gleiche Schönheit ihres Körpers zu gesellen.

Kurz, bevor wir oben ankamen, holte uns Halef ein. Er hatte sich gesputet, meine Begrüßung mit Abd el Fadl nicht zu versäumen. Ich sah ihm an, daß er, als er uns erreichte, eine scherzhafte Bemerkung für die Tochter auf der Zunge hatte; dieser Scherz aber zog sich vor dem Ernst und der Erhabenheit des Ausblickes zurück, der sich uns jetzt bot, da wir die Höhe erreichten. Wir standen jetzt auf dem einen, dem westlichen Pfeiler des Tores und hatten nur noch die Querplatte zu erklimmen, welche den obern Schluß der Öffnung bildete. Als wir das getan hatten, sahen wir zu beiden Seiten das unendlich weite Meer und hinter und vor uns die scheinbar ebenso weite Wüste liegen. Kein Schiff, kein Boot belebte den Ozean, der nicht, wie gestern, in langgestreckten, blauen Wogen, sondern in kurzen, dunkelgrünen, schaumgekrönten Wellen ging. Es sah aus, als bestehe dieser Schaum aus den Atmungsperlen eines sich unten in der Tiefe vollziehenden, geheimnisvollen Lebens, welches sich zwar nach oben sehne, dieser Sehnsucht aber nur in Gestalt dieser Perlen folgen könne. Zurückblickend, sahen wir weiter nichts, als ganz draußen am Rand der sandigen Öde eine kleine winzige Erhöhung, die man kaum noch zu erkennen vermochte. Das war der Brunnen mit dem Engel. Und vorwärts schauend, flog der Blick über eine ungemessene, trostlos erscheinende Wüsteneinsamkeit, die für unser Auge durch die vulkanischen Rauchwolken Dschinnistans abgeschlossen wurde. Und mitten in dieser Ausgeschlossenheit und Verlassenheit der schmale, steinerne Engpaß von Chatar, der an jedem Augenblick verschwinden kann, verschlungen von den beiden Meeren, die, unaufhörlich nagend, an ihm zehren. Und auf dem schmalen Tor dieses Passes wir paar armselig schwachen Geschöpfe, die wir uns trotz dieser Armseligkeit mit großen Plänen trugen! Wenn wir von oben hinunterblickten, erschien es uns infolge der optischen Täuschung, als ob die Landenge auf dem Wasser schwimme und immerwährend hin und hergeworfen werde, um plötzlich umzukippen und mit uns in den Fluten zu verschwinden. Halef setzte sich schnell nieder und sagte:

»Sihdi, ich kann nicht stehenbleiben, denn mir kommt der Schwindel ins Gehirn. Ich muß mich niederlassen, sonst fliege ich hinab. Geht es dir nicht auch so?«

»Ein wenig, ja. Doch hoffe ich, daß es nur vorübergehend ist.«

»Bei mir nicht. Ich fühle, daß ich nicht bleiben kann, sondern hinunter muß. Das Meer sperrt beide Rachen auf, einen rechts und einen links, um mich zu verschlingen!«

Und sich an Merhameh wendend, fuhr er fort:

»Was müßt ihr für Augen und für Nerven haben, du und dein Vater! Ich sitze hier auf der Mitte des Tores und bin doch voller Angst und voller Grauen. Ihr aber standet, als ihr gestern und heute sangt, ganz draußen auf der äußersten Ecke. Ich würde da schon gleich im ersten Augenblick hinunterstürzen!«

»Wir sind es gewohnt«, sagte sie einfach. »Es ist uns unmöglich, den festen sicheren Felsen mit dem trügerischen, beweglichen Wasser zu verwechseln.«

»Ich habe mir während des Emporsteigens eine Begrüßungsrede einstudiert, die ich deinem Vater halten wollte. Nun sitze ich leider da und kann sie nicht halten! Das tut meinem Herzen weh!«

»So erlaube, daß ich dir dieses Weh vom Herzen nehme! Steh auf, und komm! Ich werde dich führen.«

»Du? Mich? Hm! Ja, das ginge vielleicht. Aber hältst du mich wohl auch fest?«

»So fest, daß du gar nicht wanken kannst! Schau, dort ist der Vater. Er wartet. Komm!«

Wie schon erwähnt, lag hier oben auf der Höhe des Tores ein Steinhaufen, von Büschen umgeben. Diese Büsche wurzelten in der steinernen Querplatte. Wie sie da ihr Leben fristeten, erschien mir wie ein Rätsel. Jetzt sah ich, daß dieser Steinhaufen eigentlich eine Hütte war. Abd el Fadl trat soeben heraus. Er war barfuß wie seine Tochter und ebenso äußerst sauberweiß gekleidet. Das einfache, haikartige Gewand wurde an den Hüften von einer Schnur zusammengehalten. Um den Kopf war ein weißes Tuch von billigster Leinwand derart gewunden, daß zwei Zipfel in sehr eigenartiger, von mir noch nie gesehener Weise bis auf die Schultern niederhingen. Darin steckte vorn eine Nadel, deren Knopf aus einer ganz gewöhnlichen, bleiernen Flintenkugel bestand.

Abd el Fadl war von hoher, edler Gestalt. Seine ruhigen, sichern Bewegungen verrieten Charakterfestigkeit und Klarheit über sich selbst. Sein Gesicht war das eines Mannes von schon über sechzig Jahren, der innerlich aber noch Jüngling ist. Die Familienähnlichkeit mit seiner schönen Tochter war nicht zu verkennen. Er besaß alle ihre Züge, nur daß die seinen ausgeprägter, gereifter, fester waren. Sowohl aus ihnen wie aus seinen Augen, seiner Stimme, seinem ganzen Wesen sprach der Ausdruck einer Güte, einer duldsamen Mäßigung und einer wohlwollenden Ritterlichkeit, die mich sofort für ihn gefangennahmen, und zwar nicht etwa nur für diesen ersten, kurzen Augenblick, sondern für immer.

Unsere Begrüßung gestaltete sich ganz anders, als zu vermuten gewesen war, besonders aber ganz anders, als Halef es sich gedacht hatte. Dieser letztere stand, sobald Abd el Fadl erschien, von seinem Sitz wieder auf und reichte Merhameh die Hand, um sich von ihr halten und führen zu lassen. Aber der Anblick des tief unten flutenden Meeres benahm seinen Schritten alle Festigkeit. Er wankte wie ein Betrunkener. Er streckte den einen, freien Arm weit aus und warf ihn hin und her, als ob er eine Balancierstange trage. Ich ging mit den Hunden langsam hinter ihm her. So näherten wir uns dem uns erwartungsvoll entgegenschauenden Vater unserer jungen Führerin. Halef konnte sich nicht entschließen, zu schweigen. Er wollte seine Rede loslassen und rief ihm also, noch ehe wir ihn erreichten, zu:

»Wir nahen dir, o Besitzer dieses festen Felsentores – na – pfui – das wackelt alles! – um dir zu sagen, daß uns deine Tochter – Tochter – Allah w' Allah, sie wird mich hinunterstürzen lassen! – zu dir heraufbegleitet hat, damit wir dich und du uns kennen – kennenlernen – o weh, o weh! – kennenlernen sollen sollst! Indem ich dir sage, wer wir sind, hoffe ich, daß – o Unglück, o Verhängnis! Ich glaube gar, das Tor bricht ein, noch ehe ich mit meiner Rede – Rede fertig bin! – hoffe ich, daß wir bei dir die Auskunft finden, welche wir von dir erwarten. Vor allen Dingen – Hamdulillah – Allah sei Dank! Da ist die Hütte offen! Ich mache, daß ich hineinkomme! Da sehe ich hoffentlich das viele Wasser da unten nicht mehr! Effendi, sprich du weiter! Ich muß mich wieder setzen!«

Es gibt in Deutschland einen Ausdruck, der heißt: »eine Lerche schießen«. Eine in der Luft geschossene Lerche pflegt in schnurgerader Linie auf den Acker niederzustürzen. Eine »Lerche schießen« heißt also: ganz plötzlich, wie aus einer Pistole geschossen oder wie auf den Kopf geschlagen, in schnurgerader Linie auf die Seite hinübertaumeln. Es gibt keinen bezeichnenderen Ausdruck für diese Art von unfreiwilliger und doch beabsichtigter Bewegung, die nur bei Betrunkenen oder vom Schwindel Ergriffenen vorzukommen pflegt. So auch jetzt bei Halef. Er riß sich von dem Mädchen los und »schoß eine Lerche« nach links hinüber und grad in die Hütte hinein, wo er sich rund um seine eigene Achse drehte und dann sehr vollgewichtig niedersetzte.

»Da bin ich!« sagte er, indem er sehr erleichtert Atem holte. »So bald stehe ich wohl nicht wieder auf!«

Ich hatte innerlich das Gefühl, als ob ich mich über diese Art, uns vorzustellen, vor Abd el Fadl etwas zu schämen hätte; die »Lerche«, die Halef schoß, sah so possierlich aus, daß ich das laute Lachen kaum verbeißen konnte. Merhameh aber lachte hell und aufrichtig heraus, und auch auf dem Gesicht ihres Vaters glänzte eine so herzliche und so offene Fröhlichkeit, daß es gar nicht dazu kam, mich verlegen zu fühlen, zumal er im Ton entschuldigender Güte sagte:

»Er ist der erste nicht. Es ging fast allen so. Es ist nicht jedem Menschen gegeben, zu gleicher Zeit die Tiefe und die Höhe zu erfassen, ohne den eigenen Halt zu verlieren.«

Das war eine ebenso vielsagende Ausdrucksweise wie vorhin bei seiner Tochter. Dabei waren seine Augen mehr auf Aacht und Uucht als auf Halef und mich gerichtet. Die beiden Hunde schienen ihn außerordentlich zu interessieren. Doch fügte er zu seiner Rede noch die Worte:

»Dein Begleiter ist nicht auf Bergeshöhen geboren.«

»Nein«, antwortete ich. »Seine Heimat ist die Ebene der Wüste. Darum vermißt er hier auf deiner Höhe das Gefühl für das Gleichgewicht.«

»Er ist Araber«, vervollständigte Merhameh, »der Scheich eines berühmten Stammes. Er heißt Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd el Gossarah.«

Ihr Vater hörte gar nicht auf diese lange Reihe von Namen. Er entfernte seinen Blick nicht von den Hunden.

»Verzeih«, bat er mich, »daß ich so unhöflich bin, mich zunächst nicht mit den Menschen, sondern mit diesen Tieren zu beschäftigen! Aber sie sind mir von ganz außerordentlicher Wichtigkeit. Ich sah ein Paar Hunde, nicht diese hier, sondern ähnliche, die von Süden nach Norden gingen, als Geschenk. Und ich sah ein Paar andere Hunde, die von Norden nach Süden gingen, auch als Geschenk ...«

»Das erste Paar ging nach Dschinnistan, das zweite in das Land der Ussul«, fiel ich beistimmend ein.

»Und diese hier?« fragte er schnell.

»Sind Bruder und Schwester, die Kreuzung beider Rassen«, antwortete ich.

Da trat er einen Schritt zurück, sah mich mit einem leuchtenden, langen Blick an und erkundigte sich:

»Sind sie dein Eigentum?«

»Ja. Sie wurden mir geschenkt.«

»Geschenkt?« rief er in frohem Ton aus. »So bist du – bist du – bist ...?«

Er wagte den angefangenen Satz nicht auszusprechen; aber seine Tochter fiel schnell ein:

»Er ist's, mein Vater, er ist's; er hat den Schild! Hörst du?«

Sie trat zu mir heran und klopfte mir auf die Brust, so daß er den Ton des Metalls hörte. Darauf klopfte sie auch an seine Brust, und ich vernahm genau denselben Klang. Da ging ein sonnenhelles Lächeln des Glückes über sein Gesicht; aber er machte nicht viele Worte. Er nahm mich bei der Hand und sagte nur:

»Sei mir willkommen! Komm mit, an deinen Platz.«

Er führte mich zu einer weichen grünenden Rasenbank, die neben der Hütte stand, und bat mich, auf ihr Platz zu nehmen. Ich tat dies, ohne mir etwas Besonderes dabei zu denken. Sofort saßen Aacht und Uucht neben mir, zu meiner Rechten und zu meiner Linken. Dann sagte er:

»Ich bitte, uns nur für einen Augenblick zu beurlauben; dann sind wir zu deinem Dienst bereit. Komm, mein Kind!«

Er nahm seine Tochter bei der Hand und ging mit ihr so weit von uns fort, wie die Felsenplatte reichte. Das war die äußerste Spitze, auf er sie standen, wenn wie sangen. Während sie dorthin gingen, sprach Merhameh zu ihrem Vater. Sie schien ihm kurz zu berichten, was sie von Halef und mir erfahren hatte. Dann standen sie eng nebeneinander, sie ihr Köpfchen an seine Schulter gelehnt, still, fast ohne sich zu bewegen, hinausschauend in die irdische Ferne und auch hinauf zum Himmel, mit dem sie sprachen, ohne daß ein Wort davon zu hören war.

»Sihdi, ich glaube, sie beten«, sagte Halef.

Ich antwortete nicht. Es war hier oben so ungewöhnlich, so sonderbar, so heilig. Ich fühlte, daß unsichtbare Rätsel um mich schwebten, daß ihre Lösung aber nur scheinbar da draußen in der weiten Meeres- und Wüstenferne, in Wirklichkeit aber in mir selber liege. Als Vater und Tochter zurückkehrten, waren ihre Augen feucht; auf ihren Gesichtern lag es wie eine besorgte Frage. Er setzte sich zu meinen Füßen nieder, während seine Tochter eine bescheiden zurückliegende Stelle suchte, aber daß sie hörte, was wir sprachen. Abd el Fadl begann:

»Meine Tochter hat mir gesagt, daß du aus dem Land der Germani bist und Effendi oder Sihdi genannt wirst. Erlaubst du, daß auch ich dich so nenne?«

Ich neigte zustimmend den Kopf. Da fuhr er fort:

»Du hast den Schild; ich habe ihn auch. Wir brauchen uns nicht zu kennen und kennen uns aber doch! Wer und was du in deiner Heimat bist und wer und was ich in der meinigen bin, das ist in dieser Stunde und an diesem Ort Nebensache; wir wollen uns nicht damit beschäftigen. Ich bitte dich, mir zu sagen, von wem du den Schild hast, ob wirklich von Marah Durimeh!«

»Von ihr selbst. Sie gab ihn mir in Ikbal, als ich mit meinem Hadschi Halef Omar Gast ihres Schlosses war. Ich bekam ihn, als sie mir den Auftrag gab, nach Dschinnistan zu reisen.«

»So bist du der, den ich erwarte, doch nicht dich allein. Noch einer ist dabei, der auch den Schild besitzt.«

»Auch er wird kommen, in wenigen Tagen schon.«

»Wer ist es?«

»Ein junger Mann aus dem Land der Ussul. Man pflegt ihn dort den Dschirbani zu nennen.«

»Den Räudigen? Auch hält man ihn für wahnsinnig?«

»Ja.«

»Allah sei Dank! Und dir für diese Botschaft ebenso!« Den Blick auf seine Tochter richtend, nickte er ihr freudig zu und fuhr fort: »Er ist es; er ist es! Es gibt wohl keine große Idee auf Erden, die nicht in den ersten Tagen ihrer Zeit für Wahnsinn galt. Die Stunde der Erfüllung scheint zu nahen. Die Berge brennen. Das Eis des Nordens strebt dem Süden zu. Die Wüste füllt sich mit Speise und Trank. Der ›Wahnsinn‹, der uns den Frieden bringen soll, kann kommen! Aber wie kommt er? In welcher Weise?«

Diese letzten, fragenden Worte waren wieder an mich gerichtet. Aber ich kam nicht dazu, sie zu beantworten, denn Halef fiel schnell ein, und zwar in seiner allbekannten, prunkvollen Weise:

»Er kommt nicht klein, sondern groß, nicht allein, sondern an der Spitze eines ganzen Heeres, nicht als Bittender, sondern als Befehlender, dem alle Welt zu gehorchen hat.«

»An der Spitze eines Heeres?« fragte Abd el Fadl.

»Ja.«

»Gegen wen?«

»Gegen die Tschoban. Sie kommen herangezogen, um die Ussul zu überfallen und auszurauben. Die Mutigen unter den Ussul aber, die man Hukara nennt, ziehen ihnen unter der Anführung des Dschirbani entgegen. Beide Heere werden grad hier, an diesem Engpasse, aufeinanderstoßen ...«

»Wann, wann?« unterbrach ihn Abd el Fadl.

»In einigen Tagen. Wir sind dem Heer vorausgeritten, um den Engpaß zu prüfen und die Annäherung der Tschoban zu erkundschaften.«

»Also Krieg?« rief der Diener der Güte aus, indem er hocherregt die Hände zusammenschlug. »Krieg und Blutvergießen! Weil sich der Friede nur durch Blut erringen läßt?«

»Nein, kein Blutvergießen!« widersprach Halef. »Wir wollen durch List und Güte siegen, nicht durch Haß und Blut.«

»Unmöglich!« rief Abd el Fadl aus. »Doch wohl nur, um uns zu prüfen.«

»Wie? Nicht möglich? Ich sage dir, daß wir Übung haben in dieser Art, zu siegen. Ich werde euch erzählen. Hört zu!«

Schon öffnete ich den Mund, um ihn zu hindern, seine Absicht auszuführen, da kam er mir schnell zuvor:

»Schweig, Sihdi, schweig! Ich bitte dich! Du kannst alles, aber reden kannst du nicht! Mir aber hat Allah die Gabe verliehen, die Welt mit dem Mund zu beherrschen. So bist du also verpflichtet, zu schweigen, mich aber reden zu lassen. Zudem weißt du doch, daß ich krank bin, daß ich den Schwindel habe und hier in dieser Hütte sitzen muß, um nicht von dieser Höhe hinab und mitten in das Meer hineinzufallen. Kranken aber hat man den Willen zu tun, sonst werden sie nicht wieder gesund!«

»Was das betrifft«, antwortete ich ihm lachend, »so will ich dich schon wieder gesund bringen, ohne daß du ...«

»Nein, niemals ohne das!« fiel er mir in die Rede. »Also, ich darf?«

»Ich bitte dich, laß ihn sprechen«, nahm sich Abd el Fadl seiner an. »Er gefällt mir auch, dein berühmter Hadschi Halef!«

»Mir ebenso!« lächelte Merhameh, indem sie mit einem leisen, heimlichen Augenzwinkern an meine Nachsicht appellierte. Dieses liebe Einverständnis, in welches sie sich zu mir stellte, entwaffnete mich vollständig.

»So sprich!« nickte ich dem kleinen Hadschi zu. »Aber mach es gnädig!«

»Ich werde es so gnädig machen, daß selbst du von dieser meiner Gnade nicht nur gerührt, sondern auch überwältigt bist«, antwortete er.

Und er hielt Wort. Er erzählte zwar in seiner poetischen Weise, aber er hütete sich vor jeder Übertreibung. Er sprach so objektiv und sachgemäß, wie ich es aus seinem Mund noch nie gehört hatte. Es war dieses Mal wirklich eine Freude, ihm zuzuhören, auch für mich. Das war um so mehr zu verwundern, als er doch so hochtrabend begonnen hatte. Aber es gab in der ganzen Zeit, während er sprach, einen pfiffig-ironischen Zug in seinem Gesicht, von dem ich mir die Aufklärung über diese ungewöhnliche, rednerische Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung versprach. Und richtig, es kam auch wirklich ganz so, wie ich dachte! Er erzählte aus vergangenen Zeiten, vom Tal der Stufen und von verschiedenen Ereignissen aus unserm Leben, welche bewiesen, daß die Klugheit über die Gewalt und die Güte über das Unrecht geht. Dann erzählte er, wo und wie wir mit Marah Durimeh bekannt geworden waren und sie dann wieder getroffen hatten. So kam er schließlich nach Sitara und von da aus zu den Ussul. Er sprach dabei so kurz und bündig, so treffend und vorsichtig, daß er seine gewöhnliche Art und Weise vollständig verleugnete. Und was er bisher noch niemals fertiggebracht hatte, dieses Mal gelang es ihm: Er vermied alles Indiskrete; er griff mir nicht vor, und er unterließ jedes Lob und jeden Tadel, der nicht in der Sache selbst lag und also unvermeidlich war. Er ließ von unsern Erlebnissen bei den Ussul und während unsers Rittes hierher nichts weg, so daß am Schluß Abd el Fadl über alles unterrichtet war, was er wissen mußte. Als Halef geschlossen hatte wendete er sich an mich:

»Nun, Sihdi, bist du mit mir zufrieden? Ich hoffe, daß du an dem, was ich gesprochen habe, nichts auszusetzen hast?«

»Es war gut, sehr gut!« lobte ich ihn.

Er nickte mir herablassend und verzeihend zu und fragte dann Merhameh, indem er die ironische Pfiffigkeit seines Gesichtes deutlicher hervortreten ließ:

»Und du? Bist auch zufrieden?«

»Ja«, versicherte sie.

»Nein! Gewiß nicht!« behauptete er.

»Warum nicht?«

»Weil du meinem Effendi heimlich mit den Augen zugezwinkert hast! Du dachtest, ich sehe es nicht; ich bemerkte es aber gar wohl. Darum habe ich genau wie Kara Ben Nemsi gesprochen, nicht aber wie Hadschi Halef, der im Reden berühmter ist, als jeder andere Mensch. Du hast also nicht mich gehört, sondern ihn. Das ist meine Rache, erstens für das hinterlistige Zwinkern und zweitens auch dafür, daß du mir vorhin ausgerissen bist, als ich alle Stein- und Pflanzen-, Tier- und Menschenreiche zu deinem Lob in Bewegung setzte. Du hörtest mich jetzt sprechen, aber nicht reden! Das hast du nun davon!«

Vater und Tochter hatten mit außerordentlicher Spannung zugehört. Die Wirkung auf Abd el Fadl war eine ungewöhnliche. Er sagte nichts. Er stand von seinem Sitz auf und ging langsamen Schrittes dorthin, wo er vorhin mit Merhameh gestanden hatte. Sie bat:

»Verzeih es ihm, daß er sich entfernt, ohne zu sprechen! Er ist tief bewegt. Wir baten vorhin Gott, daß der, den wir hier erwarten, nicht ein Mann der Gewalt, sondern ein Held der Güte sein möge. Und nun wir gehört haben, daß dieser Wunsch in Erfüllung geht, ging Vater fort, um Allah Dank zu sagen. Er tut stets so; er kann nicht anders! Wir haben uns euch schon lange Zeit entgegengesehnt. Wie wir uns auf euch gefreut haben, kann ich dir nicht sagen. Aber der Teppich, auf dem du sitzest, sagt es dir.«

Sie deutete auf die Rasenbank. Ich schaute an mir hernieder und auf die weiche, grünende Fläche, die ich durch das Gewicht meines Körpers niederdrückte. Da ging mir plötzlich das Verständnis dessen auf, woran ich gar nicht gedacht hatte, als ich mich vorhin niedersetzte. Ich stand schnell auf.

»Dieser Teppich!« rief ich aus. »Er ist eine Kostbarkeit in dieser Gegend! Habt ihr Wasser?«

»Wir sammeln den Tau der Nacht und trinken den Saft der Narasfrüchte«, antwortete sie.

»Aber dieses Gras stand nicht ursprünglich hier? Ihr habt es gesät?«

»Ja. Wir holten den Samen aus der Ferne.«

»Und womit habt ihr es begossen?«

»Mit dem Tau, den wir nicht tranken, damit der Teppich wachsen möge.«

»Und für wen sollte er wachsen?«

»Für – für – für ...«

Sie sagte es nicht sogleich. Sie sah sich ängstlich um, als ob sie nicht gehört werden dürfe.

»Ich darf nicht davon sprechen. Es ist ein Geheimnis. Aber dir möchte ich es doch sagen, dir, nur dir allein. Der Vater schaut nicht hierher, und dein Halef hört es auch nicht, wenn ich leise spreche. So sollst du es erfahren. Aber ich bitte dich, sage es keinem Menschen wieder, keinem einzigen!«

Sie trat ganz nahe zu mir heran, legte beide Hände an den Mund und raunte mir zu:

»Für – für den neuen Mir von Dschinnistan!«

»Ist denn der alte tot?« fragte ich schnell.

»O nein! Das möge Gott verhüten!«

»Und doch gibt es einen neuen?«

»Wir hoffen es!«

»Sonderbar! Und für den soll dieser köstliche Teppich sein?«

»Ja.«

»Kommt er denn hierher?«

»Wenn die Weissagung in Erfüllung geht, so kommt er über diese Landenge gezogen.«

»Warum mußte da ich mich auf den für ihn bereiteten, seltenen Teppich setzen? Ich bin es doch nicht!«

»Das kannst du doch nicht wissen!«

»Nicht?« fragte ich erstaunt. »Ein Europäer kann doch ganz unmöglich Mir von Dschinnistan werden?«

»Warum sollte er nicht? Wenn er nun der Betreffende ist?«

»Der Betreffende? Welcher? Ich verstehe dich nicht!«

»Du wirst mich schon verstehen lernen. Da kommt der Vater zurück. Ich bitte dich, zu schweigen. Ich habe dir nichts gesagt!«

Das brachte mich ihm gegenüber in Verlegenheit, denn es wäre mir unmöglich gewesen, mich wieder auf den grünen Teppich zu setzen. Jeder einzelne Grashalm hätte mir leid getan, ganz abgesehen davon, daß auf keinen Fall ich es war, der auf diesen Sitz gehörte. Nachdem er mich wiederholt gebeten hatte, mich wieder zu setzen und ich mich schließlich nicht auf, sondern neben die Bank niederließ, wurde er aufmerksam. Er sah mich und seine Tochter prüfend an und bemerkte, daß sie tief und verlegen errötete.

»Warum setzt sich der Effendi anders?« fragte er sie.

»Weil ich es ihm gesagt habe«, gestand sie sofort ein, indem sie die Hände bittend zusammenlegte.

»Was hast du ihm gesagt?«

»Daß die Bank für den neuen Mir von Dschinnistan ist!«

Da erhob er nur den Zeigefinger; eine andere Strafe gab es nicht. Zu mir aber sagte er:

»Und du hast dich wohl nicht für den neuen Mir gehalten?«

»Weder für den neuen noch für den alten«, lächelte ich.

»Wer der letztere ist, das steht fest. Wer aber der erstere ist, das kann noch niemand sagen.«

»Aber ich bin es jedenfalls nicht!«

»Weißt du das wirklich?«

»Ja.«

»Nein! Denn niemals wird der neue Mir von Dschinnistan in Dschinnistan geboren und erzogen!«

»Aber in Europa wahrscheinlich nicht!«

»O doch! Nichts hindert, daß er sogar aus Amerika zu uns kommt! In Dschinnistan gibt es sehr eigene Gesetze. Im gegenwärtigen Fall weiß ich allerdings, daß du der neue Mir nicht bist; aber dein Kommen hängt mit dem seinigen so eng zusammen, und du hast, wie ich dir aufrichtig sage, gleich als ich dich sah, die Wirkung auf mich ausgeübt, daß ich dich bat, dich auf den Platz zu setzen, der eigentlich nur für ihn bereitet ist. Von dir kommt der Gedanke, die Tschoban hier zu fassen. Und nur von dir geht der gütige Vorsatz aus, dies ohne Blutvergießen zu tun. Darum ist es mir, als ob der von mir bereitete Sitz eigentlich viel mehr dir gehöre als dem andern, von dem wir sprechen. Nach allem, was der Scheich der Haddedihn soeben erzählte, ist es euch wohl zuzutrauen, daß euch gelingt, was ihr euch vorgenommen habt, aber ich bitte, euch auch unseres Beistandes zu bedienen, falls es uns beiden möglich sein sollte, euch nützlich sein zu können.«

»Ich weise eure Hilfe nicht zurück, sondern ich bitte euch sogar ganz besonders darum, sie uns zu erweisen. Freilich muß ich dabei eine Bedingung stellen, von deren Erfüllung ich nicht abgehen kann.«

»Welche ist es?« fragte er.

»Die Verschwiegenheit. Es soll sein, als ob alles direkt vom Dschirbani ausgehe. Man soll nicht von uns sprechen, sondern von ihm. Auf ihn sollen Ruhm und Ehre fallen; aber uns zu rühmen und zu preisen, daran soll man gar nicht denken.«

»Maschallah!« rief Abd el Fadl da aus. »Gibt es bei euch in deinem Vaterland auch ein Dschinnistan?«

»Wie meinst du das?« fragte Halef, der den Ausdruck nicht sofort verstand.

»Ein Dschinnistan vielleicht auch bei euch in Arabien? Ich meine einen Kreis von höher stehenden, weiter denkenden und tiefer fühlenden Menschen, bei dem ein jeder verpflichtet ist, der gute Engel eines seiner Nächsten zu sein, ohne daß dieser eine Ahnung davon hat? Denn das ist es doch, was ihr euch vorgenommen habt! Ihr wollt die Schutzengel des Dschirbani sein, ohne daß er oder ein anderer davon erfährt. Das ist ja von euch derart im Sinn von Dschinnistan gedacht, daß ich euch von Herzen gern meine Hilfe zur Verfügung stelle und mit ihr auch unsere Verschwiegenheit. Nur möchte ich da wissen, in welcher Richtung und in welcher Weise wir euch unterstützen können. Großes freilich werden wir euch nicht bieten können; ihr seht, wir sind arm.«

»Wie der Reiche oft ärmer als der Arme ist, so ist auch der Arme oft reicher als der Reiche«, sagte ich. »Ihr könnt uns wahrscheinlich mehr geben, als ihr selbst denkt oder ahnt. Ich will dir sagen, wie ich mir den Zusammenstoß der Tschoban mit den Ussul denke. Dann wird sich leicht finden, ob und womit ihr uns unterstützen könnt.«

Ich teilte ihm mit, was der Leser bereits weiß, und fügte noch einige Gedanken hinzu, die mir gekommen waren, während ich mich seit gestern hier an Ort und Stelle befand. Er stimmte nicht nur bei, sondern er fühlte sich begeistert. Er fand nicht das geringste an dem, was ich beschlossen hatte, zu ändern. Dann fügte er hinzu:

»Ich bin dir unendlich dankbar, Sihdi, daß du uns für wert gehalten hast, diese Mitteilungen aus deinem Mund zu hören. Nun wissen wir ja, daß es uns möglich ist, das Unsere zum Gelingen beizutragen. Unsere Hilfe wird sich über zwei Gebiete erstrecken, nämlich über den Engpaß selbst und sodann auch über die Steppe und Wüste der Tschoban, durch die ich so oft in meinem Leben gekommen bin, daß wohl keiner dir bessere Auskunft geben kann als ich. Den Engpaß kennen wir beide ganz genau. Wir haben genug Zeit gehabt, ihn bis in seinen kleinsten Winkel zu durchsuchen. Erlaubst du mir, dir einen Vorschlag zu machen?«

»Ich bitte dich, ihn auszusprechen!«

»Ihr reitet heute nicht weiter, sondern ihr bleibt bis morgen hier. Der Paß ist für euch von so großer Wichtigkeit, daß ihr ihn nicht vernachlässigen dürft. Ihr müßt ihn kennenlernen; ich zeige ihn euch. Das geschieht zu Fuß, eure Pferde haben also Ruhetag. Am Vormittag werden wir die eine Hälfte und am Nachmittag die andere Hälfte der Landenge durchforschen. Merhameh bleibt hier, um uns für den Mittag und für den Abend das Mahl zu bereiten, wenn wir nach Hause kommen.«

»Zu diesem Mahl kann ich ihr Fleisch und auch noch anderes liefern«, fiel ich ein.

»Wir danken dir!« antwortete er abwehrend. »Eure Vorräte sollen nicht angegriffen werden. Wir brauchen nicht zu hungern. Das Meer liefert uns köstliche Fische; aus der Wüste holen wir uns Manna, und an der Küste ziehen wir uns schmackhafte Narasäpfel, die euch sicher schmecken werden. Morgen aber bleibt der Scheich der Haddedihn bei Merhameh zurück, weil ihr nur zwei Pferde habt; wir beide aber, du und ich, wir reiten nach dem Norden auf Kundschaft aus, um nach den Kriegern der Tschoban zu spähen. Die Gegend ist mir bekannt. Wir werden also wahrscheinlich mehr Erfolg haben, als wenn du mit Halef rittest, der doch hier vonnöten ist, für den Fall, daß während unserer Abwesenheit etwas nicht Vorausgesehenes geschieht.«

Dieser Vorschlag gefiel dem Hadschi so, daß er ohne lange Überlegung ausrief:

»Alah 'w Allah, Tallah! Das finde ich sehr gut! Ich bleibe morgen hier, den ganzen, langen Tag! Da werde ich wohl sehen, wohin Merhameh überall laufen wird, um vor meinen Diamanten, Blumen, Paradiesvögeln, Prinzessinnen und Engeln auszureißen! Ich stimme also bei! Du natürlich auch, Effendi! Oder nicht?«

Ja. Auch ich gab meine Einwilligung, wenn auch aus anderen Gründen als er. Dieser Vater und seine Tochter waren uns ja fast wie von der Vorsehung gesandt! Daß sie unter Geheimnissen standen, die sie uns nicht gleich in der ersten Stunde des Bekanntwerdens entdecken konnten, das war kein Grund für mich, ihre Güte und Hilfe zurückzuweisen. Und was beschlossen war, das wurde sofort ausgeführt. Wir brachen auf, um wieder hinabzusteigen und Abd el Fadl mitzunehmen. Hoch oben mußte Halef wieder geführt werden. Sobald ihm aber die wogende See aus dem Auge verschwand, war er seiner Füße wieder ganz sicher.

Unten angekommen, führte mich Merhameh nach dem Versteck der Pferde. Dieser Ort war sehr pfiffig ausgedacht und als ganz sicher zu bezeichnen. Wir sattelten ab, nicht nur die Pferde, sondern auch die Hunde. Die letzteren sollten uns begleiten und also frei von ihren Lasten sein. Unser Wasser und unsere Speisevorräte übergaben wir Merhameh, unsere Gewehre auch, meinen Stutzen ausgenommen. Es genügte, daß ich nur diesen mitnahm, da eine Gelegenheit oder gar einen Zwang, zu schießen, wohl kaum zu erwarten war. Wir brauchten den Vormittag, um denjenigen Teil des Engpasses, durch den wir gestern gekommen waren, genau kennenzulernen. Der Nachmittag war dem Teil gewidmet, der noch vor uns lag, also nach der Seite der Tschoban. Es liegt kein Grund vor, dieses schmale Felsenband, welches aus dem einen Land in das andere hinüberführte, ausführlich zu beschreiben. Es gab einige so schmale Stellen, daß man von Ufer zu Ufer rufen konnte und deutlich verstanden wurde. Seine größte Breite war in einer kleinen Viertelstunde zu überschreiten. Seine Küsten fielen auf beiden Seiten so steil in die Tiefe, daß es ganz unmöglich war, da hinabzuklettern. Wenn Abd el Fadl fischen wollte, so ging er nach dem südlichen Ende der Landenge, also dahin, wo sie an das Land der Ussul stieß. Dort hatte er zwischen Felsen ein Rutenfloß versteckt, mit dem eine Uferfahrt und Fischpartie zu wagen war, aber nur bei ruhiger, nicht aber auch bei stürmischer See. Dort hatte er sich ein kleines, sehr gut verstecktes Bassin gebaut, in welchem die gefangenen Fische aufgehoben wurden, für die Zeit, in der er sich nicht auf das Wasser wagen konnte. Und auf derselben Seite, doch nicht direkt am Wasser, sondern eine ziemliche Strecke in das Land hinein, gab es eine halb natürliche halb künstliche Pflanzung von einer Art Kukurbitacee, die er Naras nannte, obwohl es nicht die eigentliche Naras war, die meines Wissens nur in Südafrika vorkommt. Aber sie hatte große Ähnlichkeit mit Acanthosicyos horrida und bedeckte mit ihren vielverzweigten, durcheinander gewirrten Ranken eine so bedeutende Strecke, daß man mit ihren Früchten ganze Wagen hätte füllen können. Die Früchte haben die Größe einer Apfelsine bis zu der eines kleinen Zierkürbisses. Unreif schmecken sie bitter, später aber sehr angenehm aromatisch. Getrocknet werden sie als Nahrungsmittel aufbewahrt. Die Samen schmecken wie Nüsse und sind auch ebenso nahrhaft wie sie. Wir waren gestern von weitem an dieser Stelle vorübergeritten, ohne sie zu sehen und ohne zu ahnen, daß hier mitten im Hunger der Felsen-, Sand- und Wasserwüste ein Brotkorb geöffnet stand, an dem sich viele Menschen erquicken konnten.

Diese Früchte waren es, von denen uns Merhameh zu Mittag ein Gericht vorsetzte, das ich fast als köstlich bezeichnen möchte. Hierzu gab es Fische und eine Art Mannabrot, das aus dem stärkehaltigen Thallus einer Lecanoraart bereitet wird, die in Wüstengegenden nicht nur vereinzelt, sondern sogar in großen Mengen vorzukommen pflegt. Diese kleinen Thallusbrocken gleichen den Weizenkörnern, sind aber so leicht, daß sie durch den Wind emporgehoben werden, der sie über weite Strecken trägt und in den Vertiefungen der Wüste sammelt. Man pflegt dann zu sagen, daß es Manna geregnet habe. Es gibt in jenen Wüsten Löcher, die man, wenn sie mit Wasser gefüllt wären, als Teiche oder Seen bezeichnen würde. Sie enthalten aber nicht Wasser, sondern Lecanorakörner, die vom Wind so tief zusammengetrieben worden sind, daß er sie nicht wieder emporheben und forttragen kann. Indem er sie dann noch mit einer Schicht von Sand bedeckt, so daß die Stelle der Umgebung völlig gleich ausschaut, legt er verborgene Brotkammern an, von denen eine einzige, falls man sie zur rechten Zeit entdeckt, imstande ist, eine Karawane vom Hungertode zu erretten. Abd el Fadl sagte mir, daß eine solche Kammer nur eine halbe Stunde im Nordosten der Landenge liege; er habe sie nur durch Zufall entdeckt, da er keinen Mannahund besitze.

»Gibt es denn Hunde, mit deren Hilfe man das Manna findet?« fragte ich.

»Ja«, antwortete er. »Weißt du das etwa noch nicht?«

»Nein. Ich habe noch nichts davon gehört. Welche Rasse mag das sein?«

Da nahm sein Gesicht einen ganz anderen Ausdruck an. Er nickte leise und bedeutungsvoll vor sich hin und fragte:

»Aber das weißt du, daß die Hunde der Ussul das Wasser finden?«

»Ja.«

»So finden die Hunde von Dschinnistan das Brot. Kein Ussulhund wird stehenbleiben, wenn er über Manna läuft; er merkt es gar nicht. Der Hund von Dschinnistan aber meldet es sofort, nämlich der Hund von echter, reiner Rasse, und derer gibt es nicht etwa sehr viele. Ihr Preis ist außerordentlich hoch.«

Als er das sagte, ging mir, wie man sich auszudrücken pflegt, ein Licht auf.

»Also darum die Kreuzung!« rief ich aus. »Hunde, deren Nasen auf beides gerichtet sind, nicht nur auf Wasser allein! Wie weitsichtig und bedachtsam von dem Mir! Und das erste Paar dieser neuen Hunde wird grad mir geschenkt, der ich ...«

»Das erste Paar?« fragte er, mich unterbrechend.

»Ja doch!«

»O nein! Der Mir von Dschinnistan war doch der erste, der ein Hundepaar vom Scheich der Ussul empfing. Er machte sofort die Probe, und erst als die Kreuzung glückte, erwiderte er das Geschenk mit zwei Exemplaren seiner edlen Dschinnistanirasse. Der erste, der diese neue Rasse besaß, ist also er.«

»Wie ist sein Name? Ich hörte ihn nie. Man spricht stets nur vom Mir von Dschinnistan, sagt aber niemals, wie er heißt.«

»Weil er keinen Namen hat!«

»Keinen Namen?« rief Halef verwundert aus. »Der Name ist doch die Hauptsache! Denke zum Beispiel an den meinen!«

»Das ist in deinem Land Sitte, in dem meinen aber nicht. Es gibt Länder, in denen der unverträglichste Mensch Friedrich heißen kann; ein Ungläubiger wird Gottlieb und Gottlob genannt, und einer, der vor lauter Kummer, Not und Sorge nicht weiß, wohin, wird Felix gerufen; das heißt ›der Glückliche‹. Das kommt in Dschinnistan nicht vor. Dort ist der Name wahr. Er stimmt mit dem Wesen, mit der Tätigkeit, mit dem Beruf überein. Ich heiße Abd el Fadl, und so ist es auch wirklich mein Beruf, ein ›Diener der Güte‹ zu sein. Meine Tochter wird Merhameh genannt; bald werdet ihr sehen, daß sie nur von der Barmherzigkeit geleitet wird, die gewohnt ist, alles mit zu tragen, auch wenn es verschuldet ist. So wird unser Herrscher ganz kurz nur Mir genannt; aber das, was dieses Wort besagt, das ist er auch in voller Wirklichkeit. Mir ist die Abkürzung des Wortes Emir, was so viel wie Fürst, Herr, Herrscher bedeutet. Das ist er im vollsten Sinne des Wortes. Wozu da noch andere Namen? Bei uns gibt es keine Herrscherlisten mit Hunderten von Namen und Zahlen, die man auswendig zu lernen hat. Bei uns gibt es nur den Mir, den Mir. Du willst zu ihm; du wirst ihn sehen, vielleicht gar ihn kennenlernen. Darum kann ich darauf verzichten, dir lange Reden über ihn und uns zu halten, die doch nicht sagen, was zu sagen ist.«

Als wir gegen Abend mit unserer Rekognoszierung fertig waren und ich annahm, den ganzen Engpaß kennengelernt zu haben, drückte ich Abd el Fadl meine große Befriedigung über die Lage und Beschaffenheit desselben aus. Die Örtlichkeit konnte für unsere Zwecke gar nicht passender sein. Wenn es uns gelang, die Tschoban zwischen das Felsenloch und das Felsentor zu bekommen, so war uns der Erfolg im höchsten Grade sicher. Der einzige Wunsch, der mir versagt zu bleiben schien, war der, auch oben in der Höhe einen Verbindungsweg zwischen dem Loch und dem Tor zu haben. Wenn die Feinde als Gefangene unten steckten und es einen verborgenen Weg in der Höhe gab, auf dem man zwischen unsern Abteilungen hin- und hergelangen konnte, ohne daß die Tschoban es merkten, so hatte man Vorteile in der Hand, die großen Wert besaßen. Als ich dies Abd el Fadl mitteilte, zeigte er mir ein sehr befriedigtes Gesicht und sagte:

»Ein solcher Weg ist da. Er führt von der Höhe des Loches nach der Höhe des Tores hin; du hast aber weder seinen Anfang noch sein Ende gesehen, weil er sich nicht im Gebrauch befindet und also nicht ausgetreten ist. Ich und meine Tochter gehen immer nur unten hin, nicht aber da oben.«

»Kann man von diesem Höhenpfad direkt nach unten gelangen?

»Nein, nicht ganz. Wir haben es versucht, konnten aber von der letzten, unteren Felsenplatte nicht weiter.«

»Ist es dann noch sehr weit hinab?«

»O nein. Wenn man auf dieser Platte steht, befindet man sich kaum über vier Mann hoch über dem Ufer des Flusses.«

»Das ist ja doch nicht viel. Habt ihr nicht versucht, den Weg bis vollends hinabzuführen?«

»Nein. Der Stein ist zu hart, und es fehlen uns die Werkzeuge, ihn zu bearbeiten. Willst du die Stelle sehen?«

»Ich bitte dich, mir diesen Höhenweg überhaupt zu zeigen. Dann wird es sich finden, ob der Pfad, der nicht ganz nach unten führt, uns nützlich werden kann oder nicht.«

Als wir dies besprachen, befanden wir uns in dem Versteck unserer Pferde, für welche Merhameh auf das beste gesorgt hatte. Sie fraßen Mannakörner, und es war mir eine große Genugtuung, zu sehen, daß ihnen dies für sie ganz ungewohnte Futter vortrefflich schmeckte. Es schien sogar eine Delikatesse für sie zu sein. Nun war die sehr wichtige Frage nach der Fütterung unserer Pferde in der Wüste nicht mehr imstande, mir Sorge zu bereiten.

Wir stiegen von da zum Tor empor. Noch ehe wir seine Zinne erreichten, zweigte der Höhenweg ab. Nur weil er nicht begangen wurde und also keine Spuren vorhanden waren, hatten wir ihn gestern, als wir zum ersten Male vorüberkamen, nicht entdeckt. Sein Anfang verlief in Verborgenheit; dann aber fiel er ganz von selbst in die Augen. Später wurde er sogar bequem und verlor diese Eigenschaft erst in der Nähe des Felsenloches, wo er wieder unbemerkbar wurde. Erst hatte ich einen solchen Weg nicht für möglich gehalten, und nun war es nicht nur erwiesen, daß es einen gab, sondern jetzt, wo es Mondschein gab, getraute ich mir sogar, ihn auch des Nachts zu gehen. Das konnte für uns außerordentlich nützlich sein. Wir waren ihn jetzt direkt von seinem Anfang bis an sein Ende gegangen, ohne daß Abd el Fadl uns die Stelle gezeigt hatte, an der ein Seitenpfad von ihm nach unten führte. Nun aber, als wir zurückkehrten und die Stelle erreichten, bogen wir um eine Felsenkante, die wir vorhin gar nicht beachtet hatten, und bemerkten, hinter derselben angelangt, eine ganze Reihe von ausgewitterten natürlichen Stufen und Absätzen, welche den Abstieg so weit ermöglichten, bis man auf die Platte gelangte, von der Abd el Fadl gesprochen hatte. Diese Platte lag gewiß vier Meter hoch über dem unteren Weg, der längs des Flußufers hinführte, und war so groß, daß man, wenn man auf ihr lag, von unten nicht gesehen werden konnte. Höchst willkommenerweise lagen die Stufen, die nach der Platte führten, nicht etwa frei, sondern sie führten in Gestalt einer Rinne nach unten, welche den, der von oben herunterkam, den Blicken der Untenstehenden entzog. Das war ein Umstand, den ich für außerordentlich günstig hielt. Für die Zwecke, die ich im Auge hatte, nämlich ein heimliches Eindringen mitten unter die Feinde, war mir die Höhe der Platte nicht hinderlich. Mein Lasso war genügend lang, um da hinabzureichen, und Spitzen, Löcher und Spalten gab es genug, ihn so zu befestigen, daß man sich ihm anvertrauen konnte. Doch sagte ich jetzt hiervon nichts. Später, wenn es sich als nötig zeigte, war immer noch Zeit genug dazu, es auch andern mitzuteilen.

Als wir am Felsentor wieder ankamen, neigte sich die Sonne zwar schon dem Untergang zu, aber ich wollte gern sehen, was Abd el Fadl für ein Reiter sei, und uns für unsern morgenden Ritt mit frischem Wasser versorgen. Darum schlug ich ihm vor, noch vor Nacht mit mir nach dem Brunnenengel zu reiten, den er zwar kannte, ohne aber zu wissen, daß sich ein vollgefülltes Bassin unter ihm befinde. Er hatte das nun erst von uns erfahren und war sofort und gern bereit, das Innere des hochinteressanten, uralten Wasserwerks kennenzulernen. Wir leerten sämtliche Schläuche für Merhameh und nahmen dann alle vier Hunde mit, um volle Wasserlast zurückzubringen.

Abd el Fadl war aus der Übung gekommen, ritt aber nicht schlecht. Wir kamen sehr schnell hin zum Engel, aber nicht so rasch wieder fort. Das Innere des Brunnens beschäftigte meinen neuen Freund in außerordentlicher Weise. Er sagte, daß in der Stadt der Toten genau ganz derselbe Engel stehe, ohne daß aber jemand wisse, welchen Zwecken er gedient habe, als die Totenstadt noch voller Leben war. Als ich ihn fragte, was er unter dieser Stadt der Toten verstehe und wo sie hege, sagte er mir, daß es die alte Hauptstadt von Ardistan sei, die verlassen werden mußte, als der Fluß des Friedens plötzlich umgekehrt und nach Dschinnistan und dem Paradies zurückgekehrt war. Diese herrlichste und ernsteste aller Ruinenstätten der Erde hege zwar nicht auf unserem jetzigen, geraden Weg nach Dschinnistan, aber er rate uns trotzdem, sie zu besuchen, weil sich uns im ganzen Leben niemals wieder ein solcher Anblick bieten werde.

Als wir nach dem Felsentor zurückgekehrt waren, nahmen wir drei, er, seine Tochter und ich, das Abendessen oben ein, während Halef es sich hinunterholte. Er sagte zwar, dies geschehe der Pferde wegen, bei denen er während der Nacht schlafen werde, in Wahrheit aber erschien ihm die Gefahr des Abstürzens in der Nacht noch größer als am Tage, und darum hatte er sich entschlossen, in der sichern Tiefe zu bleiben. Ich aber zog die Höhe vor, erstens um ihretwillen überhaupt, zweitens um der beiden heben, hochinteressanten Menschen willen, mit denen ich den Abend verbringen wollte, um sie besser kennenzulernen, und drittens um des vulkanischen Feuers willen, welches man unten nicht sehen, oben auf dem hohen Tor aber jedenfalls noch besser beobachten konnte als auf der zwischen Baumkronen hegenden Tempelzinne der Ussul.

Während ich mit Abd el Fadl beim Brunnenengel und seine Tochter mit Halef allein gewesen war, hatte letzterer die Gelegenheit benutzt, ihr so viel wie möglich von sich und mir zu erzählen. In ihrer Unbefangenheit wiederholte sie während des Essens das alles, damit auch ihr Vater es kennenlernen möge. Als er hörte, daß ich Schriftsteller sei und mehr als ein Buch geschrieben habe, schien sich sein Interesse für mich plötzlich zu verdoppeln. Er sagte aber noch nichts, sondern fragte mich zunächst nach dem Zweck und dem Inhalt dieser Bücher. Ich gab ihm Bescheid. Da schlug Merhameh die kleinen Hände zusammen und rief voller Freude aus:

»So schreibst du ja über ganz dasselbe, worüber auch Vater schon so viel geschrieben hat! Du wirst in Dschinnistan ein lieber und willkommener Gast unseres Palastes sein und da in der Bibliothek die Bücher sehen, deren Verfasser er ist ...«

Sie hatte wohl noch mehr sagen wollen, hörte aber schon nach diesem Satz auf, weil sie den freundlich strafenden Blick bemerkte, den ihr Vater auf sie warf. Sie errötete. Wahrscheinlich hatte sie nicht verraten sollen, daß er, der hier so einfach, ja ärmlich gekleidete Mann, daheim Paläste und Schlösser besaß und einer der höchsten Würdenträger des Reiches war. Er suchte den Eindruck ihrer Worte sofort wieder zu verwischen, indem er in bescheidenem Ton sagte:

»Ich habe nur ein einziges Buch geschrieben, mit dem ich, ehrlich gestanden, noch gar nicht fertig bin. Der Reichtum des Stoffes erfordert viele Bände.«

»Darf ich den Titel erfahren?« fragte ich.

»Kann es nach unsern Gesetzen ein anderer sein als nur mein Name? Du würdest wahrscheinlich ›Insanija‹ sagen, die Menschlichkeit, die Humanität, ich aber, der ich Fadl heiße, sage nur ›die Güte‹. Du hast dir die Aufgabe gestellt, in Reiseerzählungen nachzuweisen, daß es in jedem Konflikt des Lebens keine dauernde Siegerin geben kann als nur die wahre Humanität, die wahre Menschlichkeit. Ich behaupte ganz dasselbe von der wahren, menschenwürdigen Güte. Wir sind Brüder, du und ich! Unser Vater ist der Verstand und unsere Mutter die Güte. Laß uns als Geschwister gegeneinander handeln und auch alle unsere Leser bitten, dies zu tun, du die deinen und ich die meinen!«

Er reichte mir seine Hand. Wie gern schlug ich da ein!

Nach diesem Anfang konnte das weitere Gespräch sich unmöglich über alltägliche Dinge erstrecken. Ich entdeckte an diesem köstlichen Abend immer neue Vorzüge an dem hochgebildeten Vater unserer lieben, schönen Merhameh. Er war Staatsmann und Gelehrter; er war auch Dichter. Und ebenso war er auch Krieger, und zwar was für ein Krieger! Wir werden es im Verlauf der Tatsachen erfahren! Er schien für gewöhnlich ein schweigsamer Mann zu sein; heut aber sprach er gern. Und ich hörte ebenso gern zu. Es war für mich eine ganz unerwartete Bereicherung, ein schnelles, freudiges, geistig erhebendes Lernen. Ich erfuhr an diesem Abend über die Psychologie des Orients mehr, als ich sonst in Monaten, ja vielleicht in Jahren erfahren hatte. Dazu verwandelten sich die Rauchwolken des Nordens nach und nach wieder in glühende Flammen. Die Berge warfen ihre großen, strahlenden, ewigen Worte in unser Gespräch. Kurz, es ist mir unmöglich, diesen Abend zu beschreiben. Merhameh saß nur immer mit gefalteten Händen da und sagte nichts, gar nichts. Welch ein Glück, das Kind eines solchen Vaters sein und von Jugend auf in so hoher, reiner Atmosphäre leben zu dürfen!

Ich habe Abd el Fadl einen Staatsmann genannt. Er war ein geborener Diplomat. Er hatte eine so eigene, durch ihre Güte unwiderstehliche Weise, zu erfahren, was er wissen wollte. Obgleich ich eigentlich nur sehr wenig sprach, befand er sich doch bald im Besitz alles Wissens über meine literarischen Zwecke und Ziele und über die im Abendland noch ungewohnte Art und Weise, in welcher ich diese Ziele zu erreichen suche. Ganz selbstverständlich interessierte er sich besonders auch für die Frage, ob ich die Absicht habe, auch die gegenwärtige Reise zu beschreiben. Als ich dies bejahte, erkundigte er sich:

»Wo wirst du da beginnen? Natürlich schon bei den Ussul, weil sie die fruchtbare Humuserde bilden, aus welcher sich dein Werk zu erheben hat, um emporzustreben und Blüten und Früchte zu bringen?«

»Allerdings«, antwortete ich.

»So wird der erste Teil deines Buches langweilig werden!«

»Das kann ich leider nicht vermeiden!«

»Der Humus ist ja für den Leser niemals interessant. Und tust du doch noch so sehr deine Pflicht, ihn mit den Wurzeln der kommenden Ereignisse zu beseelen, so wird man dich trotzdem nicht begreifen. Man wird dir vorwerfen, mystisch zu sein, weil jede Bewurzelung, auch die schriftstellerische, sich im mystischen Dunkel vollzieht. Man wird dich tadeln, vielleicht sogar verdächtigen. Aber laß dich das ja nicht anfechten! Du mußt hacken, düngen, pflanzen und bewurzeln, ganz gleich, ob dies denen, die keine Gärtner sind, gefällt oder nicht! Wenn sich dann die Erde öffnet und die ersten gesunden, frischen Keimblätter erscheinen, aus denen der Stamm emporzuwachsen hat, dann wird man anderer Meinung werden und dir recht zu geben beginnen. Kennst du die Stelle, an der diese Blätter sich zeigen werden?«

»Ja.«

»Wo?«

»Hier, bei euch. Die ersten Lebenszeichen, mit denen mein Baum aus der Ussulerde steigt, seid ihr beide, du und deine Tochter, die Güte und die Barmherzigkeit. Aus ihnen wird sich in kurzer Zeit die Kraft des Stammes entwickeln ...«

»Des Dschirbani?« unterbrach er mich.

»Ja. Denn nur dieser ist es, an dem, mit dem und durch den wir andern alle wachsen werden.«

»Du hast es begriffen, du hast es begriffen!« rief er in aufrichtiger, herzlicher Freude aus. »Laß sie tadeln, laß sie tadeln! Wie das Land der Ussul hinter dir liegt, so wird auch bald dieser Tadel hinter dir liegen. Du hast zunächst in den dumpfen Niederungen und den dunklen Wäldern des Moderlandes zu schreiben. Das einzige Licht, das es da gab, kam aus Vulkanen. Kein Wunder, daß man da dich selbst für rätselnd und für mystisch hält, während du doch nur von wirklichen, alltäglichen Dingen berichtest, die aber noch niemand kennt. Die Landenge, auf der wir uns heut und hier befinden, führt nicht nur dich, sondern auch deine Feder aus dem Land der notwendigen, natürlichen Unklarheiten hinüber in das Land des offenen, ungehinderten Sonnenscheines, wo sich das Leben nicht im verborgenen, sondern offen und ungescheut vor Gottes Auge und dem Auge der Menschheit vollzieht. Schon morgen werden wir dieses Land betreten. Und von morgen an werden so, wie deine Leser es wünschen, sich Tausende von Gestalten und Hunderte von Taten und Ereignissen aus der Wüste der Tschoban und aus den Gefilden der Dschunub erheben, um denen, die an deinem Buch zweifeln, zu beweisen, daß du in deiner Schilderung der Ussul ganz richtig gehandelt hast und gar nicht anders konntest! Ich kenne dieses Land. Ich weiß, wie überraschend sich sogar die Wüste zu beleben versteht. Wir wissen auch sonst, was uns bevorsteht. Die Tschoban und die Ussul ziehen heran, um ihre rohen Kräfte miteinander zu messen. Die Dschunub sammeln sich von weitem, um über diese beiden herzufallen. Der Mir von Ardistan rüstet gegen den Mir von Dschinnistan. Und hier stehen vier arme, schwache Menschen, welche aber ein so gütiges Wollen und ein so großes Gottvertrauen besitzen, daß sie fest entschlossen sind, den Kampf gegen alle diese Heere aufzunehmen und in Liebe und Versöhnung zu schlichten! Effendi, du wurdest nicht in dem Erdteil geboren, über den du schreiben willst; ich aber stamme aus Dschinnistan und weiß, was kommen und sich ereignen wird. Wir werden viel erleben, und du wirst sehr viel zu erzählen haben. Deine Leser werden zufrieden mit dir sein!

Er reichte mir die Hand, als ob er mir ein festes Versprechen gebe. Dann war es Zeit, zur Ruhe zu gehen, denn nach dem Stand der Sterne befanden wir uns schon jenseits der Mitternacht, und am nächsten Tag wollten wir unsern Rekognoszierungsritt in möglichst früher Stunde beginnen. Als ich mich niederlegte, erglänzte der nördliche Himmel von zuckenden, goldenen Strahlen, die wie Engelsflügel nach dem Süden strebten. Und als ich wieder erwachte, stand das Morgenrot im Osten und Merhameh harte schon das Frühstück gerüstet. Wir nahmen es ein und stiegen dann zu Halef hinunter, der uns erwartete. Die Pferde und meine beiden Hunde waren gesandt. Die seinigen gingen natürlich nicht mit; sie blieben bei ihm. Ich berechnete unsere Abwesenheit auf zwei Tage, einen hin und einen zurück. Wahrscheinlich hatten wir in diesen zwei Tagen wenigstens vier gewöhnliche Tagesritte zurückzulegen. Das konnte ich unsern Pferden wohl zumuten; ob aber auch meinem Begleiter, das hatte sich erst zu zeigen.

Ich instruierte Halef für alle Fälle, deren Eintritt mir möglich erschien. Merhameh hörte sehr aufmerksam zu. In ihren Augen lag eine so große Offenheit und Ruhe des Verständnisses, daß ich mich auf sie fast ebenso verließ wie auf den Hadschi selbst. Abd el Fadl war heut nicht barfuß. Er hatte leichte lederne Reitstrümpfe an, durch welche seine arme Habe, die er hier besaß, vervollständigt wurde. Anstatt der Hüftschnur trug er einen breiten Linnengürtel, in dem ein Messer und zwei Pistolen steckten. Als mein Blick auf diese Waffen fiel, sagte er in entschuldigendem Ton:

»Sie sind nicht für den Angriff, sondern nur für die Verteidigung bestimmt, falls es gar nicht anders geht.«

Die Sonne stieg soeben aus der See empor, als wir aufbrachen. Der Abschied war kurz. Wir nahmen nicht an, daß wir Gefahren entgegengingen. Die Wasserschläuche waren gefüllt: da gab es keine Not. Und in Beziehung auf den Proviant waren wir auch vollauf versehen. Merhameh hatte uns, während wir schliefen, Mannabrot gebacken und unsern Fleischvorrat so trefflich angebraten, daß er sich ganz gewiß noch bis morgen abend hielt. Um Feuer zum Backen und Braten zu machen, besaß sie Holz genug. Zwar war es unmöglich, dies aus der Nähe zu beziehen, aber die täglich vom Süden heraufsteigende Meeresflut trug aus den Küstenwaldungen der Ussul so viel Brennstoff herbei, daß er niemals fehlte.

Gleich in der ersten Viertelstunde unsers Rittes wurde mir von Seiten der Hunde eine Freude zuteil, die ich hier erwähnen muß, weil sie sich auf später sehr wichtig Werdendes bezog. Noch hatten wir uns nämlich, in gerade nördlicher Richtung reitend, nicht weit von dem Engpaß entfernt, so blieben Aacht und Uucht plötzlich stehen und gaben Laut. Sie baten durch Gebärden, nach links hinüber zu dürfen. Abd el Fadl lächelte.

»Laß ihnen den Willen!« sagte er. »Sie wollen dir zeigen, was sie können. Zum ersten Male in ihrem Leben und, wie es scheint, sogleich mit größter Sicherheit.«

Wir folgten den Hunden in die angegebene Richtung. Schon nach kurzer Zeit hielten sie an, untersuchten mit gesenkten Nasen den Boden und begannen dann, ihn aufzukratzen, und zwar an einer Stelle, wo sichtbare Spuren bewiesen, daß schon vor uns jemand hier gewesen war und an demselben Punkt nachgegraben hatte.

»Was gibt es da?« fragte ich. »Wohl Manna?«

»Ja«, antwortete mein Begleiter. »Das ist die Mannakammer, die wir entdeckt haben, und von der wir seitdem zehren. Ich war außerordentlich gespannt darauf, ob sie den Ort finden und uns zeigen würden. Daß sie es getan haben, beruhigt mich für alle fernere Zeit. So lange diese Hunde bei uns sind, werden wir nicht zu hungern brauchen. Schlagen wir unsere Richtung getrost wieder ein!«

Er wollte weiter. Ich aber stieg vom Pferd, um die braven Hunde zu beloben. Ich holte eine Handvoll Mannakörner unter dem Sand hervor, hielt sie ihnen hin, streichelte und liebkoste sie mit der andern Hand und wiederholte dabei den Namen Manna so oft, bis sie einsahen, daß ich damit diese Körner meinte, die sie gefunden hatten. Durch Schweifwedeln und einige fröhliche Sprünge gaben sie zu erkennen, wie sehr sie sich freuten, dies begriffen zu haben. Nun erst stieg ich wieder auf und folgte Abd el Fadl, der bereits vorangeritten war.

Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß er Ben Rih, den Rappen Halefs, ritt, denn auf meinen Syrr hätte ich wohl keinesfalls verzichtet. Die Gegend, durch welche wir kamen, zu beschreiben, kann ich hier unterlassen, weil ich sie später wieder zu berühren habe. Ich will nur kurz in das Gedächtnis zurückrufen, daß der südliche Teil des Tschobangebietes Wüste war, der nördliche aber Steppe. Durch beide ging das leere Bett des ausgetrockneten Flusses, das Land in eine östliche und eine westliche Hälfte teilend. Die Zeichen, welche auf der Karte des Dschinnistani Wasser bedeuteten, lagen auf der westlichen Hälfte. Auch Abd el Fadl war der Ansicht, daß dieser Teil des Landes mehr verborgenes Wasser besitze als der andere Teil. Es gab da sogar außer dem alten, versiechten Fluß noch mehrere andere, allerdings auch ausgetrocknete Wasserrinnen, welche noch heut davon zeugten, daß außer dem Hauptstrom hier noch andere Flüsse und Flüßchen existiert hatten. Andere Leute aber, nämlich die Ussul und auch die Tschoban selbst, behaupteten, daß die östliche Landeshälfte wasserreicher sei, weil es da eine Anzahl oasenähnlicher Punkte gab, die sich von Zeit zu Zeit mit frischem Grün bekleideten und den Pferden, Kamelen, Rindern, Eseln, Schafen und Ziegen der nomadisierenden Bewohner Nahrung boten. Ich freilich führte das nicht auf eine größere Wassermenge, sondern auf eine andere Beschaffenheit des Bodens zurück, der hier weicher und erdiger war und den oft mehrere Meter langen Wurzeln gewisser Kalligonum- und Mimosenarten gestattete, senkrecht in größere Tiefe zu steigen, bis die Grundfeuchtigkeit erreicht ist. Ich also hätte zu jeder Wanderung, sei es nun eine kriegerische oder eine friedliche, den westlichen Teil des Landes vorgezogen; da aber bei den Tschoban der Osten für feuchter galt, so war mit Sicherheit anzunehmen, daß ihr Kriegszug gegen die Ussul nach dort verlegt worden sei. Wir konnten also getrost so tun, als ob der Westen gar nicht vorhanden sei, und unsere Aufmerksamkeit nur auf den Osten richten. Darum ritten wir bis zur Hälfte des Nachmittages genau nach Norden, wobei wir uns in der Nähe des alten Flusses hielten, denn dieser bildete die äußerste westliche Linie, die von dem Heer der Tschoban berührt werden konnte. Wahrscheinlich aber hatten sie einen weiter östlich liegenden Weg gewählt, der von der südlichsten Oase ausging, auf der ihre Tiere die letzte Gelegenheit zur Weide fanden. Darum bogen wir nun aus unserer bisherigen Richtung in einem rechten Winkel genau nach Osten ab, um auf alle Fälle unsern Zweck zu erreichen. Denn falls sie schon vorüber waren, so trafen wir ganz unbedingt auf ihre Fährte und wußten dann also, woran wir waren. Und falls wir keine Spuren entdeckten, so waren sie eben noch nicht unterwegs und wir konnten in aller Ruhe auf ihr Kommen warten.

Wir hatten nur einmal kurz nach Mittag, in der größten Sonnenhitze, Rast gemacht und wollten auch nicht eher wieder aus dem Sattel steigen, bis es Abend geworden war oder uns ein besonderer Grund zwang, es zu tun. Gesehen hatten wir bisher nichts, gar nichts. Die Pferde waren zu loben und Abd el Fadl auch; sie hatten sich vortrefflich gehalten. Zwar hatte die Spannkraft ganz selbstverständlich nachgelassen, aber ein Zeichen der wirklichen Ermüdung gab es nicht, obgleich wir bis jetzt, um die Mitte des Nachmittags, eine Strecke zurückgelegt hatten, zu welcher das Heer der Tschoban voraussichtlich über zwei Tage brauchte. Und wir ritten noch einige Stunden weiter, bis die bisher vollständig glatte, langweilige Ebene sich mit jenen Erhöhungen zu beleben begann, welche der arabisch sprechende Beduine mit dem Namen »Shiwahn el Handal« zu bezeichnen pflegt. Dieser Ausdruck bedeutet so viel wie »Koloquintenzelt« und ist aus dem Grund gewählt worden, weil diese Erhöhungen meist die Form eines größeren oder kleineren, oft riesigen Zeltes besitzen und ihre Entstehung den Koloquinten oder ähnlichen Wüstenpflanzen verdanken. Durch den Widerstand, den der regelmäßige Tageswind an den Ranken der Gewächse findet, wird er bewogen, sie zu übersanden. Die Pflanze ist bemüht, aus diesem Sand emporzusteigen; sie treibt neue Ranken nach der Seite und nach oben, welche der Wind dann wieder bedeckt. Aus diesem Kampf zwischen Wind und Vegetation steigt nach und nach ein Hügel empor, der meist die Form eines runden, oft aber auch vielseitigen Zeltes besitzt und zu bedeutender Höhe gelangen kann. Ist die Unterlage anstatt einer Koloquinte eine Naraspflanze, deren armdicke Ranken und Wurzeln eine Länge von fünfzehn Metern erreichen, so können sich Sanddünen bilden, die zwanzig Meter hoch sind. Eine von solchen Shiwahn el Handal durchzogene Gegend bietet von weitem den Anblick eines Zeltlagers, welcher aber nur den Neuling täuschen kann. Aber die seelische Wirkung äußert sich auch auf den Kenner. Wer sich zwischen diesen natürlichen Sandbauten befindet, den überkommt ein Gefühl der Unsicherheit. Es ist ihm, als ob jeden Augenblick ein Feind oder sonst irgend eine unliebe Überraschung zwischen den Zelten hervortreten werde.

Darum war ich eigentlich nicht dafür, inmitten dieser Erhöhungen zu übernachten; aber sie erstreckten sich, so weit der Blick reichte, und nun stand die Sonne schon fast am Verscheiden. Es blieb also nichts übrig, als den Umständen Rechnung zu tragen. Wir suchten daher eine passende Stelle, einen Platz, der rundum von Sandhügeln umgeben war und uns die notwendige Verborgenheit bot. Er war bald gefunden; wir stiegen ab, und ich umging ihn in einem weiteren Umkreis, um mich zu überzeugen, daß sich nicht etwa schon andere Leute in der Nähe befanden. Es zeigte sich keine Spur irgend eines lebenden Wesens, und so sattelten wir ab und machten es nicht nur uns, sondern auch unsern Pferden und Hunden bequem. Sie hatten ihre Pflicht vollauf getan und die Fürsorge gar wohl verdient, die der Mensch so edlen, arbeitswilligen und treuen Geschöpfen schuldig ist. Schon unterwegs hatten wir ihnen die Lippen und Nüstern wiederholt mit Wasser gekühlt; während der Mittagspause waren ihnen, ebenso wie uns, nur einige Schluck gestattet worden; jetzt aber bekamen sie ein vollauf genügendes Quantum zu trinken und dann auch so viel Futter, daß sie gesättigt wurden. Ich darf nicht vergessen, zu erwähnen, daß Aacht und Uucht uns im Laufe des Tages noch zweimal auf Mannalager aufmerksam gemacht hatten. Beide Gelegenheiten waren von mir benützt worden, ihnen das Wort Manna so oft vorzusagen, daß sie es nun genau kannten.

Wir waren nun müde und schliefen sehr bald ein. Zu wachen brauchten wir nicht, denn wir konnten uns auf die scharfen Sinne und ebenso auch auf die Klugheit der Hunde verlassen. Daß dies der Fall sei, wurde uns gleich heut, am ersten Abend unseres Rittes, bewiesen. Nach dem Stand der Sterne war es noch nicht Mitternacht, so weckten mich die Hunde. Das hatte einen Grund. Ich setzte mich auf und lauschte. Zu sehen und zu hören war nichts. Aber ein ganz eigenartig scharfer und bitterlicher, mir bisher unbekannter Geruch war zu spüren, und zwar so leise, daß eine gute Nase dazu gehörte, ihn zu bemerken. Die Stelle, der er entströmte, lag also nicht so in unserer Nähe, daß wir befürchten mußten, entdeckt zu werden. Ich roch, daß er von einem Feuer kam. Es handelte sich ohne Zweifel um Menschen, und so verstand es sich ganz von selbst, daß ich nachschauen mußte, wer und wo sie waren. Ich weckte also Abd el Fadl auf und teilte ihm das Nötige mit; dann ging ich fort, dem Geruch entgegen, der, je weiter ich kam, immer stärker wurde. Die Hunde ließ ich zurück; ich brauchte sie nicht.

Schon nach kurzer Zeit erkannte ich den Geruch. Es war der unangenehme Bitterstoff der Koloquinten. Man hatte die abgestorbenen dürren Wurzeln dieser Pflanzen aus dem Sand gegraben und als Brennmaterial verwendet. Klug war das nicht. Ich schloß daraus, daß wir es nicht mit vorsichtigen und erfahrenen Leuten zu tun hatten. Ich mußte mich zwischen einer ganzen Anzahl von Sandzelten hindurchwinden, ehe ich die Stelle erreichte, um die es sich handelte. Da fand ich drei Menschen, drei Pferde und drei Kamele. Das Feuer war so klein, daß es viel mehr stank als leuchtete. Ich sah und roch sofort, daß es nur dem Zweck gedient hatte, Kaffee zu kochen. Der war soeben fertig geworden, und nun ließ man das Feuer ausgehen. Es kam mir höchst sonderbar vor, mit stinkendem Koloquintenholz sich aromatisch duftenden Kaffee kochen zu wollen; für uns aber war es gut, daß man es getan hatte, denn wer weiß, was geschehen wäre, wenn uns nicht grad diese Unklugheit in den Stand gesetzt hätte, diese Leute zu entdecken.

Nichts konnte mir beim Heranschleichen und Belauschen förderlicher sein als die Sanderhöhungen, hinter denen man so leicht verborgen bleiben konnte. Der Mond, der an unserm ersten Abend bei den Ussul uns nur als schmale Sichel erschienen war, hatte jetzt den Halbkreis erreicht. Sein Licht genügte, mir das, was ich sah, so deutlich zu zeigen, daß ich mich nicht irren konnte, wenn es auch nicht möglich war, alle Einzelheiten und Kleinigkeiten zu erkennen. Was ich jetzt nicht sehen konnte, das sah ich dann am folgenden Morgen um so deutlicher, und so ist es mir schon heut möglich, unsere neue Bekanntschaft eingehender zu beschreiben, als ich sie jetzt hier liegen sah. Ich fange bei den Tieren an. Die Kamele waren nicht zwei- sondern einhöckerig; ihr schlanker, lang gegliederter Bau verriet, daß sie nicht Last- sondern Reitkamele, ja sogar vielleicht Eilkamele seien. Jetzt allerdings wurden sie nicht zum Reiten, sondern zum Lasttragen benützt. Das zeigten die Sättel, die man ihnen abgenommen und neben sie gelegt hatte. Ihre Ladung bestand aus Wasserschläuchen, Proviant und einigen wenigen Kleidungsstücken und Decken. Aus dem Umstand, daß man diese Art von Kamelen gewählt hatte, war zu schließen, daß der Ritt ein eiliger sei. Zwei von den Pferden waren von demselben hohen, knochigen, aber nicht so schweren unbeholfenen Schlag, den ich an den Pferden der drei von uns gefangenen Tschoban beschrieben habe. Sie waren zwar keine Renner, jedenfalls aber gute, ausdauernde Läufer. Das dritte Pferd war edler. Es gehörte zu derselben Perserrasse, zu der die Schimmel des Maha-Lama und des obersten Ministers der Dschunub zu zählen waren. Was nun die drei Männer betrifft, so war einer von ihnen allem Anschein nach ein gewöhnlicher Mensch. Seine Kleidung bestand nur aus einem Kopftuch und einem hemdartigen Haik. Er saß abseits und war, wie ich am nächsten Tag erfuhr, von den beiden andern als Führer mitgenommen worden. Diese beiden saßen miteinander am Feuer. Der eine von ihnen hatte den Kaffee gekocht und goß ihn jetzt aus der mitgebrachten Bronzekanne in kleine Tassen. Er tat dies mit sehr wenig Geschick. Es war anzunehmen, daß er sonst ganz andere Dinge zu tun hatte, als Kaffee kochen. Ein gewöhnlicher Mann war er nicht. Seine Kleidung war die eines wohlhabenden Nomaden. Die grüne Farbe seines Turbans zeigte, daß er als Nachkomme Mohammeds galt und also den Ehrentitel »Sejjid« führte. Er war ein schon älterer Mann, behandelte aber seinen viel jüngeren Genossen mit einer Liebe und Aufmerksamkeit, aus der zu ersehen war, daß der letztere im Rang doch über ihm stand. Dieser Jüngere kam mir gleich beim ersten Blick bekannt vor. Es war mir, als ob ich ihn schon einmal gesehen hätte. Sein Alter schätzte ich gegen dreißig Jahre. Er trug weißen Turban, Hose, Weste, Jacke und einen mantelähnlichen Umhang in bunten Farben, dazu lederne Halbstiefel mit sehr großräderigen Sporen. Sein Gesicht war äußerst sympathisch, obgleich es durch zwei vorn herabhängende Haarzöpfe einen fremdartigen, fast möchte ich sagen, hunnenhaften Ausdruck bekam. Seine Waffen bestanden, wie auch bei den andern, aus Lanze und Flinte, Pfeil, Bogen und Messer. Als ich ihn so betrachtete, stieg in mir das Gefühl oder vielmehr die Überzeugung auf, daß er zu den nicht sehr oft anzutreffenden Menschen gehöre, die man lieb haben muß, man mag wollen oder nicht.

Seine beiden, vorn herabhängenden Zöpfe verrieten mir, warum er mir so bekannt vorkam. Zwei solche Zöpfe trug unser Gefangener, Palang, der Panther, der Erstgeborene des Volkes der Tschoban. Der jetzt vor mir sitzende junge Mann war einige Jahre älter als der Palang, sah ihm aber so ähnlich, daß der Gedanke, er müsse verwandt mit ihm sein, sehr nahelag. Jedenfalls gefiel er mir aber viel besser als der Panther. Aus dieser Ähnlichkeit und aus diesem starkknochigen Bau der Pferde war, wenn auch nicht grad mit Sicherheit, zu schließen, daß die Leute, die ich belauschte, Tschoban seien. Wenn diese meine Vermutung richtig war, so hatten wir es hier vielleicht mit den ersten Vorposten oder Kundschaftern zu tun, die dem Heer vorausgeritten waren. Aber dieser Gedanke erschien mir nicht ganz unbedingt als annehmbar. Die Zeit stimmte nicht. Ich kannte ja den Tag, an dem die Tschoban den Engpaß von Chatar passieren wollten. Falls diese Zeit eingehalten wurde, mußten sie schon weiter vorgerückt sein als die drei Männer, die ich jetzt vor mir hatte. Es war ja meine Berechnung gewesen, heut hinter sie zu kommen, um aus ihren Spuren alles ersehen zu können, was uns zu wissen nötig war. Mit unsern schnellfüßigen Pferden konnte es uns dann nicht schwerfallen, ihnen wieder vorauszueilen.

Jetzt tranken beide von dem eingegossenen Kaffee. Sie führten die Tassen fast zu gleicher Zeit an den Mund. So stellte sich die Wirkung auch gleichzeitig auf beiden Seiten ein: sie spuckten das, was sie in den Mund genommen hatten, sofort wieder aus.

»Pfui!« rief der Sejjid aus. »Allah verdamme die Bitterkeit! Wer soll das trinken können!«

Er ließ eine Gebärde des höchsten Abscheues folgen und warf die Tasse in den Sand.

»Ich warnte dich!« sagte der junge Mann herzlich lachend, indem er sich auch seiner Tasse entledigte, wenn auch in ruhiger, nicht zorniger Weise. »Es ist das erste Mal in deinem Leben, daß du Kaffee kochst.«

»Und grad mit solchem Holz!« zürnte der Sejjid. »Wie kann der Kaffee so unvernünftig sein, den Gestank und Geschmack der Koloquinten an sich zu ziehen! Ich bin zornig. Nicht meinetwegen, sondern deinetwegen. Verzeihe mir, o Prinz!«

Prinz? Dieses Wort fiel mir sofort auf. Prinz wurde ja auch der Panther genannt, der sich sogar als Erstgeborenen bezeichnete. Er erkannte nämlich seinen älteren Bruder nicht an, weil dieser zwar von demselben Vater, aber nicht von einer mohammedanischen, sondern von einer christlichen Mutter stammte. Man wußte, daß er sich alle mögliche Mühe gab, diesen Bruder aus der Nachfolge zu verdrängen oder, falls ihm dies nicht gelingen sollte, sich eine eigene, persönliche Herrschaft zu gründen. Dieses Zerwürfnis mit Vater und Bruder bildete den Grund, daß der Panther fast nie daheim bei den Seinen war. Er lebte meist bei dem Mir von Ardistan, und man erzählte sich, daß er der ganz besondere Liebling dieses sehr kriegerisch gesinnten Herrschers sei und sich sein unbeschränktes Vertrauen gewonnen habe. Daß der Panther jetzt, bei dem geplanten Einbruch der Tschoban in das Gebiet der Ussul, den ersteren als Kundschafter vorausgeritten war, durfte nicht als ein Beweis von Heimatsliebe oder Patriotismus angesehen werden. Vielmehr lag ein ganz gegenteiliger Gedanke viel näher, nämlich daß er Zwecke verfolgte, die gegen den jetzigen Scheich und seinen Nachfolger, also gegen den Vater und Bruder gerichtet waren.

Dieser Bruder, also der wirkliche Ilkewlad, der eigentliche Erstgeborene, wurde von jedermann gelobt. Er war allgemein beliebt. Man stellte ihn in jeder Beziehung über den nachgeborenen Prinzen, den Panther. Sollte er es sein, dem ich hier mitten in der Wüste begegnete? Welch ein Glück für uns, wenn es so wäre! Eine schnelle, kluge und energische Ausnutzung dieses Umstandes konnte in äußerst günstige Folgen für uns umzusetzen sein!

Der Sejjid wollte den Kaffee, der sich noch in der Kanne befand, wegschütten. Da bat der Führer, ihn trinken zu dürfen. Er bekam ihn. Die beiden Herren aber stopften sich ihre Tschibuks, um den Geruch der Koloquinte durch den Duft des Tabaks zu vertreiben.

»Nur einige Züge wollen wir tun; dann müssen wir schlafen«, sagte der, welcher Prinz genannt worden war. »Wir müssen schon vor der Sonne wieder auf. Meinst du, daß wir den Engpaß Chatar dann morgen noch vor Nacht erreichen?«

»Ja«, antwortete der Sejjid.

»Da dürfen wir aber unterwegs keine Ruhepause machen«, fiel der Führer ein. »Es ist von hier aus bis zum Engpaß so weit, daß unsere Krieger über zwei Tage brauchen würden, um hinzukommen. Ich glaube, daß wir es mit unseren guten Pferden und Kamelen in diesem einen Tage machen; aber sie werden, wenn wir dort eingetroffen sind, so ermüdet sein, daß sie nicht weiterkönnen.«

Da erkundigte sich der Prinz:

»Und wann hätten wir unsere tausend Krieger erreicht, wenn wir ihnen auf ihrem Weg nachgeritten wären, anstatt diesen direkten und geraden Weg nach dem Engpaß einzuschlagen?«

»Erst übermorgen«, antwortete der Sejjid.

»So war es richtig von uns, diesen schnurgeraden Weg zu wählen, obgleich es da keinen grünen Halm für unsere Tiere gibt. Wir wollen nur hoffen, daß die tausend nicht unterwegs zu darben haben! Sonst verzögert sich ihr Zug und wir kommen zu spät, um meinen Bruder zu retten. Welch ein Glück, daß die andern, von denen er sich getrennt hatte, ehe er mit seinen beiden Begleitern gefangen wurde, ihm dennoch nachritten, weil sie Angst um ihn bekamen! Und noch klüger war es von ihnen, daß sie keine Zeit auf die vergebliche Mühe verwendeten, ihn zu befreien, sondern sofort in einem Atem heimwärts ritten und es meinem Vater meldeten! Mein Bruder wollte sich an die Spitze des Kriegszuges stellen. Nun er aber gefangen ist, hat mein Vater die Führung selbst übernommen, während ich als der stets friedlich Gesinnte daheimzubleiben hatte, um dort seine Stelle zu vertreten. Nun handelt es sich leider nicht mehr um den gewöhnlichen Beutezug, sondern um die endgültige Eroberung des ganzen Gebietes von Ussulistan. Wie gern wäre ich dabei, um so viel wie möglich die Härte des Krieges zu mildern und um in Liebe zu erreichen, was im Haß so schwere Opfer kostet! Wehe den Ussul, falls wir siegen! Und daß wir siegen, daran ist nicht zu zweifeln! Ich würde es ihnen verzeihen; ja, ich finde es sogar ganz selbstverständlich und richtig, daß sie meinen Bruder festgenommen haben. Er aber kennt keine Gnade; er wird es ihnen blutig entgelten lassen. Er wird das Leben unserer eigenen Krieger nicht schonen, um Rache an den Ussul nehmen zu können. Es wird zu Kämpfen kommen, die auch auf unserer Seite viele Menschenleben kosten werden. Und doch brauchen wir diese Menschen grad jetzt viel nötiger als sonst ...«

»Die Dschunub, die Dschunub!« fiel der Sejjid lebhaft ein.

»Ja, die Dschunub! Wer hätte an einen so plötzlichen Krieg mit ihnen gedacht! Und gerade jetzt, wo tausend unserer Krieger, und zwar die besten und bewährtesten, nach Süden gezogen sind, der Vater an ihrer Spitze! Er weiß noch kein Wort von dieser Gefahr. Durfte ich ihn etwa durch einen Boten unterrichten?«

»Nein, keinesfalls!«

»Ganz richtig! Die Sache ist zu wichtig. Ich muß ihm diese schlimme Botschaft selbst überbringen, muß mich mit ihm besprechen, muß aus seinem Munde selbst hören, was er bestimmt, damit ich es richtig auszuführen vermag. Das Geratenste ist, daß wir uns möglichst beeilen, Ussula mit einem schnellen Handstreich zu überrumpeln. Nicht erst nach der alten Kampfweise lange zögern und unnütze Reden und Verhandlungen halten, sondern über die Stadt herfallen wie ein Dieb in der Nacht. Ich bin überzeugt, daß sie sich da ergibt, ohne Widerstand zu leisten. Das bietet uns Grund und Gelegenheit, human und menschlich zu verfahren. Auch wird dadurch mein Bruder sofort frei und kann die Unterwerfung von Ussulistan zu Ende führen, während hingegen mein Vater Zeit gewinnt, schleunigst in die Heimat zurückzukehren und sich gegen die Dschunub zu wenden. Mein Freund, ich ahne, es naht eine schwere Zeit, aber auch eine große Zeit. Es gilt, diese Zeit zu begreifen! Glaube mir, der Säbel ist es nicht mehr, der entscheidet! Ich sage dir, die Schlachten der Völker wurden früher durch die rohe Faust und später durch die Intelligenz gewonnen. Heut ist auch diese Intelligenz nicht stark genug, den Sieg allein zu erringen. Es kommt noch etwas Neues, etwas in der Kriegsgeschichte bisher Unbekanntes hinzu, nämlich die Menschlichkeit, die Schonung, die Güte und Barmherzigkeit! Ohne diese neue Heldengestalt ist jede Schlacht verloren, selbst wenn man sie gewinnt ...!«

Er sprang von seinem Sitz auf und sprach begeistert weiter. Dabei blieb er aber nicht auf seinem Platz stehen, sondern er ging hin und her. Er kam mir dabei wiederholt so nahe, daß es nur noch eines Schrittes bedurfte, so mußte er mich sehen. Ich hielt es also für geraten, mich zurückzuziehen. Ich hatte ja genug erfahren, und was ich noch nicht wußte, das konnte ich mir durch einiges Nachdenken selbst ergänzen. Übrigens stand es schon jetzt bei mir fest, daß ich mit diesem prächtigen Menschen schon morgen noch ganz anders sprechen würde, als er jetzt mit seinem Sejjid sprach. Ich zog mich also aus meinem Versteck zurück und ging nach unserm Lagerplatz, wo Abd el Fadl auf mich wartete.

Wie erstaunte er, als er hörte, wen ich gesehen hatte! Und wie überrascht war er von dem, was gesprochen worden war! Als ich meinen Bericht beendet hatte, sagte er:

»Es sind also doch noch mehr Kundschafter der Tschoban in Ussulistan gewesen, als man dachte! Ich habe sie nicht gesehen. Wer feindliche Absichten hat, der passiert den Engpaß meist des Nachts, weil tags die Gefahr, jemandem zu begegnen, wegen der Enge des Raumes am allergrößten ist. Sie wissen, daß Prinz Panther gefangen ist! Der alte Scheich hat darum den Oberbefehl selbst übernommen! Und hierauf erfährt der in Tschobanistan zurückgebliebene ältere Prinz, daß die Dschunub es mit den Tschoban gerade so machen wollen, wie diese mit den Ussul! Er reitet seinem Vater schleunigst nach, um ihm dies zu melden und ihn zu warnen! Aber er reitet in sehr kluger Weise direkt nach dem Engpaß, während sie sich weiter östlich gehalten haben, um einiger weniger, schlechter Futterplätze willen, die ihnen gar nichts nutzen, sondern ihren Zug nur aufhalten können! Das ist ein Zeichen, daß sie schlecht mit Proviant und Futter versehen sind. Sie rechnen jedenfalls darauf, gleich jenseits des Engpasses verwüsten, brandschatzen und plündern zu können, ganz wie es ihnen beliebt! So haben sie ja stets getan. Wie aber, Effendi denkst du über ihren jetzigen Plan?«

»Genau so wie du! Sie irren sich!« antwortete ich.

»Das meine ich allerdings auch. Was hast du für heut beschlossen?«

»Wir schlafen ruhig ein und schlafen ruhig aus.«

»Ohne uns des weiteren um den Prinzen zu bekümmern?«

»Ja.«

»Wird er uns nicht entdecken?«

»Nein. Wir liegen nicht in der Richtung, die er einzuschlagen hat. Er reitet nach Süden; wir aber lagern westlich von ihm. Er will noch vor der Sonne aufbrechen, hat also keine Zeit, sich vorher lange hier umzusehen.«

»So willst du ihn fortlassen, ohne mit ihm gesprochen zu haben?«

»Ja.«

»Und wohl nach weiteren Spuren der Tschoban suchen?«

»Nein! Dieser Prinz ist mir wertvoller und nützlicher als tausend Spuren, die wir noch entdecken könnten. Wir suchen nicht weiter, denn wir haben mehr als genug gefunden. Wir kehren also um. Wir reiten ihm nach.«

»Um ihn gefangenzunehmen?«

»Warum das? Der wäre doch wohl ein schlechter Polizist, der sich mit einem Menschen quälen wollte, der ganz von selbst und ohne allen Zwang nach dem Gefängnis läuft. Ich würde nur im Notfall Gewalt anwenden, nur beim Eintritt zwingender Ereignisse, von denen ich jetzt noch nichts weiß. Schlafen wir ganz ruhig wieder ein!«

»Aber wenn wir aufwachen, ist er fort!«

»Das soll er auch!«

»Vielleicht wo ganz anders hin, als du jetzt denkst! Er kann leicht seine Beschlüsse ändern!«

»So reiten wir ihm einfach nach. Nun ich ihn einmal habe, gebe ich ihn nicht wieder her!«

»Bist du denn deiner Sache so sicher, ihm folgen zu können, ohne daß du ihn siehst?«

»Vollständig! Wie hier die Verhältnisse liegen, wird seine Fährte wie eine feste, unzerreißbare Schnur sein, die ich immer in der Hand behalte. Gute Nacht, mein lieber Freund!«

»Gute Nacht, Effendi!« sagte er, tief Atem holend. »Wenn du glaubst, zuversichtlich und zufrieden sein zu dürfen, so bin ich es auch. Allah gebe uns Frieden! Nicht nur für diese Nacht!«

Ich schlief schnell wieder ein, und zwar so fest, daß ich nicht von selbst aufwachte, sondern von Abd el Fadl geweckt werden mußte.

»Steh auf, Effendi!« sagte er. »Der Prinz ist längst schon fort.«

»Woher weißt du das?« fragte ich.

»Ich vermute es, weil die Sonne längst schon aufgegangen ist und er doch vorher aufbrechen wollte. Willst du nicht einmal nachsehen?«

»Sogleich!«

Ich stand auf und schlich mich zu der Stelle, an der die Tschoban gelagert hatten. Sie war leer. Es gab soviel Reste und Beweise ihrer Anwesenheit zu sehen, daß ein arabischer Beduine über eine solche Sorglosigkeit im höchsten Grade erstaunt gewesen wäre. Was es heißt, sich auf dem »Kriegspfad« zu befinden, davon schienen diese Leute keine Ahnung zu haben! Ihre Spuren waren so deutlich, als ob sie mit Absicht gemacht worden seien, und keiner von ihnen harte sich auch nur die geringste Mühe gegeben, sie wieder zu verwischen. Als wir ihnen eine Viertelstunde später folgten, bedurfte es nicht der geringsten Anstrengung, ihre Fährte zu entdecken. Sie bildete in Wirklichkeit die feste, unzerreißbare Schnur, von der ich gesprochen hatte.

Unsere Pferde gingen ganz von selbst schneller als die ihren. Darum dauerte es gar nicht lange, bis wir ihnen so nahe waren, daß wir sie von weitem sahen; da hielten wir an. Das wiederholte sich so oft und in immer so gleicher, eintöniger Weise, daß es uns langweilig wurde. Wir beschlossen, sie zu überholen, doch nach der Seite hin, so daß sie uns nicht sehen konnten. Wir durften dies sehr wohl tun, weil sie nun schon stundenlang die Richtung nach dem Engpaß eingehalten hatten und es keinen Grund für uns gab, anzunehmen, daß sie von ihr abweichen würden. Wir wendeten uns also ein Stück nach Norden hinüber, und als wir glaubten, uns weit genug von ihnen entfernt zu haben, bogen wir wieder in die südliche Richtung ein, so daß wir nun eine Linie innehielten, die mit der ihren parallel ging, ihr aber nicht so nahelag, daß sie uns sehen konnten. Infolge unsers rascheren Tempos überholten wir sie sehr bald und kamen ihnen Stunde um Stunde immer weiter voran, so daß wir den Engpaß eher erreichen mußten als sie, obgleich wir zu Mittag eine Ruhepause machten, sie aber nicht. Abd el Fadl war voll des Lobes für unsere unvergleichlichen Pferde. Er behauptete, so etwas noch nie gesehen zu haben. Er hatte sie liebgewonnen und liebkoste und streichelte sie ohne Ende, denn auch zu dem meinigen langte er herüber.

Es war ungefähr zwei Stunden nach der erwähnten Ruhepause, als am Horizont zu unserer rechten Hand ein Reitertrupp auftauchte, der uns ein Rätsel war. Zunächst konnten wir, der großen Entfernung wegen, den Trupp eben nur als Trupp sehen, nicht aber die einzelnen Reiter unterscheiden. Als diese Unterscheidung möglich war, zählten wir acht Personen. Sie hatten eine südliche, später mit der unseren zusammenlaufende Richtung eingehalten; als sie uns aber sahen, kamen sie auf uns zu. Hinter ihnen tauchte bald darauf ein zweiter Trupp auf, der aus vielen Kamelen und nur soviel Reitern bestand, wie nötig waren, die Kamele zu dirigieren. Das waren die Wasserschlepper für die acht vorausreitenden Personen. Diese letzteren waren sehr gut beritten, und zwar mit dunkelfarbigen Perserpferden. Nur einer von ihnen saß auf einem Schimmel, der sehr edlen Blutes war. Dieser eine ritt voran. Es war eine sehr langbeinige, aber um so kurzleibigere Gestalt. Fast konnten sich seine Füße unter dem Bauch des Pferdes berühren. Seinem Oberkörper aber fehlte es derart an der Höhe, daß es aussah, als ob ein junger, noch in der Entwicklung stehender Mensch von siebzehn Jahren im Sattel sitze. Natur und Kunst hatten versucht, diesen Mangel durch einen ganz besonders martialischen Ausdruck seines Gesichtes auszugleichen, welches außerordentlich voll- und langbärtig war. Demselben Zweck diente wohl auch die ungewöhnlich hohe, militärische Pelzmütze, auf der ein ebenso hoher Busch von Reiherfedern prangte. Auch seine sieben Begleiter trugen solche Mützen; nur waren die Reiherbüsche von so abnehmender Größe, daß der Busch des sechsten nur aus einer einzigen kleinen Feder bestand, bei dem siebenten aber ganz fehlte. Das war wohl im Rangunterschied begründet.

Der Eindruck, den diese Leute machten, war ein außerordentlich kriegerischer. Sie waren ganz gleich gekleidet, zwar orientalisch bequem und bunt, aber nach derselben Farbe und auch demselben Schnitt. Wir hatten ihre Anzüge also als Uniformen zu betrachten. Bewaffnet waren sie mit allen im Orient gebräuchlichen Schuß-, Hieb- und Stechinstrumenten. Eine Ausnahme hiervon machte nur der eine, der auf dem Schimmel saß. Er trug einen kostbaren Säbel und im Gürtel eine Pistole, weiter nichts. Als er mit seinen Leuten uns erreichte, kommandierte er ein lautes, gebieterisches »Halt!« Sie gehorchten sofort. Wir zwei aber ritten weiter.

»Halt!« rief er nun auch uns zu.

Wir taten, als hätten wir es gar nicht gehört.

»Halt!« rief er noch einmal, und zwar mit nicht nur lauter, sondern brüllender Stimme. Wir aber ritten eben weiter. Da kam er uns nach; die andern aber blieben halten.

»Warum gehorcht ihr nicht?« donnerte er uns an. »Haltet an, sage ich; haltet an!«

Wir ritten trotzdem weiter. Er kam neben uns her und fuhr fort:

»Seid ihr etwa taub, so sagt es mir! Könnt ihr hören oder nicht?«

Ich antwortete trotz der Lächerlichkeit seiner Aufforderung:

»Wir sind nicht taub. Wir hören, was du sagst.«

»Warum gehorcht ihr da nicht!?«

»Wer bist du, daß wir dir gehorchen müßten?«

»Sag mir erst, wer du bist!«

»Ich bin Ussul.«

Diese Auskunft war ganz richtig, denn ich war ja Ussul geworden.

»Ussul?« fragte er erstaunt, indem er mich mit verwundertem Blick musterte. »Ich habe mir die Ussul anders gedacht! Ich will zu ihnen. Ich komme aus Dschunubistan. Weißt du, daß vor einigen Tagen zwei sehr hohe Herren aus Dschunubistan zu euch gekommen sind?«

»Ja; das weiß ich sehr wohl.«

»Hast du erfahren, wer sie sind?«

»Der oberste Minister und der Maha-Lama, der höchste aller Priester.«

»Das stimmt! Wie sind sie aufgenommen worden?«

»Ganz ihrer hohen Würde und ihren Absichten gemäß.«

Da wurde sein Gesicht freundlicher, und auch seine Stimme verzichtete auf den zürnenden Ton, als er sagte:

»Das freut mich! Aber du weißt natürlich nicht, was sie bei euch wollen!«

»Warum soll ich das nicht wissen? Sie wünschen, ein Bündnis mit uns abzuschließen, ein Bündnis gegen die Tschoban.«

»Allah!« rief er aus. »Auch dieses stimmt! Wer hat es dir gesagt?«

»Sie beide selbst.«

»Sie beide selbst? Ist das wahr?«

Er musterte mich noch schärfer als bisher.

»Warum sollte ich etwas sagen, was nicht wahr ist?« fragte ich in schärferem Ton.

»Verzeih! Die beiden hohen Herren können solche Mitteilungen keinem gewöhnlichen Ussul machen!«

»Habe ich gesagt, daß ich ein gewöhnlicher sei?«

»Nein! Und eure Pferde ...! Maschallah! Was für hochfeine, köstliche Tiere! Ich denke, ihr Ussul habt nur dicke, unförmliche Ungetüme, welche den Nashörnern und Nilpferden gleichen!«

»Was das betrifft, so wirst du noch so manches andere über uns erfahren, was dich verwundern wird!«

Er betrachtete, während wir immer weiterritten, uns, besonders aber unsere Pferde, noch eingehender als bisher. Der hohe Wert der letzteren leuchtete ihm sichtbar ein. Aber meine nicht ganz einheimische Erscheinung und der ärmliche Anzug meines Begleiters beirrten ihn. Doch kam er zu dem Resultat:

»Solche Pferde, wie diese hier, kann nur ein vornehmer und reicher Ussul besitzen. Ich bitte dich, mir zu sagen, wer du bist!«

»Es ist bei uns Sitte, vorher zu erfahren, mit wem man spricht«, wies ich ihn zurück.

»Das sollte ich eigentlich verschweigen; aber ich höre, daß du in das Geheimnis eingeweiht bist, und halte es also für erlaubt, dir Auskunft zu geben. Ich bin nämlich der Tertib We Tabrik Kuwweti Harbie Feminde Mahir Kimesne von Dschunubistan.«

Da hielt ich mein Pferd an und sagte:

»Wenn dieser dein Titel etwa noch länger ist, so verzeih, daß ich dich unterbreche. Schau dich nach deinen Leuten um! Sie warten dort, wo du ihnen Halt geboten hast, auf deine Erlaubnis, weiterreiten zu dürfen. Wenn du sie ihnen nicht augenblicklich gibst, werden wir für sie verschwunden sein, noch ehe du mit deinem Titel ganz zu Ende bist!«

Sie hielten wirklich noch an derselben Stelle und schauten hinter uns drein, ohne ihrem Vorgesetzten folgen zu dürfen. Dieser überhörte die in meinen Worten liegende Ironie, hob den Arm befehlerisch in die Höhe und schrie zurück:

»Vorwärts, vorwärts; ich erlaube es!«

Da ritten sie weiter. Auch wir setzten unsere Pferde wieder in Bewegung, wobei er uns mitteilte, wer sie waren:

»Wer ich bin, das wißt ihr nun, nämlich der allerhöchste Offizier von ganz Dschunubistan. Auf Ritten, wie der jetzige ist, haben mich alle Bestandteile des Heeres zu begleiten. Darum seht ihr hier einen General, einen Oberst, einen Major, einen Hauptmann, einen Leutnant, einen Unteroffizier und einen gewöhnlichen Soldaten.«

»So ist der Zweck dieses deines Rittes gewiß ein sehr militärischer oder, sagen wir, strategischer?« erkundigte ich mich.

Nämlich sein ganzer, langer Titel bedeutete weiter nichts als nur den einen kurzen Ausdruck »Stratege«. Er war, um mich europäisch auszudrücken, wahrscheinlich der Generalstabschef des Scheichs von Dschunubistan.

»Sogar sehr!« antwortete er, indem er mit der Hand an den Säbel schlug und sein Pferd zu einer demonstrierenden Lançade zwang. »Daß die Tschoban euch überfallen sollen, das weißt du schon?

»Allerdings.«

»Und daß wir euch helfen wollen, sie zu besiegen, auch?«

»Ja.«

»Dergleichen Bündnisse sind gewöhnlich äußerst geheim zu halten. Unser Scheich aber, der bekanntlich ein berühmter Diplomat ist, beschloß aus wohlerwogenen Gründen, auf diese Heimlichkeiten zu verzichten. Wir haben ganz in der Nähe des Scheichs der Tschoban unsere besten Spione. Wir erfuhren, daß er seinen Sohn, den Panther, auf Kundschaft nach Ussula geschickt habe. Diesem Panther fällt die Aufgabe zu, die Eroberung von Ussulistan zu leiten. Er hat einen älteren Bruder; der ist ein außerordentlich kluger Mensch, den wir als Ratgeber zu fürchten haben. So lange er und sein Vater, der alte Scheich, daheimbleiben, sind wir gezwungen, zwei Heere zu halten, nämlich eines zur Beobachtung dieser beiden und eines als Verbündete für euch. Darum sannen wir auf ein Mittel, den Scheich samt dem älteren Prinzen zu zwingen, an dem Zug ihrer Krieger nach Ussulistan teilzunehmen. Mit den dann führerlos zurückbleibenden Tschoban hätten wir hierauf leichtes Spiel. Aber wir fanden kein derartiges Mittel. Da plötzlich sandte uns einer unserer Spione einen Eilboten mit der Nachricht, daß der Panther von den Ussul ergriffen worden sei und der alte Scheich sich schnell selbst an die Spitze seiner Krieger stellen werde, um den Engpaß von Chatar zu überschreiten und den Gefangenen zu befreien. Wie lieb uns diese Botschaft war, kannst du dir denken! Nun handelte es sich darum, auch den älteren Prinzen zu entfernen. Wir waren überzeugt, dies durch den Verrat unseres Bündnisses mit euch zu erreichen. Wenn der Prinz erfuhr, daß wir euch zu Hilfe kommen, war er gezwungen, seinen Vater hiervon sofort zu benachrichtigen. Eine so wichtige Botschaft aber vertraut man nicht andern an, sondern man bringt sie möglichst selbst, zumal der Sohn sich unbedingt mit dem Vater zu beraten hat, was geschehen soll, um uns sowohl im Norden bei dem Tschoban als auch im Süden bei den Ussul abzuwehren. Darum schickten wir dem Sohn des Sef el Berinz seinen Eilboten schnell wieder zurück und wiesen ihn an, dem Prinzen zunächst unser Bündnis mit euch mitzuteilen und sodann ihn auf den Gedanken zu bringen, seinem Vater diese Kunde nicht durch einen Boten, sondern in eigener Person zuzutragen.«

»Ist ihm das gelungen? Hat er das erreicht?« erkundigte ich mich, als er eine Pause machte.

»Das weiß ich nicht, denn ich hatte keine Zeit, es abzuwarten«, antwortete er. »Ich bin aber überzeugt, daß der Prinz jetzt schon unterwegs ist. Aber nicht nur er, sondern ich bin es auch! Weil sie beide nach Süden sind, der Scheich der Tschoban und sein älterer Prinz, brauchen wir kein besonderes Beobachtungskorps im Norden. Unser Heer darf also beisammenbleiben und ist sofort nach dem Süden aufgebrochen, nach dem Engpaß von Chatar, um sich mit euern Kriegern zu vereinigen. Ich aber bin selbst vorausgeeilt, um eure Verhandlungen mit unserm Maha-Lama und unserm Minister, falls sie noch zu keinem Resultat geführt haben sollten, schnell zu Ende zu bringen. Vielleicht ist es gut, daß ich schon unterwegs auf euch gestoßen bin. Was sagst du dazu?«

Ich stellte mich tief nachdenklich und sagte zunächst nichts. Ich wollte Zeit gewinnen. Die unvorhergesehenen Tatsachen und Verwickelungen stürmten ja förmlich auf uns ein. Es war, als ob es hoch oben im Norden eine mächtige, starke Hand gebe, die uns die Ereignisse wie Kugeln zuschob, mit denen sie Kegel spielte. Wir aber hier unten dienten als Kegelknaben. Wir hatten weiter nichts zu tun, als jeden Kegel zur rechten Zeit an die richtige Stelle zu setzen.

Vor allen Dingen hatte dieser Tertib We Tabrik Kuwweti Harbie Feminde Mahir Kimesne einen außerordentlichen, ja unverzeihlichen Fehler begangen, ohne es zu ahnen. Er hatte in seinem Eifer einen Namen genannt, den er gar nicht nennen wollte und durfte. Er hatte damit verraten, daß der Mensch, der die Tschoban an die Dschunub verriet, der Sohn jenes Schwert des Prinzen sei, der unser Gefangener war. Hieraus ließen sich Schlüsse ziehen, an die ich mich in diesem gegenwärtigen Augenblick unmöglich wagen konnte.

Sodann drängten sich dadurch, daß die Tschoban von den Dschunub nicht an der im Norden zwischen ihnen liegenden Grenze, sondern hier im Süden angegriffen werden sollten, die Tatsachen so eng und so zwingend zusammen, daß fast gar keine Zeit zum Überlegen blieb. Heut war nämlich schon Sonntag, und für morgen, also den Montag, stand das Eintreffen der Tschoban am Engpaß bevor, falls es bei dem Plan blieb, den uns der Sef el Berinz auf der Insel, als ich mit dem Scheich der Ussul lauschte, verraten hatte. Was gab es bis dahin noch alles zu tun! Würde der Dschirbani zur rechten Zeit mit seinen Hukara eintreffen? Diese höchst wichtige Frage und viele andere, ebenso wichtige, wollten sich mir jetzt aufdrängen; aber ich konnte mich nicht mit ihnen beschäftigen, denn der Stratege mit dem langen Titel nahm mich in Anspruch. Er sagte:

»Nachdem ich euch gesagt habe, wer wir sind, erwarte ich dieselbe Höflichkeit auch von euch. Ich bitte zunächst dich, mir Auskunft zu geben!«

Diese Aufforderung war an Abd el Fadl gerichtet. Er antwortete:

»Ich heiße Abd el Fadl.«

»Bist du auch aus Ussul?«

»Nein.«

»Was dann?«

»Mein Vaterland ist Dschinnistan.«

Da fuhr der Stratege so hoch im Sattel in die Höhe, wie es bei seinem kurzen Oberkörper möglich war, und rief im Ton des Mißtrauens aus:

»Also ein Dschinnistani, ein Feind von uns? Und gibst dich für einen Ussul aus?«

»Wann hat er das getan?« fragte ich. »Ihr habt noch kein einziges Wort miteinander gesprochen!«

Er antwortete streng:

»Weil du ein Ussul bist, mußte ich selbstverständlich auch ihn für einen halten! Ich bitte nun auch um deinen Namen!«

»Man nennt mich Kara Ben Nemsi.«

Kaum hatte ich das gesagt, so hielt er sein Pferd schnell an, griff auch dem meinigen in die Zügel und fragte, noch strenger werdend:

»Ben Nemsi? Bist etwa auch du kein Ussul?«

»Ich bin einer«, antwortete ich.

»Aber dein Name deutet auf eine ganz andere Herkunft! Wo bist du geboren?«

»In Dschermanistan.«

»Das zwischen Inglistan, Frankistan, Russistan und Österandscha liegt?«

»Ja.«

»So bist du doch nicht Ussul! Du hast mich belogen!«

In jedem andern Fall hätte ich dieses letztere Wort energisch zurückgewiesen; hier aber erklärte ich in aller Ruhe:

»Ich bin nicht als Ussul geboren und habe dich aber trotzdem nicht belogen. Ich bin Ussul geworden. Die Ussul wünschten es so.«

»Wer nicht als Ussul geboren ist, kann auch kein Ussul sein und niemals Ussul werden! Ich glaube euch also nicht. Die Ussul sind nicht so klein wie ihr und haben auch nicht solche Pferde. Übrigens kommt ihr nicht von den Ussul her, sondern ihr reitet nach ihrer Gegend hin. Das heißt, ihr kommt aus dem Land der Tschoban. Das ist im höchsten Grade verdächtig. Ihr seid entweder Tschoban oder Freunde und Verbündete von ihnen. Vielleicht ist der ältere Prinz doch daheimgeblieben, und ihr seid die Boten, die er seinem Vater nachsendet, um ihn über unser Bündnis mit den Ussul zu unterrichten!«

»Aber bedenke, daß ich doch wußte, daß euer oberster Minister und der Maha-Lama zu den Ussul geritten sind! Ich muß also Ussul sein!«

»O nein! Denn der Sohn des ...« er hielt mitten in der Rede inne und verbesserte sich, indem er fortfuhr: »Unser Spion bei den Tschoban hat gewußt, daß wir diese beiden schicken wollten. Er hat das dem Prinzen gleich auch mit gesagt, und von dem hast dann du es erfahren. Oh, ich durchschaue dich! Ich muß mich sicherstellen. Ich nehme euch gefangen. Hoffentlich leistest du keinen Widerstand, der dir schlecht bekommen würde! Ich bin der Tertib We Tabrik Kuwweti Harbie Feminde Mahir Kimesne des Reiches Dschunubistan! Verstanden?«

»Das imponiert mir nicht«, antwortete ich.

»Aber wir sind acht Personen, und ihr seid nur zwei. Bedenke das!«

»Auch das würde mich nicht hindern, mich zu wehren, wenn ich mich überhaupt wehren wollte. Es wäre aber Unsinn, dies zu tun; denn wir reiten zu den Ussul, und ihr reitet zu den Ussul, und wenn wir hinkommen, wird sich sofort finden, wie die Sache steht. Ich habe also gar nicht nötig, Widerstand zu leisten.«

»Das meine ich auch. Du scheinst mir, deine Verdächtigkeit abgerechnet, ein anständiger und besonnener Mensch zu sein, den man nicht wie einen gemeinen Kerl zu behandeln braucht. Ich müßte dir eigentlich die Waffen abnehmen, will es aber nicht tun, wenn du mir versprichst, dich als unsern Gefangenen zu betrachten und keinen Versuch zu machen, uns zu entfliehen.«

»Ich verspreche beides.«

»Dein Gefährte auch?«

»Ja«, antwortete Fadl.

»Das genügt!« entschied der Stratege. »Ihr werdet einsehen, daß ein Mann von meinem Rang nicht mit Leuten verkehren kann, die seine Gefangenen sind; ich ziehe mich also zurück von euch. Wir werden zwei Abteilungen bilden: vier von uns reiten vorn, vier hinten; ihr aber reitet in der Mitte. Also, rückt ein!«

Es geschah, wie er gesagt hatte: Er setzte sich mit dem General, dem Oberst und dem Major an die Spitze; der Hauptmann, der Leutnant, der Unteroffizier und der Soldat schlossen sich hinten an, und wir, na, wir, wir rückten eben ein! Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Jedermann war still, auch Abd el Fadl. Ich sah, indem ich neben ihm herritt, scheinbar ohne ihn zu beachten, daß er mich wiederholt und prüfend betrachtete. Endlich gab er seinen Gedanken Ausdruck, indem er in zurückgehaltenem Ton fragte:

»Willst du wirklich in dieser Weise weiterreiten? Als Gefangener, Effendi?«

»Ja«, antwortete ich.

»Was wird dein Halef dazu sagen! Wie er dich mir und meiner Tochter geschildert hat, habe ich ein ganz anderes Verhalten von dir erwartet.«

»So hat er mich eben falsch geschildert.«

»Was würdest du aber tun, wenn du wirklich kein Ussul, sondern ein Freund der Tschoban wärst?«

»Ich würde den Mann mit dem unendlichen Titel auslachen und alle seine Chargen dazu. Hierzu habe ich aber doch, wie die Verhältnisse hegen, nicht den geringsten Grund. Ich würde uns, wenn ich jetzt so ganz unnötig widerstrebte, das Vergnügen verderben, welches uns daheim erwartet. Unter diesem Daheim verstehe ich natürlich deinen Engpaß, auf dem deine Wohnung liegt.«

»Das Vergnügen? Welches Vergnügen?« fragte er.

»Das Wiedersehen unserer verschiedenen Gefangenen. Als Gefangene betrachte ich schon im voraus auch alle die, die wir noch nicht eigentlich festgenommen haben.«

»Auch diese acht Offiziere hier?«

Er meinte die acht vor und hinter uns reitenden Personen.

»Ja«, nickte ich. »Es wird sich doch wohl sehr interessant gestalten, wenn die beiden Prinzen der Tschoban ganz unerwartet aufeinandertreffen oder wenn unsere jetzigen Begleiter nebst dem Maha-Lama und dem obersten Minister einander eingestehen müssen, daß sie trotz all ihrer vermeintlichen Klugheit, Vornehmheit und Würde unendlich dumm gehandelt haben.«

»Und wenn du dann beide einander gegenüberstellst, die Tschoban und die Dschunub, die erst die Ussul und dann sich gegenseitig selbst überlisten und umbringen wollen und nun zu ihrer Beschämung einsehen müssen, wie sehr sie selbst überlistet worden sind!« fiel Abd el Fadl mit schnellem Verständnis ein. »Ja, du hast recht, Sihdi; es erwarten uns höchst interessante Szenen, die vielleicht schon heut beginnen können. Wir sind nämlich dem Engpaß schon sehr nahe. In einer Stunde haben wir ihn erreicht. Wer aber ist das, da draußen?«

Er deutete bei diesen Worten nach der Ebene vor uns hin, auf der ein dickes, vierfüßiges Tier erschien, auf dem irgend etwas saß. Es kam grad auf uns zugelaufen, und zwar im Zotteltrab. Je mehr es sich uns näherte, desto größer wurde es für uns und desto deutlicher sah man auch, wer es war, den es auf seinem Rücken trug. Man kann sich denken, wie verwundert ich war, als ich Smihk, den Dicken, erkannte! Der kleine Kerl, der auf ihm saß, war Halef. Abd el Fadl hatte recht: Die interessanten Szenen begannen schon heut, schon jetzt.

Die beiden sonderbaren Wesen, die, das eine auf dem andern sitzend, so gar nicht zueinander paßten, erregten erst das Erstaunen und dann die Heiterkeit der Offiziere. Sie hielten an und begannen herzlich zu lachen. Ich nahm ihnen das nicht übel, denn wir lachten beide ja mit, Abd el Fadl sowohl wie auch ich selbst. Dieser Reiter auf diesem Pferd, oder dieses Pferd mit diesem Reiter, das sah allerdings schon an und für sich zu komisch aus, wurde aber noch drolliger dadurch gemacht, daß Halef, der Kleine, anhalten wollte, Smihk, der Dicke, aber nicht. Der Urgaul hatte den Kopf gesenkt, starrte nur immer grad vor sich hin und rannte in schnurgerader Linie weiter und immer weiter, ohne auf die Bitten und Drohungen, Stöße und Püffe seines Reiters zu achten. Dieser hielt zwar die Zügelriemen fest in den Händen, doch war es ihm unmöglich, mit ihrer Hilfe dem kolossalen Nacken des eigenwilligen Ungetümes eine andere Richtung zu geben. Hier konnte nur ich allein helfen. Ich ritt also einige Schritte aus dem Trupp der lachenden Dschunub heraus, sprang vom Pferd und stellte mich dem Durchbrenner mit ausgebreiteten Armen in den Weg. Da sah und erkannte mich der Hadschi.

»Hamdulillah!« jubelte er auf. »Du, Sihdi, du? Rette mich, rette mich! Das Vieh ist übergeschnappt! Die Bestie ist verrückt geworden! Halte sie an, die Lokomotive – halte sie an!«

Jetzt war der Gaul mir nahe.

»Smihk, Smihk!« rief ich ihm entgegen. »Smihk, Smiiihhhk!«

Er erkannte meine Stimme. Er hob den Kopf. Aber die Kraft der Beharrung wirkte derart auf seine Bewegungsnerven und infolgedessen auf seine ungeheure Fleisch-, Fett- und Knochenmasse, daß es ihm unmöglich war, sogleich stehenzubleiben. Ich mußte auf die Seite springen; er rannte vorüber. Aber indem er das tat, sah und erkannte er mich und stieß eine Schrei der Freude aus, der aber so entsetzlich klang, als ob ihm durch diesen meinen Anblick die ganze Seele mitten entzweigerissen worden sei. Dann endlich gelang es ihm zu stoppen. Er drehte sich nach mir um, blieb aber fest, wie angenagelt stehen, warf den Kopf hoch empor, riß das Maul sperrangelweit auf und vollführte dann ein Geschrei, ein Gebrüll, ein Freudengeheul, als ob einige Dutzend Drehorgeln und Leierkästen auf uns losgelassen worden seien. Da verwandelte sich das Lachen der Dschunub auch in ein förmliches Brüllen. Sie konnten nicht anders; sie mußten. Es war geradezu unmöglich, der Lächerlichkeit der Szene zu widerstehen. Auch ich brüllte mit; aber Smihk, der Dicke, überbrüllte uns alle! Dann machte er einen gewaltigen Sprung, noch einen und noch einen, bis zu mir her, zog mir seine Zunge erst quer und dann lang von unten herauf über das Gesicht und war mir für die Ohrfeige, die ich ihm dafür gab und die er wahrscheinlich für eine Liebkosung hielt, so dankbar, daß er vor lauter Wonne wieherte, grunzte, kläffte, blökte, meckerte, schnurrte, gluckste, gackerte, kollerte und girrte, als ob er im Besitz aller Tierstimmen sei, durch die es möglich ist, diejenige Art der Zuneigung auszudrücken, welcher auch die tief unter dem Menschen stehenden Geschöpfe fähig sind.

Ich sah und hörte im Leben wohl viele Menschen lachen, aber mit solcher Urkraft und Ausdauer wie damals die Offiziere der Dschunub nie wieder. Nur einer von uns allen lachte nicht mit, und dieser eine war grad der Held dieses homerischen Gelächters, nämlich mein kleiner Halef Omar, der gar wohl einsah, was für eine komische Rolle er spielte, und uns darum unsere laute Lustigkeit nicht übelnahm, sich an ihr aber nur mit einem ganz kleinen, leisen Lächeln beteiligte. Er wartete geduldig, bis wir aufgehört hatten, und sagte dann zu mir:

»Ich danke dir, Sihdi! Mit dir ist das Viehzeug ins Wasser gesprungen. Mit mir wollte es in fünf Minuten rund um die Erde. Wer sind diese lustigen Leute hier?«

Ich legte meine beiden Hände eng zusammen, was in der Gebärdensprache der Haddedihn die Aufforderung ist, vorsichtig zu sein und ja nichts zu verraten, und antwortete hierauf, indem ich auf den Strategen deutete:

»Dieser hier ist der Tertib We Tabrik Kuwweti Harbie Feminde Mahir Kimesne des Scheichs von Dschunubistan, und die andern sind seine Offiziere.«

Halef war gewiß verwundert, als er dies hörte, ließ sich das aber nicht merken, sondern zuckte die Achseln und antwortete mit einem Blick auf den kurzen Oberkörper des Genannten:

»Sein Titel ist länger als er selbst. Wenn er auf Smihk, dem Dicken, säße, würde er wohl nicht königlicher aussehen als ich! Soll ich mit ihm tauschen? Sein Schimmel gefällt mir sehr!«

»Schweig!« fuhr ich ihn scheinbar zornig an. »Ich bitte mir Achtung aus vor diesem Helden! Wir sind nämlich seine Gefangenen!«

»Seine Gefangenen? Ihr? Du? Gefangener dieser paar Menschen?« fragte er.

Sein Blick, den er im Kreis rundherum gehen ließ, war zunächst ein überraschter, nahm aber sehr schnell einen ganz andern Ausdruck an. Sein Gesicht wurde heiter und immer heiterer. In seinen Mund- und Augenwinkeln begann jener Schalk zu spielen, den ich sehr wohl kannte. Wenn die kleinen Fältchen da so zuckten und zitterten wie jetzt, war stets ein Streich unterwegs, mit dem er einen andern übertölpelte. Da fragte zu seinem eigenen Schaden der Stratege:

»Wer ist dieser kleine Kerl, dieser Mensch, der es wagt, mit mir tauschen zu wollen?«

»Wer ich bin?« antwortete Halef. »Ein Bewunderer deines Schimmels! Das habe ich dir ja schon gesagt! Gib ihn her! Ich will dir zeigen, wie schnell es mit der Gefangenschaft meines Effendi zu Ende ist!«

Er trennte sich mit einem raschen Sprung von dem Urgaul, den er stehenließ. Mit einem zweiten Sprung schnellte er sich zu dem Strategen hin, und mit einem dritten schwang er sich zu ihm auf den Schimmel, so daß er hinter dem Sättel zu knien kam, riß den Reiter aus den Bügeln, warf ihn vom Pferd, setzte sich selbst fest, griff nach den Zügeln und ritt davon, indem er mir zurief:

»Der Tausch ist gemacht. Er reite nun den Smihk!«

Er eilte im Galopp dahin, woher er gekommen war, also dem Engpaß zu. Der zur Erde gestürzte Stratege sprang wieder auf und tat das Allerdümmste, was er tun konnte, nämlich, er rief seinen Leuten zu:

»Ihm nach, ihm nach! Sofort! Fangt ihn! Schießt ihn nieder! Bringt mir mein Pferd zurück!«

Sie gehorchten. Sie ritten davon, aber genau dem Rang nach. Erst der General, zuletzt der »gemeine Soldat«. Jeder wartete, bis sein Vorgesetzter die Verfolgung begonnen hatte, und ritt erst dann hinter ihm her, nachdem dies geschehen war. Das sah nicht nur dumm aus, sondern war auch wirklich dumm, denn Halef bekam dadurch einen Zeitvorsprung, der sich dadurch, daß der Schimmel das beste und schnellste aller Dschunubipferde war, von Minute zu Minute vergrößerte. Als der letzte, nämlich der Soldat, hinter dem Unteroffizier her in Bewegung kam, war der kleine Hadschi beinahe schon am Horizont verschwunden. Da jammerte der Mann mit dem langen Titel:

»Sie holen ihn nicht ein! Sie bekommen ihn nicht! Mein Pferd ist verloren! Ich muß ihm schleunigst nach! Herunter von deinem Rappen! Herunter, augenblicklich!«

Dieser Befehl war nicht an mich gerichtet, denn an mich schien er sich denn doch nicht zu wagen, sondern an Abd el Fadl. Dieser sah mich fragend an, ob er absteigen und ihm Ben Rih überlassen solle. Da deutete ich auf Smihk und antwortete dem Strategen:

»Diese Rappen gehören uns. Nimm dir das Ussulpferd!«

»Das mag ich nicht!«

»So bleib hier sitzen!«

Wir setzten uns in Bewegung. Da griff er Abd el Fadl in den Zügel und rief:

»Her mit dem Hengst! Ihr seid meine Gefangenen und habt zu gehorchen!«

Abd el Fadl aber riß ihm den Zügel wieder aus der Hand und ritt davon. Ich folgte. Als Smihk das sah, warf er den Kopf empor und begann zu jammern. Er wollte nicht mit. Der Stratege aber bekam Angst; er eilte zu ihm hin und kletterte hinauf. Das stimmte den Urgaul sofort um. Sobald er den fremden Reiter auf sich fühlte, brüllte er zornig auf und rannte uns nach, und zwar mit gleichen Beinen. Natürlich konnte er nicht mit uns Schritt halten. Das ärgerte ihn gewaltig. Er brüllte immer lauter.

Als ich nach einiger Zeit nach ihm zurückschaute, sah ich, daß der Stratege sich trotz seiner langen Beine alle Mühe geben mußte, sich auf dem breiten Rücken des Pferdes festzuhalten. Er saß nicht mehr, sondern er lag auf ihm. Indem er sich mit beiden Händen an die Mähne klammerte, war von ihm weiter nichts als nur die Kopfbedeckung zu sehen, und es bekam dadurch den Anschein, als ob sich der hohe, wehende Federbusch auf dem Schädel Smihks befinde. Das sah unendlich drollig aus, konnte von uns aber leider nicht ausgekostet werden, weil wir keine Zeit hatten, uns weiter um dieses Pferd und diesen Reiter zu bekümmern. Wir hatten uns zu bemühen, die vor uns reitenden Dschunub zu überholen, und zwar so rasch und so weit wie möglich. Darum machte ich kurzen Prozeß und rief unsern beiden Hengsten ihre Geheimnisse zu. Was das bedeutet, weiß jeder meiner Leser. Kaum hatten die Rappen die betreffenden Worte gehört, so schienen sie nicht mehr zu laufen, sondern zu fliegen. Der Beduine sagt von dieser fast unglaublichen Schnelligkeit: »Die Hufe fressen die Erde!«

Die Rangachtung verbot, daß irgendeiner der Dschunub seinen vor ihm reitenden Vorgesetzten überholte. Darum ritten sie so, wie sie einander gefolgt waren, nämlich genau in der Rangordnung, und wir überholten sie so, wie sie einander in derselben folgten, nur umgekehrt, nämlich zuerst den Soldaten und zuletzt den General. Wie erstaunt sie waren, als wir wie im Sturm an ihnen vorüberflogen! Nun hatten wir nur noch Halef einzuholen, den wir jetzt noch nicht sahen, so weit war er ihnen voraus.

So lächerlich die Begegnung mit Smihk gewesen war, so ernst und so wichtig hatten wir sie zu nehmen. Hinter uns kamen die Heere unserer Feinde, der Tschoban und der Dschunub, doch ließen beide mich in diesem Augenblick vollständig unbesorgt; ich glaubte an den Sieg. Viel mehr beunruhigte mich das so ganz unerwartete Erscheinen meines Hadschi und des Urgaules. Wo Smihk war, war natürlich auch sein Herr, der Scheich der Ussul. Warum war er gekommen? Was wollte er? War der Dschirbani auch schon da? Es mußte etwas außerordentlich Wichtiges geschehen sein, sonst hätte Halef den Engpaß und Merhameh gewiß nicht verlassen, um uns in die Wüste hinein entgegenzureiten. Ich ahnte, daß wir jetzt während dieses schnellen Rittes ganz ungewöhnlichen Dingen entgegenflogen, und daß mich diese Ahnung nicht täuschte, wird schon die nächste Folge der vorliegenden Erzählung beweisen, die eigentlich jetzt erst zu leben beginnt.


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