Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.

In Ussula

Unser Weg führte nach dem sogenannten Schloß oder Palast, der in der Mitte der Stadt direkt am Fluß lag. Dieser Weg war einer der wenigen wirklichen »Wege«, die es gab. Die Anwohner desselben standen zu unserem Empfang bereit, mit ihnen zahlreiche andere Leute aus jenen Stadtteilen, die unser Einzug nicht berührte. Aber alle verhielten sich außerordentlich still. Da war keine Spur jener Freuden- oder gar Jubelrufe, welche anderorts bei derartigen Gelegenheiten erschallen. Auch die Kinder verhielten sich ruhig. Wo wir uns zeigten, wichen sie furchtsam zurück und sperrten die Mäuler auf. Um nicht undankbar zu sein, muß ich erwähnen, daß allerdings einige Male ein schüchterner Versuch gemacht wurde, unserem Empfang ein festliches Gepräge zu geben. Das geschah nämlich dann, wenn wir an einem vorüberkamen, der ein Gewehr besaß. Dieses wurde dann abgeschossen, aber unter solchen Vorbereitungen und mit einer derartigen Wichtigkeit, als ob es sich um ein ganz außergewöhnliches staatserrettendes Ereignis handelte. War dann aber der Knall verpufft, so fiel die zurückgekehrte Stille doppelt auf. Der voranreitende Scheich aber blickte nach jedem dieser Schüsse nach uns zurück, um sich von der Wirkung zu überzeugen. Halef lächelte hierüber. Er mochte an den Empfang denken, den wir bei seinem Stamm, den Haddedihn, finden würden. Da krachten sicher Tausende von Flinten, und das Pulver blitzte zentnerweise in die Luft! Und welch ein Jubel! Welches Geschrei! Und nun dagegen hier! Das Lächeln verschwand indes nach und nach von seinem Gesicht. Er wurde ernst.

»O Sihdi«, sagte er, »was sind das für arme Leute! Sie haben nur so wenig Flinten, und das Pulver scheint bei ihnen sehr teuer zu sein. Aber das ist bei ihnen nicht der einzige Grund. Die Hauptursache liegt in ihrer Seele; das sehe ich ihnen nun an. Sie können auch innerlich nicht! Auch im Land ihrer Seelen gibt es keine Gewehre, und auch in ihrem Charakter und ihrer Natur ist das Pulver teuer! Was kann, was soll, was wird aus solchem Volk werden?«

»Hm! Soeben erst hast du mir versichert, daß sie mir gerne gehorsam sein und alles tun werden, was ich verlange!«

»Das glaubte ich, glaubte es wirklich. Jetzt aber kommt es mir vor, als ob ich es nicht mehr glauben dürfe. Die, mit denen wir bisher sprachen, sind die Obersten, die Klügsten und also auch die Lebendigsten ihres Volkes. Die konnte ich begeistern, wenn auch wahrscheinlich nur für kurze Zeit. Aber die unter ihnen stehen, nämlich diese da, die uns anstarren, ohne einen einzigen Laut hören zu lassen, die sind wohl schwer, sehr schwer zu veranlassen, mit uns nach dem Engpaß Chatar zu reiten, um ihre Feinde niederzuringen! Meinst du nicht auch?«

»Warten wir es ab! Man darf nicht so, wie du es tust, zwischen Hoffnungen und Befürchtungen hin- und herschwanken, sondern man muß lernen, mit den gegebenen Kräften zu rechnen. Du mußt diese guten Leute nicht mit deinem, sondern mit ihrem Maßstab messen. Es liegt in ihrer Natur, daß sie nur schwer in Gang zu bringen sind; aber wenn sie erst einmal laufen, dann kannst du sicher sein, daß sie nicht bei der geringsten Veranlassung gleich wieder stehenbleiben werden.«

Während ich dies sagte, hielt Taldscha, die mit dem Scheich voranritt, ihr Pferd an, bis ich sie eingeholt hatte. Dann setzte sie den Ritt fort und sagte:

»Wir kommen bald an dem Gefängnis vorüber, und zwar an dem hinteren Teil desselben, wo sich der Stachelzwinger befindet. Der andere Teil grenzt an den Fluß.«

»Der Stachelzwinger?« fragte ich. »Derselbe, in dem der Dschirbani steckt?«

»Ja.«

»Kann man ihn im Vorbeireiten sehen?«

»Den Zwinger, ja; den Dschirbani aber nur dann, wenn er am Tor des Zwingers steht, um nachzuschauen, wer vorüberkommt.«

»Ob er wohl merkt, daß sich etwas hier ereignet?«

»Ganz gewiß. Er hat die Schüsse gehört, die hier überaus selten sind, und nun hört er am Getrappel der Pferde, daß wir näher kommen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß er an das Gitter getreten ist, um nach der Ursache dieses Lärmes zu schauen.«

»Willst du, daß wir ihn retten?« fragte der Hadschi.

»Ja, ich wünsche es!« gestand sie ein.

»Gut! So holen wir ihn gleich jetzt, sofort, heraus!« versicherte der kleine Kerl in seiner gutherzigen, aber unbedachten Weise.

»Das nicht, das nicht!« wehrte sie ab. »Die Hunde würden euch und ihn zerreißen! Wenn ihr ihn retten wollt, so muß es auf andere Weise geschehen. Durch List, durch Zwang! Aber nicht durch einen Kampf mit den Hunden! Die sind abgerichtet!«

»Von wem?«

»Vom Sahahr. Wegen ihrer Gefährlichkeit sind auch sie von den Menschen getrennt, durch den einzigen durchsichtigen Zaun, den es hier in der Stadt gibt. Nur dadurch, daß man sie von außen sieht, wird man abgehalten, sich ihnen zu nähern. Wer sich hinter diesen Zaun wagte, der würde ebenso schnell und sicher zerfleischt wie der Dschirbani, falls er so tollkühn wäre, den seinigen zu durchkriechen oder zu überklettern! Seht! Da drüben, links, beginnen beide Zäune!«

Sie deutete nach der genannten Richtung hinüber. Meine und Halefs Bücke, von einem großen, unwiderstehlichen Interesse getrieben, folgten sofort dem Fingerzeig. Um das, was nun geschah, zu verstehen, muß man sich die Örtlichkeit vergegenwärtigen. Unser Zug bestand aus der Reiterschar und einer Menge von Fußgängern, welche hinter uns herliefen. Er bewegte sich auf dem schon erwähnten Weg, der eigentlich einem Damm glich, weil er zu beiden Seiten von Kanälen eingefaßt wurde, die breiter waren, als die Sprungweite eines guten Pferdes beträgt. Ein Ussulgaul, wie Smihk, wäre gewiß nicht bis zur Hälfte hinübergekommen. Jenseits dieses Wassers lag ein Rasenplatz, der auf eine Breite von vielleicht zwanzig Schritt freigelassen, dann aber von einem Stangenzaun umgeben war, dessen Höhe etwas mehr als Manneshöhe betrug. Die Zwischenräume dieser Stangen ließen alles deutlich sehen, was sich hinter ihnen befand. Hinter diesem Zaun gab es eine zweite Einfriedung, die also innerhalb desselben lag; sie wurde von dicht verschlungenen und hochgewachsenen Dorn- und Stachelgewächsen gebildet. Man konnte weder durch sie hindurch- noch über sie hinwegsehen, und ihre natürlichen Nadeln und Schneiden waren so spitz und so scharf, daß es für einen Menschen unmöglich war, sich ohne besondere Werkzeuge hindurchzuarbeiten. Das Morgenland ist an solchen von der Natur bewehrten Pflanzen bekanntlich überreich. Diese undurchdringliche Umfassung schloß den Platz ein, den die Frau des Scheichs als »Stachelzwinger« bezeichnet hatte. Es gab in dieser Umhegung nur eine einzige schmale Lücke, die als Ein- und Ausgang diente und von einer hölzernen, über zwei Meter hohen Lattenpforte verschlossen wurde. Der Riegel war an der Außenseite angebracht, so daß es dem Gefangenen unmöglich war, ihn von innen zu öffnen. Aber selbst wenn er dies gekonnt hätte, wäre er nicht entkommen, weil sich zwischen den beiden Zäunen die Hunde befanden, die freien Lauf rund um den Zwinger hatten und den Dschirbani also an jeder Stelle, wo er etwa ausbrechen wollte, mit den Zähnen fassen konnten.

Wir waren dem Ort jetzt so nahe gekommen, daß wir die Hunde sahen. Es waren ihrer drei, so hoch, so groß und riesenstark gebaut, wie ich noch niemals einen Hund gesehen hatte, selbst meinen starken, furchtlosen Dojan nicht, den meine Leser kennen. Ihr dickes, zottiges Fell und der Bau ihres breiten, mächtigen Schädels rechtfertigen den Namen Bärenhund, doch waren sie bedeutend höher als Bären zu sein pflegen. Auch ihre kurze, weit sich spaltende Schnauze und das kleine tückische Auge erinnerten an den Bären; aber ganz unbärenmäßig waren die großen, weit herabhängenden und immer triefenden Lefzen. Die Tiere hatten eine mächtig breite Brust und außerordentlich kräftige Schenkel, deren Füße mit scharfen Klauen und sehr ausgebildeten Schwimmhäuten versehen waren, doch war dieser Brust und diesen Schenkeln mehr Kraft und Ausdauer als Sprungfertigkeit und Schnelligkeit zuzutrauen. Man brauchte diese mächtigen Geschöpfe nur anzusehen, so war man hinlänglich gewarnt. Sie hinterließen außer dem Eindruck der überaus rohen, physischen Kraft auch den der Arglist und Verschlagenheit, und nie ist mir bei dem Anblick eines Tieres der Ausdruck »Bestie« so klargeworden, als in dem Augenblick, da ich diese Blut- und Bärenhunde sah.

Sie hatten uns kommen hören und sich, um uns sehen zu können, grad so nach vorn an den Zaun gesetzt, daß wir sie sehr deutlich wahrnehmen mußten. Zwei von ihnen waren bedeutend strammer, derber und schwerer gebaut als der dritte, der etwas schlanker und jedenfalls jünger und behender war als die andern. Ob für ihn die Höhe des Stangenzauns genügte, ihn festzuhalten, das wäre für mich eine sehr wichtige Frage gewesen. Kam es einem so blutgierigen, auf den Menschen dressierten Vieh in den Kopf, über den Zaun und dann noch über das Wasser zu springen, so war das Unglück, welches hierdurch entstehen konnte, gar nicht abzusehen. Das war nun aber Sache des Sahahr; er mußte wissen, wie weit er diese Bestien in der Gewalt hatte oder nicht. Wie ich später erfuhr, war er der eigentliche Züchter und Abrichter dieser Riesenhunde, denen nur durch Qual und Pein, durch immerwährende Hiebe und Schläge jener Haß gegen die Menschen aufgezwungen werden konnte, der ihnen dann als Vorzug angerechnet wurde. Priester, Zauberer und Bändiger von Bluthunden! Wie sonderbar dies zusammenklang! Aber nun wurde mir sein grausames Verhalten gegen Tochter und Enkel erst erklärlich. Wer imstande ist, einen treuen, gehorsamen, liebesbedürftigen und dankbaren Hund zum blutgierigen Menschenhasser zu verquälen und zu verprügeln, der ist wohl auch imstande, gegen seinesgleichen so zu handeln, wie der Sahahr gehandelt hatte. Ich begann, an der Gutmütigkeit dieses Mannes zu zweifeln und sie für nichts weiter, als für eine betrügerische Maske zu halten. Daß er auch jähzornig und aufbrausend war, hatte er bereits bewiesen.

Grad als mich dieser Gedanke beschäftigte, wurde ich von dem Sahahr angesprochen. Er sah, daß Halef und ich mit Aufmerksamkeit nach dem Stachelzwinger schauten; er erinnerte sich seines Zornes über unser Gespräch, und da kehrte dieser Zorn ihm zurück. Er wendete sich uns zu, deutete über das Wasser hinüber und sagte:

»Da drüben steckt der Mensch, von dem ihr ganz gewiß noch viel gesprochen habt. Wollt ihr ihn sehen?«

»Ja«, antwortete Halef sofort, obgleich er sehr wohl wußte, daß diese Frage nur höhnisch gemeint war.

»So reitet hinüber!« lachte der Zauberer.

»Über das Wasser?« fragte der Kleine.

»Ja«, lachte der andere.

»Ist das dein Ernst?«

»Mein voller Ernst!« versicherte der Sahahr, der es für vollständig unmöglich hielt, daß man einen solchen Sprung wagen könne.

»Wohlan! – Dir zu Gefallen werde ich es tun!«

Im nächsten Augenblick flog Halef auf seinem prächtigen Assil Ben Rih durch die Luft und landete drüben auf festem Boden, ohne daß die Hufe seine Pferdes auch nur einen Tropfen des Wassers berührt hatten. Ringsum war ein Schrei des Schreckes erklungen; jetzt erscholl ein zweiter, nämlich ein Schrei der Anerkennung, der Bewunderung. Die drei Riesenhunde richteten sich sofort an der Innenseite des Zaunes empor und erhoben ein drohendes Bellen und Heulen.

»Da bin ich!« lachte Halef herüber. »Was soll ich nun noch tun?«

»Zurück, augenblicklich zurück!« befahl ihm der Sahahr.

»Fällt mir ja gar nicht ein! Du hast mich herübergeschickt, den Dschirbani zu sehen, und das werde ich jetzt tun!«

»Nein, nein! Es ist verboten!«

»Verboten? Von wem?«

»Von mir!«

»Unsinn! Grad du hast es mir erlaubt! Oder glaubst du etwa, ich lasse mit mir spielen?«

Er wendete sein Pferd dem Zaun zu.

»Um Gottes willen, die Hunde, die Hunde!« warnte die Frau des Scheichs voller Angst.

»Die möchten ihn fressen!« rief der Sahahr. »Aber er soll ihn nicht sehen! Er darf ihn nicht sehen! Denn er würde mit ihm sprechen! Und das will, das will ich nicht! Also zurück, zurück! Herüber!«

»Fällt mir, wie ich dir schon sagte, gar nicht ein!« Und um den Zauberer ganz sicherlich zu ärgern, fügte Halef hinzu: »Ich spreche mit ihm! Ich hole ihn sogar heraus!«

Da griff die Frau des Scheichs besorgt nach meiner Hand und bat:

»Ruf du ihn zurück, ruf du! Dir wird er gehorchen! Sonst ist er verloren!«

Da bat ich sie:

»Hab keine Angst um ihn! Er wird nichts Schädliches unternehmen, denn er weiß, ich bin dabei!«

Der Zauberer aber brüllte dem kleinen Hadschi zornig zu:

»Das darfst du nicht! Das kostet dich dein Leben! Kehr augenblicklich zurück! Sonst komme ich hinüber!«

»So komm! Oder bist du zu feig dazu?«

Halef drehte sein Pferd herum und sah zu ihm herüber. Da machte der Sahahr seine Drohung wahr und ritt hinüber. Er konnte das wohl ganz ohne alle Gefahr, so meinte er, denn er war ja der Herr der Bluthunde; ihm mußten sie gehorchen. Dies war ihnen durch Kette, Hunger und Schläge beigebracht worden. Und dafür hatten sie jetzt, da sie frei von der Kette waren, ihn noch zu lieben. Aber er hütete sich wohl, seinen dicken, ungefügen Urgaul zum Sprung zu bewegen, denn der wäre auf alle Fälle viel zu kurz geraten. Er trieb den Gaul hübsch langsam in das Wasser hinein, paddelte hinüber und kam ebenso hübsch langsam drüben wieder heraus. Halef sah ihm lachend zu; dann fragte er:

»So! Nun bist du da! Wie willst du es jetzt verhüten, daß ich den Dschirbani sehe und mit ihm rede?«

»Indem ich es dir verbiete!« antwortete der Gefragte.

»Sag doch nicht so lächerliche Dinge! Wer mir etwas verbieten will, der muß ein anderer Kerl sein als du! Ich reite hin zu ihm!«

Er wendete sein Pferd wieder dem Eingang des Zaunes zu. Da zog der Sahahr sein Messer und rief:

»Du bleibst! Sonst renne ich dir diese Klinge in die Brust!«

Schleunigst hatte Halef seine Pistole in der Hand, hielt sie ihm entgegen und antwortete:

»Wage es! Aber bedenke, daß meine Kugel schneller ist als dein Messer!«

Dieser laute, ja zornige Wortwechsel harte unter fortwährendem Geheul der Hunde stattgefunden. Sie waren schon bei Halefs Annäherung am Zaun emporgesprungen. Als der Sahahr, ihr Peiniger, folgte, verdoppelte sich ihre Wut. Sie versuchten, den Zaun zu überspringen, was ihnen jedoch nicht gelang, denn sie waren zu schwer; sie fielen immer wieder zurück. Das steigerte ihren Grimm. Der dritte war indes nicht nur der schlankere, sondern auch der intelligentere. Als er sah, daß ihm der Sprung nicht gelang, versuchte er es mit dem Klettern. Auch das mißlang. Nun verband er das Springen mit dem Klettern. Er nahm einen Anlauf und tat einen Sprung, der ihn bis zu drei Viertel der Zaunhöhe emporbrachte, rutschte aber wieder ab, weil es ihm für diesesmal nicht gelang, sich mit den Hinterfüßen an der Querstange festzuhalten. Brachte er dieses fertig, so kam er bei dem zweiten Sprung sicher über den Zaun und war dann gewiß ebenso gefährlich wie ein Panther oder Tiger. Der zweite Versuch gelang schon besser als der erste. Vorsichtshalber rief ich jetzt Halef zu:

»Zurück! Schnell zurück! Bewahre das Pferd vor dem Hund!«

Eben hatte er das Pistol gezogen, fest entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Er hätte mir wahrscheinlich nicht gehorcht, wenn ihn nicht die Liebe zu Ben Rih beeinflußt hätte. Persönlich fürchtete er sich ganz und gar nicht vor diesen Hunden; aber seinen geliebten Rappen unnötig ihren Zähnen preiszugeben, so töricht war er nicht. Er warf also nur noch einen kurzen Blick nach dem Zaun, wo der Hund jetzt grad zum letzten Sprung ansetzte, und beeilte sich, meinem Befehl nachzukommen. Eben als Ben Rih mit seinem Reiter wieder über das Wasser sprang, kam der Hund über den Zaun herübergeflogen. Ich griff, um Unglück zu verhüten, zum Henrystutzen, war aber nicht so schnell, wie es hätte sein sollen. Der Bluthund hatte diesseits des Zaunes kaum Boden gefaßt, so stürzte er sich auf seinen Herrn. Er stieß dabei ein Geheul aus, wie aus Freude, seinen Quälgeist nun endlich, endlich einmal vor sich zu haben, ohne durch Ketten, Stricke, Stacheln und Peitschen an der Vergeltung behindert zu sein. Die Bestie sprang am Pferd empor, faßte den Reiter, dem vor Schreck das Messer entglitt, am Oberschenkel, riß ihn auf die Erde herab und hätte ihm ganz gewiß zunächst die Gurgel zerfleischt, wenn ich dem Vieh nicht schnell eine Kugel in den Leib gejagt hätte. Es gleich mit diesem ersten Schuß zu erlegen, war mir unmöglich, weil ich kein sicheres Ziel hatte. Auf Kopf oder Brust der Bestie konnte ich nicht anlegen, da ich anstatt des Hundes sehr leicht den Menschen treffen konnte. Darum hatte ich nur auf den Körper gezielt, um den Hund von seinem Opfer wegzubringen. Dieser Zweck wurde erreicht. Kaum war der Hund getroffen, so ließ er den Sahahr los, tat einen Seitensprung und sah sich nach dem neuen Feind um. Sein Auge fiel auf mich, der ich noch fest im Anschlag lag, um ihm die zweite Kugel, die nun töten mußte, zu geben. Nun nahm er alle seine Kraft zusammen. Mit zwei Sprüngen kam er an das Ufer, beim dritten flog er über das Wasser herüber. Das gab mir ein gutes Ziel. Meine Kugel traf ihn im Flug, und zwar so tödlich, daß er, als er diesseits den Erdboden erreichte, sofort zusammenbrach und liegenblieb. Ein kurzes, konvulsivisches Zucken lief über den riesigen Körper, der sich streckte, und dann war die Bestie verendet.

Drüben heulten die beiden andern Hunde. Zwischen Zaun und Wasser brüllte der vor Schmerz sich windende Zauberer um Hilfe. Und hüben gab die Menge der Ussul ihre Freude über diesen Schuß durch laute Zurufe kund. Man sah, daß auch sie zu begeistern seien, nur bedurfte es hierzu so seltener und kräftiger Mittel, wie dieses Ereignis war. Wir hatten gar nicht Zeit, auf diesen Beifall zu achten. Es war vor allem nötig, dem Sahahr zu Hilfe zu kommen. Er schien zwar nur am Schenkel verwundet zu sein, aber falls etwa eine wichtige Ader verletzt worden war, konnte es sich immerhin um Tod und Leben handeln. Halef setzte also wieder über den Kanal hinüber, und ich folgte ihm auf meinem Syrr, der das Hindernis mit einer so eleganten Leichtigkeit nahm, daß er ringsum laut bewundert wurde. Halef sprang von seinem Pferd, um sich zu dem Sahahr niederzubücken und nach seinen Verletzungen zu sehen; dieser aber schrie ihn giftig an:

»Weg! Fort mit dir! Rührt mich nicht an! Ich mag euch nicht sehen! Ihr seid schuld daran, daß ich verstümmelt worden bin! Hättest du mir gehorcht, so wäre ich drüben geblieben! Fort, sage ich! Fort, fort mit dir!«

Er rief zu den Ussul die Namen einiger Leute hinüber, die er haben wollte. Diese folgten seinem Zuruf in ganz derselben Weise, in der er vorher den Kanal durchquert hatte; sie gingen also sehr gemächlich in das Wasser und paddelten herüber. Dann stiegen sie von ihren Gäulen und begannen sich mit ihm zu beschäftigen. Unser Reiterzug und die ihn begleitende Menge blieben stehen, um sich die Sache weiter anzuschauen.

Halef schwang sich wieder in den Sattel, weil er infolge der Abweisung, die er erfahren harte, annahm, daß wir sofort zum Zug zurückkehren würden. Damit zögerte ich aber, denn mir lag daran, den Dschirbani zu sehen. Es war jetzt die beste, vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit dazu, und es wäre ein Fehler gewesen, sie unbenutzt verstreichen zu lassen. Darum ritt ich nach der Tür des äußeren Zaunes, hinter dem sich die beiden Bluthunde befanden. Halef kam hinter mir her. Er nahm sein Gewehr von der Schulter und sagte:

»Sie können freilich nicht heraus; aber bei derartigen Ungetümen muß man auf alles gefaßt sein. Wenn sie uns gefährlich werden, schieße ich beide sofort nieder.«

Das sah der Sahahr. Trotz seiner Verletzung nahm er sich die Zeit, sich um uns zu kümmern; er schrie dem Hadschi zu:

»Wage es ja nicht, zu schießen! Wer mir einen dieser Hunde tötet, der bekommt es mit mir zu tun! Macht euch von dannen! Was habt ihr dort zu suchen? Ich verbiete es euch!«

Wir achteten auf diese Worte nicht, weil er allein sich unserer Annäherung an den Stachelzwinger widersetzte. Alle andern, der Scheich und die Ältesten dabei, hatten nicht nur nichts einzuwenden, sondern waren sogar gespannt darauf, was jetzt wohl geschehen werde. Wir näherten uns also der bezeichneten Tür, ritten aber nicht ganz dicht hinan, um die Hunde nicht noch mehr aufzuregen; sie bellten und heulten nicht nur, sie brüllten förmlich und gebärdeten sich, als ob sie den Zaun in Stücke reißen wollten. Sogar Halef, der Mutige und oft sogar Übermutige, ließ sich einschüchtern und hielt sich ein wenig hinter mir.

»Das ist fürchterlich! Fast gar nicht auszuhalten!« schrie er mir laut zu. Er mußte so rufen, sonst hätte ich ihn infolge des entsetzlichen Lärmes der Hunde nicht verstanden. »Diese Scheusale sind gar nicht von der Erde, sondern sie stammen aus der Hölle!«

»So schlimm ist es nicht«, rief ich zurück. »Schau unsere Pferde an! Siehst du etwa, daß sie sich fürchten?«

»Nein! Sie sind so ruhig wie immer! Wie das wohl kommt?«

»An ihrer Abstammung liegt das nicht. Auch das edelste Geschöpf hat Furcht vor der Bestie. Sie scheinen die Hunde also nicht für Bestien zu halten. Und betrachte die letzteren genau! Besonders ihre lang herabhängenden Lippen, sie sind feucht und nässend wie immer. Aber siehst du eine Spur von Geifer?«

»Nein!«

»Oder gar von Schaum?«

»Noch weniger!«

»So kannst du dich darauf verlassen, daß diese Tiere nicht halb so schlimm sind, wie sie erscheinen. Auch ich habe sie überschätzt, aber nur bis jetzt. Nun ich sie aus solcher Nähe sehe, möchte ich behaupten, daß sie nur infolge ihrer Erziehung, nicht aber von Natur aus so wüten. Sie täuschen ebenso, wie ihr Herr, der Sahahr, täuscht. Man hält sie für Bestien, und doch ist die Gutmütigkeit wohl ihre hauptsächlichste natürliche Eigenschaft. Er aber gibt sich als gutmütig, und ...«

»Schau, Sihdi! Da drüben kommt jemand!« wurde ich von Halef unterbrochen.

Er deutete mit der Hand über den Stangenzaun in den Stachelzwinger hinein. Ich habe schon erwähnt, daß sich in dem Dorn- und Stachelwerk nur eine einzige Lücke befand, und dort war die Tür. Da wir hoch zu Pferde saßen und die beiden Türen mit uns in einer Linie lagen, so konnten wir nicht nur durch ihre Zwischenräume hindurch-, sondern auch über sie hinwegsehen. Das Innere des Zwingers lag also zu einem beträchtlichen Teil vor unsern Augen. Wir überschauten einen freien, grasbewachsenen Platz, auf dem eine Gestalt langsam geschritten kam, um sich der Tür zu nähern. Es schien, als ob dieser Mensch sich um den Lärm in seiner Nähe bisher gar nicht bekümmert habe und erst jetzt im Begriff stehe, ihn zu beachten. Er war von außerordentlich hoher, imponierender Gestalt. Sein langsamer Gang und seine Haltung waren von einem ganz eigenartigen, charakteristischen Stolz. Seine Kleidung bestand aus einem weiten, bequemen Haik, der um die Hüften durch einen schmalen Ledergürtel zusammengefaßt wurde. Sein Kopf war unbedeckt. Ein starkes, fast übervolles Haar hing ihm weit über den Rücken herab. Die Züge seines edel geschnittenen Gesichtes waren von einer ganz eigenartigen, fast augenfälligen Schönheit. Einen Bart trug er nicht. Das war gewiß eine außerordentliche Seltenheit hier im Land und in der Hauptstadt der Ussul, die stolz auf ihren starken Haarwuchs waren und jeden bartlosen Mann als einen Knaben oder gar als verächtlich bezeichneten. Ich sollte sogar sehr bald erfahren, daß es bei ihnen ein Gesetz gab, nach welchem Handlungen, die nach ihren Begriffen ehrlos waren, durch das Scheren des Bartes und das Verbot, ihn wieder wachsen zu lassen, bestraft wurden. Sollte dieses Gesetz vielleicht auch auf den Dschirbani in Anwendung gebracht worden sein? Wie er, den Blick zur Erde gesenkt, so allmählich sich der Pforte näherte, hatte es den Anschein, als ob seine Gestalt mit jedem Schritt immer höher und breiter, immer bedeutender und eindrucksvoller werde. Ob dies nur in seiner Persönlichkeit lag oder zum Teil auch mit in der örtlichen Perspektive, das fragte ich mich nicht. Ich nahm die Wirkung in mir auf, ohne nach ihren Ursachen und Gründen zu forschen. Als er die Pforte erreichte, ließ er seinen Blick über uns gleiten. Es war keine Spur von Überraschung an ihm zu bemerken. Das große, dunkle Auge ruhte forschend auf uns, und als ich meine Hand zum Gruß gegen Brust und Stirn erhob, antwortete er mir in der gleichen Weise. Da fragte ich mit lauter Stimme zu ihm hinüber:

»Bist du der Sohn des Dschinnistani?«

Ich unterließ es natürlich, ihn Dschirbani zu nennen, weil dies »der Räudige« bedeutet. Ich mußte wegen der Hunde so laut rufen, daß man es rundum hörte. Er antwortete ebensolaut:

»Ich bin es.«

Mein kleiner Halef war von der außerordentlichen Erscheinung dieses Mannes, der trotz seiner Jugend einen solchen Eindruck machte, ebenso ergriffen wie ich. Halef war gewohnt, sich derartigen Gefühlen augenblicklich hinzugeben, und so eilte er auch hier sehr schnell zum Wort, ohne daran zu denken, daß dies jetzt mir allein zustehe.

»Du bist der Enkel des Sahahr?« erkundigte er sich.

Der Dschirbani nickte.

»Wünschest du, frei zu sein?«

Da hob der Gefragte die Hände bis zur Höhe seines Gesichtes, schlug sie beteuernd zusammen und rief:

»Von ganzem Herzen!«

»So holen wir dich heraus! Sofort! Wir schießen die Hunde nieder!«

Der Zauberer und alle bei ihm hatten jedes dieser Worte gehört. Er wollte sein Verbot wiederholen und richtete sich, so weit es sein Zustand erlaubte, in die Höhe, um uns zuzurufen, brachte es aber nur zu einigen unartikulierten Lauten und fiel dann wieder nieder. Seine Verwundung schien also doch gefährlicher zu sein, als ich angenommen hatte. Die Ussul um ihn sprachen auf ihn ein. Diese Leute gehörten, wie sich ganz von selbst versteht, zu seinen nächsten Freunden und Anhängern. Der eine von ihnen kam jetzt zu uns heran und teilte uns mit:

»Ihr seid Fremde, und Fremden ist es verboten, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen. Selbst wenn ihr schon unter die Ussul aufgenommen wäret, hättet ihr kein Recht, euch mit diesem Gefangenen zu beschäftigen. Nur der Sahahr allein hat über ihn zu verfügen. Nicht einmal der Scheich besitzt nach den Gesetzen unseres Volkes ein Recht, in dieser Angelegenheit eine Änderung eintreten zu lassen. Aber weil ihr den Ussul einen großen Dienst erwiesen habt, weil ihr gewillt seid, uns auch fernerhin mit eurer Hilfe beizustehen, und endlich, weil der Sahahr euch liebgewonnen hat und dies euch zeigen und beweisen will, aus all diesen Gründen hat er beschlossen, euch zu Willen zu sein und den Dschirbani für immer freizugeben, wenn ihr die einzige Bedingung erfüllt, die er daran knüpft.«

»Welche Bedingung?« fragte Halef.

»Ihr müßt die Wächter bezwingen, ohne sie zu beschädigen.«

»Die Bestien? Die Hunde?«

»Ja, die Hunde. Sie dürfen weder verwundet noch getötet werden. Es ist euch streng verboten, ihnen Schaden zu tun. Ihr habt also, bevor ihr mit ihnen kämpft, alle Waffen abzulegen und euch ganz allein nur auf eure Hände zu verlassen. Auch dürft ihr nicht zu zweien zu ihnen hinein, sondern der Emir aus Dschermanistan wird beginnen, und erst dann, wenn er von den Hunden zerrissen worden ist, darf der Scheich der Haddedihn ihm folgen!«

»Das ist ja allerliebst!« rief Halef aus. »Warum ist es denn nicht umgekehrt? Nämlich so, daß die Hunde nicht miteinander auf uns los dürfen, sondern daß der zweite sich erst dann mit uns befassen darf, wenn wir den ersten aufgefressen haben!«

Er hätte in dieser Weise wohl weitergesprochen, wurde aber von andern Zurufen übertönt. Auch der Ussul hatte nämlich laut reden müssen, und zwar so laut, daß er auf der einen Seite von dem Dschirbani und auf der anderen auch von den auf der Straße befindlichen Ussul gehört wurde. Von dort aus rief die Frau des Scheichs uns warnend zu:

»Ich bitte euch bei Allah, das nicht zu tun! Wenn ihr es wagtet, wäret ihr verloren!«

Und der Gefangene selbst, so sehr er seine Befreiung wünschte, warf uns die gewiß selbstlose Mahnung herüber:

»Ich weiß nicht, wer ihr seid; aber hütet euch, auf den Vorschlag des Sahahr einzugehen. Er kann bloß beabsichtigen, euch zu verderben! Ich bin doch wohl stärker als ihr, aber ich bleibe doch lieber gefangen, als daß ich es wage, ohne Waffen mit diesen Ungetümen zu kämpfen!«

»Hörst du es?« fragte der Ussul, der an Stelle des Sahahr sprach. »Nun ist es wohl mit eurem Mut zu Ende?«

Ohne diese Verhöhnung zu beachten, fragte ich ihn:

»Würdet ihr Wort halten und den Sohn des Dschinnistani für immer freigeben, wenn es mir gelänge, die Hunde waffenlos zu besiegen, ohne sie zu verletzen?«

»Ja«, antwortete der Gefragte.

»Ja«, antworteten seine Gefährten.

»Ja«, antwortete sogar auch der Zauberer, den der Gedanke, daß ich mich von den Hunden zerreißen lassen werde, für den Augenblick alle Schmerzen vergessen ließ.

Da wandte ich mich an den Dschirbani:

»Ich brauche Zeugen hierzu. Hast du gehört, was mir versprochen worden ist?«

»Ja«, versicherte er. »Aber du wirst doch nicht etwa so tollkühn sein und ...«

Ich ließ ihn nicht ausreden, sondern richtete an unsere Reitgefährten und an die anwesende Menge die Frage:

»Habt auch ihr es gehört, und wollt ihr es mir bezeugen?«

»Ja, ja, ja, ja ...!« ertönte es wie aus einem Mund, doch sofort erhoben sich auch Stimmen, um mich zu warnen, auf einen ebenso ungewöhnlichen wie ungleichen Kampf einzugehen.

Ich achtete nicht darauf, sondern stieg vom Pferd und gab die Zügel desselben Halef in die Hand. Der sah mich mit weit aufgerissenen Augen an und rief:

»Allah sei uns gnädig! Willst du es wagen, wirklich wagen, Sihdi?«

»Ja«, antwortete ich.

»Trotz der entsetzlichen Gefahr, in Stücke gerissen und dann aufgefressen zu werden?«

»Trotzdem! Aber diese Gefahr ist bei weitem nicht so groß, wie du denkst.«

»Hättest du doch recht!« seufzte er unter einem tiefen, lauten Atemzug auf.

»Ich habe recht!« versicherte ich. »Hast du aufgepaßt, als der Hund, den ich erschoß, sich auf seinen eigenen Herrn stürzte?«

»Ich habe es gesehen, aber erst dann, als der Sahahr bereits am Boden lag.«

»Das war zu spät: Da war das, was ich sagen will, schon vorüber. Ich habe genau aufgemerkt, wie diese Hunde dressiert sind. Sie reißen den Menschen vorher nieder, und erst wenn dies geschehen ist, beißen sie drauflos. Die Hauptsache ist also erstens, sich nicht werfen zu lassen, und zweitens, zu verhüten, daß sie an Hals und Gurgel kommen. Auch wird der Dschirbani mir helfen.«

»Der? Wieso?«

»Er muß die Hunde so beschäftigen, daß sie sich trennen, damit sie nicht beide zugleich nach mir springen.«

»Allah sei Dank! Dieser Gedanke ist gut. Meine Sorge um dein Leben vermindert sich bereits. Dennoch aber sage ich dir: Ich nehme deinen Stutzen zur Hand, und wenn es einem dieser Hunde gelingen sollte, dich niederzureißen, so bekommt er augenblicklich so viele Kugeln in den teuflischen Leib, daß er gar nicht Zeit hat, sie zu zählen!«

Ich gab Halef meine Waffen. Dann band ich mir den Gürtelschal von den Hüften und wand ihn mir, so lang er war, um den Hals.

»Er will! Er will! Er wird! Er wagt es! Er tut es!« klang es vielstimmig bei den Ussul, als sie meine Vorbereitung sahen.

Die Warnungen wiederholten sich. Auch der Dschirbani rief mir die seinige nochmals herüber. Ich aber antwortete ihm:

»Fürchte nichts! Wenn du mich unterstützt, werde ich siegen.«

Dies hatte ich nur so laut gesprochen, daß er es hören konnte. Da trat er ganz nahe an die Pforte heran und fragte mich mit unterdrückter Stimme:

»Wie gern möchte ich dich unterstützen! Aber wie könnte ich das?«

»Indem du stark an deiner Tür rüttelst, als ob du herauswollest. Wenn du das tust, so hoffe ich, daß einer der Hunde sich gegen dich richtet und ich es also nicht mit beiden zugleich zu tun haben werde.«

»Wie gern will ich das tun, wie gern! Aber wann? Sag mir den Augenblick!«

»Jetzt gleich! Du kannst sofort beginnen!«

Ich stand mehrere Schritte von der Tür des äußeren Zaunes entfernt. Er befand sich den Hunden also viel näher, und als er jetzt an seiner, also der innern Tür, zu arbeiten, zu stoßen und zu pochen begann, wendeten sich beide gegen ihn, mir aber den Rücken zu. Sie heulten überlaut. Das war der rechte Augenblick für mich. Ich sprang zur äußeren Tür, schob den Riegel weg und riß sie auf. Da hörte man einen einzigen, aber vielstimmigen, großen Schrei des Schreckes rund umher: dann aber trat plötzlich tiefe Stille ein. Die Entscheidung war da; sie stand unsichtbar neben mir, an der geöffneten Tür, durch welche zu treten ich mich sehr wohl hütete. Sie war nicht breit genug für zwei so große, starke Hunde. Es konnte nur einer allein heraus. Indem ich draußen blieb, sicherte ich mir den Vorteil zu, daß mich nur einer von ihnen angreifen konnte. Momentan achteten sie aber gar nicht auf mich. Ihre ganze Aufmerksamkeit war nur allein auf die innere Pforte gerichtet, an welcher der Dschirbani rüttelte. Daß ich die meine geöffnet hatte, das sahen sie nicht eher, als bis ich durch einen lauten Ruf ihre Blicke auf mich zog.

Es kann nicht meine Absicht sein, durch die Erzählung dieses Ereignisses nach einem Ruhm zu trachten, den ich nicht verdiene. Was ich jetzt tat, war nämlich kein so großes Wagnis, wie es schien. Schon Hunderte und aber Hunderte hatten es gewagt und zwar oft mit Erfolg. Das war drüben in Nordamerika, als in den Süd- und Mittelstaaten der Union noch die Sklaverei bestand. Wie viele jener armen Menschen waren da ihren mitleidslosen, grausamen Herren entflohen! Wie viele dieser Flüchtlinge hatte man mit Bluthunden gehetzt, die eigens für diese Negerjagden dressiert worden waren! Die Schwarzen waren gewöhnlich unbewehrt. Ihre einzige Waffe gegen die gefährlichen Hunde bestand in dem Trick, ihnen in dem Augenblick, in dem diese nach der Kehle schnappten, die Arme fest um den Hals zu schlagen und die Gurgel derart zusammenzupressen, daß ihnen der Atem verging. Ließ man sie dann fallen, so waren sie erstickt. Freilich durfte dieser Druck der Arme keinen Augenblick zu früh oder zu spät kommen, sonst war der Flüchtling verloren. Jeder Sklave, der auf Flucht sann, übte diesen Griff und Druck. In den Turnvereinen geschah dasselbe. Von jedem Hundehändler bekam man gegen Entgelt irgendeine alte, sonst nutzlos gewordene Bestie geliehen, um sich mit ihrer allerdings höchst unfreiwilligen Beihilfe in den Stand zu setzen, mit unbewaffneten Händen einen feindlich anspringenden Bluthund zu ersticken. Das, was ich mir jetzt vorgenommen hatte, war also nichts Außerordentliches. Es gewann nur dadurch an Schwierigkeit, daß es sich um zwei Hunde handelte, anstatt nur um einen, und daß diese Ungeheuer bedeutend größer und kräftiger als die amerikanischen Negerfänger waren. Dieser Nachteil wurde aber durch die Beihilfe des Dschirbani wieder ausgeglichen. Er besaß denjenigen Grad von Intelligenz, der hierzu nötig war, in ganz vollkommener Weise.

Er hatte, wie ich schon erwähnte, die Aufmerksamkeit der Hunde auf sich allein gezogen. Als ich dann vor der geöffneten Tür stand und den lauten Ruf ausstieß, mit dem ich mich den Hunden bemerkbar machte, kam es darauf an, daß der Dschirbani einen von ihnen drüben bei sich festhielt. Das gelang ihm vortrefflich. Sobald mich beide sahen, wollten sie sich auf mich stürzen; da aber wiederholte er sein Rütteln und Schütteln mit solcher Stärke, daß der eine Hund sich ihm rasch wieder zuwendete, während der andere, ohne sich irremachen zu lassen, auf mich zugeflogen kam. Es wurde mir leicht, den ungeheuern Anprall, der mich unbedingt umgerissen hätte, abzuschwächen, und zwar mit Hilfe der Tür, die ich schnell halb wieder schloß, so daß sie den ersten Stoß auffing und ich zum Angriff übergehen konnte. Das Tier geriet nämlich mit einem Hinterfuß in die Zwischenräume der Latten. Anstatt sich zu befreien, bohrte es ihn in seiner Hast nur noch weiter hinein, und so gelang es mir ohne alle Mühe und fast gefahrlos, ihm die Arme um den Hals zu schlagen und diesen so fest an mich zu drücken, daß dem Hund der Atem auszugehen begann. So riß ich ihn von der Tür los. Er hing, mit dem Rücken nach mir gewendet, mit der Kehle in meinen Armen, heulte vor Todesangst und versuchte vergebens, mich mit den Hinterkrallen zu fassen. Als der andere Hund das Angstgeheul, hinter sich hörte, ließ er von dem Dschirbani ab und drehte sich um, jedenfalls in der Absicht, seinem Gefährten zu Hilfe zu kommen und mich zu packen. Was nun geschah, war im hohen Grade interessant. Schon setzte er nämlich zum Sprung gegen mich an, da sah er den andern Hund halb tot und in höchster Atemnot zuckend, in meinen Armen hängen. Er bekam einen Schreck. Ich trat gegen ihn vor, in die Türöffnung hinein. Wollte er an mich kommen, so stieß er nicht auf mich, sondern auf die in meinen Armen hängende Bestie. Er wich zurück. Ich trat weiter vor, er wich weiter zurück. Ich folgte ihm, und nun begann er, der riesige Blut- und Bärenhund, vor Angst zu winseln, zog den Schwanz ein und machte Miene, davonzulaufen. Das mußte ich benutzen. Es galt, ihn nun völlig und für immer einzuschüchtern. Ich schleuderte also den andern Hund von mir ab, und zwar so, daß er lang auf ihn fiel. Der Getroffene heulte vor Schreck laut auf, rannte davon und blieb erst in sicherer Entfernung wieder stehen, wo er, sich niedersetzend, zurückschaute und durch Seufzen und Stöhnen zu erkennen gab, daß zwar er ganz leidlich entkommen sei, sich aber über das Schicksal seines Gefährten große Sorge mache. Dieser lag vollständig bewegungslos. Nur über die Brust ging ein leises, zitterndes Heben und Senken. Das Maul war weit geöffnet und die Zunge hing heraus. Der Hund war dem Ersticken nahe gewesen. Ich stand neben ihm, bereit, ihn genau wieder so zu fassen wie vorher. Als der erste Lufthauch wieder in die Lunge drang, streckte sich der mächtige Körper. Die sich verglasenden Augen gewannen wieder Blick. Er erhob sich langsam und schwer, als ob ihm seine Glieder den Gehorsam noch verweigerten. Das war der kritische Augenblick. Ich öffnete die Arme, um sie, falls er sich wieder auf mich stürzen würde, abermals um ihn zu schlagen. Da hob er das Auge. Er sah mich vor sich stehen. Er erblickte die drohend geöffneten Arme. Zugleich hörte er das ängstliche Wimmern des andern Hundes. Er drehte den Kopf nach ihm um. Als dieser das sah, steigerte er sein Wimmern zum Heulen, und zwar zu jenem ganz eigenartigen, langgezogenen Heulen mit der Fistelstimme, welches man meist nur dann zu hören bekommt, wenn irgendwo Feuer ausgebrochen ist. Da stimmte das vor mir liegende Ungetüm ein. Es legte, anstatt etwas Feindliches gegen mich zu unternehmen, den Hals und Kopf lang auf die Erde nieder, machte die Augen zu und ließ Jammer- und Klagetöne hören, die anfangs ganz unartikuliert erschienen, dann aber deutlicher und immer deutlicher wurden. Bei jeder Pause, die er machte, sah er mich an, als ob er fragen wolle: »Hast du es gehört?« Nun sprach ich auf ihn ein. Er schwieg und hörte mich an. Dann antwortete er, indem er weiterheulte. Sobald er fertig war, begann wieder ich, und dann auch wieder er. So sprachen wir miteinander, er heulend und ich begütigend. Er verstand weder meine noch ich seine Sprache, aber in den Tönen lag etwas, was nicht durch Worte ausgedrückt werden konnte. Ich kniete zu ihm nieder und wagte es, ihm den Kopf mit der Hand zu streicheln. Er duldete es. Ich klopfte ihn zärtlich. Ich strich ihm über den Rücken. Das nahm er mit großem Behagen hin. Als ich mich dann wieder erhob, stand auch er auf und schob mir seine Schnauze in die Hand, um sich weitere Liebkosungen zu erbitten. Als das der andere sah, stellte er sein Jammern ein und verließ seinen Platz, doch nicht etwa, um weiter zu fliehen, sondern um sich mir zu nähern. Das geschah langsam und zagend, so ungefähr wie bei einem gutherzigen Knaben, der bestraft worden ist und sich dann nach und nach wieder an den Vater heranzuschlängeln sucht. Ich unterstützte diese seine erfreuliche Taktik dadurch, daß ich meine Zärtlichkeiten gegen seinen Gefährten fortsetzte und ihm dann mit diesem gar entgegenkam. Der Erfolg war, daß ich schließlich zwischen beiden Hunden stand und ihnen die dicken, nie gekämmten Felle derart klopfte und zauste, daß sie vor Wonne stöhnten. Ich versuchte nun, hin und her zu gehen. Sie gingen mit. Wenn ich umkehrte, taten sie es auch. Da wendete ich mich weiter, rund um den ganzen Stachelzwinger herum. Sie folgten mir. Ihre Augen waren mild und freundlich. Von der frühern Menschenfeindlichkeit gab es keine Spur mehr. Als ich dann von der andern Seite nach der Tür zurückkehrte, an welcher der Dschirbani stand, verhielten sie sich so gleichgültig, als ob sie das, was vorher ihre Pflicht gewesen war, vollständig vergessen hätten. Ich zog den Riegel weg, um die Tür zu öffnen.

»Darfst du das wagen?« fragte der Dschirbani.

»Ja, komm!« antwortete ich, indem ich, um ihm Platz zu machen, zurücktrat.

Die Hunde standen rechts und links von mir, ganz eng an mich gedrückt. Ich war so vorsichtig, jeden von ihnen fest an einem Ohr zu halten.

»Auf dein Wort hin will ich es tun, Sahib – Herr –!« sagte er.

Bei diesen Worten stieß er die Tür auf und trat heraus. Hierbei öffneten sich die unteren Säume seines Haik, und ich sah, daß er unter demselben die eigentliche, lederne Kleidung trug. Auch die stiefelartige Fußbekleidung war von Leder, nicht von Bast, wie bei den meisten anderen Ussul. Die Hunde sahen zu ihm auf, ohne ein Zeichen des Hasses oder des Zornes. Auch ich schaute zu ihm auf, ja wirklich, zu ihm auf. Denn er überragte mich nach allen Dimensionen, in der Stärke, in der Höhe, in der Breite. Was war das für ein Mensch! Wie hehr, wie stolz, wie schön! Mir war, als ob in diesem Augenblick seine Seele hinter ihm stehe, ihm unbewußt, und mir zurufe: »Schau her, und liebe ihn; er ist von königlichem Geschlecht!« Bis jetzt war der Zaun, war die Pforte zwischen uns gewesen. Wir standen uns nun also zum ersten Male ohne Hindernis gegenüber. Der erste Blick, den er frei auf mich richten konnte, war lang, erwartungsvoll und forschend. Dann ging es wie ein warmer, verklärender Sonnenschein über sein Gesicht, und er sagte:

»Du bist nicht aus diesem Land, sondern ein Fremder. Und du bist edel, gut und tapfer. Als ich dich da draußen vor dem berüchtigten Zwinger halten sah, bevor du abgestiegen warst, dein Pferd viel kleiner als die unserigen, aber unendlich feiner und edler, und auch du um so viel kleiner als ich, aber um so sicherer im Sattel und um so geistiger in allem, was du tust, da kamst du mir vor wie eine Vision, die mir der Himmel sendet. Weißt du, was eine Vision ist?«

»Ja«, antwortete ich.

»Und weißt du, daß man mich den Wahnsinnigen nennt?«

»Ja.«

»Der Mensch, der Visionen hat, ist von Gott begnadet. So lange er dies weiß, bringt er der Menschheit Segen, man mag an ihn glauben oder nicht. Sobald er dies vergißt, ist er wahnsinnig geworden und gleicht nur noch einer Vision, die nicht in Erfüllung geht.«

»Woher weißt du das?« fragte ich erstaunt.

»Es steht in meinem Buch hier.«

Er deutete auf die Mitte der Brust, etwas unterhalb des Halses, wo man das »Hamail« zu tragen pflegt. Es war also anzunehmen, daß dort das Buch unter seinem Haik hing. Dann fuhr er fort:

»Als ich dich sah, war es mir in meiner Vision, als ob du, der scheinbar Kleinere, zu mir, dem scheinbar Größeren, herniederkämst von den Sternen, den scheinbar kleinen, die aber immer größer werden, je mehr man sich ihnen nähert. Ich sah es dir sofort an, daß du gekommen seist, mich zu befreien, und daß dir das, was jeder andere für unmöglich halten muß, wie spielend, kinderleicht glücken werde. Dann, als die Vision vorüber war und mein Auge zur Wirklichkeit zurückkehrte, sah ich in dir nur noch den Menschen und hatte Angst um dich. Es ist gelungen! Aber wie! Ohne alle Waffen! Ohne jede Strenge! Und in so kurzer Zeit! Sahib, ich bitte dich, mir doch zu sagen, wie das alles geschehen konnte!«

»Denke nach!« antwortete ich. »Die Lösung ist sehr einfach. Ich möchte, daß du sie ohne meine Hilfe findest.«

Er sah mir einige Augenblicke lang in das Gesicht, wie um nach den Gründen dieser meiner Antwort zu suchen. Dann sagte er:

»Ich danke dir! Du handelst richtig. Was der Mensch sich durch eigenes Nachdenken verdienen kann, das soll er sich nicht schenken lassen! Ich frage dich nicht, wer du bist und woher du kommst. Aber eines möchte ich wissen: Wo wirst du wohnen?«

»Wahrscheinlich beim Scheich, denn ich bin sein Gast.«

»So trennen wir uns jetzt. Aber wünschst du, daß ich dich wiedersehe?«

»Von Herzen!«

»Ich ebenso. Kannst du nach meiner Insel der Heiden kommen?«

»Ja. Ich komme sehr gern. Aber wann?«

»Morgen früh, um die Mitte des Vormittags. Ich werde dort auf dich warten.«

»Muß ich allein kommen? Oder darf ich meinen Begleiter mitbringen?«

»Den kleinen Mann, der dein Pferd hält?«

»Ja. Er ist mein Vertrauter. Ich habe ihn lieb.«

»So bringe ihn mit, aber nur ihn allein. Nun laß mich gehen!«

Wir wendeten uns der Tür des äußeren Zaunes zu. Ich wollte die Hunde innen zurücklassen und die Tür dann von außen verriegeln. Aber als sie meine Absicht bemerkten, drängten sie sich mit aller Gewalt heraus, so daß ich es nicht verhindern konnte. Das hätte mir Sorge machen müssen, denn jetzt, wo sie losgelassen waren, konnte ihre Wildheit ungeheuren Schaden anrichten. Aber es war nicht die geringste Spur von Gefährlichkeit mehr zu sehen, und sie zeigten so wenig Lust, von mir wegzugehen, daß ich ihrer vollständig sicher zu sein glaubte. Ich hielt nur höchstens das eine für nötig, sie wieder, wie vorhin, an den Ohren zu halten, und das ließen sie sich gern gefallen. Jetzt versuchte auch der Dschirbani, sie zu liebkosen. Sie duldeten es nicht nur, sondern sie sahen dankbar zu ihm auf, und dabei gewannen ihre Augen einen rührend treuen und ehrlichen Ausdruck, der nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem früheren hatte. Da sagte er:

»Und solche Tiere zu verderben, gibt sich der Mensch so große Mühe! Wer steht da höher, er oder sie! Komm Sahib!«

Wir gingen zunächst dorthin, wo Halef mit den Pferden hielt. Er war abgestiegen. Der Dschirbani blieb stehen, schaute ihm in das Gesicht und sprach:

»Ja, den bring mit, morgen, wenn du kommst!«

Dann betrachtete er die Pferde, still, lange Zeit und aufmerksam, mit bewundernden Blicken.

»Gefallen sie dir?« fragte Halef, der es nicht über sich brachte, hierzu so lange zu schweigen.

Der Dschirbani lächelte zu dieser Frage, antwortete aber doch:

»Sie stammen nicht aus diesem plumpen Land. Sie gehören zur Vision. Welch ein Glück für uns, wenn sie zur Wahrheit werden könnte!«

Wir gingen weiter, dem Kanal zu. Wir mußten an der Stelle vorüber, an welcher der Sahahr lag. Er hielt die Augen geschlossen. Den bei ihm befindlichen Männern war es noch nicht gelungen, das Blut zu stillen. Der Dschirbani trat hinzu; ich folgte ihm. Da sprangen sie auf und wichen zurück, um aus der Nähe des Räudigen zu kommen. Man hatte die Kleidung des Sahahrs aufgeschnitten, und nun zeigte sich uns die Wunde; sie sah gefährlich aus. Der untere Teil des Oberschenkels war zerfleischt und die Kniescheibe zerknirscht und zermalmt. Der Dschirbani griff in seinen Haick, zog ein Päckchen sehr breiten Bastes aus der Tasche und sagte:

»Wenn diese Wunde nicht sehr sorgfältig behandelt wird, muß er an ihr sterben. Ich werde ihn verbinden.«

»Verstehst du das?« fragte ich.

»Mein Vater war der berühmteste Arzt, den es gab. Ich bin sein Schüler.«

Er wollte sich zum Sahahr niederbeugen; da öffnete dieser die Augen, richtete sich in sitzende Stellung auf, streckte dem Dschirbani beide Hände mit weit ausgespreizten Fingern entgegen und rief ihm im Ton höchsten Abscheues zu:

»Zurück mit dir! Rühre mich nicht an! Du bist verflucht!«

Da richtete sich der Dschirbani empor und antwortete trotz der Beleidigung, im ruhigsten Ton:

»Es gibt außer mir hier keinen, der solche Verletzungen richtig zu behandeln versteht. Wirst du aber schlecht verbunden, so tritt Brand und Gift hinzu, und du mußt sterben!«

»So sterbe ich!« schrie der Sahahr. »Fort, fort! Laß deine Hand von mir! Ich habe mit dir, dem Räudigen und Wahnsinnigen, nichts zu schaffen!«

Der Dschirbani steckte den Bast wieder zu sich und ging, ich mit ihm.

»Schrecklich!« rang es sich über meine Lippen. Ich wollte schweigen, doch konnte ich nicht. Dieses eine Wort wenigstens mußte ich sagen. Dieser Haß war nicht nur abstoßend häßlich, sondern geradezu unnatürlich. Aber der von seinem Großvater abgewiesene Enkel belehrte mich:

»Nicht schrecklich ist es, sondern im Gegenteil ganz natürlich. Er leidet an dem Selbstbetrug, daß ich verwandt mit ihm sei. Nun weißt du aber bereits: wer die Lügen seiner Einbildung für Wahrheit hält, ist wahnsinnig. Nicht also ich bin irr im Kopf, sondern er ist geisteskrank. Was noch gesund in ihm ist, bäumt sich gegen diese Lüge auf, und es ist nur eine Folge seines Wahnsinnes, daß er diesen berechtigten Widerspruch in Haß und Empörung kleidet. Es wäre ungerecht, ihn wegen dieses Hasses nun gleich für einen bösen Menschen oder gar für einen unwürdigen Zauberpriester zu halten. Sein Haß entstammt dem Wahn; sein Glaube an Gott aber ist echt und wahr und frei von jeder Lüge. Ich bitte dich, ihn zu achten!«

Wir hatten jetzt den Kanal erreicht. Da brachte man ein Floß gerudert. Es hatte in der Nähe gelegen und war vom Scheich herbeibeordert worden, um den verwundeten Sahahr nach seiner Wohnung zu schaffen. Das benutzte der Dschirbani, um über das Wasser hinüberzukommen. Sobald das Floß angelegt hatte, bestieg er es. Aber der Ruderer stieß einen Schrei des Schreckes aus und sprang an das Land, damit ihn der Räudige nicht berühre. Dieser achtete gar nicht hierauf, sondern richtete seine Aufmerksamkeit nur auf mich.

»Ich bedanke mich jetzt nicht bei dir, Sahib«, sprach er. »Wer derart handelt, wie du an mir gehandelt hast, dem sagt man nicht Dank, sondern man lebt ihm Dank. Auch gebe ich dir nicht die Hand, um deinetwillen. Man würde sich scheuen, dich zu berühren!«

Hierauf trieb er durch einen kräftigen Fußtritt gegen das diesseitige Ufer das Floß nach dem jenseitigen hinüber, stieg aus, stieß es wieder herüber und ging von dannen, langsam, ruhigen Schrittes, hoch aufgerichtet wie ein Herrschender, ohne nach rechts oder links zu schauen. Er schien die Menschen, die ihm, sobald er sich ihnen näherte, schleunigst Platz machten, indem sie vor ihm wie vor einem durch und durch Aussätzigen auseinanderprallten, gar nicht zu bemerken. Hier und da aber war es, als ob ihm nicht aus Furcht und Scheu, sondern aus Ehrerbietung Platz gemacht werde. Ich glaubte, dies deutlich zu sehen; es fiel mir auf.

Nicht weniger auffällig war das allgemeine Schweigen, mit dem man seine Befreiung entgegengenommen hatte. Wie gefährlich die Hunde gewesen waren, zeigte die Verletzung ihres eigenen Herrn. Anderwärts hätte man den waffenlosen Sieg über sie wahrscheinlich mit lautem oder gar stürmischem Beifall begrüßt. Hier hatte man nicht ein einziges Wort, einen einzigen Ruf gehört. Diese Stille beim glücklichen Erfolg stach ganz ungemein gegen die vielen, lauten und wohlgemeinten Zurufe ab, mit denen ich vorher gewarnt worden war, das Wagnis zu unternehmen. Welchen Grund das hatte, konnte ich mir wohl denken. Nun der Dschirbani seine Freiheit zurückerhalten hatte, lag es wieder wie ein Alp auf dem ganzen Volk, und da sich dieses vor der Ansteckung fürchtete, nahm es das, was ich getan hatte, nicht als Wohltat, sondern als etwas geradezu Gegenteiliges auf. Ich, der ihnen bisher so sehr Willkommene, hatte ihnen gleich bei meinem ersten Schritt in die Stadt etwas außerordentlich Störendes und Unwillkommenes aufgezwungen. Daher die allgemeine Lautlosigkeit, die man wohl am besten als »Stille der Verlegenheit« bezeichnen kann. Denn daß es eine Verlegenheit nicht nur der einzelnen Person, sondern auch großer Menschenmassen gibt, versteht sich ganz von selbst.

Mein kleiner Halef schien sich mit ganz ähnlichen Gedanken zu beschäftigen. Er stand, die Zügel der Pferde in den Händen, neben mir, schaute dem sich entfernenden Dschirbani mit leuchtenden Augen nach und brummte, als dieser verschwunden war, fast zornig vor sich hin:

»Undankbares Volk! Du hast dein Leben doppelt und dreifach auf das Spiel gesetzt, und nun es dir gelungen ist, sind alle Mäuler stumm. Aber nachmachen kann es keiner! Und schau nur die Augen, die sie auf uns richten! Eindruck hast du doch auf sie gemacht! Da hast du dein Pferd und deine Waffen. Wir müssen wieder hinüber!«

Wir stiegen wieder auf und ließen uns von unsern Pferden über das Wasser setzen. Die Frau des Scheichs befand sich noch immer an der Stelle, wo wir sie verlassen hatten. Sie nahm uns wieder auf. Sie war die einzige, die beabsichtigte, uns ihren Beifall zu zollen. Eben wollte sie damit beginnen, da deutete sie erschrocken auf das Wasser des Kanals und rief:

»Die Unholde! Die Ungeheuer! Sie kommen hinter dir her! Nimm dein Gewehr! Schieß sie nieder!«

Die beiden Hunde waren hinter uns in das Wasser gegangen und schwammen herüber. Alles drängte voller Angst nach vorn und nach hinten, denn nach der anderen Seite konnte man nicht entweichen, weil da auch Wasser war. So wurde die Stelle, nach welcher die Hunde trachteten und wo ich mich mit Taldscha und Halef befand, frei. Jeder, der in der Nähe war, griff nach seiner Waffe, nach Messer, Pfeil oder Spieß, um sich zu schützen. Da hob ich warnend den Arm empor und rief:

»Hütet euch, sie anzugreifen, zu verletzen! Sie würden dann wieder unbändig, wie zuvor! Ich stehe gut für sie!«

»Wenn du dich verbürgst, so bleibe ich bei dir«, antwortete die Frau des Scheichs beherzt.

Ich sprang vom Pferd und trat an das Wasser, um die Hunde liebkosend zu empfangen. Da leckte mir der eine die ihm entgegengestreckte Hand, und der andere beeilte sich, diesem Beispiel zu folgen. Ich wartete, bis sie sich das Wasser aus den Zotteln geschüttelt hatten, und band sie dann mit Hilfe zweier Riemen rechts und links an meine Steigbügel. Sie ließen sich das nicht nur gefallen, sondern gaben durch ein befriedigtes Winseln sogar ihre Freude darüber zu erkennen. Sie betrachteten es als den Beweis, daß sie nun zu mir gehörten. Das hatten sie ja gewollt, und als ich nun wieder in den Sattel stieg und das Pferd sich in Bewegung setzte, bellten sie laut und gingen fröhlich nebenher. Die Frau des Scheichs betrachtete mich mit dem Ausdruck größten Erstaunens.

»Welch ein Wunder!« rief sie aus. »Du scheinst ein viel, viel größerer und unendlich geschickterer Zauberer zu sein als der Sahahr!«

»Durch Verstand und Liebe gutzumachen, was Unverstand und Haß verschuldet haben, dazu bedarf es nur des guten Willens, nicht aber eines Wunders oder gar der Zauberei«, antwortete ich. »Ein Wunder ist es nur, daß ihr das Selbstverständliche und Natürliche für ein Wunder haltet. Bei allem, was soeben geschehen ist, beschäftigt mich nur die eine Frage, ob ich unnütz gehandelt habe oder nicht.«

»Unnütz? Wieso?«

»Ist der Dschirbani nun wirklich frei?«

»Ja, wirklich!« versicherte sie.

»Für wie lange?«

»Für immer!«

»Er kann nicht wieder eingesperrt werden?«

»Als Aussätziger und Wahnsinniger nie wieder. Der Sahahr hat ihn freigegeben, und zwar unter Bedingungen, die von dir erfüllt worden sind. Er ist also von jetzt an, bis er stirbt, ein freier Mann, dem niemand etwas anhaben darf, so lange er sich nicht in anderer und neuer Weise gegen die Gesetze der Ussul vergeht. Ich habe seine Freiheit gewünscht. Ich habe dich um sie gebeten. Ich möchte nun gern von meinem Dank sprechen; aber ich habe nun gehört, was er hierüber sagte, nämlich, daß man solchen Dank zu leben hat und nicht nur von ihm reden soll. Ich halte seine Ansicht für klug und weise und richte mich nach ihr, indem ich für jetzt schweige, um von nun an durch die Tat mit dir zu sprechen. Das, was du wünschst, soll mir nicht weniger wert sein, als mein Wunsch dir gewesen ist. Ich bitte dich, mich deine Freundin nennen zu dürfen!«

»Du darfst nicht nur, sondern ich ersuche dich sogar darum, und zwar recht herzlich! Es ist mir eine große Beruhigung, zu wissen, daß diese Befreiung des Dschirbani für das ganze Leben gilt. Auf den Vorwurf, daß er wahnsinnig sei, habe ich ihn natürlich noch nicht prüfen können, aber ich will dir nicht verschweigen, daß der Haß des Sahahr viel mehr auf Irrsinn deutet als das klare, gütige und so gar nicht rachgierige Benehmen seines Enkels. Wenn der letztere zu mir sagte: ›Nicht also ich bin irr im Kopf, sondern er ist geisteskrank‹, so möchte ich ihm wohl nicht ganz unrecht geben.«

»Wie sonderbar! Auch seine eigene Frau hält ihn zuweilen für geistig irr!«

»Wessen Frau?«

»Des Zauberers Frau. Haben wir noch nicht von ihr gesprochen?«

»Nein, ich erfahre erst in diesem Augenblick, daß er eine Frau hat.«

»Und zwar eine, die bedeutender ist als er. Sie ragt hoch über ihn empor. Ich möchte sagen, daß sie die Seele, er aber nur der Körper ist. Ich verkehre viel mit ihr. Du wirst sie kennenlernen, vielleicht sogar schon heute. Aber sag, was schaust du so erstaunt um dich?«

Diese Frage bezog sich auf eine Beobachtung, die ich erst jetzt machte, weil wir nun in das Innere der Stadt, in ihre bewohnte Gegend, gekommen waren. Hier wurde der Weg, den wir ritten, viel breiter als bisher; zuweilen hörten die Kanäle auf, und es gab freie Plätze, an denen die Wohngebäude der Reichen und Vornehmen standen. Hier hatten sich viel mehr Menschen aufgestellt, als bisher, und unter ihnen bemerkte ich auffallend viel Verletzte, Verunstaltete und Krüppel, die, wenn sie auch nicht zusammen, sondern allein standen, doch infolge einiger Eigentümlichkeiten ihrer Kleidung als zusammengehörig erschienen. Sie hatten nämlich alle sehr hohe, lederne Stiefel an, die denen unserer Kürassiere und Gardereiter glichen. An diesen Stiefeln steckten ungeheure Reitsporen mit riesigen Rädern, die bei jedem Schritt laut klirrten, und darauf schienen diese armen Leute außerordentlich stolz zu sein. Auf dem Rücken trug jeder von ihnen einen schwer gefüllten, rucksackähnlichen Ranzen aus Hundefell. Den Inhalt konnte man nicht sehen. Hierzu kamen zwei eiserne Nachbildungen von Kanonenrohren, auf jeder Achsel eines, natürlich in verkleinertem Maßstab. Die Rohre hatten etwas mehr als die Länge der Achselbreite. Sie ragten also noch ein wenig über die Schultern hinaus, was der betreffenden Person den Ausdruck größerer Körperentwicklung und Kraft verlieh. Man hat sich diesen Schmuck oder diese Auszeichnung so ungefähr als Achselklappe oder Epaulette zu denken, unter der auf der linken Seite in heller Schrift »Wir sterben für« und auf der rechten Seite »den Mir von Ardistan« zu lesen war. Wie ich später sah, gab es nicht nur solche eiserne, sondern auch versilberte und sogar vergoldete Kanonenrohre, je nach der Höhe des Ranges, den diese Leute auf der Stufenreihe ihrer öffentlichen Geltung einnahmen. Alle, die ich während unseres Einzuges hier stehen sah, hatten ein sehr hilfsbedürftiges Aussehen. Dennoch hielt ich sie nicht für gewöhnliche Krüppel, sondern für eine Art von Kriegsinvaliden, die es verdienten, daß man sie achtete. Darum widmete ich ihnen im Vorüberreiten meine besondere Aufmerksamkeit, die von der Frau des Scheichs bemerkt worden war. Daher ihre Frage, warum ich so um mich schaue.

»Dir scheinen unsere Soldaten aufzufallen«, fuhr sie fort.

»Soldaten?« fragte ich. »Du meinst Veteranen, die Gebrechlichen, die Siechen, die Verabschiedeten?«

»O nein! Sie sind Soldaten, wirklich Soldaten!«

»Das heißt, sie sind nicht als invalid zu betrachten? Sie kämpfen noch?«

»Ja, sobald ein Krieg entsteht. Dazu sind sie da. Sie sind es auch, welche das eigentliche Heer bilden werden, wenn es so weit kommt, daß wir den Tschoban entgegenziehen.«

»Und so sind sie es wohl auch, die euch verteidigt haben, so oft ihr von den Tschoban belagert wurdet?«

»Gewiß! Auch das waren sie! Sie sind ja für nichts anderes zu brauchen!«

»So! Hm! Für nichts anderes zu brauchen! Bei euch nimmt man also zum Kriegführen nur Leute, die sonst unbrauchbar sind?«

»Natürlich! Ist das etwa bei euch anders?«

»Ja! Da sucht man grad die besten, die kräftigsten, die gesündesten heraus!«

»Wie schade, jammerschade! Ich habe geglaubt, daß bei euch alles so klug, so weise, so wohlüberlegt gehandhabt wird, und nun erfahre ich von dir gerade das Gegenteil!«

»Kannst du mir beweisen, daß ihr in dieser Sache mehr Klugheit und mehr Überlegung zeigt als wir?«

»Ja! Sofort!«

»So tue es!«

»Sehr gern! Du weißt, es gibt Krieg und es gibt Frieden. Welches von beiden ist der natürliche Zustand, den Gott will und den auch wir wollen?«

»Der Friede.«

»Du gibst also zu, daß der Krieg nur die unglückliche Ausnahme von der glücklichen Regel ist?«

»Ja.«

»Sehr gut! Doch weiter: Es gibt nützliche Menschen und es gibt unnütze, ja, sogar schädliche Menschen. Welcher Zustand von beiden ist der natürliche, der erstrebenswerteste Zustand: nützlich zu sein oder unnütz, wohl gar schädlich zu sein?«

»Der erstere.«

»Wie würdest du wohl einen Menschen nennen, der anstatt das Gute zum Guten und das Nützliche zum Nützlichen zu fügen, das Böse zum Guten und das Schädliche zum Nützlichen gesellt? Würdest du ihn für klug, für weise, für wohlüberlegt halten?«

»Nein.«

»Also gehören die nützlichen Menschen, die gesunden, die arbeitsfähigen, zum Frieden, die andern aber für den Krieg! Es ist eine unverzeihliche Unklugheit und Sünde, grad die Ernährer des Volkes dem Feind entgegenzusenden, damit er sie vernichte! Wir tun das Gegenteil: wir behalten sie daheim ...«

»Und werdet darum fast regelmäßig geschlagen?« warf ich ein.

»Nein! Nicht regelmäßig, sondern nur meist! Aber bedenke, daß die Tschoban nur kommen, um Herden zu stehlen. Ich nehme einmal an, daß sie uns überfallen und uns tausend Ochsen rauben. Ich kann das verhüten, indem ich ihnen zweihundert oder dreihundert junge, kräftige Männer opfere, die im Kampf mit ihnen getötet werden. Effendi, ich sage dir, daß mir die Wahl zwischen diesen tausend Ochsen und den dreihundert Jünglingen nicht schwerfallen kann. Ich werde mit Freuden die Ochsen geben, um die Menschen zu retten! Es kann uns nicht einfallen, dem Mir von Ardistan grad unsere besten und auserwähltesten Leute zu schicken, zumal der Tribut, den er außerdem von uns verlangt, kaum zu erschwingen ist.«

»Ihr zahlt Tribut?« fragte ich.

»Ihr etwa nicht?« fragte sie entgegen.

»Nein«, antwortete ich.

»Wie nennt ihr es sonst?«

»Steuern.«

»Das ist genau dasselbe. Steuern sind erzwungener Tribut. Keiner gibt sie gerne. Werden sie für Werke des Friedens verwendet, so bringen sie Segen. Verlangt man sie aber für den Krieg, so bringen sie Fluch. Die Steuer, die wir dem Mir von Ardistan bezahlen, ist nur für den Krieg. Wir haben genau soviel zu entrichten, wie die Unterhaltung seiner Leibgarde kostet. Diese Leibgarde besteht nur aus hochgewachsenen Ussul, mit denen er prangt und vor denen sich alle fürchten. Die haben wir ihm natürlich auch zu liefern. Wir rechnen also folgendermaßen: Wir haben die Leibgarde und alles zu liefern, was zu ihrer Unterhaltung erforderlich ist; folglich liefern wir nur solche Leute, die wir los sein wollen oder die wir auch hier in der Heimat ohnedies unterhalten müßten, ohne daß wir Nutzen davon hätten. Das sind die Kranken, die äußerlich und innerlich Kranken, die Faulen, die Leichtsinnigen, die Unzuverlässigen, die Lügner, die Diebe. In dieser Weise verhindern wir Verbrechen und ersparen Gefängnisse. Nur darum konnten wir dir versichern, daß kein Ussul dich belügen werde, denn die Schlechten sind bei dem Mir, aber nicht mehr bei uns!«

»Fügen sie sich denn diesem Brauch, Soldat zu werden?«

»Mit Freuden!«

»Und auch körperlich Kranke sendet ihr?«

»Ja. Nur müssen sie die vorgeschriebene hohe Statur besitzen. Es gereicht ihnen fast stets zum Nutzen. Sobald sie aus unsern niedrigliegenden, feuchten Wäldern hinaus in die Sonne und hinauf in die Berge kommen, werden sie gesund. Auch die sittlich Kranken pflegen gesund zu werden. Die Zucht des Mir von Ardistan ist streng. Wer sich nicht fügt, der geht zugrunde. Daher kommt es, daß alle diejenigen Leibgardisten, die er auf ihren Wunsch ausscheidet und in die Heimat schickt, sehr brauchbar gewordene und bewährte Menschen sind, die ihren Stolz dareinsetzen, hier bei uns geachtet zu werden. Wir haben es für vorteilhaft gehalten, aus ihnen unser kleines, stehendes Heer zu bilden, und ich bin überzeugt, daß du uns sehr bald dafür loben wirst. Du wirst eine ganze Kompagnie von ihnen sehen, die bereitsteht, uns zu empfangen, denn unsere Ankunft ist gemeldet worden. Nur noch zwei Minuten, so sind wir am Palast. Erlaube mir, mich wieder zum Scheich zu gesellen!«

Sie trieb ihr Pferd an und befand sich nach wenigen Augenblicken an der Seite ihres Gemahls. Ich war nun wieder mit Halef allein in Reih und Glied. Dieses Glied im Zug nahm allerdings beträchtlich mehr Raum ein als die andern Glieder, und zwar wegen der Hunde. Man traute ihnen nicht. Voran ritt der Scheich mit seiner Frau; dann folgte die Hälfte der Ältesten; hierauf kamen wir beide. Hinter uns hatten wir die andere Hälfte der Ältesten, denen sich der übrige Zug mit der abschließenden Menge Schaulustiger anfügte. Die vordere Hälfte beeilte sich derart, aus der Nähe der Hunde zu kommen, und die hintere Hälfte zögerte so sehr, sich ihnen zu nähern, daß ich mit Halef mitten in einer großen Lücke ritt, die sich nicht schließen wollte. Die Leute, an denen wir vorüberkamen, konnten uns also sehr bequem und deutlich von allen Seiten betrachten. Der Eindruck, den wir hervorriefen, schien keineswegs ein solcher zu sein, daß wir uns etwas auf ihn zugute tun durften. Wir und unsere Pferde waren ihnen zu klein. Man konnte das ihren Bewegungen entnehmen, die eine Enttäuschung aussprachen. Die Kunde von uns war uns vorausgeeilt. Was Halef von uns erzählt und berichtet hatte, war höchstwahrscheinlich schon überall bekannt. Und nun konnten diese guten Menschen, die gewohnt waren, nur nach der Körpergröße zu urteilen, das, was sie gehört hatten, mit unsern kleinen, zerbrechlich erscheinenden Gestalten nicht in Einklang bringen.

Jetzt tauchten vor uns zwei große, turmartige Bauwerke auf, die um so massiger zu werden schienen, je mehr wir uns ihnen näherten. Unser bisheriger Weg nahm ein Ende. Er mündete auf einem großen, freiliegenden Platz von genau quadratischer Form. Die uns gegenüberliegende Seite wurde vom Fluß begrenzt und schien den Hauptlandeplatz zu bilden. An den beiden übrigen Seiten, also rechts und links von uns, standen die erwähnten Türme, die einander vollständig glichen, nur daß der eine Fenster hatte, der andere aber nicht. Sie bildeten genau nach dem Zirkel gebaute Mauerringe im äußern Durchmesser von vielleicht hundertfünfzig Schritten. Die Höhe der Mauer betrug ungefähr zwanzig Meter; aber die Höhe der Türme war viel beträchtlicher, denn aus der Mauer stiegen viele aus sehr starken Holzstämmen gezimmerte Säulen empor, welche das Dach trugen. Dieses Dach zeigte die Form eines riesigen Regenschirmes, dessen Stock aus den stärksten Bäumen zusammengesetzt war und im Innern der Türme genau auf dem Mittelpunkt des Kreises stand. An diesem Stock führte eine aus einzelnen Gliedern bestehende Holztreppe nach der Höhe empor, nach einer kleinen, mit Geländer versehenen Plattform, die hoch oben auf der Spitze des Schirmdaches lag. Die Säulen, auf welchen das Dach ruhte, waren nicht durch Zwischenwände verbunden, sondern standen frei und ließen eine solche Fülle des Lichtes in das Innere fallen, daß man auf Fenster allerdings verzichten konnte. Dennoch war das Innere vollständig gegen den Regen geschützt, weil das Dach rundum weit über die Mauer hinausgriff und dadurch den Regen verhinderte, hineinzufallen. Auch die beiden sehr hohen und breiten Tore glichen einander vollständig; sie besaßen die allereinfachste Steinrahmung und enthielten keine Spur eines künstlerischen Schmuckes oder Gedankens.

Der Turm rechts von uns, der nur die nackte Mauer und kein einziges Fenster zeigte, war der sogenannte »Tempel«; der andere, zur Linken von uns liegend, war der »Palast«. Letzterer hatte rundum vier Reihen von Fensteröffnungen, aber klein, schießschartenähnlich und ohne Glas und Rahmen. Dieser Turm war innerlich ausgebaut, mit Balken und Wänden von Holz. Die Zimmer, Stuben, Gemächer oder wie man sie sonst nennen will, lehnten sich an die Mauer. Jedes von ihnen hatte ein, zwei oder auch mehrere Fenster. Es gab auch einige größere Räume, welche als Säle dienten. Diese Zimmer füllten aber nicht den ganzen Innenraum, sondern es blieb in der Mitte, also um den Stock des Regenschirmes herum, ein freier Platz, so eine Art Innenhof, auf dem sich zwei mächtige Feuerherde befanden. Die auf dem Boden liegenden Matten und Kissen deuteten darauf hin, daß er bei schlechtem Wetter die Versammlungs-, Beratungs- und Unterhaltungshalle bilde.

So viel über den Tempel und den Palast der Ussul. Es hatte ihnen genügt, zwei steinerne Gebäude von dieser Größe zu besitzen. Von einer Architektonik war keine Rede. Aber diese Türme wirkten doch und zwar gerade durch ihren Mangel an Ausdruck und Geist. Man sah, dieses Volk hatte architektonisch reden wollen, aber es nicht vermocht und es nur zu diesem einen gewaltigen Schrei, zu diesem einen, großen, unartikulierten Ausruf gebracht; dann war es in das frühere Schweigen zurückversunken und fortan stumm geblieben. Stumm, vollständig stumm? Doch nein! Ein zweiter Versuch war noch gemacht worden, wenn auch nicht auf architektonischem, sondern auf mehr rein plastischem Gebiet. Nämlich zwischen den breiten Turmmassiven, gerade auf dem Mittelpunkt des freien Platzes, an dem sie lagen, stand auf einem hohen Backsteinunterbau die nicht ganz übel gelungene Statue eines gesattelten Pferdes, welches aus starken Holzteilen zusammengesetzt und dann durch Farbe vor den zerstörenden Angriffen der Witterung geschützt worden war.

Massig, schwer und wohlbeleibt, so stand das Pferd hier auf seinem Postament. Es war, wie gesagt, nicht übel geraten, doch wenn man den Kopf nur ein ganz wenig veränderte und hüben und drüben ein Horn ansetzte, so war es ein Ochse. Aber daß es keinen Ochsen, sondern ein Pferd vorstellen sollte, ersah man schon daraus, daß es einen Reiter trug, wenigstens grad in dem Augenblick, als wir den Platz erreichten. Dieser Reiter war lebensgroß, das heißt, nach den Maßen der Ussul. Das Pferd aber war überlebensgroß, und darum erschien der Reiter viel zu klein für dieses außerordentlich wohlbeleibte Roß. Man fragte sich, wie der Künstler auf so ein Mißverhältnis hatte kommen können. Und auch über einen noch anderen Punkt war man sich bei Betrachtung dieses Denkmales nicht klar, nämlich über das Material, aus dem man den Reiter verfertigt hatte. Das Pferd bestand, wie bereits gesagt, aus Holz. Der Stoff aber, aus dem die darauf sitzende Gestalt bestand, war nicht zu erkennen, denn die Figur war vollständig bekleidet und mit wirklichen Kleidungsstücken angetan. Auch das Gesicht verriet das Material nicht, weil ein riesiger Bart die Züge unkenntlich machte. Auf dem Kopf des Reiters saß ein heller, großer, indisch gewundener Turban mit einem sehr hohen Agraffenbusch aus Reiherfedern. Die Gestalt war in eine Art von Krönungsmantel eingehüllt, der aus rotem Zeug gefertigt, am Kragen und längs des unteren Saumes mit weißem Pelz besetzt war. Infolge der großen Länge und Weite dieses Mantels bedeckte er nicht nur die ganze Figur des Reiters, sondern auch noch den hinteren Teil des Pferdeleibes; man sah nicht einmal die Steigbügel mit den Füßen.

»Ein Denkmal!« sagte Halef erstaunt. »Hier bei den Ussul! Also von Kunst haben sie auch etwas. Wer hätte das gedacht! Den Reiter sehe ich mir noch genauer an. Wie schade um den schönen roten Mantel und um den weißen Turban mit dem Federbusch, wenn es regnet! Jetzt haben wir leider keine Zeit dazu, ihn aufmerksam zu betrachten!«

Das war richtig. Denn der Scheich hatte, sobald die beiden Türme in Sicht kamen, sein Pferd in Trab gesetzt, und wir mußten in demselben Tempo folgen. Er wollte hierdurch den Eindruck erhöhen, den wir zu machen harten. War doch der große Platz ebenso wie seine Umgebung mit einer bedeutenden Menschenmenge derart angefüllt, daß wir nur noch Raum für uns und die Ältesten fanden, um hindurch zu gelangen; die übrigen mußten bleiben, wo sie waren.

Alles war still. Diese Schweigsamkeit war mehr als musterhaft zu nennen; sie hatte etwas Enttäuschendes, fast gar Beängstigendes. Doch fiel sie nur uns beiden Fremden auf; die Einheimischen waren das gewohnt. Übrigens wurden wir zwei durch das rund um uns her vorhandene Menschengedränge nicht im geringsten belästigt. Man hielt sich der Hunde wegen in möglichst großer Entfernung von uns.

Als wir uns dem Tor des Palastes näherten, sahen wir zu beiden Seiten desselben je eine Kanone; bei jeder standen vier Soldaten von der bereits beschriebenen Art. Der eine hielt die brennende Lunte, der zweite den Schrupper zum Auswischen des Rohres, der dritte und der vierte einen Sack voll Pulver und das Zündkraut bereit. Seitwärts war die »ganze Kompagnie« Soldaten aufmarschiert, von der die Frau des Scheichs gesprochen hatte. Wir hielten nahe vor ihrer Front an, um den militärischen Pomp zu genießen, den man uns zugedacht hatte. Der Scheich und seine Frau hielten sich neben uns, um uns nötigenfalls Auskunft zu erteilen. Die Kompagnie zählte vierzig Mann, die mit langen Schleppsäbeln und Feuersteingewehren ausgerüstet waren. Sie bildeten nicht eine Doppel-, sondern eine einfache Linie. Das war länger und imponierte also mehr. Diese Leute waren alle barhaupt, hatten aber die schon erwähnten hohen Reiterstiefel mit mächtigen Sporen an und den gewaltigen, wohlgefüllten Rucksack auf dem Rücken. Es gab da alle möglichen Blessuren, Verwundungen und Krüppelhaftigkeiten zu sehen: ein- und anderthalbbeinige, ein- und anderthalbarmige Leute. Da war kaum ein Körperteil oder Sinneswerkzeug, das nicht bei einem oder einigen entweder fehlte oder doch wenigstens verletzt worden war. Aber sie standen alle höchst wohlgenährt und stramm in Reih und Glied, und als sie nun zu exerzieren begannen, waren ihre Bewegungen so frisch und lebhaft, daß man sah, sie seien mit ganzem Herzen bei der Sache. Zwei waren um einen Schritt vor die Front herausgerückt; sie trugen kein Gewehr, sondern hielten den gezogenen Säbel in der Hand.

»Das sind die Leutnants«, erklärte mir der Scheich. »Du siehst, ihre Kanonenrohre auf der Achsel sind nicht schwarz, sondern versilbert.«

Einer stand noch weiter voraus, grad in der Mitte. Der hatte auch einen Säbel, aber hochrote Achselrohre.

»Wer ist das?« fragte ich.

»Das ist der Oberst«, belehrte er mich.

»Da fehlen doch der Oberleutnant, der Hauptmann, der Major, und andere!«

»Ja, die fehlen allerdings«, gestand er ein. »Die haben wir nicht, weil uns das viel zu viel Geld kosten würde.«

»Aber ich habe nur von eisernen, von versilberten und vergoldeten Achselrohren gehört, nicht aber von roten!«

»Ja, das ist auch richtig! Als Oberst müßte er eigentlich vergoldete haben, die aber waren mir zu teuer. Da habe ich sie ihm rot anstreichen lassen, und ich finde, daß sie ganz gut aussehen. Er freute sich sogar selbst darüber und sagte, das sei noch niemals dagewesen. Weißt du, Soldaten haben, ist eigentlich gar nicht übel. Man kann dann doch zeigen, wer man ist. Aber sobald es aufhört, einträglich zu sein, und anfängt, Geld zu kosten, so will ich lieber verzichten! Man kann sich doch ganz unmöglich große Kosten machen, um Leute zu erhalten, die im Grunde genommen nur dazu da sind, andere umzubringen! Doch merkt jetzt auf! Das Schießen beginnt! Zunächst mit Kanonen! Alles euch zu Ehren!«

Er hatte diese seine Ansicht über die Daseinsberechtigung des Soldatenstandes in einem so unbefangenen, ehrlichen Ton ausgesprochen, als ob man überhaupt gar nicht anders denken könne. Halef, dem der Anblick von Truppen stets Freude bereitete, lächelte mich heimlich an. Ich antwortete nicht. Was ich hier zu entgegnen hatte, konnte ich später viel besser sagen als jetzt, wo augenscheinlich sehr große Dinge vorbereitet wurden. Der Oberst wendete sich den Kanonieren zu, hob den Säbel hoch und rief:

»Paßt auf!«

Um zu zeigen, daß sie dieses Kommandowort auf sich bezogen und auch erfüllen wollten, warf jeder der acht Feuerwerker den Kopf so weit wie möglich in den Nacken.

»Laden!« befahl der Oberst.

Kaum hatte er das gesagt, so sprangen die acht Artilleristen mit einem Eifer auf die Geschütze ein, als wollten sie die ganze Welt in Grund und Boden schießen. Wer nicht wußte, um was es sich handelte, der hätte glauben können, daß es ihre Absicht sei, einen Kriegstanz oder Ringelreigen aufzuführen. Dabei wurde gestoßen, geschoben, geklopft, gepocht, geschüttelt, gerüttelt, gewischt, geächzt, gestöhnt, gestrampelt und gesprungen, daß ihnen der Schweiß aus allen Poren brach.

»Es wird Großartiges geleistet!« rief der Scheich voll Anerkennung aus, zu mir gewendet. »Zehn Schüsse! Bedenke, zehn Schüsse! Wie teuer! Und alles euch zu Ehren!«

Endlich standen die Kanoniere wieder still. Der Mann mit der Lunte blies diese kräftig an.

»Paßt auf!« befahl der Oberst wieder.

Abermals flogen die Köpfe hintenüber. Die Menge aber, auf welche die Läufe gerichtet waren, duckte sich unwillkürlich.

»Feuer!« brüllte der Oberst mit aller Macht.

Da tippte der Mann mit der Lunte die Kanone von hinten an, einmal – zweimal – vier- und fünfmal – doch vergebens! Und genau wie bei der einen, war es auch bei der anderen Kanone! Es fiel weder der einen noch der anderen ein, zu tun, was ihnen zugemutet wurde.

»Was ist denn das?« fragte der Kommandeur.

»Es geht nicht los!« antworteten die beiden Luntenleute.

»Warum denn nicht?«

»Das Pulver ist ganz naß!« erklärte der eine, und der andere fügte hinzu: »So habe ich also recht? Ich habe gleich von allem Anfang gesagt, daß es nicht zünden wird! Du wolltest es aber nicht glauben!«

Dieser Vorwurf war an den Obersten gerichtet. Der warf einen verlegenen Blick auf den Scheich und klagte:

»Es ist ein wahres Unglück mit dem ewig nassen Pulver hier in diesem feuchten Land! Was kann man da tun? Was soll ich machen?«

Da wendete sich der Scheich an mich:

»Du weißt, daß die Schüsse nur euch gewidmet sind. Und du hörst, daß das Pulver nicht Feuer fangen will. Bestehst du auf den zehn Schüssen, die ich dir versprochen habe, so müssen wir es trocknen!«

»Wie lange dauert das?« erkundigte ich mich.

»Drei oder vier Tage.«

»So bitte ich dich, diese tapfere Artillerie ja nicht unnütz zu bemühen! Denn das Pulver würde ja doch wieder feucht.«

»Allerdings. Du bist also bereit, zu verzichten?«

»Ja.«

»Ich danke dir! Zehn Schüsse kosten doch immerhin Geld.«

Er sagte das so laut, daß auch die Soldaten es hörten. Darum rief nun der Oberst zu ihm herüber:

»So sind wir mit der Batterie wohl fertig?«

»Ja«, nickte der Scheich.

»Und das Exerzieren der abgestiegenen Gardereiter kann beginnen?«

»Ja.«

Jetzt wendete sich der Oberst der langen Linie zu und donnerte sie an:

»Paßt auf!«

Ein jeder von ihnen gab sich einen kräftigen Ruck, um dem Befehle nachzukommen. Hierauf folgten höchst eindrucksvolle Bemühungen, um zu zeigen, wie man einen Menschen totschießt. Die Sache wurde sehr anschaulich gemacht. Das Pulver schien hier bedeutend trockener zu sein als bei der Artillerie, denn von den vierzig Gewehren gingen ungefähr zwanzig bis fünfundzwanzig wirklich los, wenn auch nicht zugleich. Immerhin ergaben jene Flinten, die nicht losgingen, eine Pulvereinsparung von über vierzig Prozent, was den Scheich in eine derartige gute Laune versetzte, daß er immerfort schallend Beifall rief.

Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in seine Begeisterung einstimmte. Halef gab sich alle Mühe, ihn und mich zu überschreien. So wurden auch die Ältesten angesteckt, daß sie anfingen, mitzuschreien. Und nun öffnete auch Smihk, der Dicke, sein Maul und brüllte in allen möglichen Tönen mit, daß es über den ganzen weiten Platz erschallte. Das wirkte überwältigend. In der Menge wurden erst einige und dann immer mehr mit fortgerissen, bis sich endlich alles an dem Heidenlärm beteiligte. Das ergab einen Spektakel, der gar kein Ende nehmen wollte. Alles war entzückt. Und als sich das Getöse endlich zu legen begann, schritt der Oberst in seiner stolzesten Haltung auf uns zu, machte Honneur und fragte den Scheich:

»Bist du zufrieden?«

»Ja«, antwortete dieser.

»Und du?« wurde ich gefragt.

»Sehr zufrieden! Sage deinen tapfern Truppen, daß ich mich über sie freue!«

»Und du?« wendete er sich nun auch an Halef.

»Ich bewundere euch!« lobte dieser. »Ich bitte dich, deinem Heere zu berichten, daß wir es für unüberwindlich halten!«

Der Kommandant kehrte zu seinen Leuten zurück, um ihnen diese Anerkennung mitzuteilen. Über dieses Lob waren sie so erfreut, daß die »abgesessenen Gardereiter« diejenigen Flinten, die losgingen, noch einmal abschossen, ohne den Befehl hierzu erhalten zu haben. Auch die beiden Luntenträger von der Artillerie machten noch einen sehr ernstlichen Versuch, ihr feuchtes Pulver anzuzünden. Aber es gelang nicht. Und nun war der feierliche Empfang vorüber. Ich bedankte mich bei dem Scheich und seiner Frau für die ungewöhnliche Ehrung. Halef folgte meinem Beispiel, und dann wurden wir gebeten, von den Pferden abzusteigen und mit in das Innere des Palastes zu gehen, um den »Willkommen« zu essen und zu trinken. Ich bedeutete den Hunden, bei den Pferden zu bleiben; sie verstanden mich sogleich, setzten sich nieder und blieben bis zu unserer Rückkehr sitzen.

Das Innere des Palastes sah beinahe wie ein Zirkus aus, in dem man sich nur auf der runden, in der Mitte liegenden Arena bewegen kann, weil der ganze Zuschauerraum ringsum von unten bis oben mit Brettern verschlagen ist. Hinter diesen Brettern lagen die ein-, zwei- oder mehrfensterigen Stuben und Räume, von denen ich bereits gesprochen habe; zu den oberen führten schmale Holztreppen empor. Der Mittelplatz, zu dem man uns geleitete, erhielt sein Licht nur von oben. Auf den beiden Herden brannten mächtige Holzfeuer, an denen mehrere Rinderviertel und kleinere Fleischstücke brieten. Gekocht wurde in großen, irdenen Töpfen. Auch gebacken wurde, und zwar lange, schmale Brote, die beinahe so dünn wie Kuchen waren.

»Großartig, Sihdi! Großartig!« sagte Halef entzückt, indem er mit der Zunge schnalzte.

Ihm bereitete nämlich der Geruch und Genuß von neugebackenem Brot das denkbar größte Behagen.

»Was meinst du da, das Fleisch oder das Brot?« fragte Taldscha, als sie seine Worte hörte.

»Das Brot!« antwortete er und machte dabei ein Gesicht, das in lauter Wonne glänzte.

Sie lachte und sprach:

»Des Brotes wegen haben wir euch ja in dieses Haus geführt. Ihr sollt den ›Willkommen‹ essen, und der besteht aus Salz und Brot. Erlaubt, daß ich euch gebe!«

Sie ging an den Herd, auf dem die noch warmen, duftenden Brote lagen, bestreute eines mit Salz und brach es dann für uns vier Personen in ebenso viele Teile. Die üblichen Worte, die sich auf die Rechte und Pflichten des Wirtes und des Gastes beziehen, wurden gegenseitig gewechselt, und dann aß jeder seinen Bissen.

»Noch ein Stück, aber ein ganzes!« bat Halef.

Taldscha erfüllte diesen Wunsch mit Wonne, sah lächelnd zu mir herüber und fragte:

»Auch du noch eins, Effendi?«

»Ja, bitte, auch ein ganzes!« antwortete ich.

Sie holte uns das Gewünschte. Da setzte sich Halef gleich auf den ersten besten Bastdeckel nieder, der an der Erde lag, und begann zu schmausen.

»Komm, Sihdi!« sagte er, indem er ein wenig zur Seite rückte, um mir Platz zu bieten. »Setz dich mit her! Ich stehe nicht eher wieder auf, als bis ich fertig bin!«

Ich folgte dieser Aufforderung ungesäumt. Das war allerdings im höchsten Grade unzeremoniell gehandelt, aber der Scheich und seine Gattin freuten sich darüber, und später äußerte man sich meinem kleinen Hadschi gegenüber, daß wir uns durch die ungezwungene Aufrichtigkeit, mit der wir ihre Backkunst ehrten, die Herzen aller Anwesenden im Nu gewonnen hätten.

Hierauf entfernte sich Taldscha für kurze Zeit. Als sie zurückkehrte, hatte sie einen großen Steinkrug in der einen und vier kleine, chinesische Porzellantäßchen in der andern Hand. Die letzteren gehörten jedenfalls zu ihrem kostbarsten Besitz.

»Der ›Willkommen‹ wird bekanntlich nicht nur gegessen, sondern auch getrunken«, sagte sie. »Ich bringe euch also auch den Simmsemm, der hierbei üblich ist.«

Sowohl Simm wie Semm heißt: Gift; Simmsemm bedeutet also Doppelgift. Das klang nicht sehr verführerisch. Die Flüssigkeit, die sie in die Täßchen goß, war durchsichtig hell und roch sehr stark nach Spiritus. Der Scheich sprach einige begrüßende und bewillkommnende Worte und trank sodann seine Tasse in einem Zug aus. Halef antwortete ihm in seiner höflichen Weise und schluckte dann das Zeug ebenfalls mit einem Male hinab. Ein gewaltiger Hustenanfall war die Folge. Auch Taldscha trank aus; ich sah aber, daß sie sich nur sehr wenig eingegossen hatte. Leider durfte ich dieses messerscharfe Getränk nicht fortschütten; es mußte getrunken werden, weil es eben der »Willkommen« war. Ich tat es so langsam wie möglich und darf der Wahrheit gemäß gestehen, daß ich bis hierher noch niemals etwas so ätzend Widerliches getrunken hatte.

»Verzeihung, o Scheich!« bat Halef, als er seinen Hustenanfall überwunden und die ihm aus den Augen perlenden Tränen abgetrocknet hatte. »Ich habe keineswegs die Absicht, diese Art, uns willkommen zu heißen, zu tadeln, aber ich muß dich wenigstens bitten, mir zu sagen, was für ein Höllentrank und Teufelswasser das ist, damit ich es später verhüte, mein Inneres nach außen und mein Äußeres nach innen wenden zu müssen!«

»Das ist Simmsemm«, antwortete der Gefragte. »Ihr habt den Namen bereits gehört. Dieser Trank wird aus viel Getreide und wenig Wurzelwerk gemacht und pflegt nur starken Leuten zu bekommen. Ich trinke ihn sehr gern!«

»Leider ja!« tadelte seine Frau, indem sie freundlich warnend den Finger hob. »Wer seinen Stamm dadurch glücklich machen will, daß er ihm mit gutem Beispiel vorangeht, der darf solches Zeug nicht trinken. Gott hat dem Menschen das Getreide gegeben, daß er das Brot, nicht aber Gift daraus bereite. Wer seinem Nächsten Gift anstatt des Brotes gibt, der tut, was er nicht soll! Wie gut schmeckt euch dieses Brot, und wie wohl wird es euch bekommen! Wie häßlich dagegen schmeckt dieser Simmsemm, der jeden, der ihn oft genießt, in bösen Rausch oder schlimme Krankheit stürzt! Und doch sind beide, der Segen und der Fluch, aus ganz denselben Früchten und Körnern gemacht! Hast du schon einmal hierüber nachgedacht, Effendi?«

»Schon oft, schon oft!« antwortete ich.

»Wie mag es nur kommen, daß der Mensch sich so energisch bemüht, den Segen, den Gott ihm sendet, in Fluch zu verwandeln? Und hat er das getan, so pflegt er dieses Werk noch dadurch zu krönen, daß er den Fluch als Genuß empfindet! Sogar Amihn, der berühmte Scheich der Ussul, hat soeben eingestanden, daß auch er ihn gern trinke!«

Die letzten Worte wurden in scherzhafter Weise gesprochen, waren aber ernsthaft gemeint, und so kam es dem Scheich sehr gelegen, daß wir unser Brot mittlerweile gegessen hatten und es ihm nun erlaubt war, dieses ihm nicht ganz behagliche Thema abzubrechen.

»Der Willkommen ist vorüber«, sagte er; »ich werde euch nun nach eurer Wohnung führen. Sie liegt nicht hier im Schloß, sondern in einiger Entfernung von ihm am Strom.«

»Wir taten das zu eurer Bequemlichkeit«, erklärte seine Frau, um dem Verdacht zu begegnen, daß es ihnen an der uns schuldigen Achtung fehle. »Der immerwährende Lärm des Palastes würde euch in eurem Wohlbefinden stören; auch wäre es für euch nicht möglich, eure Pferde bei euch zu haben. Darum werden wir euch nach einem ruhigen und bequemen Haus bringen, wo es euch besser gefallen wird, als hier bei uns. Ich gehe mit.«

Wir verließen also den allerdings sehr geräuschvollen Palast und kehrten zu unsern Pferden zurück. Die Menschenmenge war inzwischen beinahe verschwunden. Es gab nur noch einige kleine Gruppen, die stehengeblieben waren, um uns vor Nacht doch vielleicht noch einmal sehen zu können. Indem wir unsere Blicke über den Platz und die Leute schweifen ließen, rief Halef plötzlich mit einem lauten Schrei der Überraschung:

»Maschallah! Was sehen meine Augen? Es geschehen hier Zeichen und Wunder!«

Er deutete nach dem Reiterstandbild. Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Arm nach dieser Richtung, und nun sah ich, daß der Reiter sich auf dem Pferd zu bewegen begann. Er schlug den langen Mantel auseinander und ließ ihn auf das Postament herunterfallen. Dann bückte er sich um, erst nach rechts und links, hierauf hinter sich. Bisher hatte er vollständig unbeweglich nur immer grad vor sich hingestarrt. Als er sich nun aber überzeugte, daß der Platz vollständig leer geworden war, hielt er es für überflüssig, länger sitzen zu bleiben. Er zog das rechte Bein nach hinten in die Höhe, schwang es über das Pferd herüber und kletterte dann zur linken Seite auf den Ziegelunterbau herab.

»Der lebt! Der lebt!« rief Halef aus. Er fühlte sich so urkomisch berührt, daß er zu lachen begann. »Der lebt! Der lebt! Ein lebender Reiter auf einem hölzernen Pferd!«

Er lachte immer lauter und lauter. Ich mußte mich stark beherrschen, um nicht mitzulachen.

»Was gibt es da, sich zu wundern?« fragte der Scheich, halb erstaunt und halb beleidigt. »Welche Kunst ist wohl größer, Menschen oder Holz in Bildsäulen zu verwandeln?«

Diese Frage verblüffte Halef. Er begriff, daß sein Lachen beleidigend war. Nun senkte er den Blick und schämte sich. Gleich aber sah er wieder empor, wobei er in seiner aufrichtigen, freimütigen Weise antwortete:

»Verzeihe, o Scheich! Aber ich habe so etwas wirklich noch nie gesehen!«

»So bist du also gewohnt, zu lachen, wenn du etwas siehst, was du noch nie gesehen hast? Da werde ich dir hier bei uns fast gar nichts zeigen dürfen, denn du würdest da sehr wahrscheinlich so viel Unbekanntes sehen, daß dein Lachen gar nicht zu Ende käme!«

Dieser Hieb saß fest, aber Halef war viel zu stolz, sich dies merken zu lassen. Er tat, als ob er nicht getadelt, sondern gelobt worden sei, und fragte:

»Was aber hat denn diese ganze, sonderbare Sache vorzustellen?«

»Eine Übereilung – weiter nichts«, antwortete Taldscha an Stelle ihres Mannes. »So oft Fremde zu uns kommen, oder ein Ussul aus der Ferne zur Heimat zurückkehrte, hörten wir, daß andere Völker ihre berühmten und verdienten Männer dadurch ehren, daß sie ihnen ein Denkmal setzen. Es soll sogar vorkommen, daß man Personen ein Denkmal stiftet, die sich weder Berühmtheit noch Verdienste erworben haben. Da begannen die Ussul, sich zu schämen. Sie glaubten, schon viele große und verdiente Männer gehabt zu haben, aber keinem einzigen unter ihnen war noch ein Standbild errichtet worden. Darum traten die Ältesten zusammen, um hierüber zu beraten. Es wurde beschlossen, diese schöne Sitte mitzumachen und jedem berühmten und verdienstvollen Verstorbenen aus dem Volk der Ussul ein Reiterbild zu setzen, ganz gleich, ob er ein schlechter oder ein guter Reiter gewesen war. Die Hauptsache ist doch nicht das Reiten, sondern das Verdienst, welches man ehren will. Es verstand sich ganz von selbst, daß man mit der Reihe der Scheichs beginnen mußte und erst später die anderen großen Geister zu bringen hatte. Es wurden zwei Ausschüsse gebildet, nämlich ein erster Ausschuß für die Erbauung des Denkmals im besonderen und ein zweiter Ausschuß für die Feststellung der Reihenfolge, in welcher die Abzubildenden einander zu folgen hatten, denn es galt, in dieser Beziehung die Berühmtheit und die Verdienste eines jeden einzelnen mit peinlichster Gewissenhaftigkeit gegen die anderen abzuwägen, damit ein jeder genau an die Stelle komme, die ihm gebühre. Also handelte es sich zunächst darum, welcher Scheich der größte, der berühmteste und der verdienteste sei, denn nur mit diesem durfte man beginnen. Während der zweite Ausschuß mit den Vorarbeiten und Studien begann, welche zu einer ebenso gerechten wie bestimmten Ausführung einer solchen Wahl erforderlich sind, ging auch der erste Ausschuß an seine Arbeit, indem er den Sockel für die erste Säule errichtete. Als dieser fertig war, hatte sich der zweite Ausschuß noch nicht über den Reiter geeinigt, sondern nur erst über das Pferd. Darum wurde weitergebaut. Man begann mit dem Pferd. Als dieses vollendet auf dem Platz stand, war der andere Ausschuß zu der Überzeugung gekommen, daß man grad dem allerberühmtesten Scheich kein Denkmal setzen könne, weil er ganz ohne Verdienste sei und vielmehr sein Volk an den Rand des Abgrundes gebracht habe. Auch gab es mehrere Ussul, die zwar keine Scheichs gewesen waren, aber an Berühmtheit und guten Werken hoch über ihm standen. Nun begannen Spaltungen, die immer weiter griffen und sich über den ganzen Stamm verbreiteten. Der eine wollte Denkmäler nur für Krieger, der zweite hingegen nur für friedliche Leute; der dritte war für beide. Der vierte verlangte Pferde, der fünfte keine. Der sechste forderte diese, der siebente die andere Reihenfolge. Der achte – doch kurz und gut, seit das Pferd hier auf dem Platz stand, glaubte jedermann, daß entweder einer seiner Ahnen oder gar er selbst, natürlich erst nach seinem Tode, hinaufzusetzen sei. Es herrschte so viel Zank und Streit und Haß und Zorn, wie es noch nie gegeben hatte. Wir Frauen kannten unsere Männer und Söhne gar nicht mehr. Es gab nur noch Wüteriche, Besessene und Narren. Da traten wir Frauen zusammen. Wir bildeten auch zwei Ausschüsse. Der erste Ausschuß hatte nachzuweisen, wie alle diese berühmten und verdienten Männer aussehen, wenn sie von Frau und Kind betrachtet werden. Der zweite Ausschuß verlangte, daß an Stelle dieser entlarvten Berühmtheiten nur brave und verdiente Frauen Denkmäler zu bekommen haben, und hatte zugleich nach solchen Frauen zu forschen. Da stellte es sich denn sehr bald heraus, daß es viele Tausende gab, die es verdienten, auf einen Sockel gestellt zu werden, und es wurde schleunigst damit begonnen, die Reihenfolge unter ihnen festzustellen. Jetzt gingen den Männern die Augen auf. Sie erkannten an der Dummheit ihrer Weiber, wie dumm sie selbst gewesen seien, und waren gern bereit, den Frieden zwischen dem männlichen und dem weiblichen Heerlager wieder herzustellen. Die zwei Ausschüsse von hüben traten mit den zwei Ausschüssen von drüben zusammen. Es wurde nun mit Verstand und Herz beraten, und da fand man denn, daß es bei den Ussul noch niemals weder eine männliche noch eine weibliche Person gegeben habe, die es verdient hätte, durch ein Denkmal hoch über die anderen, die keines bekommen, erhoben zu werden. Da hieraus zu schließen war, daß sich auch fernerhin niemand finden werde, der in dieser Weise auszuzeichnen sei, so wurde allerseits beschlossen und genehmigt, von der Errichtung von Denkmälern im Land der Ussul für alle Zukunft überhaupt abzusehen.«

»Aber, hier steht doch noch das Pferd! Und heute saß einer darauf!« warf Halef ein.

»Ja«, lächelte sie, »das Pferd steht noch. Meinst du etwa, daß wir es hätten wegreißen und verbrennen sollen?«

»Ja; denn es hat keinen Zweck mehr.«

»O doch! Wir ließen es als ein Erinnerungszeichen an unsere Torheit stehen. Das ist doch wohl ein Zweck, und zwar ein guter! Und zu diesem gesellte sich sehr bald ein zweiter. Kurze Zeit, nachdem wir klug geworden waren, forderte der damalige Mir von Ardistan, daß man ihm in allen ihm untertänigen oder tributpflichtigen Reichen und Provinzen ein Denkmal zu errichten habe. Auch wir waren hierzu verpflichtet. Wir berieten und beschlossen, ihm nicht eine gewöhnliche Fußfigur, sondern ein erhabenes Reiterstandbild zu errichten. Das Pferd war ja schon da! So wurden Kosten erspart. Und zweitens beschlossen wir, ihm nicht eine tote Figur, sondern eine wirkliche, lebendige Gestalt zu geben. Tote Figuren sind außerordentlich teuer; Menschen aber hat man überall ganz oder fast umsonst. Wir verzichteten also darauf, uns Künstler und Steine aus der Ferne kommen zu lassen, und verpflichteten den längsten und breitesten Ussul, der sich finden ließ, als Mir von Ardistan. Er bekam einen roten Mantel mit weißen Rändern und einen großen Turban mit Reiherfedern. Lohn beansprucht er dafür nicht; er tut es um die Ehre. So oft, wie heute bei eurem Einzug, die Gelegenheit ist, mit unserm Mir von Ardistan zu glänzen, setzt dieser Mann den Turban auf, wirft sich den Mantel um und steigt auf das Pferd. Da bleibt er sitzen, bis die festlichen Augenblicke vorüber sind, und steigt dann wieder herab. Hat er seine Sache gut gemacht, und jede Bewegung vermieden, so daß man ihn wirklich für eine leblose Figur halten konnte, so wird er hierfür besonders ausgezeichnet, indem wir ihm erlauben, am Festessen teilzunehmen. Hat er aber Fehler gemacht, so wird ihm diese Ehre versagt. Seht! Da ist er abgestiegen. Nun steht er da und wartet, ob wir ihn einladen werden oder nicht.«

»Wirst du es tun?« fragte Halef.

»Ja, denn er hat sich heute sehr gut gehalten. Den außerordentlich langen Säbel, der an seiner Seite hängt, hat er sich selbst besorgt. Er sagt, dies gehöre zu seiner hohen Würde. Er hat sich nämlich so in die ›hohe Würde‹, die er darzustellen hat, hineingelebt, daß er sie bereits für seine eigene hält und sich auch dann als Mir von Ardistan gebärdet, wenn er nicht auf dem Pferd sitzt. Man sagt deshalb, er sei im Kopfe irr geworden. Besonders scheinen ihn die verschiedenen Palmen-, Lotos-, Löwen-, Tiger- und andere Orden, die er auf seiner Brust trägt, in den Wahn versetzt zu haben, daß er alle die Tugenden besitze, für welche sie verliehen werden sollen.«

»Sind sie denn echt?« erkundigte sich Halef, der gern alles wissen mußte.

»Selbstverständlich! Sie sollen eigentlich nur Belohnungen sein, nicht Bezahlungen; aber die Beherrscher von Ardistan sind stets der Ansicht gewesen, daß man gewisse, wichtige Verdienste viel besser vorher als nachher belohne. So wurden auch die Scheichs der Ussul, so oft es sich um hohe Wünsche handelte, mit Orden bedacht, die sich nach und nach zu einer ganzen Menge angesammelt haben. Der Mir von Ardistan, nämlich dieser hier, nicht der richtige, kam auf den Gedanken, sie jedesmal anzulegen, wenn er in seinen Würden zu erscheinen hat. Wir haben es ihm erlaubt. Er darf sie sogar noch während des Essens tragen, und dann dauert es immer Tage, bis er sich wieder herabläßt, mit jemand zu sprechen. Daß der Mantel die flimmernden Auszeichnungen verdeckt, ist für ihn eine wirkliche Qual. Darum wirft er ihn stets schon von oben ab, wenn er noch auf dem Pferd sitzt, damit man sie so bald wie möglich sehe. Soll er sie euch zeigen?«

»Ich bitte dich darum!« antwortete Halef, den es in hohem Grade interessierte, sie betrachten zu dürfen.

Taldscha winkte dem Mann. Er kam langsam und, seiner Ansicht nach, in fürstlicher Haltung bis zu uns her.

»Ich bin der Mir von Ardistan!« sagte er sehr hoch von oben herunter.

»Und ich«, antwortete Halef, »ich bin ...«

Da schnitt der Mann ihm mit einer geradezu gebieterischen Armbewegung das Wort ab und befahl ihm:

»Schweig! Was du mir sagen willst, das weiß ich alles schon längst. Ich habe jetzt keine Zeit, es abermals zu hören!«

Halef sah mich mit einem Blick an, in dem die Absicht lag, eine geharnischte Antwort zu geben; ich winkte aber ab. Taldscha zeigte und benannte uns die einzelnen Orden, ebenso auch die Namen der Scheichs, die sie empfangen hatten. Alle diese Auszeichnungen stammten nur vom Mir von Ardistan, von keinem andern Fürsten, waren aus unechtem Metall gefertigt und mit unechten Steinen geschmückt, ein Umstand, der meine Achtung vor diesem hohen Herrn nicht gerade förderte. Als wir mit der Betrachtung der Dekorationen fertig waren, sagte Taldscha zu dem gegenwärtigen Träger derselben:

»Du hast deine Sache heute gut gemacht; du darfst also mit uns essen!«

Er gab durch eine herablassende Handbewegung seine gütige Genehmigung zu erkennen.

»Und kannst nun gehen!« fügte sie hinzu.

Da warf er einen vernichtenden Blick auf uns zwei kleine Kerle und schritt majestätisch dem Tor des Palastes zu, um in dessen Innern auf den Beginn des Mahles zu warten. Wir aber gingen nach dem Haus, welches wir bewohnen sollten. Die Pferde folgten uns, ohne daß wir sie zu führen brauchten; die beiden Hunde gingen natürlich mit.

Das Haus lag neben und, weil wir um ihn herumgehen mußten, für uns zugleich hinter dem Palast, und zwar wie dieser am Ufer des Stromes. Es war eigentlich eine in vier Stuben abgeteilte Blockhütte, neben der ein kleines Gebäude zur Unterbringung von allerlei Dingen stand. Jetzt war es leer, und so bestimmten wir es zum Pferdestall. Das Wohnhaus war nach dortigen Begriffen möbliert. Im vorderen der vier Räume befand sich ein Herd, auf dem ein Feuer brannte. Zwei Männer empfingen uns; sie waren zu unserem Dienst bestellt und hatten den Befehl bekommen, ihn ebenso aufmerksam zu leisten, wie bei dem Scheich selbst. Das Feuer war keineswegs überflüssig. Alles, was man berührte, fühlte sich feucht an. Schon um das Modern zu verhüten, mußte trockene Wärme geschafft werden. Für Menschen wäre es unmöglich gewesen, in dieser Wohnung zu bleiben, ohne zu erkranken. Die Herrin der Ussul schaute sich sehr genau im Haus um. Welchen Zweck das hatte, sahen wir erst, als sie mit ihrem Mann gegangen war. Da schickte sie nämlich Kissen, Decken, Gefäße und eine ganze Menge anderer Dinge und Kleinigkeiten, die unsere Behaglichkeit erhöhen sollten.

Als wir allein waren, sorgten wir zunächst für die Pferde. Es war alles da, was sie brauchten, und für die Hunde wurde vom Palast aus reichlich für Fleisch und Knochen gesorgt. Dann untersuchten wir die Umgebung. Wir wohnten in lauter Gemüse. Das Haus lag nämlich in den großen Gärten des Scheichs. Leider fanden wir nicht Zeit, sie ganz zu überschauen, denn es dunkelte bereits, und in jenen Gegenden ist die Dämmerung bekanntlich sehr kurz. Am Fluß gab es Stufen, die zum Wasser hinabführten. Da hingen mehrere kleine Flöße und Boote, auch ein ledernes Kanu, wie dasjenige draußen im Urwald, in dem wir heimlich über den See gerudert waren. Ich gab den beiden Dienern den Wunsch zu erkennen, dieses Fahrzeug ausschließlich nur für uns zurückzuhalten.

Von allen Pflanzen hier in den Gärten waren mir die Duriobäume am interessantesten. Es gibt Leute, welche die Früchte dieser Bäume als die größte Delikatesse auf der Erden betrachten. Der Durio wird sehr hoch, noch höher als unsere ältesten Apfel- und Birnbäume. Er hat rot-silbergraue, schuppige Blätter und grüngelbe Blüten. Seine Früchte erreichen die Größe eines Menschenkopfes und sind entweder von kugeliger oder länglichrunder Gestalt. Die Schale derselben ist dick und hart und dicht mit Stacheln besetzt. Das Innere enthält fünf Fächer, in jedem Fach einige Samen, die von einem weißen, außerordentlich appetitlichen Fruchtfleisch umgeben sind. Dieses Fleisch schmeckt allerdings ebensogut, wie es aussieht, wie fein zubereiteter Rahm von allerbester Milch, nur hat man sich, wenn man diese Speise nicht gewohnt ist, beim Essen die Nase zuzuhalten, weil sie, je nach der besonderen Sorte des Baumes, sehr stark nach verdorbenen Zwiebeln, faulen Eiern, altem Käse oder stinkigem Fleisch riecht. Es gibt sogar Sorten, und das sind die beliebtesten und gesuchtesten, die nach allen diesen schönen Dingen zu gleicher Zeit duften. In Europa pflegt man diesen Baum Zibetbaum zu nennen, weil angeblich die Zibetkatzen für ihn eine ebensogroße Zuneigung besitzen, wie unsere heimischen Katzen für den Baldrian. Er ist ein außerordentlich nützlicher Baum. Seine sehr wohlschmeckenden Samen werden wie Kastanien geröstet, und das Fleisch der Früchte wird trotz seines üblen Geruches weit höher geschätzt als jedes andere Obst. Unreif wird es als Gemüse zubereitet.

Als ich Halef auf die Eigenschaften dieser Früchte aufmerksam machte, die er noch nicht kannte, sagte er:

»Also grad wie beim Menschen! Mag er noch so niedrig wachsen oder noch so hoch, wie diese Duriokugeln, und mag der Geschmack ein noch so delikater sein, etwas schlechter Geruch ist fast immer dabei. Zudem pflegen grad die, die am höchsten hängen, die bösesten Stacheln zu haben! Übrigens wird sich wohl ein Mittel finden lassen, den Gestank zu vermeiden, ohne auf den Wohlgeschmack verzichten zu müssen. Ich glaube, ich kenne es schon.«

»Welches?«

»Komm! Ich werde es dir zeigen. Glaubst du etwa, daß es nachher beim Festessen eine Duriospeise geben wird?«

»Wahrscheinlich sogar mehrere. Die Frucht wird auf sehr verschiedene Weise zubereitet und gehört zu den beliebtesten Nahrungsmitteln der Ussul.«

»So wollen wir uns beeilen, nach dem Mittel zu suchen, welches ich mir ausgesonnen habe!«

Wir gingen in das Haus, wo er sich über die vorhandenen Kissen hermachte, um nachzusehen, womit sie gefüllt waren. Gleich aus dem ersten, dessen Naht er ein wenig öffnete, quollen ihm weiße, weiche Baumwollflocken entgegen.

»Schau!« sagte er. »Das ist es, was wir brauchen! Wenn ich mir die Nase damit zustecke, ist sie ganz außerstande, mich mit Gerüchen zu ärgern, mit denen ich mich nicht befassen will. Verstehst du mich, Effendi?«

»Sehr wohl!« lachte ich.

»Und bist du bereit, dich an meiner schönen Erfindung zu beteiligen?«

Er begann, die Flocken herauszuzupfen.

»Laß es uns versuchen. Gib her!«

»Hier hast du! Stecke es ein! Das Mittel ist natürlich nicht schon jetzt anzuwenden, sondern erst dann, wenn die unheilvollen Gerüche sich uns nähern. Täten wir es schon jetzt, so verzichteten wir auf alles andere, was der menschlichen Nase Vergnügen und Begeisterung bereitet. Bedenke, das köstliche neugebackene Brot und den belebenden Duft der Rinderviertel und vielen anderen Braten! Meine Seele schwärmt schon jetzt diesen Genüssen entgegen! Die deinige nicht auch?«

Wer ihn so sprechen hörte, mußte ihn für einen großen Esser halten. Das war er aber nicht. Wenig genügte, ihn zu sättigen, und er hatte oft genug bewiesen, daß ihn im Ertragen von Hunger und Durst kein anderer übertraf!

Übrigens brauchte er auf die Genüsse, auf die er sich innerlich mit Phantasie und äußerlich mit Watte vorbereitete, nicht lange zu warten. Der Scheich kam in eigener Person, uns zum großen Festmahl abzuholen. Er äußerte, daß er wegen der Hunde Sorge habe. Er befürchtete, daß sie es erzwingen würden, mir zu folgen, und daß in diesem Fall eine große Gefahr für seine Gäste entstehe. Ich beruhigte ihn. Die Hunde bekümmerten sich jetzt gar nicht um mich; sie lagen bei ihrer Knochenmahlzeit hinter der wohlverriegelten Tür. Das beruhigte ihn.

Es wurde in zwei verschiedenen Räumen gegessen. Die Gäste zweiten Ranges saßen im Mittelraum des Palastes, in der Nähe der Herde. Obenan thronte da der »Mir von Ardistan« in der Pracht seiner flimmernden Orden. Er fühlte sich so erhaben, daß er unserer Ankunft, obgleich wir unmittelbar an ihm vorüber mußten, keine Spur von Beachtung schenkte. Die Gäste höheren Ranges waren auch im Erdgeschoß versammelt, aber im größten Zimmer desselben, welches vier nach außen gehende Fenster hatte und sehr wohl mit dem Ausdruck »Saal« bezeichnet werden konnte. Der Fußboden dieses Saales bestand aus festgerammter Erde, in welche man Pfähle geschlagen hatte, um durch daraufgenagelte Bretter Tische, Bänke und Stühle zu bilden. Man saß hier also nach europäischer Weise an hohen Tischen. Auch die Betten in unserem Haus drüben waren auf hölzernen Gestellen bereitet. Ein Sitzen, Lagern und Liegen in der allgemeinen orientalischen Weise, nämlich unten an der Erde, verbot sich durch die im Land herrschende außerordentliche Feuchtigkeit ganz von selbst.

Gedeckt, aber ohne Tischtuch und ähnliche Raffiniertheiten, war auf einer langen Tafel, über die zwei große Leuchter hingen. Sie bestanden aus zusammengesetzten Geweihen und trugen große, starke, brennende Talglichter, die eine für uns genügende Helligkeit verbreiteten. Versammelt waren die Ältesten, der Oberst, die beiden Leutnants und noch mehrere angesehene Männer, die wir erst noch kennenlernen sollten. Frauen gab es nicht, außer der Herrin der Ussul, die obenan saß und das Mahl und die während desselben geführte, sehr angeregte Unterhaltung in einer Weise leitete, daß sich unsere bisherige Achtung vermehrte und befestigte.

Was wir aßen und in welcher Zubereitung und Reihenfolge es aufgetragen wurde, ist natürlich Nebensache. Ich will nur kurz erwähnen, daß die ungeheuren Portionen Fleisch, in welche die Braten für die einzelnen zerlegt worden waren, in so kurzer Zeit verschwanden, daß Halef nur immer auszurufen hatte: »Maschallah! Es geschehen Zeichen und Wunder!« Die Gemüse waren in noch größeren Mengen vorhanden, doch blieb kein Blatt, kein Stiel von ihnen übrig. Duriogerichte gab es mehrere. Man aß die Frucht auch roh, ganz in derselben Weise, in der man bei uns Melonen ißt, und ich will verraten, daß uns hierbei die Watte nicht unwesentliche Dienste leistete. Natürlich hielten wir ihre Anwendung geheim. Später, als wir uns an diese wirklich ausgezeichnete und delikate Speise gewöhnt hatten, lernten wir auf den aus den Sitzkissen stammenden Schutz unserer Geruchsorgane zu verzichten.

Man hatte mich zur rechten und Halef zur linken Hand der Herrin gesetzt. Der Scheich saß an meiner andern Seite. Er bewährte sich immer mehr als eine etwas unkultivierte Ansammlung aller möglichen Sorten von Gutmütigkeit. Bei Anwendung nur einiger Vorsicht war es wirklich fast unmöglich, sich mit ihm zu entzweien. Wir erkannten mehr und mehr, daß seine Frau die eigentliche Regentin des Stammes war und daß sie unter Umständen auf das Urteil des Sahahr viel mehr gab als auf die Meinung ihres Mannes. Aber diese Achtung war auch alles, was sie dem Zauberer widmete. Lieb- und gern haben konnte sie ihn nicht, weil sie die Freundin des Dschirbani war.

Geraucht wurde nicht. Ich will hier gleich ein für allemal sagen, daß die Ussul überhaupt nicht rauchen, weil sie den Tabak für ein sehr schädliches Gift und seinen Rauch für belästigend und störend halten. Das bedeutete für zwei Raucher, wie Halef und ich, einen nicht ganz geringen Verzicht. Einem anderen Gift aber, welches sogar als Doppelgift bezeichnet wird, hatten sie nicht entsagen können, nämlich ihrem Simmsemm, welches in zwei großen Krügen auf der Tafel stand, die beide, als das Essen vorüber war, vollständig ausgetrunken worden waren. Die Scheichin trank nicht davon, Halef nicht und auch ich nicht. Darum glaubte der Scheich, dem dieses Gift sehr behagte, uns eine Begründung schuldig zu sein, und die brachte er, indem er behauptete, daß man wegen der Feuchtigkeit des Landes gezwungen sei, Simmsemm zu trinken.

»Auch ihr werdet schon noch trinken, wenn ihr nur erst lang genug hier gewesen seid!« fügte er hinzu. »Es ist ja allbekannt, je trockener das Land ist, desto weniger braucht man Gift!«

»Es gibt aber Leute, welche ganz das Gegenteil behaupten«, widersprach ich ihm. »Nämlich, je trockener das Land ist, desto mehr müsse man trinken.«

»Nun, so mögen sie es tun!« lachte er. »Jeder Mensch findet einen Grund, das Gift, welches er für nötig hält, zu verteidigen!«

Es muß indes erwähnt werden, daß die Ussul außerordentlich viel vertragen konnten. Hätte ich nur den vierten oder fünften Teil dessen getrunken, was der Mäßigste von ihnen trank, so wäre mir ein: »Machmurluk el Machmurluk«, wie Halef sich gern auszudrücken pflegte, nämlich ein »Rausch der Räusche«, wohl bombensicher gewesen. Diese stämmigen Menschen aber wurden nur heiter und etwas gesprächiger davon, und da habe ich freilich zuzugeben, daß diese Wirkung des Giftes eine mir sehr angenehme und willkommene war. Die Unterhaltung gestaltete sich hierdurch viel angeregter und lebhafter, und es wurde uns dadurch eine Konferenz erspart, die nach dem Essen abgehalten werden sollte, nun aber schon während desselben erledigt wurde.

Diese Konferenz betraf erstens mich und Halef, oder vielmehr unsere Aufnahme in den Stamm der Ussul, und zweitens unsern Feldzug gegen die Tschoban. Ich hatte mir diese Konferenz als sehr kompliziert, sehr erregt und sehr lange dauernd vorgestellt; nun aber vollzog sie sich so außerordentlich schnell und kurz, wie ich es gar nicht für möglich gehalten hatte. Und das brachte der weibliche Scharfsinn und die weibliche Pfiffigkeit fertig, die sich auch hier, wie so oft, meinen Gedanken überlegen zeigte. Man hatte nämlich gehört, daß es in Europa bei derartigen Trinkgelagen Leute gebe, welche ein volles Glas in die Hand nehmen und eine Rede halten. Ich wurde gefragt, ob dies wahr sei und welchen Zweck eine solche Rede habe. Ich erklärte es ihnen zunächst theoretisch und sodann auch praktisch, indem ich meine volle Simmsemmtasse, die ich gar nicht hatte berühren wollen, ergriff und einen Trinkspruch auf das Wohl der Ussul, ihres Scheichs und ihrer Scheichin hielt. Die Sache wurde nicht nur sofort begriffen, sondern auch für höchst nachahmenswert gehalten. Die Herrin ging den andern mit ihrem Beispiel voran, und zwar ganz ohne Zaudern. Kaum hatte ich ausgesprochen, so nahm auch sie die vor ihr stehende Tasse zur Hand und erhob sich von ihrem Sitz, um mir zu antworten. Sie freute sich, daß ich ihr Volk lobte. Sie schloß aus diesem Lob, daß es mir lieb sein würde, ein Ussul werden zu können. Sie erwähnte das Gesetz, nach dem jeder Aufzunehmende mit einem Ussul zu kämpfen habe, um durch seinen Mut seine Würdigkeit zu beweisen. Sie deutete darauf hin, daß ich sogar mit den Bluthunden der Ussul gekämpft und sie besiegt habe, ohne eine Waffe in der Hand zu haben; dies sei doch noch viel mehr, als was das Gesetz bestimme. Und sie legte ganz besonderen Wert darauf, daß wir beide, Halef und ich, den Erstgeborenen der Tschoban mit seinen Begleitern besiegt und gefangengenommen hatten. Dies hebe uns hoch über jeden ferneren Beweis unserer Tapferkeit und Würde empor, so hoch, daß eine Beratung und Abstimmung über diesen Gegenstand ganz überflüssig sei. Sie nehme uns also hiermit in den Stamm der Ussul auf und bitte uns, den Treuschwur in die Hand des Scheichs und der Ältesten zu legen. Der gegenwärtige Trinkspruch sei in ihrem Leben der erste, den sie halte. Sie sei stolz darauf, dies von uns gelernt zu haben, und sie hoffe, auch in Zukunft noch vieles und besseres von uns zu lernen. Hurra! Hurra! Hurra!

Hei, wie die schwerfälligen Gestalten dieser guten Leute da schnell und leicht aufsprangen, ihre vollen Tassen leerten und dann herbeikamen, um mit höchst bereitwillig ausgestreckten Armen sich unsern Handschlag zu holen! Es gab einen unendlichen Jubel, der auch nach der Tafel zweiten Ranges getragen wurde, indem einer hinausging, um die frohe Kunde dorthin zu bringen. Der Lärm, der sich da draußen erhob, war noch größer als der, den wir im eigenen Raum verübten, und der Grund dieses Beifalls war wohl zum großen Teil auch mit in dem Umstand zu suchen, daß da draußen erzählt worden war, welche große Freude wir über das neubackene Brot gehabt hatten. Als ich den Ältesten und dem Scheich die Hände gedrückt hatte, griff auch Taldscha nach der meinen. Sie hielt sie eine Zeitlang fest, ohne ein Wort zu sagen, und sah mir mit einem siegreichen Lächeln, welches zugleich einen kleinen ironischen Anflug hatte, in das Gesicht. Dann sagte sie:

»Das ging schneller, als du dachtest, nicht? Zürnst du mir darüber?«

»Keinesfalls!« antwortete ich. »Du hast als Weib gehandelt, und doch zugleich als Mann und Scheich. Ich danke dir!«

Halef war überglücklich, Ussul geworden zu sein. Solche Dinge waren so recht nach seinem Geschmack. Die Größe seiner Freude trieb ihn hinaus zu den andern Gästen, um ihnen einen schmetternden Toast zu halten. Der Erfolg, den er hervorrief, war riesengroß, nach dem Lärm gemessen, der sich hierauf erhob. Später freilich, als wir wieder daheim in unserem Haus waren, gab er zu, daß er sich doch im stillen über die Pfiffigkeit der Scheichin geärgert habe, durch welche der von dem Gesetz vorgeschriebene Kampf zwischen uns und zwei Ussul vermieden worden sei.

Und was die Verhandlung wegen unseres Feldzuges gegen die Tschoban betrifft, so stellte sie sich ebenso als unnötig heraus. Die Stimmung der Ältesten war auch in dieser Sache eine außerordentlich günstige. Sie richteten ganz einfach die Frage an Taldscha, ob sie diesen Feldzug für wünschenswert halte, und als sie eine bejahende Antwort bekamen, erklärten sie, daß der Krieg beschlossen sei und daß diese Angelegenheit also nun nicht mehr in ihre, sondern in die Hand des Obersten gehöre. Der sei der Befehlshaber des Heeres, und der habe sich nur seinen Kopf, nicht aber auch ihre Köpfe zu zerbrechen! Als Taldscha hiergegen einwarf, daß vor allen Dingen ich zu fragen sei, bat ich den Obersten, sich zunächst an meinen tapfern Hadschi Halef Omar, den berühmten Scheich der Haddedihn, zu wenden. Der sei ein sehr erfahrener Krieger und jedenfalls gern bereit, ihm diejenigen Winke zu geben, die unbedingt zum Siege führen würden.

Kaum hatte ich das gesagt, so sprang Halef wie elektrisiert von seinem Sitz in die Höhe und forderte den Obersten und die beiden Leutnants auf, sich mit ihm an einen andern kleinen Tisch zu setzen; er werde dort mit ihnen weiteressen, um mit den von mir erwähnten Winken augenblicklich beginnen zu können. Sie erfüllten seinen Wunsch mit wahrem Stolz, und als ich im weiteren Verlauf des Abendessens diesen ihren kleinen, abgelegenen Tisch einmal als den »Tisch der Feldherren« bezeichnete, hatte ich mir die Herzen der drei »Offiziere« derart gewonnen, daß sie zu jeder Art von Tapferkeit erbötig waren.

In dieser Weise schaffte ich mir freie Hände. Taldscha war die einzige bestimmende Person. An sie hatte ich mich zu halten. Indem ich alles Belästigende und Nebensächliche auf den kleinen Tisch ablud, bewahrte ich sie vor unbequemen, vielleicht sogar schädlichen Einflüssen und hob sie mit einem einzigen Ruck zu der Atmosphäre empor, in welche sie gehörte. Sie fühlte das, aber sie sagte nichts, doch ging es wie ein unsichtbarer und unhörbarer, jedoch leise, ganz leise zu empfindender Hauch von Dankbarkeit von ihr zu mir herüber. Sie war eine jener tief und edel angelegten Frauen, deren Aufgabe es ist, den Schritt vom gewöhnlichen Menschentum zum geläuterten Geistes-Menschentum ohne abstoßende Leiden, Qualen und Martern zu tun, um andere, die sich auch nach Vervollkommnung sehnen, zur freiwilligen Nachfolge anzuregen.

Ich erfuhr von ihr, daß die gefangenen Tschoban hier im Palast untergebracht seien, in drei verschiedenen wohl verriegelten Räumen, also vollständig getrennt voneinander, so daß eine Verständigung zwischen ihnen ganz unmöglich sei. An eine Flucht war nicht zu denken, so streng wurden sie bewacht. Sie waren noch jetzt mein Eigentum. Aber ich hatte versprochen, sie an die Ussul abzutreten, sobald ich bewiesen habe, daß sie nicht in friedlicher, sondern in feindlicher Absicht gekommen seien. Dieser Beweis war erbracht, doch man hatte die Abtretung noch nicht verlangt, und so hielt ich mich noch immer für berechtigt, ganz allein über sie zu verfügen. Ebenso erfuhr ich von ihr, daß der Sahahr glücklich nach Hause gebracht worden sei und sich ganz sonderbar benehme. Seine Frau wünsche sehr, mich einmal zu sehen, und zwar womöglich noch heute, doch dürfe der Sahahr nichts hiervon wissen. Darum möge diese Zusammenkunft, wenn ich einverstanden sei, im Tempel stattfinden. Als ich erklärte, daß ich sehr gern einwillige, sagte Taldscha, sie werde dabeisein und mich nach dem Tempel begleiten.

»Wann?« fragte ich.

»Am Schluß dieses Essens. Ich benachrichtige sie. Dann wartet sie im Tempel, bis wir kommen.«

»Du hast mir gesagt, daß sie die Seele, er aber nur der Körper sei. Es widerstrebt meinem Herzen, so eine Frau auf mich warten zu lassen. Übrigens wünsche ich nicht, daß die andern Gäste dann meinetwegen auch gehen müssen. Wie lange wird die Festlichkeit noch währen?«

»Wenigstens bis Mitternacht. Doch kannst du dich entfernen, sobald es dir beliebt. Kein Mensch wird es dir übelnehmen.«

»Auch nicht der Scheich?«

»Auch dieser nicht!«

»Aber du mußt bleiben?«

»O nein. Warum soll ich nicht ganz dieselbe Freiheit haben wie du und jeder andere? Ich bleibe stets nur so lange, wie es für mich wichtig und geboten ist. Das Wichtige ist vorüber. Was nun noch kommt, ist nur Essen und Trinken und nebensächliches Gespräch. Ich bleibe also nur deinetwegen. Wünschest du fortzugehen?«

»Ja.«

»Das ist aufrichtig von dir! Ich bitte dich, stets so offen gegen mich zu sein, denn ich bin es auch gegen dich. Habe nur noch eine Viertelstunde Geduld, denn ich muß meine Freundin vorher benachrichtigen!«

Sie schickte einen Boten. Dadurch sprach es sich herum, daß wir uns entfernen würden, doch verursachte das nicht die geringste Störung. Es fiel niemandem ein, zu denken, daß nun auch er zu gehen habe. Selbst Halef rief mir zu:

»Du willst fort, Sihdi? Ich aber muß unbedingt noch sitzen bleiben!«

»So tue es! Auch ich gehe noch nicht heim. Hast wohl noch Wichtiges zu verhandeln?«

»Unendlich Wichtiges!« rief er mit der Miene eines Mannes aus, der unter der Menge und der Schwere seiner Pflichten fast erstickt. »Bedenke doch, daß es einen Feldzug gilt! Es handelt sich um Leben oder Tod vieler Tausende von Menschen! Und wenn wir einmal siegen, so siegen wir immer weiter. Wir werden nämlich nicht bei diesem einen Sieg stehenbleiben, sondern wir haben soeben beschlossen, in das Gebiet der Tschoban einzudringen und ihren Scheich abzusetzen. Was wir dann noch weiter erobern und wen wir dann noch weiter absetzen, das werden die ferneren Beratungen ergeben, die wir noch zu halten haben. Denn die heutige ist die erste, noch lange aber nicht die letzte!«

Als die Viertelstunde vorüber war, verabschiedeten wir uns. Dann durch den großen Mittelraum gehend, in dem die andern Gäste saßen, bemerkten wir, daß der Simmsemm hier bedeutend größere Verheerungen angerichtet hatte als bei uns. Es gab hier alle möglichen Sorten dieser Wirkung, vom leisen »Pfiff« und heiteren »Schwips« bis zum schweren »Affenrausch« hinauf. Dennoch erhoben sich alle von ihren Plätzen, um uns, als wir vorübergingen, ihre Achtung zu erweisen. Nur einer tat das nicht, nämlich der Denkmalsreiter. Der war total betrunken, und doch sprach sich der Spiritus auch bei ihm in ganz individueller Weise aus, nämlich durch Vergrößerung der Selbstüberhebung. Der Mann saß steif an seiner Stelle, stierte nur grad vor sich hin und lallte immerfort: »Ich bi – bi – bin nicht nur der Mi – mi – mir von A – a – ardistan, sondern sogar der Mi – mi – mir von Dschi – dschi – dschinnistan!«

Draußen war es dunkle Nacht. Die Sterne leuchteten, und die Sichel des Neumondes, dünn wie ein Strich, stand grad über dem Weg, auf dem wir nach der Stadt gekommen waren. Wir gingen über den freien Platz hinüber, direkt in den Tempel, dessen Tor offenstand. Ein Diener war dabei, der mit eintrat und es hinter uns gleich wieder verschloß.

Nun standen wir in einem großen, weiten Raum, der nach keiner Richtung hin eine Grenze zu haben schien. Es herrschte tiefste Finsternis. Nur wenn man das Auge nach oben richtete, sah man zwischen den Säulen, welche das Dach trugen, die Sterne herunter leuchten, wie aus einer anderen Welt herein in das dichte Dunkel. Da wurde in der Mitte des Raumes, also an der Säule, welche die Decke trug, ein Licht angezündet. Das sah so klein, so winzig aus, in der großen, unendlich scheinenden Finsternis kaum zu bemerken. Das war der Anfang der Geschichte dieses Tempels, der Beginn des Gottesglaubens unter den Ussul. So winzig klein das Lichtchen war, man sah es doch, wenn man auch nicht wußte, woher es kam und was es zu bedeuten hatte. Und man ahnte, ja, man fühlte und man war überzeugt, daß sich dort, wo es entstand, etwas Lebendiges, Gütiges und nach Erleuchtung Trachtendes bewege. Ein zweites Licht entstand, ein drittes, viertes, fünftes. Eines half dem anderen, die Dunkelheit zurückzudrängen. Es gesellten sich noch mehrere hinzu. Im Dämmerschein, den sie verbreiteten, wurde nun auch das Wesen sichtbar, durch welches sie hervorgerufen wurden. Es war ein weibliches – die Priesterin. Ein weißes Gewand umhüllte sie, und glänzend weiß floß ein Schleier rundum von ihrem Haupt herab, der bis auf das Knie herniederreichte. Er umhüllte sie vollständig; er machte sie zum scheinbar undurchdringlichen Geheimnis. Aber aus diesem lichtgewordenen Rätsel heraus ertönte jetzt eine liebe, auffordernde Stimme:

»Kommt her zu mir!«

Das klang so eigentümlich, so geisterhaft durch den weiten Raum, in dem es nicht eine Spur von Widerhall gab. Es war, als ob diese Aufforderung gesprochen sei, um in grenzenlose Fernen hinauszugehen. Es erfaßte mich eine ganz eigenartige Regung, die nicht aus mir zu kommen, sondern mich von außen her zu ergreifen schien. Ich fühlte mich an heiliger Stelle. Es war mir, als ob es hier unmöglich sei, über gewöhnliche, gleichgültige Dinge zu sprechen. Wir gingen hin zu ihr. Sie war so hoch und so stolz gebaut wie Taldscha, und als sie nun ihren Schleier lüpfte, sah ich, daß sie älter, viel älter war als diese. Sie war weder schön noch häßlich: aber sie hatte das Gesicht einer Denkerin, und aus der Tiefe ihrer Augen blickte jenes Wohlwollen, welches nicht nur angeboren, sondern noch viel mehr auch eine Frucht der innerlichen Betrachtung ist.

»Ich grüße dich!« sagte sie. »Du bist unser Gast, also auch der meine, hier in diesem Gotteshaus.«

Ich verbeugte mich vor ihr, als ob sie eine Fürstin sei; ich konnte nicht anders. Geschah das, weil wir uns in einem Tempel befanden? Oder war es nur der Eindruck ihrer Persönlichkeit, die Wirkung davon, daß ich jetzt in ihrer seelischen Atmosphäre atmete?

»Er ist soeben Ussul geworden!« berichtete die Frau des Scheichs.

»Also doppelt willkommen!« sagte die Priesterin, wobei ihrem Schleier ein kleines, feines Händchen entschlüpfte, welches sie mir entgegenstreckte. Ich zog es an meine Lippen, ohne antworten zu können, denn sie fuhr fort: »Ussul nur äußerlich! Mit dem Geist nicht! Aber wie ich hoffe, mit dem Herzen um so mehr!«

»Das gehört euch allerdings«, sagte ich nun, »von dem ersten Augenblick an, seit ich eure Herrin sah.«

Hierbei deutete ich auf Taldscha; die aber entgegnete:

»Eure Herrin? Die bin ich nicht. Die steht hier.«

Sie hob die Hand gegen die Priesterin hin, welche diesen Fingerzeig mit der Erläuterung geschehen ließ:

»Wir beide lieben uns. Wir sind Freundinnen. Da gibt es keine Unterschiede, keine Herrin und keine Untergebene. Wir dienen beide, sie und ich! Heute ist mein Dienst besonders schwer. Aber der Sahahr hat Opium genommen, um schlafen zu können. Da fand ich Zeit, zum Tempel zu gehen.«

Sie machte eine Rundbewegung mit dem Arm und fuhr dabei fort:

»Du befindest dich hier inmitten unseres Glaubens, unserer Religion. Sie bietet dir, wie du siehst, nur einige kleine, mehr als bescheidene Lichter, die sich vergeblich bemühen, die Finsternis zu durchdringen. Das ist der Anfang. Das ist die Sehnsucht, dem Dunkel zu entfliehen. Das sind die ersten Stufen, zu Gott emporzusteigen. Ich rief dich hier in diese Finsternis, um dir ehrlich zu sagen, daß wir uns nicht vermessen, schon Klarheit zu besitzen; nun aber sollst du auch mit hinauf zu unserem Himmel steigen. Hast du ihn schon gesehen?«

»Nein.«

»Und willst du mit uns kommen?«

»Ja! Gern!«

»So mußt du helfen, das Licht zu vermehren. Wir brauchen es beim Steigen.«

Sie gab dem Diener, der vorn am Eingang stehen geblieben war, ein Zeichen. Wir hörten das Geräusch von Rollen, die sich bewegten. Er ließ von oben einen Leuchter herab, der viele Lichte trug, die wir anzuzünden hatten. Ich half mit. Als dies geschehen war, begannen wir, nach oben zu steigen. Ich habe die Treppe bereits erwähnt, die aus einzelnen Gliedern oder Abteilungen bestand. Sie war nicht sehr breit, aber auch nicht unbequem. Da ich sie noch nicht kannte, nahmen mich die beiden Frauen in die Mitte: die Priesterin ging voran, dann ich, und Taldscha folgte. Während wir dies taten, zog der Diener den Leuchter in genau dem gleichen Tempo empor, so daß immer der Teil der Treppe, auf dem wir uns befanden, hell beleuchtet war. Am letzten Haltepunkt unter der Plattform angekommen, gab die Priesterin das Zeichen, den Leuchter wieder hinabzulassen. Als er zu sinken begann, sagte sie:

»Wir sind von Gleichnissen umgeben. Aus Himmelsnähe steigt unser Licht hinunter in die Tiefe. So verläßt die Offenbarung ihre Heimat, um nach der Erde zu trachten. Und je mehr sie sich ihr nähert, desto kleiner und ärmer und schwächer scheint sie zu werden, bis sie fast ganz in Finsternis verschwindet. Schau hinab!«

Der Leuchter war unten angekommen. Man konnte die Lichter nicht mehr unterscheiden. Der Schein, der von ihnen ausging, war kaum zu sehen. Er bildete nur eine kleine, nebelige Stelle in der allgemeinen großen Finsternis. Es erregte ein bängliches Gefühl, da hinabzublicken. Die Priesterin schien dieses Gefühl schon oft beobachtet zu haben, denn sie sprach:

»Wer da hinunter sieht, der hält es wohl für möglich, daß es Gott um seine Liebe, welche er zur Erde schickt, zuweilen angst und bange wird. Kommt, laßt uns unsern Himmel sehen!«

Wir stiegen die letzten Stufen vollends empor. Oben gab es eine Plattform mit Geländer. Mehrere Sitze standen da. Darüber zog sich ein kleines, aber vollständig schützendes Dach. Wir setzten uns nieder und hielten Umschau. Ja, die Priesterin hatte recht! Sie hatte sich ganz richtig ausgedrückt, als sie von dem Himmel sprach, den man hier oben schaue! Zwar war da nicht nur der Sternenhimmel über uns, sondern auch noch ein ganz anderer Himmel gemeint, der nur innerlich zu sehen und zu fühlen ist; aber schon der erstere genügte vollständig, uns dafür zu entschädigen, daß wir heraufgestiegen waren.

Diese Klarheit des Firmaments! Diese Reinheit seiner Lichter! Obgleich wir uns in einer Gegend befanden, deren feuchter Dunst der durchdringenden Kraft der Strahlen eigentlich feindlich ist! Ich saß mit dem Rücken nach Süd, schaute also nach Norden, wo Ardistan liegt und über ihm sich Dschinnistan erhebt. Grad hinter meinem Haupt leuchtete das berühmte Kreuz des Südens. Links über mir hatte ich die Sterne des Zentaurus, weiter draußen die Waage und die Jungfrau mit der weithin strahlenden Spika. Fast grad im Norden schimmerte der Rabe, etwas weiter nach rechts der Becher und der Kelch, etwas zurück die Wasserschlange, an Helligkeit aber weit übertroffen von dem noch östlicher kreisenden Herzen. Ich hätte wohl gern noch weiter gesucht und die Frauen nach den hiesigen Namen all dieser Sterne gefragt, wenn meine Aufmerksamkeit nicht von der Priesterin auf einen besonderen Punkt gerichtet worden wäre, der weit über den Raben hinaus im Norden lag. Sie deutete mit dem ausgestreckten Arm dorthin und sagte:

»Merkt auf! Es scheint zu beginnen! Ich glaube, daß wir zur rechten Zeit gekommen sind.«

»Was wird beginnen?« fragte ich.

Sie brauchte nicht zu antworten, denn der Himmel antwortete selbst. Es zuckte ein schneller, blitzartiger Schein über ihn hin, genau an der Stelle, wohin die Priesterin gedeutet hatte. Dieser Schein schien aber nicht von oben zu kommen, sondern von unten herauf. Und er war nicht hell und rein, sondern er hatte etwas Nachgemachtes, Gefälschtes an sich, wie wenn man Bärlappmehl durch eine Flamme bläst. Es sah also nicht so aus, als ob ihn der Himmel spende, sondern als ob er von der Erde stamme. Einige Zeit darauf wiederholte sich der Blitz, aber nicht an derselben Stelle, sondern mehr nach rechts. Und bald nachher erfolgte eine zweite Wiederholung, weit links davon. Dann verschwanden plötzlich die Sterne. Es wurde oben im Norden dunkel. Diese Finsternis blieb eine Weile stehen und senkte sich dann zur Erde nieder, langsam, nach und nach, nicht so plötzlich, wie sie aufgestiegen war. Das wiederholte sich einige Male. Ich war ganz still. Ich fragte nicht. Ich suchte in meinem Kopf nach alten Schulkenntnissen, die sich auf derartige Erscheinungen bezogen, konnte aber keine Erklärung finden. Ein Nordlicht war es nicht. Es kam von der Erde. Es wurde emporgeworfen, mit mächtiger Gewalt. Es war vielleicht – doch halt, da kam es wieder. Aber nicht so, wie vorher. Zuerst wieder in der Mitte. Da stieg es empor, nicht blitzartig, sondern langsam, aber mit Macht! Zunächst violett, aber doch leuchtend feurig, dann blau, dann dunkelrot, blutrot, glühend rot, orange, gelb und endlich als klares reines Licht zum Himmel strahlend. Es bildete eine gigantische Säule, die von unten nach oben in allen diesen Farben glänzte, unten violett, nach oben in der angegebenen Regenbogenskala immer heller werdend und oben in einer Art von lebendiger, flockenreiner Flammenkrone zum Himmel zuckend, als ob es gelte, ihn zu umarmen und herabzuziehen. Und so langsam diese Säule entstanden war, so langsam kehrte sie wieder in sich selbst zurück. Kaum aber war sie verschwunden und wir, die wir von diesem überwältigenden Schauspiel tief ergriffen waren, holten tief Atem, so wiederholte sich dasselbe Phänomen in der gleichen Weise, erst rechts und dann links von der ersten Stelle. Diese Feuersäulen bestanden aus strahlengefärbter nach aufwärts immer reiner werdender Flammenglut. Sobald sie sich entwickelt hatten, standen sie wie Leuchttürme, die von ihrer Basis bis zu ihrer Spitze brennen, oder wie glühende Gebete hilfsbedürftiger Menschen, die sich zum himmelstürmenden Fanal vereinigen, um, sich im Steigen läuternd, in voller Reinheit Gott erreichen zu können. Sie wechselten im Aufstrahlen und Niedersinken miteinander ab. Bald wuchs und fackelte es hier, bald dort zum Himmel auf, erst in längerem, dann in immer kürzer werdenden Zwischenräumen, bis sich zuletzt feste, unbewegliche Mauern bildeten, die aus brennenden Regenbogenfarben bestanden und auf ihren Zinnen tausend weithin strahlende Fackeln trugen.

Ich war auf das tiefste ergriffen. So etwas hatte ich noch nicht gesehen, noch nie geahnt! Das stand in keiner Physik, überhaupt in keinem Buch! Die beiden Frauen schmiegten sich eng zusammen, wie man tut, wenn man sich fürchtet oder wenn irgend etwas wirklich Heiliges naht. Sie beteten. Das sah und hörte ich zwar nicht, aber ich fühlte es. Der Mensch wird schon noch begreifen lernen, daß man Gebete fühlt! Das Leuchten und Glühen, das Flackern und Flammen, das da oben im Norden aus der Tiefe zur Höhe stieg, war ein Gebet der Erde, und wenn die Mutter betet, so durchzuckt es alle ihre Kinder, mitzubeten! Wir standen auf dem Dach eines Tempels, eines ungeheueren Bauwerkes, in dem sich Riesen versammelten, um Gott zu dienen. Was aber war dieses scheinbar große und doch so armselig kleine Haus gegen den heiligen Dom des Firmaments, in dessen unergründlicher Tiefe soeben das Herz der Erde brach, um in glühenden Atemzügen in alle Welt hinauszurufen, daß auch der scheinbar tote Stoff, die vielverkannte Materie noch Kraft, noch Leben und Seele hat!

So saßen wir lange, lange Zeit, in den Anblick des unvergleichlichen Phänomens versunken, bis ich das Schweigen brach:

»Eine unbeschreibliche Pracht und Herrlichkeit! Und sie bleibt! Sie vergeht nicht wieder!«

»Sie wird während der ganzen Nacht bleiben«, antwortete die Priesterin, »und auch während des ganzen Tages, wo man sie aber nicht sieht. Du wirst sie morgen sehen und übermorgen und fernerhin, bis ihre Zeit vorüber ist. Sie hat sich schon seit mehreren Nächten angekündigt und wird nicht eher wieder verschwinden, als bis die Frage, die sie erhebt, beantwortet ist.«

»Welche Frage?«

»Die Frage: Ist Friede auf Erden? Du kennst diese Frage nicht. Du hast wohl noch nie die Sage von dem zurückgekehrten Flusse gehört ...«

»Ich kenne sie. Man hat sie mir gestern erzählt«, fiel ich ein.

»Auch das vom geöffneten Paradies? Von den Scharen der Engel auf den Mauern und der Erzengel vor den Toren?«

»Ja.«

»So wisse, daß der Tag, an dem so große Dinge geschehen, gekommen ist! Er ist kein Erden-, sondern ein Himmelstag; darum dauert er länger als vierundzwanzig irdische Stunden. Er beginnt heut, jetzt, in diesem Augenblick. Er wurde der Erde vorher angezeigt. Ein tiefes, unterirdisches Rollen, nur während der nächtlichen Ruhe zu hören, ging durch die Lande. Im Norden wetterleuchtete es, doch ohne Gewitter, Sturm und Regen. Das sind die Zeichen, daß das Paradies sich öffnen will. Ich habe das alles beobachtet. Und ich stieg jetzt wieder auf diese Tempelshöhe, um nachzuschauen, ob es abermals flamme und leuchte. Die Voraussage war aber schon vorüber; es kam das Ereignis selbst. Wir erreichten grad im rechten Augenblick diese Stelle hier. Erhebe deine Augen, und schau nach Norden! Was du siehst, das ist das Tor des Paradieses. Du kannst seine Säulen, Mauern, Türme, Ecken, Kanten und Linien ganz deutlich erkennen. Ob es sich öffnen wird, das weiß ich nicht. Es kommt vor, daß es zwar erscheint, aber doch verschlossen bleibt. Aber dann verschwindet es sehr bald wieder. Glaubst du daran?«

Ich antwortete:

»Ich glaube allerdings an die Vorbildlichkeit aller Naturerscheinungen. Sie entwickeln sich nicht etwa nur, um überhaupt da zu sein, sondern sie stehen im Zusammenhang auch mit denjenigen Ereignissen, die wir mit unsern Sinnen jetzt noch nicht erfassen können. Aber ...«

»Still! Jetzt kein aber! In diesem Augenblick nicht!« bat sie mich. »Du sprichst von Naturerscheinungen. Was das sagen soll, das weiß ich wohl. Da oben im Norden, der jetzt so überirdisch erleuchtet wird, stehen ganze, große Reihen von mächtigen Vulkanen, die einst täglich flammten und sich auch jetzt noch nicht beruhigt haben. Sie erwachen in Zwischenräumen von ungefähr hundert Jahren, die nach und nach immer länger werden, um zu zeigen, daß sie nur eingeschlafen, nicht aber gestorben sind. Sobald sie sich zu rühren beginnen, bebt die Erde. Die unterirdischen Gewalten, welche sich im Verlauf dieser hundert Jahre ansammeln, vereinigen und vermehren konnten, sind stark genug geworden, sich von dem Druck zu befreien, der auf ihnen lastete. Sie steigen auf; sie brechen hervor; sie verwandeln sich in Licht und reißen alles, was sich ihnen in den Weg stellt, mit zur Höhe. ›Was ist das weiter?‹ fragt da derjenige Mensch, dessen Herz nicht stark genug ist, an den Zusammenhang der Dinge mit dem Plan ihres Schöpfers zu glauben. ›Ein ganz gewöhnlicher Ausbruch von Vulkanen, welcher von einem kleinen, nur wenig wahrnehmbaren Erdbeben eingeleitet worden ist. Die Flammen, welche der Erde entströmen, entstammen dem Feuer, welches in ihrem Innern wütet. Die verschiedenen Färbungen, die Schatten und Linien, die sich nur für den Blick aus der Ferne bilden, werden von dem Ruß und Rauch und Schlamm und Staub gegeben, der mit emporgerissen wird!‹ So, so sagt der Gelehrte oder der Ungläubige. Wir aber, die wir weder gelehrt noch für den Himmel verloren sind, wir wissen recht wohl, daß diese Behauptung richtig ist, aber von einer Richtigkeit, deren nackte Kälte uns innerlich frieren läßt. Denn noch viel besser, als wir dieses wissen, ist es uns auch bekannt, daß alle sichtbaren Dinge dem Schöpfer dazu dienen müssen, uns die Geheimnisse jenes unsichtbaren Daseins zu enthüllen, dessen Gesetzen wir in unserm Innern, in unserm seelischen Leben Rechnung zu tragen haben. Für den Gottesfeind hat sich da draußen die Erde geöffnet, um mit Flammenfäusten ihren Schmutz und ihre Schlacken auszuwerfen; für uns aber, die wir von dem Äußeren auf das Innere und von dem Niedrigen auf das Hohe schließen, werden die Tore des Paradieses aufspringen, damit ihnen jenes Licht entströme, bei dessen Wahrheit und Klarheit die Engel sehen können, ob endlich, endlich Friede auf Erden sei, oder leider immer noch nicht!«

Ich staunte über das, was ich hörte. Woher kamen dieser Frau solche Gedanken? Woher diese Kenntnisse, diese Anschauung, diese Erfahrung? War sie eine Ussul, oder nicht? Sie war von ihrem Sitz aufgestanden, indem sie sprach. Sie stand an der nördlichen Brüstung der Plattform, während ich an der südlichen saß. Ihre weiße Gestalt ragte vor mir inmitten der Glut, welche das hochliegende Bergland zu uns herniedersandte. Sie erschien von heiligem Licht eingerahmt, wie ein Wesen, welches nicht von der Erde stammt, so wissend, so rein, so heilig. Ich mußte an die Norne Urd, die altgermanische Schicksalsgöttin, denken, die ebenso, dem Geschlecht der Riesen entstammend, auf dem Gewordenen steht und das Werdende überschaut, um das Werdensollende zu erkennen. Es stieg ein unbeschreibliches Gefühl in mir auf, aus der Tiefe meiner Seele, ein Gefühl, welches ich bisher noch nie empfunden hatte. Es war nicht Liebe; es war nicht Bewunderung, nicht Hochachtung oder Vertrauen, aber dennoch war es das, und noch viel mehr als dieses alles. Es kam auch eine ganz besondere Gabe von Mitleid hinzu. Was sollte dieses Gefühl? Wer gab es mir? Floß es aus ihrer Atmosphäre auf mich über? Da drehte sie sich, als ob sie von diesen meinen Gedanken berührt worden sei, nach mir um und sprach:

»Sahib, wundere dich nicht über das, was ich sage! Wundere dich auch nicht über die Art und Weise, in der ich rede! Meine Heimat ist Sitara, das Land der Berge Gottes, von dem du wohl noch keine Kunde hast. Zwar wurde ich nicht dort geboren, auch meine Eltern und Voreltern nicht. Aber meine Ahnen stammen von dort. Sie wurden beide in dieses niedere, feuchte Land der Ussul gesandt, um diese armen Leute über Gott, ihren Herrn, und über die Aufgaben des Menschengeschlechtes zu belehren. Ich glaube, ihr Europäer nennt das Mission. Sitara hat eine Herrscherin, keinen Herrscher. Dieses Prinzip folgte meinen Ahnen mit hierher. Die Überlieferungen aus der Heimat erbten von Glied zu Glied stets auf die älteste Tochter über. Zwar wurde der Ussul, den sie sich zum Mann wählte, Priester, aber das Wissen, die Würde, die Befähigung, die kam von ihr. So ist es gewesen bis auf den heutigen Tag, und so darf und kann – kann – kann es leider nicht bleiben.«

Sie hatte diese letzten Worte nur zögernd ausgesprochen und setzte sich dabei wieder nieder, als ob sie plötzlich müde geworden sei. Dann fuhr sie fort:

»Die Nachkommen meiner Ahnen sind verschwunden, sind Ussul geworden, sind ganz im Volk aufgegangen. Aber das war es ja, worin ihre Sendung bestand: Während sie herniederstiegen, hoben sie das Volk. Die Oberfläche dieses Menschenmeeres ist eine reinere, gesündere und bewegtere geworden. Und in der Tiefe ruhen nun die hinabgesunkenen Muscheln, damit es möglich sei, daß Perlen entstehen. Auch ich bin Ussula geworden. Aber ich habe das, was ich von den Ahnen ererbte, bewahrt, beschützt und vermehrt, wie man Juwelen behütet. Gott gab mir ein Kind, eine liebe, kluge, für alles Edle begeisterte Tochter. Ihr fiel die Aufgabe zu, meine Nachfolgerin zu werden. Darum schmückte ich ihren Geist und ihre Seele schon von früher Jugend an mit den Schätzen, zu denen Behüterin und Bewahrerin sie berufen war. Ich legte ihr, indem sie emporwuchs, ein Juwel nach dem andern an, und es war in meinem Mutterherzen eine Freude und Wonne zu sehen, daß sie an Erkenntnis, Innerlichkeit und Tiefe wohl alle ihre Vorgängerinnen übertreffen werde. Ihr Vater, der Sahahr, der niemals aufgehört hat, mich zu lieben und mich zu ehren, fühlte sich nicht weniger glücklich als ich. Er setzte sein ganzes Hoffen und Wünschen allein nur auf dieses Kind. Sein Glaube an Gott nahm eine andere Richtung an. Er stieg vom Himmel auf die Erde nieder. Sein Glauben und sein Hoffen auf die Zukunft dieses Kindes wurde ihm zur Religion. Er war Ussul, aber ein Ussul mit aufrichtigen edlem Streben. Dieses Streben gipfelte in den einstigen Aufgaben seiner Tochter. Er arbeitete ihr mit allem Fleiß im tiefsten Innern voran, um ihr die Lösung derselben zu ermöglichen. Wer nach dieser Tochter griff, der griff nach seinem Glauben, und wenn diese Tochter starb, so starb auch sein Glaube, seine Religion, sein – Gott! Kannst du das begreifen, Sahib?«

»Sehr wohl!« antwortete ich, innerlich tief bewegt. Denn nun war mir der Haß des Sahahr kein schmerzliches Rätsel mehr. Ich konnte ihn verstehen und entschuldigen.

»Da kam der Dschinnistani«, fuhr sie fort. »Als Arzt berühmt, so weit die hier bekannte Erde reicht, war er ein schöner, seelengroßer Mann, an Geist uns alle überragend, und dabei doch so einfach und bescheiden, daß er alle Herzen gewann, auch das meines Kindes!«

Sie unterbrach sich selbst, streckte den Arm nach Norden aus und forderte uns auf:

»Habt acht, habt acht! Das Tor beginnt, glaube ich, sich zu bewegen!«

Ja wirklich! Es bewegte sich, es zitterte! Wie ein sich von innen näherndes Licht, welches durch Mauern leuchtet, so stach ein scharf glänzender Punkt durch den unteren, violetten, blauen und dunkelroten Teil der Flammenwand. Der Punkt durchbohrte diese Wand. Sie öffnete sich. Es entstand eine Spalte, die nach der Basis trachtete und, als sie diese erreicht hatte, immer breiter und höher wurde, ein Tor, ein Riesentor zwischen violett, blau und dunkelrot strahlenden Feuerpfeilern, die sich oben zu einer blutig hellrot glänzenden Spitze vereinigten. Aus diesem Tor brach ein Stern des hellsten, klarsten Lichtes, von unwiderstehlichen, elementaren Gewalten herausgetrieben. Sobald er das Tor verlassen hatte, verbreiterte er sich nach allen Seiten, und zwar in einer solchen Weise, daß sogar wir von ihm überflutet und beleuchtet wurden. Die Nacht um uns her verwandelte sich in Dämmerung. Das Firmament schien zurückzutreten, und einige Gestalten, die soeben da unten auf dem Denkmalplatz aus dem Tor des Palastes traten, waren so deutlich zu erkennen, daß man sah, wie sie sich bewegten. Welch eine Eruption! Welch eine Fülle von leuchtender Kraft und glühenden Stoffes entströmte dem Innern der Berge, die man zu übersteigen hatte, um hinauf nach Dschinnistan zu kommen! Der Anblick dieses unbeschreiblichen Schauspiels ergriff und packte mich. Es war mir, als würde ich von ihm emporgehoben. Ich begann, zaghaft zu werden, und hielt mich am Geländer fest. Die Priesterin aber bog sich weit vor und rief so laut, als ob man sie da oben am leuchtenden Tor des Paradieses hören solle:

»Das ist es! Ja, das ist es! Das geöffnete Tor des verlorenen Paradieses! Hätten wir nicht sterbliche, sondern unsterbliche Augen, so würden wir die Heerscharen der Engel sehen! Und hätten wir nicht ein sterbliches, sondern ein unsterbliches Gehör, so würden wir jetzt die Stimme des Obersten dieser Heerscharen vernehmen, die über den ganzen Erdkreis schallt: Ist Friede auf Erden?«

Sie rief in ihrer Begeisterung diese Frage viermal von hier oben in die Tiefe hinab, und zwar in die verschiedenen Himmelsrichtungen, nach Norden und Süden, nach Osten und Westen. Fast hätte auch ich begeistert und ebenso laut wie sie die Antwort meiner Überzeugung und meines Herzens in alle Winde hinausgerufen: »Noch ist nicht Friede, aber Gott hat ihn uns verheißen; die ganze Erde bittet um ihn, und darum wird er kommen!« Aber ich bezwang mich und war still. Und das war gut. Denn wie auf der Erde das Böse gleich beim Guten und der Schatten gleich beim Licht steht, so auch das Lächerliche gleich beim Erhabenen. Kaum war die Frage der Priesterin verklungen, so scholl von da unten, wo die Männer vor dem Tor des Palastes standen, die Stimme meines kleinen Hadschi Halef herauf:

»Fällt uns gar nicht ein! Wir fangen schon morgen an, zu exerzieren und zu marschieren! Unser Kriegsplan steht schon fest. Kannst du mich sehen, Sihdi?«

»Ja«, antwortete ich, natürlich vollständig entgeistert.

»Ich dich auch! Jedenfalls noch besser als du mich. Was ist denn das für eine Helligkeit?«

»Sie kommt von feuerspeienden Bergen.«

»Muß das bei Nacht sein? Können die nicht warten? Ich muß schlafen. Dieser Simmsemm drückt mir die Augen zu. Der Oberst und die beiden Leutnants führen mich heim. Gute Nacht, Sihdi! Komm bald nach!«

»Wer war dieser Mann?« fragte die Priesterin beinahe zornig, denn auch sie fühlte sich wie aus einem Himmel gerissen.

Taldscha klärte sie über den kleinen Mann und seine Verdienste auf. Da verrauchte der Zorn der Greisin sehr schnell, und sie sprach:

»Da hast du gleich den ganzen Gegensatz zwischen Erde und Himmel! Bei uns hier oben ertönen Engels- und Friedensworte; da unten aber führt der Simmsemm das Wort und spricht vom Exerzieren und Marschieren! Aber, Sahib, sorge dich nicht um die Macht des Himmels! Und sorge dich auch nicht um das Schicksal der Erde! Der Krieg, den heut der Simmsemm beschlossen hat, den wirst du schnell zum guten Frieden führen. Es hat schon mancher Halef Omar behauptet, der Kriegsplan stehe fest, und sich dann trunken heimführen lassen; aber die Ausführung und das Gelingen dieses Planes liegt in der Hand eines Höheren, und da dieser Höhere will, daß sich die Völker lieben, so sind sie wohl beide längst schon unterwegs, nämlich der Friede zum Kommen und der Krieg zum Gehen!«

Sie stemmte den einen Arm auf die Balustrade, schaute weit hinaus, dahin, wohin ihre Gedanken gingen, und sprach weiter:

»Daß Friede werden muß, das fühle ich. Ja, ich weiß es ganz gewiß. Ich stamme aus Sitara, wo man den Krieg nicht kennt und jedes Wort ein Wort der Liebe und Versöhnung ist. O du mein Vaterland, mein herrliches und liebes! Ich sah dich nie. Jedoch den letzten Blick, den meine Ahnen scheidend auf dich warfen, den haben sie als heiliges Vermächtnis hinterlassen. Er ist von Glied zu Glied auf mich gekommen. Mit ihren Augen sehe ich dich schon heut, doch mit den meinen erst, wenn ich gestorben bin, du Land der Seelen, Land der Liebe, Land der ...«

»... der Sternenblumen!« fiel ich ein.

Sie fuhr mit einem schnellen Ruck zu mir herum, richtete sich hoch auf und fragte:

»Der Sternenblumen? Kennst du sie?«

»Ja«, antwortete ich.

»Was weißt denn du von ihnen?«

»Daß Taldscha nach ihnen duftet; nur wußte ich nicht, woher. Jetzt aber weiß ich es: Sie ist deine Freundin. Dir ist dieser Dufthauch angeboren. Sie hat ihn von dir!«

Sie trat einen Schritt näher und fragte:

»Aber du? Woher ist er dir denn bekannt? Dir, dem Fremdling, dem Europäer?«

»Auch ich habe ihn!«

»Von wem?«

»Von Marah Durimeh.«

»Von Marah Durimeh?« rief sie nicht, sondern schrie sie laut. »So ist auch sie dir bekannt?«

»Bekannter als du und Taldscha und alle hier am Ort! Sie ist meine Freundin, meine Beraterin, meine Beschützerin.«

»So hast du sie gesehen? Mit ihr gesprochen – wirklich?«

»Schon oft, schon oft! In verschiedenen Gegenden! Auch in Sitara schon!«

»Du warst ...« sie unterbrach mich, ergriff meine Hand, zog mich näher zu sich heran, sah mir in die Augen und fuhr fort: »Du warst schon in Sitara selbst?«

»Ja!«

»Sag mir die Wahrheit, ja die Wahrheit! Ist es wirklich so?«

»Ja, wirklich!«

»Höre, ich prüfe dich! Was du sagst, ist fast unmöglich!«

»So prüfe!«

»Das werde ich tun. Höre, und antworte mir! Es soll dort eine Schmiede geben, eine ganz sonderbare, berühmte, alte Schmiede. Sie liegt im tiefen Wald. Es wird nicht Eisen dort geschmiedet, sondern etwas ganz anderes. Wenn du bei Marah Durimeh gewesen bist, so kennst du diese Schmiede unbedingt! Sie liegt in Sitara.«

»Nein, sondern nur an der Grenze von Sitara, nämlich in Märdistan. Nur wer in dieser Schmiede zu Stahl gehärtet worden ist, darf nach Sitara kommen.«

»Aber – aber – du sagtest doch, daß du in Sitara gewesen seist?«

»Allerdings!«

»Also auch in der Schmiede?«

»Ja.«

»Im Feuer, auf dem Ambos, im Schraubstock?«

»In allen Qualen, die es dort gibt.«

Sie war von dem, was sie hörte, fast außer sich. Sie atmete tief und schwer.

»So kennst du den Bericht? Kennst seine Worte?« fragte sie.

»Schon längst!«

»So sag sie! Sag wenigstens den Anfang!«

Ich gehorchte ihr, indem ich die meinen Lesern wohlbekannte Schilderung rezitierte:

»Zu Märdistan, im Walde von Kulub,
Liegt einsam, tief versteckt die Geisterschmiede.
Nicht schmieden Geister; nein, man schmiedet sie!
Der Sturm bringt sie geschleppt um Mitternacht,
Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.
Der Haß wirft sich in grimmer Lust auf sie.
Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.
Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.
Im Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug
Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer ...«

Die Priesterin hatte mich bis hierher zitieren lassen; aber ihre Erregung ließ sie nicht länger schweigen. Sie unterbrach mich, um selbst fortzufahren:

»Da, jetzt, o Mensch, ergreifen dich die Zangen.
Man stößt dich in den Brand; die Bälge knarren.
Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,
Und alles, was du hast und was du bist,
Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,
Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,
Gedanken und Gefühle, alles, alles
Wird dir verbrannt, gepeinigt und gemartert
Bis in die weiße Glut ...«

Da wurde auch sie unterbrochen. Die Herrin der Ussul ergriff das Wort, um die Schilderung der Vorgänge in der Geisterschmiede fortzusetzen:

»Da reißen dich die Zangen aus dem Feuer.
Man wirft dich auf den Amboß, hält dich fest.
Es knallt und prasselt dir aus jeder Pore.
Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.
Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu,
Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer
Und schmettert ihn gefühllos auf dich nieder.
Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord,
Ein Mord an dir. Du meinst, zermalmt zu werden.
Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten,
Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner.
Und dennoch mußt du wieder in das Feuer –
Und wieder – immer wieder, bis der Schmied
Den Geist erkennt, der aus der Höllenqual
Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag
Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt.
Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.
Die kreischt und knirscht und frißt von dir hinweg
Was noch ...

»Halt ein!« rief da die Priesterin. »Das ist nicht Sage und nicht Märchen, sondern Wahrheit! Das ist wirklich und wirklich die Schmiede, in der ein jeder, der nach Sitara will, vom Schmerz und seinen riesigen, erbarmungslosen Gesellen geglüht, gehämmert, gefeilt und gestählt werden muß, um aus einem Gewaltmenschen in einen Edelmenschen verwandelt zu werden! Nur wer dies geworden ist, der weiß, durch welche Leiden, Qualen und Martern er gehen mußte, und doch haben all die Tausende, die um ihn und mit ihm leben, keine Ahnung davon! Nicht seine Worte, sondern seine Werke verraten es. Höchstens vielleicht noch seine Augen, diese armen, für alle Zukunft noch qualerfüllten Augen, aus deren tiefstem Hintergrund das dunkle Bild der Geisterschmiede schimmert! Wunderst du dich, Sahib, daß ich diese Schmiede kenne?«

»Nein, denn du hast mir ja gesagt, daß deine Ahnen aus Sitara stammen. Aber daß auch Taldscha von ihr wisse, das habe ich nicht gedacht.«

»Sie erfuhr es von mir. Ich mußte es ihr sagen, denn selbst erleben kann sie es nicht, weil sie zu den anderen gehört, denen Gott es erlaubt, nicht durch das Leid, sondern durch das Glück veredelt zu werden. Aber nun frage ich dich, ob du wohl errätst, welche Bitte mir auf dem Herzen hegt, seit ich erfahren habe, daß du nicht nur von Marah Durimeh weißt, sondern daß du sie persönlich kennst und daß sie sogar deine Freundin ist?«

»Es ist sehr leicht zu erraten«, antwortete ich.

»So bitte, sage es!«

»Ich soll dir erzählen, wann, wo und wie ich Marah Durimeh kennengelernt habe.«

»Ja, das ist es. Bist du bereit, uns diesen Wunsch zu erfüllen?«

»Sehr gern! Wenn du Zeit hast, mich zu hören.«

»Die habe ich. Nachdem der Sahahr Opium getrunken hat, wird er nicht vor Anbruch des Morgens erwachen. Und müde bin weder ich noch Taldscha, meine Freundin. Wenn wir von Marah Durimeh hören können, wird für uns sogar die Nacht zum Tag. Und schau der heutigen Nacht in die klaren, offenen Augen! Auch sie schläft nicht, sondern sie wacht. Fordert uns nicht alles, was unter, über und um uns ist, geradezu auf, von der großen, wundertätigen Herrin von Sitara zu reden? Unter uns der dunkle Raum des Ussultempels, der für mich den Anfang aller Glaubenswege bedeutet, die zu Gott führen. Über uns die strahlenden Sternenwelten, die unsern Blick nach oben ziehen, um uns die Richtung dieser Wege zu zeigen. Und rings um uns her das farbenreiche, mystische Licht, in welches sich die schwere, feste und starre irdische Hülle auflöst, weil sie uns zu offenbaren hat, daß sie einst aus der Höhe kam und durch diese Wandlungen und Läuterungen nun wieder nach dort zurückgeführt wird. Dieses Licht beruht auf diesem seinem Himmelspfad unser Gemüt. Es klopft im Vorüberstrahlen an unser Herz. Es gibt uns heilige Stimmung und macht uns empfänglich für jede Botschaft, die aus dem Land der Liebe und Güte zu uns kommt. Auch du bist ein Bote für uns, Sahib, und was du sagen wirst, ist heilig. Darum setze dich! Setze dich uns gegenüber, und sprich von ihr! Von der herrlichen, mächtigen Frau, welche die höchste und die reinste irdische Seele ist, weil alles Gute, was wir tun, indem wir das Böse überwinden, sich erst an ihr zu formen und zu verewigen hat, bevor es unsere eigenen Gestalten verschönert und verklärt. Komm, setze dich – und erzähle!«

Ich folgte dieser Aufforderung. Mein Bericht über mein Verhältnis zu Marah Durimeh war weniger ein Erzählen als vielmehr eine Beantwortung von Hunderten von Fragen, die von den beiden begeisterten Frauen an mich gerichtet wurden. Wir saßen noch stundenlang, in stiller Nacht, auf der Zinne des innerlich dunklen Tempels, aber im Flammenschein der Licht und Wärme schleudernden Vulkane. Es wäre wohl manchem meiner Leser interessant, zu erfahren, was meine beiden Zuhörerinnen zu fragen und zu forschen hatten, und ich möchte gern einen jeden, der diese meine Zeilen in die Hand bekommt, in dieses Allerheiligste der Menschenseele blicken lassen; aber ich muß alles vermeiden, was zu der falschen Meinung leiten könnte, daß ich mit meinen Erzählungen sonderreligiöse oder aftertheologische Zwecke verfolge, und so will ich, wie so oft, auch hier über alles das hinweggehen, was lehrhaft erscheinen könnte.

Wenn ich gesagt habe, daß wir noch stundenlang saßen, so ist das sehr reichlich gemeint. So oft ich mich von meinem Sitz erhob, um Schluß zu machen, wurde ich gebeten, noch zu bleiben. Als aber endlich im Osten der erste, blasse Gruß des Tages mit dem auch dorthin dringenden Licht der Vulkane zusammenfloß, sahen die beiden Freundinnen ein, daß es notwendig sei, sich mit dem, was sie jetzt gehört hatten, einstweilen zu begnügen. Wir verließen die Plattform des Tempels, um wieder hinabzusteigen. Der Diener war trotz der Geduldsprobe, die man ihm zugemutet hatte, noch da. Er bekam das Zeichen, den Leuchter wieder emporzuziehen. Von dem Schein der fast gänzlich niedergebrannten Lichter begleitet, gelangten wir hinab und traten in das Freie. Die Frauen bedankten sich. Die Priesterin hatte noch einen besonderen Auftrag für mich, der ihr unendlich am Herzen lag. Ich hatte im Verlauf unserer Unterredung Veranlassung gefunden, meinen Besuch bei dem Dschirbani auf der Insel der Heiden anzudeuten. Sie kam jetzt hierauf zurück, indem sie sich erkundigte, wann ich diesen Besuch zu machen gedenke.

»Er hat mich um die Mitte des Vormittags bestellt«, berichtete ich ihr.

»Möchtest du mir die Güte erweisen, ihm eine Bitte von mir zu überbringen?«

»Gern! Befiehl über mich!«

»Er ist mein Enkel, der Sohn meiner Tochter, und doch war es mir verboten, mit ihm zu verkehren. Es gab Rücksichten, die mich zwangen, dies dem Sahahr zu versprechen. Wir lieben uns, wie Gott und die Natur es verlangen, auch grüßen wir uns, doch nur von weitem. Jetzt aber ist der Sahahr so schwer verletzt, daß nur die Kunst seines Enkels ihn vom Tode zu erretten vermag, und da fühle ich mich nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, für diesesmal mein dem Sahahr gegebenes Versprechen aufzuheben. Ich bitte dich, dem Sohn meiner Tochter zu sagen, daß ich genau um die Mittagszeit im Tempel sein werde, um mit ihm zu sprechen. Und auch noch um ein anderes muß ich dich bitten. Es betrifft den Sahahr. Seit er verwundet heimgebracht worden ist, haben ihn ganz eigenartige Gedanken ergriffen. Es ist, als ob er phantasiere, aber doch ist er bei Sinnen. Erst hielt ich es für ein sehr frühzeitig auftretendes Wundfieber, bis mich der Puls überzeugte, daß dies ein Irrtum sei. Was aus diesen Gedanken wird, weiß ich noch nicht. Sie beschäftigen sich auch mit dir. Aber mögen sie sich entwickeln, wie sie wollen, so bitte ich dich, überzeugt zu sein, daß der Sahahr deine Hochachtung verdient und ein Mann ist, der nur das Glück und Wohl seines Volkes will. Er haßt seinen Enkel nur als den Sohn des Dschinnistani, der den Ussul den Stamm ihrer Priesterinnen vernichtete; als den Sohn seines Kindes aber liebt er ihn heimlich um so inniger. Und dieser innere Kampf, dieser Zwiespalt ist es, der ihn nach außen hin so hart und grausam macht.«

»Konnte deine Tochter denn nicht auch als Frau des Dschinnistani deine Nachfolgerin werden?« fragte ich.

»Er war ja doch Ussul geworden!«

»Nur äußerlich, doch nicht innerlich. Sein Glaube war ein anderer als der unsere, und er zog den ihrigen zu sich hinüber. Wäre sie dem Glauben ihrer Väter und Mütter treu geblieben, so wäre sie auch als Frau dieses Mannes Priesterin geworden, aber er hätte der Nachfolger meines Mannes, also Sahahr, werden müssen, und das, das wies der Dschinnistani streng von sich zurück.«

»War sein Glaube so verschieden von dem euren?«

»Ja. Zwar hat er ihn nie in Worten gelehrt, ihn aber immer in einer Weise bekannt, die tiefer und länger wirkt, als Worte wirken können. Du wirst das sehen, sobald du die Insel der Heiden betrittst. Wirst du mir meine Bitte, die sich auf den Sahahr bezieht, erfüllen können?«

»Sie ist bereits erfüllt. Ich achte ihn. Darum bedaure ich es von Herzen, daß wegen seiner Verwundung nun wohl ein anderer die Zeremonie unserer Aufnahme unter die Ussul leiten wird.«

»Welche Zeremonie?« fragte da die Frau des Scheichs.

»Von der er gestern sprach, nachdem ich den Adler geschossen hatte. Er sagte, das sei eine heilige Zeremonie, die er als Priester vorzunehmen habe.«

Da lachte Taldscha lustig auf, indem sie rief:

»Um diese heilige Zeremonie habe ich ihn und euch gebracht, indem ich eure Aufnahme nicht im Tempel, sondern während des Abendessens beim fröhlichen Genuß des Simmsemm geschehen ließ. Aber sorge dich nicht etwa um ihre Gültigkeit! Es kann kein Mensch etwas an ihr ändern! Du bist Ussul und bleibst Ussul, wenn die Zeremonie auch keine so ernste gewesen ist, wie die Sahahr sich gestern dachte!«

Hierauf begleiteten wir die Priesterin nach ihrem in der Nähe liegenden Haus; ich brachte Taldscha nach dem Palast und wendete mich dann heim nach unserer gastlichen Wohnung.


 << zurück weiter >>