Fritz Mauthner
Vom armen Franischko
Fritz Mauthner

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wie der Franischko das Stehlen lernte

Ein zerlumpter Slowakenbube saß am Wegrand, kaum hundert Schritte vom letzten Häuschen des wohlhabenden Dorfes entfernt. Als er den Herrn Pfarrer vom nahen Walde daherkommen sah, trocknete er versuchsweise mit dem Handrücken sein Gesicht und hörte auf zu schluchzen; aber der fliegende Atem seiner Brust, die roten Augen und der verstörte Ausdruck bewiesen, daß er lange und bitterlich geweint haben mußte.

»Wie heißest du, mein Sohn?« fragte der Pfarrer und streckte dem ängstlichen Knaben die Hand zum Gruße entgegen.

»Franischko, Eure Gnaden!«

»Wie heißest du ferner?« fragte der Pfarrer wieder.

»Ich weiß ich nix.«

»Wo sind deine Eltern?«

»Mamka ist zu Hause, weit, viel weit, daß mir Füße sehr weh tun, und Tatko...« Der Knabe konnte vor Schluchzen nicht weiter sprechen.

»Ist dein Vater gestorben?« unterbrach der Pfarrer ungeduldig die Pause.

»Tatko ist nicht gestorben. Hat kleines Franischko mit sich genummen von Haus und wullt Mamka Geld für Steuer mitbringen. Gestern is kummen Pulizeit und hat weggenommen alles. Oje, oje! Und Tatko hat Pulizeit mitgenommen und hat einsperrt und hat Franischko allein lassen!«

Dem Pfarrer wurde der Jammer des Knaben peinlich. Er wandte sich zu gehen, doch noch einmal redete er den Buben an.

»Du sollst nicht stehlen!« sagte er, indem er seinen Finger milde drohend emporhob. Hierauf ließ er den Knaben allein und hörte nicht mehr, wie das Kind mechanisch: »Sollst nix töten! Sollst nix stehlen! Sollst nix ehebrechen!« vor sich hin murmelte. Töten? Stehlen? Ehebrechen? Franischko verstand die Bedeutung dieser Silben nicht, aber bei den Worten des Pfarrers hatte er sich an die einzigen deutschen Sätze erinnert, welche die Mamka sprechen konnte und die sie ihrem Söhnchen als Schutz gegen böse Geister ins Gedächtnis eingeprägt hatte. Franischko freute sich, daß auch der Herr Pfarrer die Sprüche der Mamka kannte.

Doch was beginnen? Sein Vater war sein Herr, sein Beschützer, sein Ernährer. Sein Vater weckte ihn des Morgens, führte ihn umher und wies ihm seine Arbeit an, gab ihm das Brot, das er essen, den Schluck Wasser, den er trinken durfte; sein Vater schlug ihn, wenn er ungehorsam, und trug ihn auf den Schultern, wenn er müde war. Franischko kannte nichts auf der Welt als seinen Vater. Wer wird ihm jetzt zu essen geben? Und Franischko hat Hunger.

Wohl hat ihm einst der Tatko gesagt: er könne sich sein Brot selbst verdienen, wenn er es genau so mache, wie der Vater. Ja, das war aber schwer! Freilich, schadhafte Töpfe ausbessern, neue Drähte in alte Fallen einziehen, darauf verstand sich Franischko schon recht gut; auch wußte er zu fordern und mit den Feilschenden handelseins zu werden. Für die Mausefalle so viel »Krajzari«, für die große Blechstürze so viel; und wenn die Bauersfrau schalt, so ließ er's um die Hälfte. Ja, aber bisher war er nur in Begleitung des Vaters an den großen Kettenhunden vorbei in die Bauernhöfe gedrungen; allein hätte er es nicht gewagt. Franischko hatte fünf ältere Brüder, die alle das Handwerk schon fleißig übten; zwei in Böhmen – die jüngsten, zwei in Wien, einer am Rhein – der älteste. Franischko selbst war erst vor einigen Wochen zum ersten Male mit dem Vater in die Welt gezogen; noch hatte er nicht ausgelernt und schon war er allein, plötzlich allein, und hatte Hunger.

Er mußte es machen, wie es der Vater machte – das war klar. Er raffte sich also auf, warf seine Waren über die rechte Schulter und schritt dem Dorfe zu. Schon war es Feierabend, es dunkelte. Franischko blieb ängstlich vor dem Tore des nächsten Hofes stehen und ließ erst leise, dann laut und gellend sein: »Drahtowat!«»Drahtowat« ist ein aus Stämmen zweier Sprachen zusammengesetztes Wort. Das deutsche »Draht« erhielt die slawische Verbalendung »owat« und bekam dadurch die Bedeutung »mit Draht binden«, es ist der Ruf, mit welchem die Slowakenjungen bei ihren Wanderungen durch die Straßen auf sich aufmerksam machen. erschallen, wie er es vom Vater gelernt hatte. Da vernahm er Hundegebell und Scheltworte; aufschreiend floh das Kind. Vor dem zweiten Bauernhause ertönte abermals, noch lauter und dringlicher, sein »Drahtowat!« Doch schon waren die Hunde des ganzen Dorfes aufrührerisch geworden. Von vorn und von hinten, von rechts und von links scheuchte ihn das wütende Gebell. Wie ein gehetztes Tier jagte der Knabe die Dorfstraße hinab. Er hörte nicht die Schimpfreden, die einzelne Bauern ihm nachriefen, welche nach dem Grunde des Lärmens schauten. Wenn ihn die Hunde packten!? Jetzt öffnete sich ein stilleres Seitengäßchen. Hier lief Franischko hinein; rechts trennte ihn ein niederer Zaun von einem Obstgarten. Darin bellte kein Hund. Mit einem Satze war er über die Bretter hinweggesprungen und da stand er, schwer atmend, unter dichten, von reifen Früchten niedergebogenen Zweigen eines Pflaumenbaumes.

Er hörte das Bellen nur noch aus der Ferne. Der Gefahr war er entronnen, Müdigkeit und Hunger stellten sich wieder ein. Sollte er zu dem Krümchen Brot, das er in der Tiefe seines schmutzigen Sackes noch vorfand, einige Pflaumen pflücken? Das ging nicht an, denn er durfte nur das essen, was ihm der Vater gab. Seufzend legte er sich unter dem Baume nieder, sehnsüchtig blickte er zu den Früchten empor. Wenn Mamka da wäre, sie würde ihn gewiß nicht hungern lassen! Mit diesem Gedanken schlief er ein. –

Ein derber Fußtritt weckte ihn auf. Es war heller Morgen, der Bauer stand vor ihm

»Verfluchter Krowat! Willst du wohl machen, daß du von hier fortkommst! Wer heißt dich, meine Zwetschgenbäume zu bestehlen? Gleich läufst du oder ich will dir mit meinem Stecken Beine machen!«

Schon war Franischko wieder auf der Straße. Indessen war die Bäuerin hinzugetreten und hielt ihren drohenden Mann zurück.

»Siehst du nicht, wie blaß der Junge ist? Wenn du so zuschlägst, wird er hin.«

»Ach was, es wäre just kein Unglück, wenn einer von diesen Halunken weniger im Lande wäre. Gestern haben sie den Alten eingesperrt, weil er dem Schmiedelfranz zwei Hühner gestohlen hat, und heut strolcht der Bub in meinem Garten herum. Da soll man wohl noch schön tun und dem Kerl selber die Pflaumen vom Baume holen? Laß mich in Ruh!«

Franischko stand jetzt auf dem Dorfplatz. Ihn kümmerte es wenig, daß die Dorfjungen ihn verhöhnten, daß sie boshaft oder lustig den Ruf »Drahtowat!« in langhingezogenen Tönen nachahmten, daß sie ihn »Mausiratzenfaller«, »Krowat« und »Slowak« schimpften, daß sie Erdklöße und sogar ganze Steine nach ihm warfen. Er dachte darüber nach, wie es der Vater machte, um zu einem Stücke Brot zu gelangen. Jetzt schien ja die liebe Sonne, jetzt brauchte er sich vor den Hunden nicht so zu fürchten, jetzt waren die Menschen nicht so mißtrauisch.

Von Haus zu Haus zog er, überall bot er seine Dienste an, überall umsonst. Erst gestern hatten die Bauern den Alten gefesselt durchs Dorf führen sehen, für die nächsten Tage wollten sie mit keinem Slowaken etwas zu tun haben. Hätte ihm das dreijährige Kind der ledigen Schulzenhofmagd nicht seinen Sonntagskuchen und die schöne Kellnerin vom »Roten Löwen« nicht ein Glas Milch geschenkt, er wäre vor Schwäche umgesunken.

Die Hitze des Tages nahm noch immer zu, obgleich es schon auf den Abend ging. Auf dem Platze stand ein Muttergottesbild. Franischko erinnerte sich an seine Mamka und setzte sich nachsinnend auf die Stufen der Säule. Wenn er stürbe, so käme er in den Himmel, hatte man ihn gelehrt. Er wollte aber nicht in den Himmel kommen, wenn es oben so heiß war.

Da kamen zwei Männer des Weges, der Pfarrer und neben ihm der Herr Adjunkt, ein junger Mann, der erst vor kurzem die Universität verlassen hatte.

»Ein störrisches Volk, diese Slowaken«, sagte eben der Pfarrer. »Selbst mein Zureden konnte den Mann nicht zum Geständnisse seiner Schuld bewegen. Leider, leider!«

»Da liegt sein Bub, Herr Pfarrer«, rief der Adjunkt. »Er ist kaum zwölf Jahre alt; er wird zu einer Aussage zu bringen sein. Kommen Sie, Herr Pfarrer; Sie werden vielleicht einem interessanten Verhör beiwohnen.«

Sie rüttelten den Knaben aus seinen Träumen auf. »Liebes Kind«, nahm der Adjunkt das Wort, »weißt du auch, weshalb sie deinen Vater eingesperrt haben?«

»Ich weiß ich nix.«

»So hast du denn gar nichts in der Schule gelernt? Nicht einmal die zehn Gebote? Weißt du denn nicht: Du sollst nicht stehlen?«

»Sollst nix töten! Sollst nix stehlen! Sollst nix ehebrechen!« murmelte der Knabe und schaute dabei dem Adjunkt so kummervoll, so unschuldig ins Gesicht, daß dem jungen Mann eine Ahnung aufging, das Kind müßte doch am Ende nicht an den Streichen seines Vaters beteiligt sein. Doch besann er sich und fuhr fort: »Hast du auch schon mit deinem Vater gestohlen?«

»Ich weiß ich nix.«

»Lassen Sie das Kind«, unterbrach der Pfarrer das seltsame Verhör.

Doch der Jurist ließ nicht mehr ab. »Wie, du wüßtest nicht, was stehlen heißt? Hast du noch niemals Erdäpfel aus dem Felde gezogen und sie beim Feuer des Erdäpfelkrautes gebraten?«

»Hab ich nix gezogen, hab ich nix braten.«

»Dein Vater aber tat es alle Tage. Nicht wahr?«

Franischko horchte hoch auf. Das also war es, was der Tatko machte, um zu essen zu haben? Ja, da mußte er es auch so machen. Was Tatko machte, das war gut. Vorsichtshalber fragte er aber doch: »Hat Tatko stohlen?«

»Freilich! Und du wirst ihm wohl dabei geholfen haben! Erinnere dich nur recht! Wo ein Haus leer stand, da ging dein Tatko hinein – he? – und was an Eßwaren dalag, das nahm er mit, he? Eine Wurst, einen Schinken, einen Brotlaib – he?«

Dem armen Franischko lief das Wasser im Munde zusammen; jetzt war ihm geholfen, er wußte, wie es der Tatko machte.

»Hab nit wußt!« sagte er, dankbar zu dem jungen Juristen aufblickend.

»Arme Seele«, rief der Pfarrer. Der Adjunkt lachte ärgerlich, und die Männer gingen ihres Weges weiter. –

Am Abend dieses Tages wurde der alte Franio aus seiner Haft entlassen, denn der wahre Hühnerdieb hatte sich gefunden. Der Slowak bekam sogar noch ein Stück Kommißbrot auf den Weg und den Rat, sich in diesem Bezirk nicht wieder blicken zu lassen; er war's zufrieden, doch machte ihm das Schicksal seines Buben schwere Sorge. Was war aus dem Kinde geworden? Niemand wollte es seit einigen Stunden gesehen haben, und die Nacht brach schon herein. Und überdies drohte ein schweres Gewitter.

Der Alte durchforschte die ganze Umgebung des Dorfes, lange umsonst; da, als er um eine Waldecke bog, an dessen Saume ein Kartoffelfeld lag, sah er seinen Buben. Er saß neben einem kleinen Feuer, in welchem Kartoffeln brieten; neben ihm, auf dem Rasen, glänzte ein Stückchen Speck und ein Würstlein. Als Franischko den Vater erblickte, sprang er auf und eilte ihm stürmisch entgegen. Der Vater war erschrocken.

»Wo hast du das her, Franischko?« fragte er in seiner Muttersprache.

»Oh, Tatko, du wirst mich loben«, rief das Kind. »Ich habe alles gemacht wie du. Und ich war sehr geschickt, du mußt mich jetzt alles lehren, was du kannst!«

»Wo hast du das her?« wiederholte der Vater.

Franischko schaute seinen Vater schelmisch an. Er zögerte mit der Antwort, um dessen Neugier aufs höchste zu spannen. Wie wird sich der Tatko freuen, wenn er hört, was sein braver Franischko in seiner Abwesenheit gelernt hat! Franischko war auf Speck und Wurst beinahe ebenso stolz wie damals, als er den Vater mit der ersten, eigenhändig ausgeführten Mausefalle überrascht hatte. Auch damals war sein Lerneifer gelobt worden.

Endlich hielt er sich nicht länger. Er wollte sein Lob einheimsen. Er rief vergnügt: »Schau, was ich Neues kann! Gestohlen hab' ich's! Ja, Tatko, ich hab' das Stehlen gelernt! Ganz allein hab' ich's gelernt.«

»Du Bankert!« schrie der Alte und warf wütend das Kind zu Boden. Doch schon besann er sich, setzte sich neben seinen Knaben auf die Erde, beruhigte ihn und fragte ihm allmählich ab, wie er denn das Stehlen gelernt hätte. Schwere Tränen rannen über das zermarterte Antlitz des Slowaken, als er den Bericht vernahm. »Pamboschko na nebi« (Gott im Himmel), rief er, »was wird die Mutter dazu sagen.« –

Das Feuer war erloschen. Franischko wartete seit einer Stunde darauf, daß sein Vater ihm zu essen gäbe. Jetzt zog der alte Franio das Stück Kommißbrot aus dem Sack, schnitt es in zwei Hälften; die eine gab er dem Knaben. Wurst und Speck hatte er in der ersten Erregung beiseite geworfen. Franischko ließ sich das harte Brot gut schmecken. Der Alte aber schielte fortwährend nach dem gestohlenen Gute hinüber. Wer's so gut haben könnte! Plötzlich schluckte er mit einem groben Fluche einen großen Bissen Brotes, an dem er schon lange herumgekaut hatte, herunter, holte das Weggeworfene scheu herbei und teilte es mit dem Kinde. Bald war das bißchen Nahrung verzehrt.

Wieder verging eine halbe Stunde. Das Gewitter brach los, und Franios Antlitz wurde immer härter.

»Franischko«, sprach er, »wo hast du das gefunden? – War noch mehr da? – Zeig mir den Weg!«


 << zurück weiter >>