Fritz Mauthner
Böhmische Novellen
Fritz Mauthner

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Die böhmische Handschrift

Erstes Kapitel

»Patzer!«

Der alte Doktor Scheibler rief's mit triumphierendem Lachen und legte mit der großen, knochigen Hand seine letzten Karten, fünf hohe Tarocks, breit auf den Tisch der Laube.

»Patzer! Oder hast du draußen in Deutschland auch verlernt, was Patzer heißt? Also: Stümper, mein gelehrter Herr Sohn! Tarockspielen hast du jedenfalls verlernt. Wie hast du nur Pagat ultimo ansagen können mit deinen schäbigen acht Tarockeln?«

Und der alte Doktor hielt seinem Sohne eine Standrede über alle Fehler, die er gemacht hatte.

Doktor Scheibler junior, in Oberntal und Umgegend immer noch, wie in seiner Knabenzeit, Doktorpeppi genannt, nahm kopfschüttelnd die Vorwürfe des Vaters entgegen. Es war etwas dran. Er hatte sich zwar »zu Haus«, in Prag, seinen Doktortitel geholt, kaum vierundzwanzig Jahre alt, war aber danach vier Semester lang draußen im Reich fleißig gewesen, in Straßburg, Leipzig und Berlin, hatte da außer dem Skatspiel noch manches andere gelernt, war aber im Tarock wirklich nicht mehr Meister. Das gaben ihm jetzt auch die beiden anderen Herren zu verstehen, der Pfarrer und der Fabrikant Weißmann. Er müßte jetzt endlich im Lande bleiben und wieder ordentlich tarocken. Mit dem Alten war ja sonst doch nicht auszukommen.

Doktor Scheibler senior nahm einen tüchtigen Schluck, strich sich dann mit der Hand den mächtigen weißrötlichen Prophetenbart und sagte polternd:

»Aus dem Peppi wird nichts, glaubt's mir! Ja, ich weiß schon, den Kopf hat er vollgepfropft. Jetzt ist er die zwei Monat hier und möcht' seinem Vater das bissel sauer erworbene Praxis abspenstig machen, der Lump. Aber Gott sei Dank, die Bauern und die Herren wollen von seiner Gelehrsamkeit nichts wissen. Sie bleiben mir treu, die Esel.«

»Wir auch,« rief der Pfarrer, und alle lachten; alle wußten, daß der alte Doktor stolz war auf seinen Sohn, daß der Doktorpeppi nur zur Erholung und seinem Vater zuliebe und vielleicht noch aus einem anderen Grunde die paar Monate in Oberntal aushielt. Der Doktorpeppi war draußen erster Assistent von einem Monstrum an Berühmtheit gewesen und dort auch Privatdozent an der Universität geworden; er wollte sich zum Wintersemester in Prag habilitieren und hatte für später die Berufung zur Professur gewiß schon so gut wie in der Tasche.

Die Herren spielten weiter, und der Doktorpeppi machte wieder einen Fehler. Dieses Mal zugunsten des Pfarrers, der sein gefährdetes Spiel gewann. Der Vater und der Fabrikant Weißmann fielen nun schon ärgerlicher über den jungen Doktor her. Kleintarock hätte er ziehen müssen, das wüßte doch jedes Kind. Und wieder schalt der Vater auf die deutschen Universitäten. Nach einem halb vergessenen Gerücht hatte der alte Doktor gar nicht ausstudiert, sondern sich Anno 48, als alles drüber und drunter ging, plötzlich als Arzt niedergelassen, sich rasch das Vertrauen der Bauern und die Gunst der Adeligen in der ganzen Umgegend verschafft und war so lange von den Behörden unbehelligt geblieben, bis niemand mehr daran dachte, ihn nach seinem Diplom zu fragen. Jedenfalls hatte er innerlich eine ungeheure Hochachtung vor der Wissenschaft und polterte nur so gegen Bücher und Bücherweisheit. Doch seine Scheu vor denen draußen im Reich war ganz echt.

Eben brummte er wieder: »Das ist's ja eben, daß sie draußen nur lesen und exerzieren können, aber das da, Pilsener und Tarock, keine Spur. Ich bin wahrhaftig ein guter Deutscher, und sag's den Tschechen, so oft ich kann. Aber das versteh' ich nicht, wie ein Deutscher sich außerhalb Österreichs wohlfühlen kann.«

Der Pfarrer schmunzelte zustimmend, und der Doktorpeppi sagte bedächtig:

»Weißt du, Vater, ganz so enthusiastisch möchte ich mich nicht ausdrücken. Ihr wart ja alle noch gar nicht draußen.«

»Oho!« riefen alle drei Herren.

»Na ja, ihr wart alle in der Sächsischen Schweiz, und Herr Weißmann sogar bis in Dresden. Aber ich versichere euch, es gibt drüben auch Menschen. Und wenn ich mich hier doch wohler fühle, ja, das ist schwer zu sagen, woran es liegt. Es muß irgendwie mit der Schlamperei zusammenhängen. Wo die Schlamperei anfängt, da spricht man halt wie ich, und kocht einen guten Kaffee mit dem Ton auf der letzten Silbe und macht einen ehrlichen Knödel.«

»Apfelstrudel nicht zu vergessen,« sagt der Pfarrer. »Und dann ... schön ist's hier! Donnerwetter, schön ist's!«

Der Doktorpeppi legte die Karten hin und blickte unruhig nach der Veranda, wo Libussa Weißmann mit dem Hauslehrer Laska plauderte. Die Mitspieler legten geschmeichelt die Karten hin. Der alte Doktor rief: »Auf dein Wohl, du Lausbub!« und der alte Pfarrer trat gar aus der Laube hinaus, holte tief Atem, neigte seinen großen runden Kopf und murmelte: »Ein schönes Stück Schöpfung!«

Es war ein Sonntagabend im Juni. Seit zwei Tagen hatte die arge Hitze nachgelassen, und der Nordwestwind kam doch nicht zu lästig herüber. Das Gebirge hielt ihn auf und ließ ihn nur den Duft der Wälder leise heruntertragen. Heute war es dazu noch so feierlich still. Vom Dorfe Oberntal war die stattliche Villa Weißmanns eine gute Viertelstunde entfernt, und von der Fabrik her, die wenige Minuten hinter der Villa am Abhange lag, war heute kein Laut zu vernehmen.

Die Unterbrechung des Spiels hatte eine ganze Weile gedauert. Als der Doktorpeppi aber vorschlug, aufzuhören und mit Libussa gemeinsam einen Spaziergang zu unternehmen, da wandten sich alle wieder gegen ihn. So nahm man die Karten wieder auf, und Spiel und Streit begannen von neuem.

Eine halbe Stunde später hatte der alte Doktor einen Valat angesagt und ihn nicht gerade durch einen Fehler seines Sohnes gewonnen; er hätte ihn aber vielleicht doch durch ein geniales Anspielen des Doktorpeppi verlieren können. Da verzog der Pfarrer den milden Mund und tadelte den jungen Gelehrten, daß er die schöne Gottesgabe seiner sieben Treffs nicht besser angewandt habe. Der Doktorpeppi sah sein Unrecht ein, legte aber plötzlich die Karten, die er mischen sollte, aus der Hand und sagte mit ernstem Ton:

»Ich will euch was sagen, Menschenskinder. Da ist Herr Weißmann, der Vater Libussas, da ist mein eigener Vater, und da ist endlich der Herr Pfarrer, der unser Freund ist und ohnehin von allem weiß und der schließlich seinen Segen dazu wird geben müssen. Und ich spiele nicht mehr und will jetzt endlich wissen, woran ich bin.«

Weißmann machte ein verlegenes Gesicht, und der alte Doktor schrie:

»Ich glaube gar, der Bub wird ungeduldig. Mitten im Tapper.«

Auch der Pfarrer zeigte einige Verstimmung und fragte, ob man mit so ernsten Gesprächen nicht lieber bis nach dem Nachtmahl warten wollte.

»Ich nicht,« sagte der Doktorpeppi. »Merkt's euch, das lernt man draußen auch: nicht zu wursteln, sondern ein Ende zu machen, wenn's nötig ist. Und ich habe es jetzt satt, mit euch Greisen hier Karten zu spielen, während sich drüben Libussa von dem jungen Hussiten wer weiß was in den Kopf setzen läßt. Ich bitte, Herr Weißmann, heute vor acht Tagen habe ich Sie um die Hand Libussas gebeten. Sie haben sich acht Tage Bedenkzeit ausbedungen und seitdem hat bald der Pfarrer, bald der Vater mir zugeredet, doch geduldig abzuwarten. Ich habe mir vorgenommen, bis heute sieben Uhr still zu sein. Jetzt hat es sieben Uhr geschlagen, und ich will meine Antwort haben.«

Der alte Doktor lachte vor Vergnügen.

»Wo er's nur her hat, dieser dumme Bub?! So ein Früchtel! Auf den Tag, wie er's sich's vorgesetzt hat, hat er seine Rigorosen gemacht. Dann ist er hinaus ins Reich mit einem Programm, so lang. Und alles hat er durchgesetzt. Und am Tage seiner Rückkunft hat er mir's gleich eingestanden, es wäre noch was in seinem Programm gewesen: wenn er fertig ist, heiratet er die Libussa. Was willst du eigentlich, Weißmann? Hast du mir's nicht hundertmal gesagt, mein Peppi und kein anderer müßte dein Schwiegersohn werden?«

»Wenn ich als Pfarrer mitsprechen darf, Weißmann, muß ich bemerken, daß Sie mir von unserem jungen Freunde oft und oft als von Ihrem künftigen Schwiegersohn gesprochen haben. Ja, recht eigentlich betrachtet, habe ich in müßigen Stunden schon manchmal an meiner Traurede für die beiden lieben jungen Leute gearbeitet. Jaja. Wu enner giht gern hin, zieht mer'n on een Haare hin.«

Weißmann kratzte sich den grauen Kopf.

»Kinder, Kinder,« sagte er, »als ob ihr nicht alle wüßtet, wie es steht. Natürlich sollst du mein Schwiegersohn werden, Peppi! Wer denn sonst? Doch nicht der Hofmeister? Der Böhm?

»Aber ihr wißt ja, hinten in meiner Fabrik, da bin ich der Herr, aber hier im Haus und im Garten ... Ich habe mir ja gar keine Bedenkzeit ausgebeten, Libussa war's. Und das muß ich dir nun sagen, Peppi, ich hin gar nicht zufrieden mit dir. Wer hat dich geheißen fortlaufen zu den Preußen? Wärst du hier geblieben, so wärst du längst Libussas Mann oder wenigstens ihr Bräutigam, und es wäre alles in schönster Ordnung. Oder wenn du wenigstens jetzt, diesen Sommer, dich so aufgeführt hättest, wie so ein junges Mädel es gern hat. Wie, das wäre deine Sache gewesen. Meinetwegen mit Mondscheinpromenaden und Rosenknospen und Gedichten und Musik oder noch lieber sie vor meinen Augen ordentlich abküssen und dann sagen, so, wir haben uns verlobt, Weißmann, geben Sie nachträglich die Erlaubnis dazu. Aber nein, da mußt du nach deiner Ankunft das dumme Ding examinieren, wie sie über Gott und die Welt denkt und über die Pflichten der Frau und über die Nationalitätenfrage und Gott weiß was, und dann, wie die Prüfung noch glücklich soso ausgefallen ist, kommst du zu mir und schickst mich zum Mädel. Natürlich hat ihr das nicht gefallen, und sie läßt dich zappeln, bis du warm wirst.«

»Lieber Herr Weißmann,« sagte Doktorpeppi lebhaft, »über meine Empfindungen spreche ich mit keinem Menschen, auch nicht mit dem Vater meiner Braut. Daß ich sie gern habe, das kann sich Libussa wohl denken, da ich sie heiraten will, und mein Vorgehen halte ich auch jetzt noch für die einzig korrekte Form.«

»Korrekt hin, korrekt her,« sagte Weißmann ärgerlich, »sag' auch noch schneidig, damit die Libussa dich für einen ganzen Preußen hält.«

»Und der Bub hat doch recht,« sagte der alte Doktor und richtete sich mit seiner hohen, hagern Gestalt in der Laube auf und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch, als ob er so leiser zu sprechen vermöchte. »Du hättest diesen Hussiten nicht in dein Haus aufnehmen sollen. Schon, daß du das Mädel vor zwanzig Jahren hast Libussa taufen lassen ...«

»Einundzwanzig,« unterbrach der Doktorpeppi.

»Also einundzwanzig, Federfuchser! Schon das war nicht recht. Ich weiß, ich weiß, du hast es dem seligen Pfarrer zulieb getan! Ein Skandal war's, daß man uns damals einen Tschechen nach Oberntal gesetzt hat. Ich sag' dir, Hochwürden, das war einer! Niemals ein Wort vom Tschechentum. Immer hat er nur vom glorreichen Königreich Böhmen gesprochen. Aber wenn's nach ihm gegangen wäre, so hätten alle unsere Kinder aus lauter Friedensliebe tschechisch gelernt. Und wo er bei der Taufe so 'nen recht beliebten Landesheiligen hat auftreiben können, da hat er's getan. Die Hälfte Buben aus der Zeit heißen Wenzel. Und hat ihm gar nichts ausgemacht, den Kindern von den Hussitenkriegen zu erzählen. Der war mehr Tscheche als katholisch.«

Der Pfarrer räusperte sich, sagte aber nur: »Ja, ja, wir haben seltsame Heilige unter diesen böhmischen Amtsbrüdern.«

Der alte Doktor nickte und sprach weiter:

»So steckt ihr von Kindheit her so was im Kopf, und wie der Hofmeister da drüben gekommen ist, da hat er sie natürlich gleich bei ihrer schwachen Seite gefaßt. Den Schwindel kennen wir.«

»Ich bitte dich, Doktor, nicht so laut,« sagte Weißmann. »Ihr wißt, wie ich über diese Dinge denke. Ich bin ein guter Östreicher und zahle meine Steuern. Und im Lande Böhmen sind wir zu Hause, wo Deutsche und Tschechen friedlich nebeneinander wohnen sollten. Ich gebe gern ein gutes Beispiel. Meine selige Frau war gar keine richtige Deutsche, und so ist es kein Wunder, wenn meine Tochter ein bißchen hinüberhört. Das ist doch kein Unglück! Und wenn sie auch noch so viele von den böhmischen Volksliedern singt! Ihre Kinder werden ganz gut dabei einschlafen.«

Der alte Doktor schlug auf den Tisch:

»Das sieht dir ähnlich, das sieht dir ganz ähnlich! Einschläfern laßt ihr euch von diesen Liedern, von denen ich nicht zwei Worte nachsprechen könnte, ohne auf meine alten Tage den ersten Backenzahn zu verlieren. Und deine Selige, sonst so ein gutes Weib, wurde immer empfindlich, wenn man sie eine Böhmin nannte. So viel machte sie sich daraus!«

»Ja damals,« bemerkte der Pfarrer seufzend. »Damals waren noch andere Zeiten. Damals galt unsere schöne deutsche Muttersprache noch etwas im Lande. Damals schämte man sich noch, kein Deutscher zu sein. Heute würde Ihre Selige sich wahrscheinlich damit brüsten, eine Tschechin zu sein. Und vor Gottes Gericht ist das halt ganz einerlei. Möchten wir aber nicht ...«

»Mein Bub hat ganz recht,« rief der alte Doktor, setzte sich aber nieder, als ob er das Gespräch abbrechen und nur das letzte Wort haben wollte. »Der Laska muß wieder aus dem Haus.«

»Hochwürden hat ihn mir ja empfohlen,« rief Weißmann gereizt.

Der Pfarrer nahm eine Prise und machte ein bekümmertes Gesicht dazu.

»Das ist nicht ganz richtig, lieber Weißmann. Ich habe Ihnen die Empfehlung nur vermittelt und habe Ihnen nicht verschwiegen, daß sie von tschechischer Seite kam. Mein Gott, mein Gott,« fügte der Pfarrer plötzlich mit ernster Bekümmernis hinzu, »wie schön müßte es sein, wenn wir diese anderen nicht hier hätten, diese, diese ... es ist ja eine Sünde, aber ich glaube immer, mit dem lieben Gott darüber hadern zu müssen, daß er uns nicht allein eingesetzt hat in dieses schöne Land. Aber so ist's immer. Unserm Herrgott steckt man ee Kerzl an, dem Teifl zwei.«

»Auf dein Wohl, Hochwürden,« sagte der alte Doktor und trank.

Weißmann aber putzte sich ärgerlich die Brillengläser und sagte: »Einerlei, Sie haben ihn empfohlen und ich habe ihn genommen, und nun ist er da und stellt mich zufrieden, und ich behalte ihn, solange er für meinen Buben, den Franzel, ein guter Lehrer ist und der Libussa nichts vorträgt, als über Goethe und solche Geschichten. Was wollt ihr denn von mir? Ich lasse ihn ja nicht einmal im Hause wohnen. Beim Schmelkes wohnt er, freilich, weil es Libussa so angeordnet hat. Und wenn sich der hergelaufene Kerl was einbildet, so setze ich ihn gleich vor die Tür. Und morgen spreche ich mit Libussa ein ernsthaftes Wort. Sei ruhig, Peppi, und gib Karten.«

Franzel kam herbeigelaufen. Ein hübscher, etwas dicker Bursche von zwölf Jahren.

»Du, Peppi, wie heißt das da eigentlich auf lateinisch?« Und er streckte dem jungen Doktor einen Büschel frühen Thymian unter die Nase.

»Thymus...«

»Laß ihn in Ruh', dummer Fratz,« rief Weißmann. »Frag' den Herrn Laska. Peppi hat Karten zu geben und kann dabei seinen Kopf nicht anstrengen.«

»Ach ihr!« rief Franzel und lief mit seinen Pflanzen aus der Laube heraus, an einer kleinen Allee hochstämmiger Teerosen vorüber auf die Veranda zu.

Zweites Kapitel

Es war eine geräumige Veranda, auf welcher Libussa Weißmann und Mikulasch Laska zu beiden Seiten eines kleinen Tischchens auf bequemen Rohrstühlen saßen. Die Stühle standen weit genug voneinander, aber beide hatten sich an den Tisch gelehnt und blickten eben jetzt in die Landschaft hinaus.

Das enge Tal wurde von dem Besitztum Weißmanns vollkommen ausgefüllt. Auf der einen Seite ging der Schwarzenberg bis zur Gebirgsstraße hinunter, und gegenüber grenzte Fabrik, Hof, Villa und Garten hart an den Abhang des Obernbergs. Diese Veranda war namentlich am Abend der liebste Aufenthalt der Familie, sie ging nach Süden. Dann war die Sonne schon hinter den Tannen des Schwarzenbergs untergegangen, aber weiter hinab lag noch das volle, warme Abendlicht auf dem greifbar nahen Landschaftsbilde. Meilenweit senkte sich die Fläche hinab, bis dorthin, wo man aus den gewaltigen Kohlengruben bei Dux den Rauch aufsteigen sah. Überall reife Felder und grüne Wiesen, überall die roten Dächer und Türme der Dorfkirchen, die neue Kirche von Oberntal zunächst. Und weiter in der Ebene konnte man heute deutlich die dunkleren Massen zweier kleinen Städte liegen sehen, und weit zur Linken ragte der malerische Schloßberg von Teplitz wie im Nebel hervor, und dann die mächtige Kuppel des Donnersbergs. Geradeaus lagen die Höhen des Mittelgebirges wie purzelnde Gassenjungen; und rechtshin konnte der Blick am Gebirge vorbei ins Endlose schweifen bis zu den reichsten Landschaften Böhmens, und was man sah und was man wußte, vereinigte sich zu einer stolzen Freude, gerade an dieser Stelle der Erde zu Hause zu sein.

Libussa folgte den Augen des Hauslehrers und sagte unwillkürlich: »Schön.«

»Ja, unser ehrwürdiges Königreich Böhmen ist ein schönes Land, bekanntlich das schönste von der Welt,« sagte Mikulasch Laska mit seiner tiefen, weichen Stimme, aber mit pedantischer Feierlichkeit. Er redete ganz richtiges Deutsch, in der Wahl seiner Worte sogar dialektfreier als die meisten deutschen Bewohner von Oberntal, aber die Aussprache war slawisch und auffällig durch die gleichmäßige Betonung aller Silben.

Franzel sprang die wenigen Holzstufen zur Veranda hinauf.

»Bitte, Herr Laska, wie heißt doch das da auf lateinisch?«

»Thymus vulgaris,« erwiderte Laska, ohne zu zögern. »Aber großen Gewinn wirst du von dem botanischen Namen nicht haben. Die sind für den Apotheker. Hättest du als Kind schon böhmisch gelernt, wie sich das für einen böhmischen Knaben geziemt, so würdest du unsere böhmische Bezeichnung für das Pflänzchen kennen und würdest Freude darüber haben. Auf dem Gottesacker, wo auch deine Mutter begraben liegt, ist die Pflanze häufig zu finden, und materidouska das »Seelchen der Mutter« heißt sie deshalb in unserer herrlichen Sprache, die, bekanntlich noch tiefsinniger ist als die griechische.«

Franzel sprang wieder fort und Libussa wiederholte leise das neue Wort. Sie konnte nicht tschechisch sprechen, hatte aber schon eine Menge Worte gelernt.

Plötzlich bemerkte sie, daß der Doktorpeppi den Kopf aus der Laube steckte und aufmerksam nach ihr hinsah. Als ob er aus so großer Entfernung ihr Gespräch hätte belauschen können, sagte sie errötend:

»Sie haben mir etwas versprochen, Herr Laska. Sie haben mir versprochen, wieder einen Vortrag über Goethe zu halten.«

Mikulasch Laska lehnte sich zurück und ein müder Zug glitt über sein eben noch begeistertes Gesicht. Er war eigentlich ein hübscher Mensch, nicht gerade groß, aber wohl gewachsen, und kluge, gutmütige Augen blickten unter einer auffallend weißen und geraden Stirn hervor. Langes, ein wenig gelocktes braunes Haar ließ ihn fast noch jünger erscheinen als seine fünfundzwanzig Jahre; dabei gab ihm der braunrote starke Schnurrbart ein verwegenes Aussehen. Jetzt aber lächelte er gezwungen, etwa wie ein Schauspielernder in einer Lieblingsrolle vor einem leeren Hause auftreten soll. Er begann:

»Ich habe Ihnen bisher von Goethes Leben und seiner wissenschaftlichen Tätigkeit erzählt. Aus Goethes Leben haben Sie erfahren, daß man nicht genau weiß, woher seine Ahnen nach Frankfurt eingewandert sind, daß aus dem Namen Goethe aber höchstwahrscheinlich nachzuweisen ist, daß die Familie aus Böhmen stammt. Ferner wissen Sie, daß unser großer Dichter nicht so alt geworden wäre und nicht so viel herrliche Werke geschrieben hätte, wenn er nicht fast alljährlich in den böhmischen Bädern Heilung gesucht hätte. Deutschland verdankt uns also seinen Goethe in doppelter Beziehung. Die Epochen in Goethes Leben werden durch die italienische und die böhmischen Reisen festgehalten. Als Gelehrter, namentlich als Geologe, gehörte Goethe hauptsächlich Böhmen an. Heute wollen wir von dem Dichter Goethe sprechen. Da interessiert er uns Böhmen am meisten als Übersetzer. Wie er in seinen Volksliedern schon in früher Jugend seine Genialität darin offenbarte, daß er mit den lyrischen Gedichten unserer alten Königinhofer Handschrift viel Ähnlichkeiten aufweist, so ließ es sich Goethe in seinen alten Tagen nicht nehmen, dem böhmischen Volke zu huldigen, indem er eine der Perlen unserer Königinhofer Handschrift mit seiner deutschen Sprachkunst neu faßte. Sie kennen das Gedicht, welches unter dem Namen »Das Sträußchen« berühmt geworden ist, wenn auch die wenigsten Deutschen wissen, wie viel schöner noch unser Original klingt.«

Auswendig sagt Mikulasch Laska die hübschen Verse der gefälschten alttschechischen Königinhofer Handschrift her. Libussa verstand keine Silbe, horchte aber aufmerksam auf die krausen Laute. Dann sprach Laska das Gedicht noch einmal geläufig auf Neuböhmisch, so daß sie schon einige Worte verstand, und übersetzte es ihr Satz für Satz silbengetreu. Endlich holte er aus dem Nebenzimmer Goethes Gedichte heraus, las mit sentimentalem Pathos Goethes Verse und machte Libussa darauf aufmerksam, wie Goethe gleich anfangs ein Wort mißverstanden habe, wie er dann durch Umstellung einiger Strophen das Gedicht zwar verständlicher gemacht, aber ihm seinen schönsten lyrischen Reiz genommen habe.

Libussa hörte aufmerksam und vertrauensvoll zu. In den dreiviertel Jahren seiner Tätigkeit hatte Laska ihre unklare Neigung für die böhmische Geschichte zu einer Begeisterung für die Legenden der tschechischen Vorzeit gesteigert. Das war sein Unterricht in deutscher Literaturgeschichte, und nicht viel anders als heute waren alle seine Vorträge gewesen. Die Geschichte der deutschen Dichtung seit dem Nibelungenlied erschien beinahe als ein Nebenzweig der tschechischen Literatur.

Laska hatte seiner getreuen Schülerin nicht verschwiegen, daß neidische deutsche Gelehrte die Echtheit der unvergleichlichen Königinhofer Handschrift angezweifelt hätten. Daß diese Echtheit aber von nationaltschechischen Forschern bereits preisgegeben war, das erfuhr sie nicht, sondern hörte immer wieder die Männer um ihres Glückes willen preisen, die im Kirchturm von Königinhof dieses Kleinod einst aufgefunden hatten. Es kam immer wie ein Rausch über Mikulasch Laska, so oft er die Geschichte dieser Entdeckung erzählte. Kein Sterblicher schien dann eine größere Tat vollbracht zu haben. Und wenn Mikulasch Laska und Libussa sich an stillen Abenden nach der Unterrichtsstunde ihren Träumereien hingaben, dann spielte immer wieder die Möglichkeit ähnlicher und noch größerer Glücksfälle hinein. Die uralte Kultur von Böhmen sei durch die Herrschaft deutscher Könige und endlich vollends durch die Despotie nach der Schlacht am Weißen Berge niedergetreten worden. Jahrhundertelang habe niemand im Volk Sinn mehr gehabt für die Taten und Gedanken der heimischen Vorzeit. Noch gebe es aber uralte Wälle und uralte Türme, in denen sicherlich Heldengedichte von Herzogin Libussa – der sagenberühmten Namensschwester seiner Schülerin – verborgen lagen und nur der Wünschelrute harrten. Wie eine fixe Idee schien diese Hoffnung Laskas Phantasie zu beherrschen.

Aber Libussa verteilte in ihrem Sinne die Rollen etwas anders. Sie, das unbegabte Weib, wollte so eine alte böhmische Handschrift finden. Ab und zu stöberte sie auch im Keller und auf dem Boden unter den alten Papieren ihres Vaters, ob da nicht vielleicht ein vergilbtes Pergament zum Vorschein käme. Oft schon war sie mit tschechischen Geschäftsbriefen zu Laska gekommen und hatte ihn erwartungsvoll angesehen. Es waren aber immer nur Bestellungen auf Kattun gewesen.

Mikulasch Laska sollte sich nicht mit der Arbeit des Suchens aufhalten. Er war ein Dichter und ein Führer seines Volks, geboren für eine große Aufgabe. Daß er ein Dichter war, das ahnte sie aus seinen Vorträgen über deutsche Literatur, und überdies hatte er ihr einmal verraten, daß er an einem großen Epos über die Verbrennung des Johannes Hus und die Hussitenkriege arbeite. Es sollte ein Epos in drei starken Bänden werden. Und die Hölle sollte darin ebenso wie im Dante geschildert vorkommen.

Daß Laska zum Führer seines Volks berufen war, das wußte Libussa wieder von ihm selbst. Er hatte nämlich gesessen. Als Student war er für eine blutige, aber nationale Prügelei zu vier Wochen Gefängnis verurteilt worden. Er war ein politischer Märtyrer, und politische Märtyrer werden immer die Helden ihres Stammes.

So sollte er sich auch nicht mit geringen Dingen abgeben, sollte dichten und kämpfen. Sie aber, wenn sie die Urkunde für den alten Ruhm Böhmens glücklich aufgefunden hatte, wollte sie demutvoll dem edlen Lehrer überreichen und glücklich sein, wenn sie so teilnehmen konnte an seinem Streben und an seiner künftigen Größe.

Drittes Kapitel

Libussa wurde abberufen. Sie sollte Dunstobst und noch einige Kleinigkeiten zum Nachtmahl herausgeben. Die alte Köchin brummte dabei wieder einmal gegen den Herrn Lehrer, den Ungarn, wie sie ihn nannte. Sie stammte aus dem Egerland und verstand auch nicht ein Sterbenswort tschechisch, und sie bildete sich ein, tschechisch und ungarisch wäre dasselbe. Besonders die beiden Wagenpferde des Herrn Weißmann machten ihr Sorge. Ungarn waren Pferdediebe, wie überhaupt die Zigeuner. Und für so einen das große Glas mit Marillen (Aprikosen) aufzumachen.

Zum hundertsten Male wollte Libussa sie belehren: die Ungarn wären keine Zigeuner und die Tschechen keine Ungarn.

»Das weiß ich besser,« sagte die alte Rosel. »Wie ich ein so junges Madel war wie Sie, Fräul'n Busserl, da hab' ich so einen lieb gehabt. Sein Regiment ist in Eger gewesen. Nu, ich bin eine Gans gewesen, Sie, Fräul'n Busserl, sind viel zu gescheit für so was. Wunderschöne Liedeln hat er gewußt. Und was ist das Ende gewesen? Abmarschiert ist er mit seinem Regiment. Nu frag' ich Sie, ob das nicht so ein Ungar oder ein Zigeuner gewesen ist?«

Die Herren wurden zum Nachtmahl gerufen. Man setzte sich ohne Umstände um den großen runden Tisch. Herr Weißmann zwischen den Pfarrer und den alten Doktor, gegenüber Libussa zwischen Laska und den Doktorpeppi. Franzel hatte seinen Katzentisch hinter dem Platze des Vaters.

Die alte Rosel trug selber auf und schien mit ihrem rotglänzenden Gesicht und mit ihren frischgewaschenen Händen und Armen die ganze Gesindestube ins Zimmer zu bringen. Es fiel aber keinem auf als dem jungen Doktor. Rosel blieb steif und feierlich, bis Weißmann die ersten Worte zu ihrem Lobe sprach. Da wurde sie freundlich und redete jedem einzeln zum Essen zu. Ein Schock Krebse waren der erste Gang, dann nur noch ein mächtiger Lungenbraten mit gerösteten Erdäpfeln. Sie hatte großen Erfolg und wurde sehr gnädig. Nur dem vermeintlichen Ungarn nahm sie unversehens sein Glastellerchen fort, als er zum drittenmal von den eingemachten Marillen nehmen wollte.

Während des Nachtmahls wurde fast nur über die Güte der Speisen gesprochen. Der Pfarrer führte das große Wort und machte fast verwegene Scherze. Wenn es im Himmel richtige Mahlzeiten gäbe, so müßten die oben auch von einer böhmischen Köchin zubereitet werden. Ja, ja, er sei und bleibe ein alter Josephiner und wisse, daß beim lieben Gott und dem guten Kaiser ein loses Wort nicht viel auf sich habe. Das seien so sächsische und preußische Hungerleider, die das Wort aufgebracht hätten: Besser eene Laus in'n Kraute, als gor kee Fleisch. Der Pfarrer gebrauchte dreist die heimatliche Mundart, so oft er seine lieben Sprichwörter benutzte.

Als der Doktorpeppi mitteilte, draußen im Reich nenne man so einen Lungenbraten ein Filet, da lächelten die alten Herren über die Torheit der Preußen. Als aber Laska die Namen der Speisen ins Tschechische übersetzte und man erfuhr, der saftige Braten heiße bei ihm ein Talgbraten, da brach ein herzliches Gelächter aus, und selbst der Herr Pfarrer, der eigentlich nicht mehr konnte, nahm zu Ehren der schönen Bezeichnung noch ein ganzes Stück »Talgbraten«.

Nach Tisch blieben die Herren sitzen; nur Franzel wurde hinaufgeschickt, Libussa zog sich zurück. Man trank noch einige Gläschen und plauderte unter gemütlichen Neckereien über dies und das. Ob das gräfliche Bier jetzt so gut bekomme wie unter dem früheren Braumeister, wieviel Schritte die steinerne Brücke in Prag lang sei, wann der Doktor seinem Sohne den ersten Patienten anvertrauen würde, ob der Kaufmann Schmelkes wirklich nach Wien übersiedeln wolle, ob er sein Vermögen dem Schmuggel verdanke oder nicht. Zwischendurch bat der Pfarrer den Fabrikanten um eine Unterstützung für eine Arbeiterin, die sich nach ihrer Entbindung noch schonen mußte, und der alte Doktor erzählte die Geschichte eines merkwürdigen Beinbruchs. Der Doktorpeppi hatte den Fall selbst gesehen und erklärte ihn anders. Sein Vater schrie ihn an wie einen Knaben. Der Doktorpeppi blieb bei seiner Meinung und schwieg erst, als der alte Pfarrer sich ins Mittel legte und mit Autorität erklärte, daß in solchen Dingen die Alten immer recht hätten.

Schlag zehn Uhr ertönte auf der Straße der langgezogene Ton des Nachtwächters. Das war jeden Sonntag das Zeichen zum Aufbruch. Der Nachtwächter hatte das Nebenamt, den Pfarrer seinen Weg nach Hause zu geleiten. Dafür wurden die vielen Kinder des Nachtwächters umsonst getauft und nachher, was auch schon einigemal vorgekommen war, umsonst zu Grabe geleitet.

Ohne viel Förmlichkeiten brach man auf. Etwa eine Viertelstunde abwärts von Weißmanns Villa standen die ersten Häuser des Dorfes. Hier, wo an einer Kapelle des heiligen Nepomuk die Wege sich kreuzten, fing das eigentliche Oberntal an. An die Rückwand der Kapelle stieß das Spritzenhaus, in welchem außer einer alten und unbrauchbaren Feuerspritze auch noch eine neue verwahrt wurde, und außerdem allerlei altes Gerümpel, von dem man nicht wußte, wem und wohin es gehörte. Dieses kleine Gebäude, das jetzt in der klaren Nacht neben dem kreuzgekrönten Kapellchen wie das Stück einer Kirchhofsmauer aussah, gehörte schon zum Grundstück des Kaufmanns Schmelkes. Bis zu dessen »Gemischter Warenhandlung« waren es noch ein paar hundert Schritte, und man munkelte im Dorfe schon seit Jahrzehnten, daß die Schmelkesse nur deshalb ihren Laden so weit draußen gebaut hätten, weil sie mit den sächsischen Schmugglern in Verbindung standen und nicht beobachtet sein wollten.

An der Kapelle verabschiedete sich wie jedesmal der Pfarrer. Links ging es in einen kleinen Wald, das Paterbüschel; durch das niedrige Gehölz konnte der Pfarrer viel rascher zu seinem Haus gelangen, als auf dem weiten Umwege durchs Dorf, das sich in einem flachen Bogen um den Abhang herumzog.

Mikulasch Laska ging noch bis zum Kramladen mit, sagte dann gute Nacht und machte sich an der Haustür zu schaffen, als ob er sie öffnen wollte. Der Doktor und sein Sohn schritten rasch weiter. Als sie hinter einer stumpfen Ecke verschwunden waren, murmelte ihnen Laska einige tschechische Worte nach. Es war keine Verwünschung, nur ein harmloser tschechischer Nachtgruß. Aber Mikulasch Laska fühlte sich doch freier, da er wieder ein paar Laute seiner Muttersprache gesprochen hatte. Er reckte sich, steckte die Hände in die Hosentaschen, kehrte um, nahm seinen Weg ebenfalls durch das Paterbüschel. Er mußte langsam gehen, denn aus der Entfernung glaubte er abgerissene Laute von der Unterhaltung zwischen dem Pfarrer und dem Nachtwächter zu vernehmen.

Er hatte reichlich getrunken und fühlte eine gewisse Flüchtigkeit in seinen Gedanken. Es war schändlich, daß er, ein echter Sohn des Landes, das Sklavenbrot essen mußte bei dem Eingewanderten, dem Deutschen, dem Njemez. Slawenbrot, Sklavenbrot. Aber es war ein Glück, daß er gerade in dieses Haus geraten war. Weißmann war ein gerechter Mann, ein Waschlappen, kein Tschechenfresser. Der Franzel wird Tschechisch lernen und Libussa ... Donner und Hölle, wie es in seinem Lieblingslied hieß, Libussa war vorherbestimmt, an seiner Seite in rotsamtnem Kleid einmal vor allem Volk dazustehen als Königin von Böhmen, als Frau des gekrönten Dichters oder doch als Gymnasialdirektorin. Aber jedenfalls in rotem Samt.

Sie liebt ihn ganz gewiß, und er, ojemine, er liebt sie wahrscheinlich auch. Aber die dumme Angst, die er hat. Nicht vor ihr, nicht vor dem Vater, nicht vor dem Pfarrer, dem deutschen Verräter, nicht vor dem Doktorpeppi, dem preußischen Spion. Donner und Hölle, mit dem kleinen Finger zerdrücken will er sie alle, alle auf ein Häuferl. Aber Angst hat er doch.

Nämlich vor dem anständigen Haus, vor dem anständigen Mädchen, vor seinem eigenen guten Benehmen. Wenn er doch jemand hätte fragen können: »Wie sagt man so einem feinen Mädchen, daß man sie lieb hat?« Wie er ein Bub war, da hat er Geschwisterkinder gehabt. Die Marianka und die Katschenka, Bauernmädel. Und dann auf der Schule hat er das andere Geschlecht nur von weitem gesehen. Später aber, soweit er zurückdenken kann, immer nur Kellnerinnen. Darunter hübsche, gute Kellnerinnen, aber keine einzige Erinnerung, die ihn hätte lehren können, wie man es mit Fräulein Libussa anfängt.

Das Wäldchen war durchschritten, vom Pfarrer und Nachtwächter nichts mehr zu sehen und zu hören, und Mikulasch Laska kreuzte schnell die Dorfstraße, die sich hier wieder den Abhang hinauf nach Norden zog. Noch eine gute halbe Stunde talwärts lag Kippsdorf, ein armes Nest, das aber die Eisenbahnstation von Oberntal war. Kippsdorf war ebenso deutsch wie Oberntal, aber hier gab es doch schon einen national-tschechischen Verein. Mikulasch Laska hatte die Organisation geschaffen, und jeden Sonntagabend gab es eine Zusammenkunft in dem übelberüchtigten Wirtshaus, das während des Bahnbaues, für die Arbeiter entstanden war und jetzt, um der jungen Wirtin willen und weil man da angeblich sehr billige deutsche Zigarren bekam und sehr starken Rheinwein, ab und zu von den bescheidenen Lebemännern der nächsten Umgebung besucht wurde.

Laska wurde von der hübschen, runden Wirtin sehr freundlich, aber ohne die rechte Vertraulichkeit begrüßt. Nicht einmal bis zu einer Wirtin hatte es Mikulasch noch gebracht.

»Es sind noch alle da!« rief sie ihm zu, während er über den Hof nach einer Hintertür ging.

»Ein Seidel Gräfliches und ein Quargel,« sagte Laska mit voller theatralischer Aussprache auf Tschechisch und trat dann ein. In der kahlen kleinen Stube, die als einzigen Wandschmuck ein schlechtes Muttergottesbild aufwies, saßen an einem gemeinen kleinen Wirtshaustisch drei Männer.

»Na zdar!« riefen sie ihm zu, er antwortete mit dem gleichen Gruß und setzte sich auf den vierten Stuhl. Jetzt war der Verein vollzählig beisammen.

Ihm gegenüber saß der Präsident, der Stationsvorsteher von Kippsdorf, ein noch junger Mann, der den nächsten Vorgesetzten gegenüber seinen nationalen Fanatismus verheimlichte, sich von früh auf durch kleine Dienste, Angebereien und die Bereitwilligkeit, begangene Fehler auf seine Kappe zu nehmen, eingeschmeichelt und es so in jungen Jahren dahin gebracht hatte, Vorsteher der kleinen Station zu werden. Laska hatte ihn lange nicht bewegen können, in den Verein einzutreten, der doch wieder ohne den Vorsteher nichts Rechtes war. Endlich hatte er ihn mit dem Präsidententitel bestochen. Hier in der schlechten Hinterstube, deren Armut nur von zwei Talgkerzen beleuchtet war, weil die alte Petroleumhängelampe doch nur als Erholungssitz für die Fliegen zu dienen schien, hieß der Stationsvorsteher pan president, Herr Präsident, und er hatte sich's ausdrücklich ausbedungen, daß man ihn nicht mit der neumodischen slawischen Übersetzung des Wortes Präsident anredete, mit pane predseda. Präsident, das klang vornehm. Na ja ... deutsch! Der Herr Präsident hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn er zur Vereinssitzung ging. Es konnte ihn seine Karriere kosten. Und sein Tschechentum offen zu bekennen, dazu hatte er nicht die geringste Lust, früher nicht, als bis er in einer besseren Stellung und keine Gefahr mehr damit verbunden war.

Zur Rechten des Präsidenten saß das Vereinsmitglied Trouba, sonst sein fast einziger Untergebener; ein Taglöhner, den er selbst zum Weichensteller und Wagenschieber abgerichtet hatte. Trouba war das Verhängnis des Vorstehers geworden. Er war glücklicherweise gutartig, anstellig und ziemlich fleißig. Aber er trank gern einen Schnaps und war als Vereinsbruder unausstehlich. Dazu die ewige Verwechslung. Solange Trouba nüchtern war, nannte er ihn sogar im Verein Herr Vorsteher, sonst aber – so von sechs Uhr nachmittags an war seine Zeit – rief er ihn auch im Stationsgebäude pane president.

Links vom Präsidenten saß der Bergarbeiter Hrntschirsch, ein stumpfsinniger, etwas schief gewachsener Mann von kaum vierzig Jahren, der vom Bahnbau her in der Gegend hocken geblieben war, bis zur Stunde kaum eine Silbe Deutsch verstand und glücklich war, hier eine Ansprache zu finden. Er empfand die Ehre gar nicht, mit einem Beamten und mit einem Studierten an einem Tische zu sitzen, während Trouba diese Ehre durch eine übertriebene Ergebenheit erwiderte.

Mikulasch Laska besaß keine persönliche Eitelkeit, er wußte sich der heiligen Sache zu unterwerfen. Natürlich hätte ihm der Präsidententitel gebührt. Freiwillig und gern war er zurückgetreten und war nur Vizepräsident und Sekretär des Vereins. Zu schreiben hatte er bis jetzt noch nichts gehabt, präsidiert hatte er ein einziges Mal, als ein heftiges Schneewetter den Vorsteher und Trouba gezwungen hatte, auf der Strecke auszuharren und Schnee schaufeln zu lassen. Leider war in jener Nacht auch der Bergarbeiter früh abgerufen worden, eben zum Schneeschaufeln.

Die Vereinsabende wurden gewöhnlich mit freien Diskussionen ausgefüllt. So oft zu heftig auf die Regierung oder die Kirche geschimpft wurde, schickte der Vorsteher den Trouba fort, und der Präsident diskutierte mit dem Vizepräsidenten in deutscher Sprache weiter.

Heute lag eine harmlosere Angelegenheit vor. Trouba hatte ein tschechisches Provinzblättchen mitgebracht, worin die in deutschen Gegenden verstreuten Tschechen beschworen wurden, ihre Kinder niemals in eine deutsche Schule stecken zu lassen. Habe man erst irgendwo eine Anzahl tschechischer Kinder angemeldet, so sei die Regierung geneigt, eine tschechische Schule zu schaffen. Diese ziehe wieder einen tschechischen Lehrer mit dessen Kindern in die Gegend, so würde die nationale Bewegung rasch gefördert. Trouba hatte den Artikel vorgelesen und der Vorsteher hatte ihn dem Bergarbeiter erklärt. Nachdem die Wirtin frisches Bier für die Herren, frischen Schnaps für die beiden Arbeiter und für Laska noch seinen Käse gebracht hatte, konnte die Diskussion beginnen. Laska, der sich gern reden hörte und wirklich fließend sprach, hielt eine donnernde Ansprache, als hätte er tausende Zuhörer vor sich. Das sei ein ganz gesetzlicher Weg, und im Nordosten Böhmens habe man schon manche deutsche Stadt durch die tschechischen Schulkinder erobert. Hier im Nordwesten müsse man es ebenso machen, und bei der größeren Schwierigkeit der Verhältnisse müsse die Propaganda auch rücksichtsloser ausgeübt werden. Wer Kinder habe, müsse tschechische Schulen verlangen, und wer noch keine Kinder habe, müsse heiraten, um welche zu kriegen. Frühe Heiraten – glückliche Heiraten. Eine Tschechin heiraten oder doch ein edles Weib, das die künftigen Kinder der Nation zu widmen verspreche. Und er malte, sich an seinen eigenen Worten berauschend, ein Zukunftsbild aus, wie die Deutschen einfach durch die überquellende Fülle der tschechischen Nachkommenschaft über die Gebirgswälle Böhmens hinausgedrängt würden.

Als er geendet hatte, herrschte in der Stube verlegenes Schweigen. Nur der Bergarbeiter, der alle duzte, sagte gutmütig:

»Gern will ich wieder Kinder kriegen, du hast ganz recht, Lehrer, das wird die Deutschen ärgern, und Kinder machen Spaß. Aber weißt du, ich habe da unten bei Budweis schon eine sitzen. Glaubst du, daß ich trotzdem noch einmal heiraten kann?«

Trouba blickte scheu nach dem Vorsteher. Der wohnte mit seiner jungen Frau im Stationsgebäude und hatte keine Kinder. Als der Vorsteher immer noch nicht antwortete, sagte Trouba endlich zu ihm:

»Ich bitte ergebenst um Verzeihung, Gnaden pane president, aber er hat es nicht so gemeint, der Laska. Wie Gott will. Und wenn er es so gemeint hätte, so wäre es eine Gemeinheit von Gnaden dem Herrn Vizepräsidenten.«

»Schweigen Sie, Trouba!« rief der Vorsteher. »Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß Sie hier nur in Vereinsangelegenheiten das Wort ergreifen dürfen, und meine Kinder, Herr Vizepräsident, sind doch hoffentlich keine Vereinsangelegenheit.«

»Na denn,« sagte Trouba, »frage ich Gnaden Herrn Vizepräsident, warum Sie selbst noch nicht geheiratet haben? Sie haben bei Schmelkes zwei Zimmer und können heiraten. Ich nicht.«

Laska setzte erregt auseinander, daß sein Vortrag nur ganz allgemein und nicht persönlich gemeint war, und daß es ihm ferngelegen habe, den Herrn Präsidenten oder die Frau Präsidentin kränken zu wollen.

Der Vorsteher hörte aus diesem Anlaß zum erstenmal den Titel »Frau Präsidentin« und beruhigte sich. Trouba aber war nicht so schnell zu beruhigen.

»Können Sie denn nicht warten, Herr Vizepräsident? Ich will ja, und sie will auch, aber vor Weihnachten übers Jahr ist es nicht möglich. Und Sie selbst, Herr Vorsteher, wissen doch am besten, daß es jetzt noch nicht möglich ist. Und dann, wenn ich geheiratet habe, ich werde mich ja diebisch freuen, wenn ich Kinder kriege, aber doch nicht wegen der Schule. Und ich kann erst Weihnachten übers Jahr heiraten. Was predigen Sie mir da? Ich habe keine Kinder für die Schule. Und wenn ich jetzt schon welche hätte, wie würde der Herr Vorsteher schimpfen und der Herr Pfarrer. Was predigen Sie mir da? Heiraten Sie, wenn Sie wollen, und schicken Sie Ihren Ältesten gleich mit der Amme in die Schule. Aber predigen sollen Sie nicht. Mir nicht, und dem Herrn Vorsteher auch nicht. Wer sind Sie denn? Ich will Ihnen etwas sagen, Gnaden Herr Vizepräsident, Sie wissen gar nicht, was ein Vorsteher ist. Der versteht sogar die Eck, Leck, Dreck ... Na das, den Teregraf, und Sie wollen ihm von Kindern predigen? Jawohl, sagt ein gutes Sprichwort: Je mehr Hunger, desto mehr Kinder. Lehrer haben viele Kinder. Heiraten Sie doch, Herr Vizepräsident Gnaden.«

»Ich werde heiraten,« sagte Laska ernst. »Und ich werde in Oberntal eine tschechische Schule schaffen helfen.«

Der Bergarbeiter fragte noch einmal, ob er hier wieder heiraten könnte, im Deutschen, und schimpfte dann auf die Geistlichen. Laska, der sich als Hussiten fühlte, und Trouba, der ein Freigeist war, schimpften mit. Der Vorsteher hörte eine Weile unruhig zu und unterbrach endlich das immer lebhafter gewordene Gespräch mit den kurzen Worten: »Trouba, gehen Sie nach Hause.«

»Das ist nicht wahr,« sagte Trouba, »das steht nicht in den Statuten. Hier sind wir alle gleich. Alle Menschen sind gleich und Sie haben mir gar nichts zu sagen. Gnaden Herr Vizepräsident, ich will ... wie sagt man, Gnaden Herr Präsident? Ich bitte ums Wort. Gnaden Herr Präsident soll abgesetzt werden, Gnaden Herr Vizepräsident! Ich will ... wie sagt man ... natürlich auf armen Tagelöhnern trampelt man rum. Ich will ... Donnerwetter wie sagt man doch ... eine Generalkommandoversammlung will ich, und auf der Generalkommandoversammlung da soll Gnaden Herr Präsident Vizepräsident werden, und Gnaden Herr Vizepräsident soll Präsident werden.«

»Trouba, Sie sind betrunken. Morgen ist um sechs Uhr Dienst. Gehen Sie nach Haus.«

»Bitte tausendmal um Verzeihung, Herr Präsident. Ich gehe schon. Bitte, Gnaden Herrn Präsident, und wegen der beiden Kohlenwagen, die im Schuppen stehen ...«

»Gehen Sie nach Haus, Trouba, hier sind wir nicht im Dienst.«

Trouba hatte ganz den Kopf verloren.

»Befehlen, Herr Vorsteher,« sagte er auf deutsch und ging.

»Der Teufel soll Ihren Verein holen,« sagte jetzt der Vorsteher ebenfalls auf deutsch zu Laska. »Mit solchem Gesindel lassen Sie mich fraternisieren!«

»G'sindel,« wiederholte Hrntschirsch das deutsche Wort und fügte auf tschechisch hinzu: »Das habe ich ganz gut verstanden. Ich habe was gelernt. G'sindel bin ich.«

»Und kurz und gut,« fuhr der Vorsteher auf deutsch fort, »wenn Sie nicht noch ein paar bessere Leute aus der Umgegend zusammentrommeln können, Laska, so leg' ich das Amt nieder. Das heißt, wissen Sie, ich will keinen Skandal. Ich will nicht förmlich austreten, aber ich komme nicht mehr her.«

»Aha, Herr Vorsteher! Sie möchten die Würde behalten ohne die Bürde. Das gibt's nicht. Ohnehin liegt schon alles auf meinen Schultern; und wenn wir einmal soweit sind, dann will ich es Ihnen gedenken. Wissen Sie, Herr Vorsteher, Sie sind ein Achselträger, Sie sind ein Deutscher! Sie sind aus Reichenberg. Sie reden deutsch wie ein Deutscher.«

»Ich?« rief der Vorsteher entrüstet. »Das hat mir noch niemand gesagt. Und das lasse ich mir nicht nachsagen. Erst Weihnachten vor einem Jahr hat mir die Frau vom Güterinspektor in Teplitz gesagt, daß ich so einen schönen böhmischen Akzent habe. Sie reden deutsch! Ihnen hört man den Böhmen nicht an!«

»Was unterstehen Sie sich,« sagte Laska heftig und schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. »Ich? Ich bin kein Reichenberger, ich bin aus Prag gebürtig, oder doch nur zwei Stunden von Prag entfernt geboren. Natürlich rede ich besser deutsch als Sie, weil ich studiert habe, und weil ich nicht immer am Land' gelebt habe; aber Akzent habe ich, Akzent laß ich mir nicht nehmen, und für mich sind Sie deshalb noch lange kein Präsident, Herr Vorsteher.«

»Gut, gehen wir also.«

Und mit einem kurzen Na zdar verließ der Präsident des nationalen Vereins von Kippsdorf und Umgegend die Stube.

Laska dachte an die heilige Sache und wollte ihm nacheilen; dann fiel ihm aber ein, daß er schon lange mit dem Arbeiter hatte unter vier Augen reden wollen. Und gerade heute war durch das Gespräch mit Libussa der Wunsch in ihm noch reger geworden, in der Angelegenheit seiner altböhmischen Handschrift endlich einen entscheidenden Schritt zu tun. Er ging also selbst in die Schenkstube, wo hinter dem großen Kachelofen nur noch zwei verdächtige Gäste saßen, Schmuggler wohl, und bestellte bei der Wirtin frisches Bier und einen großen Schnaps für den Arbeiter.

Der war eingeschlafen, als Laska zurückkehrte. Der Schnaps weckte ihn wieder so weit, daß Laska mit ihm unterhandeln konnte.

Nämlich er, der einfache Bergarbeiter Hrntschirsch, könne sich um das teure Vaterland Böhmen ein unsterbliches Verdienst erwerben. Er könne durch einfache Handarbeit dazu beitragen, die Deutschen in ihrem empfindlichsten Punkte zu treffen, in ihrem Stolz auf ihre alte Kultur.

»Du sprichst sehr schön, Laska,« sagte der Arbeiter, »du leckst mir das Ohr mit deinen Worten, aber, verstehen tue ich nichts. Kein Sterbenswörtchen habe ich verstanden von dem, was du mir da hineinpfeifst.«

Laska fing von neuem an. Da sei ein alter literarischer Schatz vorhanden, etwas Geschriebenes, etwas Heiliges, wie eine Bibel. Damit die verfluchten Deutschen daran glauben, müssen sie es selbst finden, wo es eingemauert ist, und wo es darum vorher eingemauert werden muß. Laska hatte das bestimmte Gefühl, sich unklar und geheimnisvoll ausdrücken zu müssen.

»Mauern kann ich,« sagte Hrntschirsch. »Aber was du da pfeifst, das verstehe ich nicht. Was willst du von mir? Zahl mir noch einen Schnaps, und ich maure dir ein, was du willst. Und meine Frau in Budweis maure ich mit ein.«

Mehr wollte Laska nicht. Er nahm dem Arbeiter bei allen Heiligtümern der böhmischen Krone das Versprechen ab, nichts zu verraten.

Hrntschirsch öffnete die Augen etwas weiter und suchte in seinem Dusel einen unklaren Gedanken festzuhalten. Wenn man sein Schweigen verlangte, dann hatte man etwas zu verschweigen. Also will er dafür einen Sechser Trinkgeld. Und da Laska bereitwillig darauf einging, so schraubte Hrntschirsch die Forderung immer höher, bis Laska einen ganzen Gulden bewilligte und Hrntschirsch erschreckt innehielt. Mehr als einen Gulden konnte er doch nicht verlangen, auch wenn er einen Diebstahl oder so was zu verheimlichen hätte. Laska nahm noch Schwur und Handschlag entgegen und ging zufrieden seiner Wege. Ein Verrat von diesem Kerl war nicht zu fürchten; er war in der Trunkenheit nur noch schweigsamer und stumpfsinniger als sonst, und im äußersten Fall war er gar nicht fähig, einem Deutschen die Geschichte mitzuteilen.

Erregt ging Laska den gewohnten Weg durch das Paterbüschel nach Hause. Es fiel ihm auf, daß beim Händler im Keller zu so später Stunde noch gearbeitet wurde; das kümmerte ihn aber wenig, keinesfalls hatte das Treiben des Schmelkes etwas mit der großen böhmischen Frage zu tun.

Laska ging eine Treppe hoch auf seine Stube und legte sich zu Bett. Aber er konnte nicht einschlafen; da stand er wieder auf und begab sich im Hemd an seine große bemalte Reisetruhe. Beim Lichte seines Kerzenstumpfs öffnete er das Schloß und hob den schweren Holzdeckel. Obenauf lag das Abzeichen eines geheimen Prager Vereins, ein Hussitenstock mit glänzendem Beilgriff, ferner ein Sokol-Anzug, wie ihn die tschechischen Turner bei festlichen Aufzügen zu tragen pflegten; sonst nur Bücher und Schriften. Unter diesen ein sorgfältig verschnürtes Paket, das er jetzt aufband und aus der Hülle löste. Es war ein seltsames Heft von sechs Pergamentblättern in der Größe eines stattlichen Buches, doppelt so hoch als breit. Die Blätter waren dunkel und nur an wenigen Stellen war die hellgelbe Farbe erhalten geblieben. Beschrieben waren sie nur auf der ersten Seite mit dunkler Farbe in einer feinen schnörkelhaften Schrift, die einen Kenner wohl an die St. Galler Nibelungenhandschrift erinnert hätte. Ganz stilgerecht waren die einzelnen Verse nicht auf je eine Zeile verteilt, sondern gingen immer weiter, und erst nach sechs bis acht Reihen gab es einen neuen Absatz. Die Ränder des Pergaments waren nicht glatt, sondern sahen durchaus unregelmäßig aus, als ob sie an Flammen versengt und von Mäusen oder Säuren angefressen worden wären.

Laska begann zu frösteln und legte sich mit der Handschrift wieder zu Bett. Er machte sich den Spaß, eine Ecke an seinem Licht verkohlen zu lassen. Er war Herr über diesen Schatz, über die künftige Oberntaler Handschrift.

Laska war ganz fremd in solcher Archäologie und hätte irgendeine andere deutsche oder böhmische Handschrift aus dem dreizehnten Jahrhundert kaum zu lesen vermocht. Aber seinen Schatz hatte er schon so oft in der Hand gehalten und die Verse schon so oft daraus hergesagt, daß er sich wirklich einbildete, sie lesen zu können. Eigentlich aber kannte er die demnächst zu entdeckende Oberntaler Handschrift Silbe für Silbe auswendig. War er doch selbst der Dichter.

Vor vier Jahren, als er das Verhältnis mit der Kellnerin am Porzitsch gehabt hatte, in Prag, im Wirtshaus zum blauen Schwan, da waren diese Verse entstanden. Andulka nannte er die freundliche Schöne, und vom blauen Schwan war viel die Rede. Eine dunkle Erinnerung sagte ihm, daß er eigentlich nur böhmische Volkslieder, einige Kleinigkeiten der Königinhofer Handschrift und Goethes Gedichte nachgeahmt hätte; aber Andulka, die in der schnöden Wirklichkeit Pepitschka hieß, hatte ihm mindestens jeden Buchstaben einmal mit einem Kusse gelohnt, und so war in ihm der Glaube an seine dichterische Bedeutung geweckt und gestärkt worden. Er hatte den Mut gefaßt, die Verse an Andulka den beiden Kollegen vorzulesen, mit denen ihn außer einem wilden und opfermutigen Nationalgefühl auch noch etwas Schöngeisterei verband. Der eine war Philologe wie er, aber mehr mittelalterlichen Fachstudien zugewandt, während Laska ganz nüchtern seine Studien trieb, um einmal Gymnasiallehrer werden zu können. Der andere war Chemiker und nebenbei ein bißchen Tausendkünstler. Die beiden Freunde waren von den Liebesergüssen des Mikulasch Laska wenig erbaut gewesen; denn auch sie kannten die dicke Andulka und nahmen sie weniger empfindsam. Aber sie heuchelten großen Anteil, baten sich das Manuskript aus und überraschten den Dichter zu seinem Namensfeste, am Tage des heiligen Nikolaus, mit einer übermütigen Prachtausgabe der Gedichte, In parodierender Weise hatte der Philologe die Verse in alttschechischen Schriftzügen zu Papier gebracht, und der Chemiker hatte sie mit höchst realistischen und unzüchtigen Bildchen versehen, die archaistisch im Stil der Witzblätter gehalten waren. Laska fühlte sich nicht einen Augenblick verletzt, trotzdem das Werk in zinnoberroter Schrift den Titel führte: Porzitscher Handschrift, aufgefunden im blauen Schwan, hinten heraus. Das war alles so hübsch gemacht, daß in seinem Kopf allmählich, nicht der Plan, aber die Phantasie auftauchte, seine Reime könnten einmal für ein Dokument aus dem dreizehnten Jahrhundert gehalten werden. Unter Scherzen zuerst teilte er den Freunden den tollen Einfall mit, und unter Scherzen machte sich der Philologe daran, die Verse ins Altböhmische zu übersetzen und auf nachgemachtes Pergament zu übertragen. Als das erste Blatt fertig war, waren die beiden anderen von der »Echtheit« verblüfft. Nur der Philologe selbst, da er Feuer gefangen hatte, vernichtete das Blatt wieder, fing noch ein zweites und drittes Mal von neuem an, bis er den richtigen Duktus in der Hand hatte, und nun rasch nacheinander die sechs Blätter herstellte. Für das letzte hatte Laska noch das Bruchstück eines Epos hergegeben, mit dem er als sechzehnjähriger Knabe seinen Lieblingshelden Ziska besungen hatte. Vom Philologen erst daran erinnert, daß in einer Handschrift aus dem dreizehnten Jahrhundert nicht gut von den Hussitenkriegen die Rede sein könnte, änderte Laska den Namen und überließ es dem übermütigen Fälscher, ebenso wie bei den Liebesliedern die gewissenhafte Übertragung in den Ton etwa der Königinhofer Handschrift vorzunehmen. Da durfte kein Wort gebraucht werden, das modern war, und auch Grammatik und Orthographie mußten echt werden. Das Bruchstück des Epos gelang eigentlich am besten. Es konnte zu jeder Zeit spielen, denn es war in den vorhandenen fünfzig Zeilen von nichts weiter die Rede, als wie ein tschechischer Held die Fremden massenhaft totschlug. Die Freunde hatten sich auf eigene Faust erlaubt, die Poesie Laskas durch Wendungen altserbischer Lieder und durch einige schmückende Beiwörter Homers aufzufrischen. Es konnte gar nicht schaden, wenn die Welt erfuhr, daß Böhmen vor mehr als sechshundert Jahren einen Dichter besessen habe wie Homer.

Als die alte Handschrift mühsam hergestellt war, sah sie wirklich aus wie das Faksimile so eines alten literarischen Schatzes. Aber verdammt neu war doch die Schrift und das Pergament. Nun nahm aber der Chemiker die Blätter nach Hause und versprach, sie sollten schön braun werden wie ein böhmischer Kolatschen, und die Schrift darauf schwarz wie böhmische Powidl.

Was dieser Mensch, der übrigens kein so rechter Vaterlandsfreund war, sondern mehr ein Schreier und ein Gassenjunge, was der Chemiker mit dem Pergament zwei Monate lang anfing, das verriet er nicht. Einmal sagte er, er lasse es braten, dann wieder, er habe es verbrannt, einmal erzählte er ernsthaft, er habe das ganze Pergament den großen Elefanten in der Menagerie auf dem Viehmarkt verschlucken lassen, er warte nur, daß es herauskomme, dann werde es ganz echt sein. Und am nächsten Tage gab es unendliches Gelächter, als Mikulasch Laska vom Chemiker dabei betroffen wurde, wie er ängstlich um die große Holzbude der Menagerie herumstrich. Noch andere Bären band der Chemiker den Freunden auf. Er habe die Handschrift zum Gerben gegeben, dann: er habe den Entschluß gefaßt, sie für hundert Jahre zu vergraben. Endlich kam er eines Abends zum gemeinsamen Tisch im blauen Schwan und legte die vollendete Handschrift auf den Teller. Laska und der Philologe waren starr vor Staunen. Sie war wirklich echt geworden, und als Laska erschrocken bemerkte, daß vom Schweinsknöchel auf dem Teller ein Fettfleck daraufgekommen war, meinte der Chemiker ruhig: »Laß nur, gerade der Fleck hat noch gefehlt. Jetzt ist es über allen Zweifel. Es ist historisch nachgewiesen, daß die alten Böhmen Schweinsknöchel gegessen haben. Jetzt ist alles in Ordnung.«

Laska war damals unruhig geworden; er wickelte die Handschrift in den Speisezettel ein und steckte sie in die Tasche. Solche Dinge zeigte man doch nicht in einer offenen Wirtsstube. Als Pepitschka wiederholt herankam, um die Biergläser zu holen und gefüllt wiederzubringen, spürte Laska ein unsinniges Verlangen, ihr seine Verse in so wunderlicher Gestalt zu zeigen. Und der Chemiker ließ es an Neckereien nicht fehlen. Pepitschka werde durch Laska unsterblich werden, Pepitschka werde nicht untergehen und ihr Name oder der Name Andulka werde von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt werden.

Pepitschka verstand nur soviel, daß man sie aufzog und daß man ihr einreden wollte, Mikulasch werde sie heiraten.

»Ihr verdammte Bande,« sagte sie lachend, »ihr gönnt's dem Mikulasch nur nicht, daß ich ihn lieb habe. Ich aber habe einen silbernen Ring von ihm, und der hält wie eiserne Ketten. Fragt ihn nur, das sind seine eigenen Worte ...«

Damals ... am nächsten Tag waren die drei auf der Stube von Laska zusammengekommen, um zu beraten. Der eigentliche Fälscher, der Philologe, hatte diese Zusammenkunft verlangt. Er hatte plötzlich den Mut verloren und sich 's verbeten, daß Ernst gemacht würde. Er sei im Begriff, ein Amt anzutreten, und überhaupt sei das ganze eine Schweinerei. Während er noch sprach, prüfte er mit peinlichster Aufmerksamkeit jeden Buchstaben und jedes Wort der Handschrift und lächelte von Zeit zu Zeit recht selbstzufrieden. Auf eine Frage Laskas sagte er auch geradezu, er glaube nicht, daß man die Fälschung so leicht würde entdecken können.

Der Chemiker wollte die Sache nicht ernst nehmen. Ihm sei es ganz einerlei, was mit dem Zeug geschehe. Echt sei das Pergament, seitdem es der Elefant gefressen habe, und wenn er es erst einmal im Museum unter Glas zu sehen kriege, so wolle er sich totlachen.

Mikulasch Laska entschied endlich dahin, er wolle die Handschrift in Verwahrung nehmen und vorläufig nichts damit anfangen. Die beiden Freunde mußten aber bei allem Hohen und Teuren schwören, niemals und unter keinen Umständen zu schwatzen. Der Schwur wurde geleistet, und Laska war so wenigstens des Philologen sicher. Der Chemiker, dessen Einfällen nie recht zu trauen war, starb, kurz bevor Laska nach Oberntal kam. Dieser Tod schien dem Besitzer der Handschrift ein Wink des Schicksals zu sein ...

Mit solchen Erinnerungen lag Mikulasch Laska auf seinem Bett und sagte sich die altböhmischen Verse her. Das Gedicht vom silbernen Ringlein gefiel ihm am besten, Pepitschka hatte es immer so gern gehabt. Das war das einzige, das er ihr schriftlich übergeben hatte. Einen Augenblick ging es ihm durch den Kopf, daß Pepitschka ihn verraten könnte. Aber Pepitschka war ein treues Herz und eine gute Patriotin. Liebhaber hatte sie gewiß auch nach ihm gehabt. Aber verraten, nein, das tat sie nicht.

Kam zum Schmied mit einem Groschen,
Mit dem blanken Silbergroschen.
Schmiedlein, Schmiedlein, nimm den Hammer,
Nimm den kleinen Eisenhammer.

Schmied' mir einen Silbergroschen,
Ihn zu einem feinen Ringlein,
Für Andulkas Rosenfinger,
Für den allerliebsten Finger.

Schmied' ein blankes Silberringlein,
Schmied' es fest mit deinem Hammer,
Denn das schmale Silberringlein
Soll mir ihre Liebe binden.

Nicht wie Gold und nicht wie Silber,
Nicht wie Seide, nicht wie Bänder,
Soll mir ihre Liebe binden,
So wie schwere Eisenketten,
Wie im Kerker der Gefangne
Sitzt in schwerer Eisenkette.

Doch eigentlich ein wunderschönes Gedicht. Wenn man eitel wäre, würde man hundert solche Gedichte anfertigen und unter dem Namen Mikulasch Laska in die Welt schicken. Der war aber nicht eitel, dem war es allein um die heilige Sache zu tun, der wußte seine Person beiseite zu setzen und unbekannt und unberühmt sich zu freuen, wenn die Welt staunte über die Fülle von Poesie, die über Böhmen ausgegossen war, als die Bettelpreußen noch nichts zu eigen besaßen, nicht einmal einen schwäbischen Minnesänger. Und doch nicht so ganz unbekannt und unberühmt sollte Mikulasch Laska bleiben. Er wollte den namenlosen Dichter entdecken, wollte die Lieder ins Neutschechische übersetzen und die Welt verhöhnen, die staunend zur Oberntaler Handschrift pilgerte und gezwungen wurde, den Böhmen den Vorrang einzuräumen vor den anderen Völkern Europas.

Kam zum Schmied mit einem Groschen,
Mit dem blanken Silbergroschen ...

Andulka war doch eine erhebende Geliebte gewesen. Und das Bier im blauen Schwan ..., in Kippsdorf wurde gepantscht ...

Nur ein kleines Silberringlein
Um Libussas lieben Finger.

Libussa war auch ... wie?... eine noch erhebendere Geliebte ... Wenn nur ... Laska hatte noch die Kraft, die Handschrift unter sein Kopfkissen zu schieben, dann schlief er ein.

Viertes Kapitel

Es war Juli, und zu beiden Seiten der Straße, die von der Fabrik zum Dorfe hinaus führte, hatte die Kirschenernte begonnen. Das Obst reifte hier oben um acht Tage später, als in der Ebene. Dafür aber waren die Weichseln von Oberntal berühmt bis nach Prag und bis nach Dresden, und im Kloster Osseg durfte das ganze Jahr über auf die Linzertorten nichts anderes kommen, als eingemachte Oberntaler Weichseln. Und dieses Jahr waren sie besonders gut geraten. War es die Einbildung, weil man doch im Vorübergehen überall die großen Kiepen stehen sah, in die die Kirschen hineingeworfen wurden, oder dufteten die Bäume in diesen heißen Tagen wirklich anders als sonst, oder kam der Heuduft von den Wiesen unterhalb des Dorfes bis herauf, oder würzten die Tannen von den Bergen herab die Luft des Tales, niemand konnte es sagen. Aber wie ein Rausch von Sommerdüften stieg es von überall zu den Menschen, und der alte Doktor selbst konnte sich dem nicht verschließen.

»Man kriegt ordentlich einen Durst,« sagte er, und meinte damit, daß auch seine Seele gehoben sei durch den duftigen Zauber der Natur.

Libussa wollte jetzt keine abgeschnittenen Blumen mehr in den Zimmern dulden. Sie ließ im Garten Reseda blühen und welken und öffnete nur Tag und Nacht weit die Fenster, um hereinströmen zu lassen, was sie die gottbegnadete Luft Böhmens nannte. Mikulasch Laska stimmte ihr lebhaft bei; jenseits der Berge im Westen rieche es nur nach Bier und Dünger, im Norden nach Schnaps und Kohle. Was Blumenduft sei, das wisse man nur in Böhmen.

Auch die Nächte waren fast übermäßig warm, und einige Langschläfer fingen an, ihr Bett mit Sonnenaufgang zu verlassen, um diesen wunderbaren Genuß zu kosten: zu atmen. Selbst rings um die Fabrik, wo sonst nur weithin schlechtes Öl und muffiger Wasserdampf zu spüren war, zitterte es jetzt von Waldesduft und wer weiß was noch. Die Arbeiterinnen sangen den ganzen Tag, und der Pfarrer klagte, daß die Liebespärchen am Rande der Kornfelder selbst ihm nicht mehr auswichen, als ob er das jetzt verstehen müßte.

Der Doktorpeppi war weichmütiger geworden und hatte Libussa schon zweimal um sechs Uhr morgens zum Spaziergang abgeholt.

Die jungen Burschen hatten im Forst eine mächtige Tanne gestohlen und sie heimlich über Nacht vor dem Fenster der hübschen Bäckerstochter aufgepflanzt. Sie hatte sich verlobt, und die Tanne sollte der ganzen Gegend verkünden, daß die Burschen sie alle gern hatten, so oder so.

Sommerduft schwebte zum Himmel wie Weihrauch in einer Kirche.

Jeden Abend, wenn Mikulasch Laska um neun Uhr oder auch später ins Dorf zurückkehrte, schwoll ihm die Brust, und auch er atmete und trank die Luft, als wenn sie national-böhmisches Bier wäre. Nur wenn er in die Nähe seiner Wohnung kam, hörte dieses Wollustgefühl des Lebens auf, als ob das Haus des Schmelkes nicht auf dem Lande gestanden hätte. Es war Stadtgeruch oder noch schlimmer; es war nicht angenehm. Er hielt tagsüber die Fenster geschlossen, und so war es nachts dumpfig in seiner Stube.

Schon Ende Juni hatte er diese unangenehme Empfindung zum erstenmal gehabt. Sie steigerte sich und bald war er nicht mehr der einzige, der es bemerkte. Als am zweiten Julisonntag, dem sechsten nach Trinitatis, die Tarockgesellschaft von Weißmann heimkehrte und der Pfarrer sich an der Nepomuk-Kapelle von den zwei anderen trennte, machte zuerst der Nachtwächter darauf aufmerksam.

»Hochwürden,« sagte er, »ich bin nur ein schlichter Mann, aber beim Schmelkes hat's was. Und bedeuten tut's auch was. Will Hochwürden nicht selber schnuppern?«

Der Pfarrer schnupperte, der alte Doktor und der Doktorpeppi schnupperten auch, und alle stimmten dem Nachtwächter bei, daß es da etwas habe. Aber zu bedeuten habe es vielleicht doch nichts.

»Es riecht wie nach schlechtem Petroleum und wie nach verdorbener Seife,« erklärte endlich der Doktorpeppi.

»Natürlich,« sagte sein Vater höhnisch. »Die Nase hat er sich da draußen auch verbessern lassen. Stinken tut's, das wissen wir alle. Aber so ein ausländischer Gelehrter, der weiß immer gleich, wo die Flieg' gemolken werden soll.«

Man trennte sich und die beiden Doktoren Scheibler, senior und junior, stritten noch lange darüber, wonach es eigentlich röche.

Vom nächsten Tag ab sprach man im Dorfe von der seltsamen Naturerscheinung. Wer weiß, was da für Zeichen und Wunder geschehen konnten. Die kleinen Leute waren mit dem Nachtwächter der Meinung, es habe was zu bedeuten. Vielleicht ein Mord. Der Jud Schmelkes hatte es so eilig, nach Wien zu übersiedeln. Die Aufgeklärteren munkelten von einem ungeheuren Erdbrand tief unten irgendwo, und eines Tages würde Oberntal zusammenstürzen, wie vor kurzem erst die Straßen von Brüx.

Die Meinung des Doktorpeppi drang schließlich durch. Von Tag zu Tag deutlicher roch es nach Petroleum. Auf dem Grundstücke des Schmelkes war der Herd des merkwürdigen Geruches. Hinten, etwa fünfzig Schritte von seinem Keller entfernt, war es am stärksten zu spüren. Und da Schmelkes die Neugierigen nicht auf sein Gehöft ließ, so standen den ganzen Tag müßige Leute, alte Männer und kleine Kinder am Plankenzaun und warteten auf ein unerhörtes Ereignis. Nach Feierabend gesellten sich andere Dorfbewohner zu ihnen, und endlich wurde Schmelkes Zaun allabendlich zum Sammelpunkt für das ganze Dorf. Die Burschen trafen sich dort mit ihren Mädeln, und der Wirt mußte neben dem Zaun ein Faß Bier auflegen, wenn er sein Bier überhaupt loswerden wollte.

Auch Laska stand der rätselhaften Erscheinung erregt gegenüber. Er berichtete sogar an die Prager Zeitung, der er schon einigemal wichtige Oberntaler Neuigkeiten hatte zukommen lassen. Das nationale Blatt kam nur in einem Exemplar in die Gegend; Laska war darauf abonniert und legte es allwöchentlich dem Verein von Kippsdorf vor.

Am Sonntagabend wurde bei Weißmann sehr viel von der merkwürdigen Naturerscheinung gesprochen. Laska machte die Bemerkung, daß das herrliche Böhmen reich genug sei, um ohne Hilfe des Auslandes all seine Bedürfnisse befriedigen zu können. Viehzucht und Ackerbau, Bergbau und Industrie seien bekanntlich auf der ganzen Welt nicht so entwickelt, wie in der Heimat. Der böhmische Rübenzucker sei anerkannt besser als der indische Rohrzucker. Und überhaupt. Nur an Salz und Petroleum habe es bisher gefehlt. Da wäre es doch mit nationalem Jubel zu begrüßen, wenn man hier eine Petroleumquelle entdeckte. Der Doktorpeppi machte eine ironische Bemerkung über die Unwahrscheinlichkeit und sprach etwas von Geologie. Da wurde er aber von seinem Vater angefahren, und auch Weißmann stimmte dem Ideengang Laskas lebhaft zu. Das würde ein ganz ungeheures Geschäft, wenn man wirklich auf Petroleum stieße. Und wer es zuerst entdeckte und sich den Vorteil zu sichern wüßte, der wäre ein gemachter Mann. Millionen wären mit so was zu verdienen. Laska erkundigte sich neugierig nach den Vorgängen und juristischen Formalitäten bei einer solchen Quellenentdeckung, und mußte von Weißmann und vom alten Doktor manchen Spott darüber einstecken, daß die erste böhmische Petroleumquelle in einer rein deutschen Gegend zutage träte.

Aber recht ernst genommen wurde das Gespräch von den Herren nicht, und der Pfarrer fand Zustimmung, als er schließlich meinte, keine Gabe Gottes sei zu verachten, aber man solle in Oberntal mit dem gesegneten Holz des Gebirges, mit den guten Kohlen der Ebene und mit der köstlichen Gottesgabe der Weichseln am Abhang zufrieden sein. Was früher nicht gewesen sei, das werde auch wohl nicht kommen, und zu diesen Neuerungen habe er kein Vertrauen und keine Lust. Er brenne Öl, gutes, gesegnetes böhmisches Rapsöl.

Auf dem Heimwege sprach der Doktorpeppi nur seine Verwunderung darüber aus, daß Schmelkes, der Besitzer des Grundstücks, nicht aus Gewinnsucht habe nachgraben lassen.

Der Pfarrer aber lobte den Händler eifrig. Schmelkes betreibe seine Sache und habe freilich den bösen Leumund, es mit den Schmugglern zu halten, aber gutmütig sei er, wohltätig sogar, und er, der Pfarrer, wisse ein Lied davon zu singen.

An der Kapelle machten sie Halt, schnupperten wie vor acht Tagen, und der Nachtwächter sagte: »Hochwürden, kommen S' weiter. Hier ist's nicht richtig. Ich trau' mich gar nicht mehr in die Näh'.«

Man trennte sich, und wieder schritt Mikulasch Laska wenige Minuten hinter dem Pfarrer und dem Nachtwächter durchs Paterbüschel dem Vereinslokal in Kippsdorf zu.

Dort fand er verstimmte Gesichter. Der Weichensteller Trouba war nicht zugegen. Er hatte sich den Fuß verrenkt.

Nun waren der Vorsteher und der Bergarbeiter Hrntschirsch seit bald zwei Stunden allein beisammen gewesen, und hatten noch nicht ein Sterbenswort miteinander gesprochen. Beide erzählten dem Vizepräsidenten, kaum daß er sich zu ihnen gesetzt hatte, die Geschichte zu gleicher Zeit, der Arbeiter auf tschechisch, der Vorsteher auf deutsch. Vielleicht kam es davon, daß der Anlaß zum Streite so verschieden herauskam.

Hrntschirsch erzählte, er sei viel früher als der Herr Präsident zur Stelle gewesen und habe einen Schnaps auf dessen Wohl getrunken. Als der Herr Vorsteher erschien, habe er, Hrntschirsch, sich nicht mit den üblichen Zeichen der Hochachtung begnügt, sondern sei ihm sogar um den Hals gefallen. Ein Stoß vor den Magen sei die Antwort des Herrn Präsidenten gewesen, und das lasse sich ein Mitglied nicht gefallen. Ins Gesicht, warum nicht, auf den Kopf, gern. Aber vor den Magen, wo man doch eben erst auf das Wohl getrunken habe, das dürfe ihm nicht einmal der König von Böhmen antun. Auch vom König von Böhmen lasse er sich nicht vor den Magen stoßen. Auf den Kopf recht gern.

Zornig erzählte inzwischen der Vorsteher, in welchem viehischen Zustande er den ganzen Verein, verkörpert durch diesen Hrntschirsch, angetroffen habe. Übrigens seien dessen anatomische Kenntnisse mangelhaft. Leicht und vornehm habe er ihn zurückgedrängt und ihm dabei unbedeutend die Brust berührt. Während Hrntschirsch jetzt undeutlich weiter brummelte, verlangte der Vorsteher dringlich, der Bergarbeiter Hrntschirsch müßte wegen seiner Unflätigkeiten aus dem Verein ausgestoßen werden.

Laska runzelte ärgerlich die Stirn. Ihm stand die Sache immer über der Person, und er fand den Präsidenten kleinlich in seiner Eitelkeit. Aber gerecht wie immer, suchte er aus seiner Tasche die aufgeschriebenen Satzungen hervor, um nachzusehen, was man eigentlich für solche Ereignisse vorbedacht hätte. In den Satzungen stand nichts. Da stellte der Vorsteher den formellen Antrag, den Hrntschirsch sofort durch Mehrheitsbeschluß hinauszuwerfen. Erregt erwiderte Laska, daß ihr bisheriges deutsches Gespräch Privatgespräch gewesen sei, die Vereinssprache sei die tschechische. Das wenigstens stehe in den Satzungen, glücklicherweise. Wenn der Präsident formellen Antrag stellen wolle, so solle er ihn im tschechischen Gewande vorbringen. Auch sei es eine Forderung der Gerechtigkeit, daß Hrntschirsch von dem Antrag erfahre.

Würdevoll hielt nun der Vorsteher eine Rede in dem schönsten Tschechisch, das er aufbringen konnte, und gebrauchte für die entscheidenden Worte so gebildete Ausdrücke, daß Hrntschirsch sich leise geschmeichelt fühlte und nur immerwährend sagte: »Bitte, bitte, pane president. Ich bin nicht mehr böse. Hat gar nichts zu sagen.«

Laska wollte die Sachlage aufklären, aber der Präsident unterbrach ihn mit Donnerstimme: »Die Debatte ist geschlossen. Wir schreiten zur Abstimmung. Ich stimme für meinen Antrag.«

»Ich behalte mir einen Protest gegen die willkürliche Führung der Geschäfte vor und stimme gegen den Antrag,« sagte Laska ernst.

»Herr Lehrer!« rief der Vorsteher entrüstet, »das hätte ich von Ihnen nicht erwartet. Sie sind ja ein ganz fanatischer Mensch. Ich bin wahrhaftigen Gott ein guter Patriot. Aber so ganz allein mit einem ganz ungebildeten Kerl hier zu sitzen, das ist nichts für mich. Man will doch in seinem Verein ein gebildetes Gespräch führen. Und der Kerl spricht nichts als sein verdammtes Stockböhmisch. Nicht einmal Deutsch kann er.«

»Ich warne Sie, Herr Präsident,« sagte Laska. »Sie haben mich einen tiefen Blick in Ihre Anschauungen tun lassen. Sie haben Bildung und deutsche Sprache fast wie gleichbedeutende Worte gebraucht. Ich warne Sie. Übrigens bitte ich, die Sache zu Ende zu führen. Ihr Antrag hat bisher, wenn Sie zu zählen belieben, die gleiche Anzahl Stimmen für und gegen sich. Die Stimme des Hrntschirsch wird entscheiden ... Sag' nein!« schrie er den Arbeiter auf Tschechisch an.

»Nein!« sagte Hrntschirsch.

»Sag' ja, verdammter Kerl, und du bekommst ...«

»Ich protestiere gegen Bestechung der Wähler,« rief Laska. »Das Vereinsmitglied hat deutlich nein gesagt, und Ihr Antrag, Herr Präsident, ist mit allen gegen eine Stimme gefallen.«

Der Präsident rückte mit dem Stuhl und stützte mit halber Wendung den linken Ellbogen so auf den Tisch, daß er seinem Gegner den Rücken wandte. Laska setzte sich ebenso, mit dem Gesicht gegen Hrntschirsch gewandt. Es verging eine dumpfe Viertelstunde. Dann zog Laska die Zeitung hervor und las etwas verstimmt mit halblauter Stimme einen langen Aufsatz über die Verdienste der Tschechen um den Protestantismus. Der Vorsteher war heute so schlechter Laune, daß er keine der kühnen Behauptungen des Artikelschreibers gelten lassen wollte. Hrntschirsch, der weit versöhnlicherer Natur war, ließ sich von Laska über das und jenes belehren, stimmte aber dann dem Herrn Vorsteher bei. Daß all die Lutheraner da draußen Tschechen seien, das könne er nicht glauben, denn Tschechen seien Christen. Die Lutheraner aber seien doch nur Heiden und Juden.

»Also pane Vizepräsident, sei doch gescheit. Was so ein Ochse wie ich weiß, da müßtest du dich doch schämen, nicht zu wissen.«

Der Vorsteher lachte demonstrativ und fing wieder an, deutsch zu sprechen. Es wäre doch ein Vergnügen gewesen, mit einem so studierten Manne wie Laska sich über diesen Luther zu unterhalten, aber in Gegenwart dieses plebejischen Kerls wäre das nicht möglich.

»Wissen Sie, Laska, Sie sollten jeden Sonntag zu uns kommen. Meine Frau wünscht Sie kennen zu lernen und sekkiert mich wegen der Vereinssitzungen. Na, ich erzähl' immer, was wir gesprochen haben. Und dann will sie wissen, wer noch da ist, und ich kann doch nicht sagen, der Trouba und der Hrntschirsch. Ich sag' ihr, das ist ein Geheimnis, und da hat sie wieder Angst und sekkiert mich wieder. Ich sag' Ihnen, Laska, das Gescheiteste wär', Sie kämen zu uns. Meine Frau ist sehr gebildet. Sie hat Schillers sämtliche Werke und könnte sehr gut Klavier spielen, wenn wir eins hätten. Und sie sagt mir jeden Sonntag, bring doch den Laska mit.«

Laska machte eine weite Handbewegung, als ob er hätte sagen wollen: Ich mag deine Frau nicht, solange ich im Kampfe stehe. Laut sagte er: »Ich werde mich bei erster Gelegenheit der Frau Vorsteherin vorstellen lassen. Und wenn sie eine gute Patriotin ist, was Schillers sämtliche Werke nicht eben beweisen, so soll es mich freuen. Mit dem Verein hat sie nichts zu schaffen.«

Der Vorsteher verteidigte und rühmte seine Frau, und das gute Einvernehmen zwischen dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten wurde halbwegs wieder hergestellt. Als der Vorsteher aber bald nach Mitternacht die Stube verließ, würdigte er doch das dritte Vereinsmitglied keines Grußes.

Laska hatte nur auf die Entfernung des Vorstehers gewartet, um mit Hrntschirsch die nächtliche Expedition zu verabreden.

Ob der Arbeiter für ein gutes Trinkgeld und aus Liebe zur nationalen Sache nach Oberntal kommen wolle, dort ein bißchen zu graben.

Hrntschirsch verlangte dafür einen Schnaps und später fünfzig Kreuzer für jede Stunde Arbeit. Was er denn zu tun hätte? Gewiß was Ungesetzliches. Immer will man von ihm was Ungesetzliches.

Laska forderte ihn auf, sich im Wirtshaus eine Schaufel oder einen Spaten zu leihen und ihm nur durchs Paterbüschel zu folgen. Er werde schon sehen. Nach Petroleum hätte er zu graben.

»Das ist ganz falsch, pane Vizepräsident,« sagte Hrntschirsch. »Da nimmt man nur einen Bohrer und einen Eimer. Man bohrt das Faß an und läßt laufen. So holt man Petroleum aus einem fremden Keller.«

Als er erfuhr, daß es sich nicht um einen Diebstahl handle, sondern um eine heimliche Mutung, wurde er plötzlich sehr selbstbewußt. Jawohl, da müsse man einen Spaten haben. Man grabe einen Klafter tief oder auch hundert, und dann komme auf einmal so eine Menge Petroleum aus der Erde heraus, für tausend Gulden und noch mehr. In Ungarn habe er einmal gearbeitet, da habe er einen Kameraden gehabt, der habe irgendwo weit weg Petroleum gegraben. Der habe mit eigenen Augen gesehen, wie das Petroleum aus der Erde herauskam wie ein Springbrunnen und zwei Arbeiter in die Höhe gehoben habe tausend Klafter hoch, daß sie mit gebrochenen Beinen wieder herunterkamen. Das sei sehr gefährlich. Aber für den Herrn Vizepräsidenten tue er alles, weil er ihn nicht vor den Magen gestoßen habe.

Sie brachen auf, und Hrntschirsch borgte sich ohne viel zu fragen einen Spaten, der draußen am Stallgebäude angelehnt war. Dann machten sie sich auf den Weg.

Im Paterbüschel wurde Hrntschirsch plötzlich ängstlich und weigerte sich, weiter zu gehen. Er sehe ganz gut, daß die gnädigen Herren Präsident und Vizepräsident so einen armen Teufel nur ins Unglück bringen wollten. Und er habe jetzt genug an schlechter Behandlung und sitzen wolle er auch nicht mehr. Nur mit Mühe vermochte Laska ihn zu beruhigen.

Plötzlich aber war Hrntschirsch wieder wie stumpfsinnig geworden und schritt seinen Weg, als ob er täglich so bei Nacht mit einem Spaten zur Arbeit ginge. Vor der Statue des heiligen Nepomuk wollte Laska ihn noch einmal schwören lassen. Als er aber seinen Zustand wahrnahm, verzichtete er darauf. Sie betraten, nachdem Laska das Haus leise geöffnet hatte, mit aller Vorsicht den Hofraum. Stumm schritt Laska voran und zeigte mit dem Finger nach der Stelle, an welcher Hrntschirsch graben sollte; der Arbeiter schüttelte den Kopf, setzte aber endlich den Spaten an, drückte mit dem rechten Fuß darauf und holte die erste Scholle Erde herauf.

»Noch leiser,« sagte Laska, als Hrntschirsch die schwarze Masse neben sich geworfen hatte. Hrntschirsch nickte mit dem Kopfe und grub weiter. Vorsichtig legte er jede Scholle beiseite und hatte schon nach wenigen Minuten ein rundes Loch im Durchmesser einer Elle zwei Spatenstiche tief ausgehoben. Immer deutlicher stieg den beiden der starke Geruch des Erdöls in die Nase. Laska bückte sich, um als Mann der Wissenschaft das Erdreich zu untersuchen. Soviel er davon verstand, war nur die oberste Schicht dunkler Humus, dann kam ein Gemenge etwa von Lehm und Kies. Er nahm eine Probe in sein Taschentuch, um sie einem Fachmann vorlegen zu können. Er fühlte nachher mit großer Freude Petroleumgeruch an seinen Fingern.

Hrntschirsch mußte weiter graben. Man kam fast eine Elle tief, der Geruch wurde immer stärker.

»Wenn es uns nur nicht ins Gesicht springt,« flüsterte der Arbeiter.

Laska aber empfand plötzlich alle Aufregungen eines Schatzgräbers.

So klar der Mond auf den öden Hof herunterschien, im »Bohrloch«, wie es Laska innerlich auf deutsch nannte, war es nicht hell; man konnte von oben nicht wahrnehmen, ob sich in der Tiefe die Farbe oder die Konsistenz veränderte. Laska, kniete jetzt am Rande des Lochs und griff jedesmal hinunter, wenn Hrntschirsch wieder einen Spaten voll herausgeholt hatte. Der Arbeiter ruhte von Zeit zu Zeit und deutete dann pantomimisch an, der Quell könnte plötzlich hervorbrechen und ihnen beiden, in die Gesichter fahren.

Wieder hatte er einmal seine Tätigkeit unterbrochen und sich aus der mitgebrachten Flasche gestärkt, wieder holte er langsam eine kleine Scholle nach der anderen heraus, als es dem ungeduldigen Laska vorkam, es wäre ihm ein Tropfen vom Spaten her ins Gesicht geflogen. Rasch steckte er seine rechte Hand tief in die Öffnung. Es war kein Zweifel. Feucht, nein, naß fühlte sich der Boden an ... und jetzt, wie er mit den Fingerspitzen tastend umhersuchte, ob nicht an irgendeiner Stelle die Flüssigkeit reichlicher vorhanden wäre, da zuckte er vor Freude zusammen. Nicht vom Boden her, sondern von der Seite kam's. Deutlich an seinen Fingern vorbei, kühl und weich, rieselte es in das Bohrloch. In einem fast unbewußten Wonnegefühl ließ Laska seine Finger eine Weile in diesem heiligen Bade spielen, dann zog er die Hand zurück und führte sie an die Nase. Petroleum! Er führte die Finger auch an die Lippen, zu kosten oder zu küssen, er wußte es selbst nicht.

Plötzlich sprang er in die Höhe. Vielleicht lag das Schicksal Böhmens in diesem Augenblick auf ihm. Er durfte keinen taktischen Fehler begehen. Stumm faßte er den Spaten und bedeutete Hrntschirsch, mit dem Graben innezuhalten. Der Arbeiter trat zwei Schritt von dem Loche zurück, als fürchtete er die nahe Explosion. Laska stand da in einer Feldherrnpose, einen Feldherrnblick auf den Hof werfend und darüber hinaus auf Oberntal und Europa überhaupt.

Keinen Fehler begehen. Vielleicht ist das Nachgraben schon ein Fehler gewesen. Warum hatte er nicht mit mehr Vertrauen gehandelt? Als ob der Boden Böhmens nicht Petroleum geben müßte! Jetzt vor allem den Fehler gutmachen! Zuschütten! Nein! Zuerst eine Probe nehmen.

Rasch zog er seine Stiefel aus und eilte auf den Socken nach seiner Stube. Dort wählte er nicht lange. Sein Stammseidel aus dem blauen Schwan – der Deckel zeigte einen roten Löwen und die Initialen M.L. –, das Stammseidel ergriff er, hob es wie ein Weihgeschenk einmal ehrfurchtsvoll zum Bildnisse Ziskas empor und eilte damit wieder hinunter.

Wenn der Quell wieder versiegt wäre! Nein, der Boden des Bohrlochs war mit der Flüssigkeit bedeckt und von der Seite rieselte es immer noch gleichmäßig, kühl und weich, um seine Finger herab. Er legte das Stammseidel an, und nicht länger als etwa eine Minute dauerte es, bis es gefüllt war: Zitternd in seiner freudigen Bewegung richtete er sich langsam auf, hielt das Glas gegen den Mond, der trübe durch die gelbliche Flüssigkeit schien, und dann sank er dem überraschten Hrntschirsch in die Arme. Das Stammseidel hielt er dabei vorsichtig hinter dessen Rücken.

»Gnaden Herr Vizepräsident,« fing Hrntschirsch an. Aber Laska legte ihm die freie Hand rasch auf den Mund und fing selbst an, das Loch zuzuschütten. Schnell und leise sollte es geschehen. Der Arbeiter nahm den Spaten wieder zur Hand. Laska setzte das Stammseidel in einiger Entfernung nieder auf den Boden und half dann mit beiden Händen nach. Von Zeit zu Zeit traten sie beide ins Bohrloch, um die Erde festzustampfen. Nach einer halben Stunde war alles wieder zugeschüttet und so weit als möglich die Spur des nächtlichen Werkes verwischt. Mit schwarzer Erde war die Stelle überstreut, und Laska zog sich erst seine Stiefel wieder an, um die Oberfläche ein wenig glätten zu helfen. Dann trat er in furchtbarer Erregung an Hrntschirsch heran und versprach ihm fünf Gulden, fünf einzelne harte Silbergulden, wenn Hrntschirsch gegen jedermann schweigen wollte. Auch sei Hrntschirsch das als guter Patriot dem Vaterland schuldig.

Der Arbeiter nahm seinen letzten Schnaps, legte seine rechte Hand irgendwohin auf die Brust und schlich mit unsicheren Schritten davon. Laska aber ergriff wieder das Gefäß mit dem ersten Seidel böhmischen Petroleums und ging damit auf seine Stube hinauf. Auch er wankte beinahe und mußte sich am Geländer festhalten.

Auf seiner Stube brannte noch immer die Lampe, eine Petroleumlampe! Manche Million von solchen Lampen gab es im Lande Böhmen, und er war der Mann, der sie von jetzt ab mit nationalem Öle speisen würde. Er setzte das Glas mit der schmutzigen Flüssigkeit neben die Lampe auf den Tisch, setzte sich müde nieder und wollte nachdenken. Da aber kam es über ihn. Weit breitete er die Hände aus, schlug mit der Stirn auf die Tischplatte und weinte vor Freude und Erregung. Mikulasch Laska war also ausersehen, geistig und materiell der Befreier Böhmens zu werden. So echt war dieses Erdöl, daß ein Bruchteil dieser Echtheit gewiß auch noch seiner Handschrift zugute kam. Sie mußte echt sein!

Auf einmal kamen ihm wieder Zweifel. Mit zitternden Fingern knitterte er eine Nummer seiner Prager Zeitung zusammen und tauchte sie leicht in sein Stammseidel, dann legte er das Papier ins Ofenloch und hielt erwartungsvoll ein brennendes Streichholz daran. Erschüttert von seinem Glück sank er in die Knie. Prasselnd und flackernd schlug die Flamme in den Ofen hinein. Es war Wahrheit, Böhmen hatte nationales Petroleum.

Laska stand wieder auf und preßte die Schläfen mit den Händen. Nur Ruhe! Keinen Fehler machen! Er stieg auf seinen Stuhl und stellte das Seidel auf den Ofen. Vorsichtig stieg er wieder herunter und hatte das unabweisliche Bedürfnis, zu gehen, zu laufen, seine Aufregung umherzutragen.

Vorsichtig schlich er aus dem Haus und stand bald darauf vor der Kapelle des heiligen Nepomuk. Wieder breitete er weit seine Arme aus, und wieder traten ihm Tränen in die Augen.

»Heiliger Mann,« sprach er laut und vernehmlich in dem gewähltesten Literatur-Tschechisch. »Heiliger Mann, unglücklicher Johannes Hus, dem sie den Chorrock angezogen haben, um ihn zu einem heiligen Nepomuk zu machen. Heiliger Hus, du siehst mir ins Herz und du weißt, daß keine egoistischen Wünsche mich so bewegen. Ehren und Reichtümer winken mir, und hinter ihnen lockt ein so vornehmes Fräulein, wie Libussa. Heiliger Hus, du siehst mir ins Herz, du weißt, ich werde nichts tun, als was die Sache meines Landes verlangt. Hilf mir, heiliger Mann. Meine Feinde sind auch deine Feinde gewesen. Nicht wahr, du verstehst mich? Nieder mit den Deutschen! Jetzt haben wir sie, jetzt halten wir sie! Hannes, jetzt wollen wir sie beuteln.«

Noch eine grüßende Handbewegung machte Laska gegen seinen Heiligen, dann ging er hocherhobenen Hauptes weiter. Aufwärts dem Gebirge zu. Vor dem Wohnhause Weißmanns blieb er stehen, verschränkte die Arme über der Brust und schickte lautlos Herausforderungen gegen das Fenster, hinter welchem der Fabrikant schlief. Nebenan war die Stube Libussas.

Laska dachte nach, welches Zeichen seiner siegreichen Leidenschaft er zu ihrem Fenster emporsenden sollte. Aber es fiel ihm nichts ein, und so ging er weiter. An dem Fabrikgebäude vorüber und dann auf einem Spazierwege nach dem Aussichtspunkte des Schwarzenbergs. Dort, unter einem Moosdach, das von sechs Holzsäulen getragen war, blieb er lächelnd stehen. Böhmen! Da lag es weit und herrlich im Mondenschein. Böhmen! Hinter dem Schloßberg von Teplitz dämmerte es. Nicht rosig, wie die dummen deutschen Maler den Sonnenaufgang zu malen pflegen. Nein, wie die gelbliche Röte einer fernen Feuersbrunst. So mischte sich dort die Morgendämmerung in dem zauberhaften Lichte des Mondes und der Sonne. Und das sollte ihm ein Wahrzeichen sein. Zauberhaft lag über Böhmen der gespenstige Schein einer großen Vergangenheit, aber trotzdem hatte Dunkel geherrscht bis heute. Die Quelle auf dem Hofe des Schmelkes war die Zukunft. Licht wird sie bringen wie jedes andere Petroleum, aber dazu auch das andere Licht des Reichtums und den mörderischen Sieg über die Feinde. Denn das schwur Mikulasch Laska in dieser Stunde feierlich zu den Sternen Böhmens, die anderswo lange nicht so schön glänzten, daß der Quell auf Schmelkeshof tschechischer Besitz bleiben oder mit List oder mit Gewalt wieder verschüttet werden mußte. Denn niemals durfte das erste böhmische Petroleum der Habgier der Fremden zufallen.

Lange stand er so, an eine Säule des Moosdaches gelehnt, und der Nachtwächter von Oberntal glaubte aus weiter Ferne die Töne des tschechischen Schlachtgesanges zu vernehmen: Hej slovane!

Auf dem Kirchturm von Oberntal schlug es drei Uhr. Wie es auf diesem Turm eben schlug. Vor jedem Schlag hätte ein Fremder darauf geschworen, die Uhr werde es nicht mehr zustande bringen. Aber sie schlug doch. Während sie jetzt Drei schlug, ging langsam die Sonne auf.

Trunken von guten Vorbedeutungen kehrte Laska nach Hause zurück. Unaufhörlich sprach er tschechisch mit sich selber, zur Übung oder zum Vergnügen, er wußte es nicht. Ohne einer Menschenseele zu begegnen, kam er zum Hause des Schmelkes. Leise und feierlich betrat er den Hof. Dann schlich er sich auf seine Stube. Hier erschrak er zuerst. Ein abscheulicher Qualm kam ihm entgegen. Aber rasch war er beruhigt, das Seidel auf dem Ofen stand unberührt. Die Lampe war von selbst ausgelöscht; sie hatte ihr Petroleum verbraucht. Natürlich, so ein Petroleum! Meinetwegen amerikanisches Petroleum, das war ja aber alles deutsch. Böhmisches Petroleum wird sich nicht verbrauchen, es wird sein wie das Ölkrüglein der Witwe von Dingsda. Und es kam ihm ein großer, eigentlich ein poetischer Einfall. Ein Fest wollte er feiern.

Er holte das Seidel vom Ofen und, wahrhaftig, am Grunde lag wohl allerlei Schmutz und Sand, oben aber stand das klare reine Erdöl. Es fiel ihm zwar ungenau ein, daß das Petroleum, so wie es aus der Erde komme, nicht gefahrlos sei. Aber es war ja böhmisches Petroleum! Er hatte Vertrauen.

Fröhlich schraubte er den Brenner seiner Lampe los und goß aus seinem Seidel ein weniges ins Glasbassin, gerade so viel, als für eine Stunde nötig war. Dann befestigte er den Brenner wieder und zündete den Docht an. Laska wußte nicht, wie sich vor Freude lassen. Heller, als je die alte Lampe im Dunkel seiner einsamen Nächte gebrannt hatte, schien sie jetzt im glänzenden Tageslicht.

»Die böhmische Sonne«, das stand plötzlich fest vor seinen Augen, die böhmische Sonne sollte der Name und die Marke der Petroleumquelle von Schmelkeshof sein. Sache böhmischer Zeichner war es, ein Symbol zu finden für die böhmische Sonne. Die Schutzmarke mußte so etwas zeigen. Ein Löwenhaupt mit einem Strahlenkranz, oder so etwas.

Laska machte die Fensterläden fest zu und schrieb beim Schein der böhmischen Sonne drei Briefe nach Prag.

Fünftes Kapitel

Als am Mittwoch früh ein Prager auf Station Kippsdorf ankam, dort von einem bestellten Wagen erwartet wurde und in Oberntal im Gasthaus »Zum Lamm« abstieg, da wußte die ganze Ortschaft, er käme wegen des Petroleumgestanks. Man erzählte, daß Laska mit der Geschichte zu tun hätte, daß die Geschichte in tschechische Hände gebracht werden sollte, daß Oberntal leer ausgehen würde. Man wußte nicht wie und was und traf doch wohl das Richtige. Der Prager, der wiederholt hervorhob, ein wie reines Deutsch er spreche, schrieb sich ins Fremdenbuch als Kaufmann ein. Es war aber der Agent einer nationalen Prager Bank, der nach Oberntal geschickt worden war, um nachzuforschen und die ersten Schritte zu tun. Der Agent besuchte seinen alten Freund Laska, den er seinen Vetter nannte, seinen Bruderssohn, und kreuzte in Gesellschaft seines Vetters scheinbar harmlos den Schmelkeshof. Aus dem Stammseidel goß er das geklärte Petroleum in eine Flasche, versiegelte sie und schickte sie nach Prag. Noch am selben Tag schloß er mit Schmelkes einen vorläufigen Vertrag, wonach Schmelkes ihm Haus und Hof, kurz, das ganze Grundstück bis zum Paterbüschel für zwanzigtausend Gulden überlassen mußte, während der Agent jedoch binnen acht Tagen zurücktreten durfte. Schmelkes erwähnte ausdrücklich, der ganze Besitz wäre noch vor kurzem für achttausend Gulden zu haben gewesen. Auf den Petroleumgestank gebe er nichts. Da aber der Herr offenbar einen besonderen Wert auf die Lage des Grundstücks lege, so sei zwanzigtausend nicht zu viel. Der Agent schloß solche Eventualverträge noch mit zwei Bauern, deren ödes Hinterland an den Hof des Schmelkes stieß, und mit Besitzern der anderen nahen Grundstücke. Ihnen bewilligte er nicht viel über den ortsüblichen Preis.

Danach fuhr der Agent umher, zu den drei adeligen Großgrundbesitzern, die wegen ihrer tschechischen oder wenigstens deutschfeindlichen Gesinnungen bekannt waren. Zweimal fuhr er auch zu dem Grafen B. Gemeinsam mit ihm begab er sich schon am nächsten Samstag nach Teplitz, und dort nahmen ein Advokat, ein Journalist, ein Petroleumsachverständiger, alle aus Prag, an der Beratung teil. Der Sachverständige war von der Qualität der Probe begeistert. Das Petroleum sei nur ein wenig durch erdige Bestandteile verunreinigt, enthalte aber an den gefährlichen und flüchtigen Ölen, wie Ligroin und Benzin, ferner an den schweren und lästigen Bestandteilen nicht viel mehr als das gemeine schlechte Petroleum, wie es von gewissenlosen Unternehmern in den Handel gebracht wurde. Die Reinigung werde billig herzustellen sein, und man werde dann ein Petroleum allerersten Ranges liefern können.

Der Agent berichtete über seine Verträge, aber auch über seine persönlichen Nachforschungen. So zuverlässig auch Laska sei, der Agent habe dennoch selbst sehen und prüfen wollen. Bei Nacht habe er das Bohrloch zum zweitenmal geöffnet und sei bis zur Quelle vorgedrungen. Selbst wenn sie – was ja gegen alle Wahrscheinlichkeit – in der Tiefe nicht an Mächtigkeit zunehme, so sei sie doch stark genug, um einer Aktiengesellschaft die Sicherheit der größten Prosperität zu geben. Es werde ein leichtes sein, eine Million Gulden sofort zusammenzubringen. Die ersten Auslagen seien unbedeutend, und selbst für den schlimmsten Fall, daß die Quelle sich nicht als übermächtig herausstellen sollte, würden eben nur die paar tausend Gulden für den Landankauf und für die gründlichen Bohrversuche verloren gehen. Es sei wohl in der Ordnung, daß man das anzukaufende Grundstück zum Werte von hunderttausend Gulden in Rechnung stelle und Aktien in diesem Betrage dem glorreichen Entdecker der ersten böhmischen Petroleumquelle überlasse. Herr Laska, dem das privatim schon zugesichert sei, werde übrigens die Güte haben, die idealen Gesichtspunkte dieser Gründung, wie auch diejenigen weiteren Gesichtspunkte persönlich vorzutragen, die über den Horizont eines einfachen Geschäftsmannes hinausgingen.

Laska war zu dieser Sitzung in gehobener Stimmung und in Feierkleidung gekommen. Aus den Tiefen seines Koffers hatte er die Tschamara hervorgesucht, den nationalen Schnürrock, und in der Stadt hatte er sich hellgelbe Handschuhe gekauft. Es war möglich, daß der Graf ihm die Hand drückte. Dann mußte er gelbe Handschuhe tragen. Es gehörte das zu seinen unumstößlichen Überzeugungen. Es war fast eine angeborene Idee.

Schwer war ihm die Frage einer passenden Kopfbedeckung geworden. Nur Deutsche trugen Zylinderhüte, die nationale Kopfbedeckung war ein kleiner runder Filz. Aber der Graf! In dieser Unsicherheit hatte Laska seinen Geldmangel entscheiden lassen und war seinem unauffälligen runden Hute treu geblieben. Während er jetzt aufstand, um die wohlvorbereitete Rede zu halten, ging es ihm durch den Kopf, daß der Graf selbst keine Handschuhe trug und keiner von den anderen Herren. Er erschrak plötzlich über seine Gelben. Aber er faßte sich und sprach in tschechischer Sprache, in der der Advokat die ganze Verhandlung bisher geleitet hatte:

»Meine Herren und teure Landsleute sowie erlauchter Herr Graf! Ich danke Ihnen für Ihr Wohlwollen und dafür, daß Sie den glücklichen Zufall, der mich zum Entdecker eines segensreichen Naturgeheimnisses gemacht hat, so überaus großmütig belohnen wollen. Doch davon will ich an dieser Stelle, aus diesem Ehrenplatz neben Seiner Erlaucht, so wenig sprechen, wie von den übrigen Fragen, welche geschäftskundige Herren zu erörtern unternommen haben. Ich bin nur ein Wachtposten, gegen die Heere unserer Feinde hinausgestellt, und ich sehe nichts und ich will nichts sehen, als was von Bedeutung ist für die große, heilige, ewige nationale Sache. Und wenn Sie diese Gedanken für ideal halten, so wird Ihnen eine kurze Überlegung sagen, daß auch diese idealen Gesichtspunkte, wie man sich vorhin ausgedrückt hat, von entscheidender Bedeutung für das Gelingen des Werkes sein werden. Erdöl, das Geld einbringt, gibt es auch anderswo, Erdöl, das die nationale Freiheit erringen hilft, konnte nur in Böhmen gefunden werden, und es ist gefunden worden. Und so hoffe ich, daß es uns gelingen wird, die notwendigen nationalen Forderungen auch in unseren Statuten juristische Form annehmen zu lassen.

»Zuerst, meine Herren, achten Sie auf den Ort, auf den Namen unserer Ortschaft. Oberntal nennen sie die Deutschen, welche seit einiger Zeit hier hausen. Es gibt hier schon lange einen nationalen Verein, einen Verein von zahlreichen Mitgliedern, die sich als Böhmen fühlen, und deren Vizepräsident zu sein ich die Ehre habe. Der Sitz eines solchen Agitationszentrums kann nicht Oberntal heißen. Philologische Untersuchungen haben mir mit zwingender Gewalt die Überzeugung aufgedrängt, daß Oberntal eine Verstümmelung des ehemals tschechischen Namens Opretal ist. Sie wissen, meine Herren: alte Ortsnamen sind daran zu erkennen, daß man ihren Sinn nicht mehr versteht. Oberntal ist verständlich, Opretal klingt dunkler, und das allein sollte schon beweisen, daß unser Ort in Urväterzeiten nicht anders als Opretal geheißen hat. Ich beantrage also, daß der Sitz der Gesellschaft Opretal heiße und unser herrliches Erdöl den Namen bekomme »die böhmische Sonne von Opretal«.

»Unser Unternehmen wird und muß ein nationales sein. Es ist darum notwendig, in die Statuten aufzunehmen, daß nur national gesinnte Böhmen Besitzer unserer Aktien werden können. Sache der Juristen wird es sein, Mittel zu finden, um zu verhindern, daß unsere Aktien später, wenn auch zu höheren Preisen, in deutsche Hände übergehen. Dieser Punkt ist wichtiger, als man vielleicht im ersten Augenblick empfindet. Nicht nur der ungeheure Gewinn soll dieses Mal allein in böhmische Taschen fließen, sondern auch die mächtigen Mittel, die mit einer großen Organisation zusammenhängen, sollen endlich einmal unserer Sache zugute kommen. Alle Beamten und Arbeiter unserer Werke müssen Böhmen sein, und die Deutschen dieses kleinen Städtchens müssen erdrückt werden unter der ungeheuren Mehrzahl der Böhmen, ein Vorspiel der großen Zeit, in welcher in ganz Böhmen derselbe Schrei ertönt. Als bescheidenen Beitrag zu der großen Frage verlange ich, daß ferner in die Satzungen aufgenommen werde, es sei von dem ersten Gewinn sofort eine böhmische Schule in Opretal zu gründen. Unser Verein hat bereits die Anregung geben wollen, es stellte sich aber heraus, daß die Zahl der schulpflichtigen Kinder den gesetzlichen Anforderungen noch nicht entspricht.

»Ich gebe zu, daß ein dritter Wunsch nicht gut in die Satzungen der Petroleumgesellschaft von Opretal aufgenommen werden kann, und richte darum an die Erlaucht an meiner Seite die ergebene Petition, er möge seinen hohen Einfluß dahin lenken, daß in absehbarer Zeit auch ein böhmischer Pfarrer oder Vikar nach Opretal versetzt werde. Unser gegenwärtiger Pfarrer ist ein guter Mensch, aber ein Deutscher.

»Nicht leichter wird die Zollfrage in die Satzungen einzuschmuggeln sein. Aber, meine Herren, die Gesellschaft »Böhmische Sonne von Opretal« wird eine Macht darstellen in der Welt. Und dieser Macht muß es gelingen, die Regierung zu zwingen, einen hohen Zoll, einen unerschwinglichen Zoll auf ausländisches Petroleum zu legen. Denn unsere letzten Ziele können wir nur erreichen, wenn die Lichtversorgung von Wien und ganz Österreich allein von Opretal ausgeht, wenn Wien abhängig wird von Opretal. Meine Herren, ich bin der Mann der Zukunftsbilder, ich weiß es, aber mit denselben Seheraugen, mit denen ich die tiefverborgene Quelle drüben im Schmelkeshof vor allen anderen wahrgenommen habe, mit denselben von Vaterlandsliebe geschärften Seheraugen erblicke ich die Entwicklung der Dinge. Es ist ein Wink des Schicksals, daß Opretal am Abhang des Erzgebirges beinahe vierhundert Meter höher liegt, als das Flachland. Es wird ein leichtes sein, durch ein gigantisches Röhrennetz unser einziges Petroleum fast kostenlos hinabzuleiten in die gewerbfrohen Gauen Österreichs. Herabgestürzt von seiner eingebildeten Höhe wird das stolze Wien. Das ganze Vermögen Österreichs wird als Gegengeschenk bergauf strömen nach Opretal. Opretal wird die erste Stadt des Landes werden, und Opretal wird böhmisch sein, oder es wird nicht sein. Auch Prag muß überwunden werden. Das goldene Prag ist ein altes Nest, in dem deutsche Kaiser Spuren ihres Wirkens hinterlassen haben. Verhehlen wir uns nicht, die Kirchen und Paläste sind von deutschen Architekten gebaut. Nie wieder wird diese traurige historische Tatsache aus der Weltgeschichte ausgelöscht werden können. Opretal ist in architektonischer Beziehung jungfräulicher Boden; eine nationale Architektur wird hier aus dem Boden gestampft werden und wird sich ausbreiten an den Abhängen des Erzgebirges, meilenweit hinauf und hinunter, größer als London und Paris zusammen, und wird hinaufsteigen auf den Schwarzenberg und von oben in irgendeiner riesengroßen Baulichkeit hinüberschauen nach dem Donnersberg und weit nach Süden nach dem Georgsberg, dem großen Sarge, in dem unser Stammvater ...«

Laska hatte vollständig das Konzept verloren und sich seinen Lieblingsphantasien hingegeben. Am Ende überschrie er sich und blieb plötzlich mit einem gellenden Kopfton stecken. Verlegen und verwundert blickte er um sich. Da legte der Graf ihm die Hand auf seine gelben Handschuhe, und Laska setzte sich nieder.

Der Graf sprach einige gemessene Worte in deutscher Sprache. Er erklärte sich gern bereit, seinen Namen mit denen so vortrefflicher Männer zu verbinden, entschuldigte sich um seiner Sprache willen und bat die Herren, ihre Verhandlungen in ihrer Muttersprache, aber möglichst geschäftlich, weiterzuführen. Der Advokat ergriff nun das Wort, und da er einen Entwurf der Satzungen fertig mitgebracht hatte und die Herren einverstanden waren, so kam man schon nach zwei kurzen Stunden zu einer Einigung. Nur der Name Opretal und die Bestimmung, daß Aktien aus erster Hand und zum Nominalwert bloß an Tschechen abgegeben werden sollten, mußte noch in den Entwurf eingefügt werden.

Ein festliches Mittagessen beschloß die denkwürdige Sitzung. Laska saß wieder neben dem Grafen und wagte seine gelben Handschuhe erst auszuziehen, als die anderen die Suppe beinahe ausgelöffelt hatten. Er war entschlossen, den Wirt zu spielen. Als künftiger Besitzer von hunderttausend Gulden in Aktien der »Böhmischen Sonne von Opretal« wollte er einmal seiner Neigung folgen. Glücklicherweise bot er diese Gastfreundschaft zuerst dem Grafen an und erfuhr da, daß der Graf selber der Gastgeber war; so fiel Laska von einem Rausch in den anderen. Er sprach einen Toast auf Seine Erlaucht, wobei er wider Willen Schiller zitierte und sein: Alle Menschen werden Brüder. Aber er nannte Schiller nicht beim Namen, sondern sprach von ihm nur als von dem edeln Dichter eines begabten Nachbarvolkes.

Man trennte sich erst am späten Nachmittag in seliger Champagnerstimmung. Unmittelbar vorher hatte der Graf allen Anwesenden strengste Verschwiegenheit zur Pflicht gemacht. Ob aber die verschiedenen Redner belauscht worden waren, oder der Redakteur während der Mittagstafel ein Telegramm abgesandt hatte, jedenfalls war schon tags darauf die Nachricht von der Gründung einer neuen Aktiengesellschaft in ganz Böhmen, bald darauf die Nachricht von der Aufdeckung unerhört reicher Petroleumquellen in Böhmen durch die ganze Welt verbreitet.

Die Prophezeiung Laskas von dem Ruhme Oberntals schien rasch in Erfüllung zu gehen. Aus der Umgegend kamen Neugierige, aus Prag und Wien kamen Unternehmer. Aber die Neugierigen konnten nichts wahrnehmen als einen öden Hof mit Petroleumgestank. Die Unternehmer erfuhren, daß alle Rechte schon in festen Händen waren.

In Oberntal nahm man die Gründung in den ersten Tagen nicht ernst. Man munkelte von einem Schwindel des Schmelkes, oder auch von einer Dummheit des verrückten Laska. Und der Doktorpeppi sprach grob von einem furchtbaren »Reinfall«, – der Preuß. Langsam wurde die Sache glaubhafter; ganz heimlich verließen in später Nachtstunde einige Bauern ihr Bett, griffen zum Spaten und gruben da und dort auf ihren Höfen und Äckern herum. Doch so viel sie auch schnüffelten und schnupperten, was für Gerüche sie auch witterten, von Petroleum war nichts zu spüren.

Als aber die Fremden immer zahlreicher kamen, als der Bretterzaun des Schmelkes eines Sonntags von der drängenden Menge eingedrückt wurde, als Laska, gegenwärtig der nominelle Besitzer, zwei Kettenhunde anschaffte und ihre Hütten rechts und links vom Bohrloch aufstellte, als er gar den Bergarbeiter Hrntschirsch als ersten Beamten in den Dienst der künftigen Gesellschaft nahm und ihn zum Wächter vom Schmelkeshof ernannte, als Laska seine Hauslehrerstelle bei Weißmann kündigte, als Weißmann, anstatt das übel zu nehmen, ihn gar auf den nächsten Sonntag zum Mittagessen einlud und ihm sogar nach dem Gottesdienst eine Visite im Schmelkeshof machte, als Weißmann öffentlich sein Bedauern darüber aussprach, daß er keine Aktien erhalten könnte, als der Pfarrer an demselben Sonntag von der Kanzel predigte, niemand sollte ganz und gar dem irdischen Mammon verfallen und beim Segen des Himmels der Armen vergessen, als Herr Schmelkes seine Familie zweiter Klasse nach Wien fahren ließ und für den Rest seines Aufenthalts in Oberntal für sich allein zwei Zimmer im Gasthof zum Lamm nahm, als der Graf einmal mit Laska Arm in Arm – Laska hatte seine Gelben wieder angezogen – vor dem Schmelkeshof auf und nieder ging ... da kam es über die Einwohner von Oberntal wie ein Fieber. Alle geordnete Tätigkeit ruhte. Nicht einmal der alte Doktor hatte viel zu tun. Man hatte keine Zeit, krank zu sein. Man buddelte. Zuerst immer noch heimlich, bei Nacht, dann aber Tag und Nacht überall, auf allen Höfen, auf allen Äckern, auf den Straßen. In der Nachbarschaft des Schmelkeshofs grub man am tiefsten. Dort wohnte der Schmied, der kam beinahe zwei Klafter tief. Soweit das Weichbild von Oberntal reichte, war der Boden seit Vater Zeiten noch niemals so gründlich umgegraben worden.

Der Gemeinderat von Oberntal trat zum erstenmal, seitdem die Welt stand, zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Das Paterbüschel gehörte dem Ort. Das Paterbüschel grenzte unmittelbar an das Petroleumfeld. Was sollte mit dem Paterbüschel geschehen?

Seit acht Tagen gruben Unbefugte im Paterbüschel, Leute, die nichts besaßen als einen Spaten, denen der Grund und Boden nicht gehörte und die in der Gemeinde kaum eine Stimme hatten. Daß sie alte Bäume zu Fall brachten, daß sie die Wurzeln des jungen Nachwuchses beschädigten, das war in diesen Tagen, wo Riesensummen in Frage standen, völlig gleichgültig. Was geschah aber, wenn plötzlich im Paterbüschel Petroleum zu fließen begann? Was geschah, wenn die Gesellschaft, wie anzunehmen, das Paterbüschel aufkaufen wollte? Was geschah, wenn die Gesellschaft wirklich fremde Menschen, Tschechen, nach Oberntal zog? Da war schon dieser Hrntschirsch, dessen Namen man nicht aussprechen konnte, als Wächter bestellt worden. Böse Vorzeichen. Der Gemeinderat saß lange beisammen. Man unterhielt sich lebhaft, aber es gab nichts abzustimmen, denn es war kein Antrag gestellt worden. Sorgenvoll gingen die Mitglieder nach Hause und gruben, ein jeder auf seinem Hof.

Bis hinauf zur Fabrik des Herrn Weißmann griff das Fieber um sich. Zwar hatte der Fabrikant nur unter dem Vorwand, ein paar Bäume zu setzen, metertiefe Löcher in seinem Garten schaufeln lassen und strengstens verboten, auf dem Hofe zu graben, weil sich die Petroleumfelder unmöglich bis zu dieser Höhe erstrecken könnten; aber viele Arbeiter blieben halbe und ganze Tage zu Hause, um in ihren Gärtchen zu buddeln, und die erregten Gespräche in der Fabrik kamen der Arbeit nicht eben zugute.

Vater Weißmann ging mit seiner Tochter in diesen Tagen ordentlich zärtlich um. Sie wäre immer ein so kluges Mädchen gewesen und jetzt könnte sie den Lohn für ihre Bravheit einheimsen. Was den Laska betreffe, so wolle er natürlich abwarten. Wahrscheinlich habe er eine große Zukunft und dann, aber erst dann werde Weißmann kein unerbittlicher Vater sein. Jetzt aber handle es sich darum, Aktien zu beschaffen. Nicht um des Geldes willen. Gott bewahre! Nur um die anderen Oberntaler zu ärgern. Er sei zwar zeit seines Lebens nicht einseitig gewesen, immer nur gut kaiserlich, immer nur österreichisch, nicht preußisch, nicht deutsch. Aber immerhin, man wolle ihm keine Aktien geben. Libussa jedoch habe sich immer zur nationalen Sache bekannt, und ihr werde der Laska so viele Aktien ablassen, als sie nur wolle.

Libussa war wunderlich geworden. Als ob sie die Geschichte gar nichts anginge, so gleichmütig nahm sie die Nachrichten von der großen Gründung und von der Kündigung des Laska aus. Und dem Vater erwiderte sie, sie wolle mit Geschäften nie etwas zu tun haben. Werde der Laska reich, so freue sie sich darüber, denn er sei ein guter Mensch. Aber weiter gehe sie weder in ihren Empfindungen, noch in ihren Hoffnungen. Und jetzt sei sie überdies dabei, mit Rosel saure Kirschen einzumachen, und dürfe nicht gestört werden.

Am Sonntag nach diesem Gespräch, am ersten Sonntag im August, verlief die gewohnte Tarockpartie etwas stürmisch. Der alte Doktor hatte schlechte Karten und schimpfte deshalb mörderisch auf seinen Sohn, auf den Laska, auf Oberntal und nicht zuletzt auf den Weißmann, der sich einmal in den Tarocks verzählt hatte. Dreimal im Laufe des Abends war verabredet worden, von der ganzen Petroleumgeschichte nicht zu reden, und immer wieder verfiel man auf diesen Unterhaltungsstoff. Als um zehn Uhr der alte Nachtwächter das Zeichen zum Aufbruch gab, stritt man noch eine Viertelstunde über die Aussichten der Gesellschaft, die seit gestern von der Behörde anerkannt war. Dann gingen die Gäste heim. Den Weg bis Oberntal legten sie schweigend zurück. Vor ihnen lag unten das Dorf, und der Weg war jetzt nicht geheuer. Man konnte nicht wissen, wo ein Loch gegraben und etwa nur locker zugeschüttet war. Eine geheimnisvolle Zukunft schien über der Landschaft zu liegen.

An der Kapelle des heiligen Nepomuk trennte man sich nicht. Der Weg durchs Paterbüschel war jetzt des Nachts wegen der vielen Löcher gar zu gefährlich. Der Pfarrer mußte den weiten Umweg durchs Dorf machen und klagte den beiden Doktoren sein Leid. Der Kirchenbesuch sei geringer geworden, und sein hoher Patron, der Fürst, habe ihm einen Wink gegeben, er solle der künftigen Entwicklung Rechnung tragen und sich mit dem Laska auf guten Fuß stellen.

Vor dem Hause des alten Doktors blieb man noch eine Weile stehen. In der Stille der Nacht vernahm man aus den benachbarten Grundstücken das leise Aufstoßen der eisernen Spaten und das dumpfe Aufwerfen der Erdschollen. Die Herren reichten sich die Hände, der alte Doktor mit einem Fluch, der Pfarrer mit einem tiefen Seufzer.

Sechstes Kapitel

Es war am nächsten Samstag mittag und Schmelkes kam mit Laska aus der Bezirksstadt zurück. Sie hatten dort bei Gericht die letzte Unterschrift vollzogen und den geschlossenen Handel nachher mit einem guten Glase Wein begossen. Morgen wollte der Händler seiner Familie in die Hauptstadt nachfolgen. Er hatte alle Abschiedsbesuche hinter sich. Vom Müller, vom Bäcker und vom alten Doktor hatte er viele Sticheleien einstecken müssen und auch scharf und gewandt auf alles geantwortet. Nur noch einen Besuch hatte er zu machen, beim Pfarrer.

Gegen drei Uhr zog Herr Schmelkes die Glocke des Pfarrhauses. Die Wirtschafterin öffnete und begrüßte ihn mit besonderer Freundlichkeit. Hochwürden seien zwar mit der morgigen Predigt beschäftigt, aber für Herrn Schmelkes habe Hochwürden gewiß Zeit. Und sie führte den Gast ohne weiteres in den ersten Stock hinauf, in die kleine saubere Bibliothek des Geistlichen. Ein breiter Tisch und zwei Holzstühle, das war die Einrichtung; ein Öldruck nach der Madonna della Sedia war der einzige Schmuck der weißgetünchten Wand; der ganze Bücherschatz stand auf zwei niedrigen Regalen.

Eine Minute später trat der Pfarrer mit schlaftrunkenen Blicken aus dem Nebenzimmer herein. Die Soutane hing ihm wie ein langes schwarzes Hemd um den dicklichen Körper, und er bemühte sich gar nicht, sich zu gürten. Herr Schmelkes, der einzige Jude in Oberntal, war ein gerngesehener Gast des Pfarrhauses. Der Pfarrer begrüßte ihn auch gleich mit seinem gewohnten Scherz:

»Willkommen, lieber Schmelkes! Will man endlich den alten Adam ausziehen? Will man sich bekehren?«

»Wenn Sie Papst geworden sind, Hochwürden, mit Vergnügen,« antwortete Schmelkes wie jedesmal. Er sprach ein fast schulgerechtes Deutsch; er »jüdelte« mehr durch den Tonfall, als durch die Worte.

Der Pfarrer war ganz munter geworden.

»Dann werden wir wohl auf den Schmelkes verzichten müssen. Ist es denn aber wahr, lieber Schmelkes, morgen wollen Sie schon fort? Da wollen wir doch noch eine von den Flaschen kommen lassen, die Sie mir vor drei Jahren verehrt haben. Ja, ja, lieber Schmelkes, Sie werden mir sehr abgehen, und manchem anderen im Dorfe auch.«

Die Wirtschafterin brachte schon von selbst eine Flasche Wein und zwei Gläser– sie hatte die richtige Sorte getroffen – und blieb plaudernd eine Weile stehen. Kaum hatte der Pfarrer jedoch gesagt: »Was aber unser Geschäft anbelangt ...« so verließ sie gehorsam die Stube. Der Pfarrer lachte, fügte aber dann hinzu:

»Ich habe wohl nicht gelogen. Ich wette, Herr Schmelkes reist nicht ab, ohne mir etwas für meine Armen zurückzulassen!«

»Erraten, Hochwürden, wo hätte ich mich sonst zu Ihnen heraufgetraut? Wissen Sie, Hochwürden, Sie sind ein Blutsauger. Na, und weil ich jetzt vielleicht viele Jahre nichts werde von mir hören lassen, so habe ich mir gedacht, Hochwürden werden gleich ...«

Herr Schmelkes machte eine Pause, gab sich einen Ruck und schloß endlich mit schlecht gespielter Bescheidenheit:

»Fünfhundert Gulden wollte ich Hochwürden dalassen.«

Der Pfarrer schlug mit der Hand auf den Tisch. Seine Augen zogen sich zusammen, als ob er ein Tränchen herauspressen wollte. Dann sprang er auf und ging mit fliegender Soutane hastig hin und her.

»Schuft meines Lebens! Schuft meines Lebens, Schmelkes! Und Sie sind doch ein anständiger Kerl. Das ist nun mal etwas! Da ist zum Beispiel gleich die Tischlerfamilie. Mit hundert Gulden, mit vierzig Gulden wär' ihnen zu helfen. Der Gemeinderat wollte nicht und Ihnen konnte ich nicht schon wieder kommen ... und dann drüben, das mit dem Waldhüter und dann die Fabrikskinder. Schuft meines Lebens! Barbara! Sie verzeihen, Schmelkes, aber die Tischlersleute ... Barbara, gleich laufen Sie hin. Sagen Sie der Frau, hören Sie, der Frau zuerst, ich würde heute noch hinkommen und die Schuld wäre gezahlt, und wenn die Tischlersleute was wissen wollen, so erzählen Sie, Sie wissen ja, Kaiser Joseph ... Was stehen Sie noch da? Glauben Sie, daß die Tischlersfrau warten kann?... Schuft meines Lebens, Schmelkes, was müssen Sie zusammengestohlen haben!«

»Hochwürden!« rief Herr Schmelkes vergnügt, aber mit vorwurfsvollem Ton.

»Reden Sie nicht, Schmelkes! Sie haben's verdient, daß ich mich bedanke. Bleiben Sie sitzen und prost. Mit Schmuggeln machen andere Leute auch Geschäfte, Christen und Heiden. Aber so eine schwere Menge Geld, so eine gesegnete schwere Menge Geld auf den Altar des Herrn hingelegt ... schwere Brett, Schmelkes, und wenn meine Predigt nicht fertig werden sollte ... Sie sind ein ganz einziger Mensch.«

Der Pfarrer ging wieder herum und fing im Geiste an, das Geld zu verteilen. Das Ganze nicht, bewahre. Für den Winter etwas aufheben, für das schlimmste Elend.

Es dauerte eine Viertelstunde, bevor der Pfarrer wieder ruhig am Tische saß. Er verstehe nicht, was Schmelkes in Wien suche. In Oberntal sei es doch viel schöner, die Kirschbäume und die Aussicht vom Schwarzenberg, und dann wird Oberntal ja jetzt leider auch eine große Stadt werden. Alle Welt spreche davon, in den Zeitungen stehe es.

Herr Schmelkes kratzte sich hinter den Ohren.

»Hochwürden,« sagte er leise, »ich hätte eine große Bitte an Sie. Ich möchte Ihnen etwas anvertrauen. Aber ganz im geheimen, so gewissermaßen beichten möcht' ich Ihnen etwas.«

Der Pfarrer lehnte sich vor Lachen zurück, daß der Stuhl krachte.

»Schmelkesleben,« sagte er endlich prustend und sich schüttelnd, »warum gehen Sie nicht nach Teplitz zum Rabbiner? Schmelkesleben will beichten! Das bringt mich um! ... Nu, nu, nein, Schmelkes, wenn es Ihnen ernst ist, so will ich auch ernst bleiben. Was, Schmelkes, der alte Pfarrer ist auch ein anständiger Mensch, wenn er auch ein Pfaff' ist? Ernsthaft, Schmelkes, und weil wir doch auseinanderkommen, so will ich's Ihnen sagen: einen Freund verlier' ich, wenn Sie fortgehen, einen Freund, Freunderl. Und wenn der Freund mir etwas zu vertrauen hat oder gar einen Rat ... Sehen Sie, Schmelkes, das freut mich noch mehr, als Ihr Wein. Wo drückt's? Wo brennt's? Geldgeschichten natürlich. Ist schon viel durch meine Hände gegangen. Unrechtes Gut wiedererstatten? Was? Ist wahr: Unrecht pudelt sich!«

Und der alte Pfarrer setzte sich, rot vor Vergnügen, neben Herrn Schmelkes an die Tischecke.

»Es ist nämlich, Hochwürden, daß ich ohnehin fortgehen wollte. Ich habe es satt. Und meine Kinder sollen was lernen in guten Schulen und nicht dazu aus dem Hause müssen. Da bin ich also darauf gekommen, alles zu verkaufen und nach Wien zu gehen. Ich habe ein gutes Gewissen. Wo ich meine Waren eingekauft habe, das geht niemand was an, als den Staat, und der Staat hat keinen Hunger und keinen Durst.«

»So denke ich auch, lieber Schmelkes. Ich habe es auch einmal dem Herrn Bezirksrichter gesagt: Lassen Sie nur den Schmelkes, habe ich gesagt. Er ist ein guter Mensch, und beweisen können Sie ihm doch nichts.«

»Sehen Sie, Hochwürden, das habe ich satt bekommen. Daß man mir immer hat was beweisen wollen. Man will doch endlich seine Ruh' haben. Na also, wie ich soweit bin und will einem entfernten Verwandten in Komotau meine ganze Sache hier verkaufen, sechstausend Gulden auf Hypotheken, da ist das mit dem Petroleumgestank gekommen. Und der Laska hat mir zwanzigtausend geboten und ich hab's genommen. Da, in der Brieftasche, gestern ist es mir ausbezahlt worden.«

Der Pfarrer horchte auf.

»Nu bin ich aber neugierig! Nu wird's zu Weihnachten Ostern! Schmelkes, ich habe Sie immer gern gehabt! Wenn Sie aber diesen Laska mit seiner Sippschaft hineingelegt haben ... Schmelkes! Es schickt sich nicht für mich. Wenn Sie aber wüßten, wie diese Leute heimlich mich alten Mann drangsalieren! Schmelkes! Reden Sie, stinkt's bloß?«

»Lassen Sie sich die Geschichte erzählen, Hochwürden. Unterm Beichtsiegel. Also im Februar ist es gewesen, dieses Jahr, wie die große Kälte noch einmal wiedergekommen ist, da hat mir der Nickelsberger, Hochwürden wissen schon ...«

»Den Namen, Schmelkes, dürfen Sie wirklich nur in der Beichte nennen. Soll ja der verwegenste Schmuggler von allen sein. Ich kenne ihn nur wenig.«

»Ja, also der Nickelsberger hat mir einen Posten Ware angeboten, gute Ware, preiswerte Ware. Und bei dem Wetter! Gute Wege und die Aufseher hinter dem Ofen. Hochwürden müssen wissen, daß das so die Meinung vom Nickelsberger war, ich habe mit der ganzen Schmuggelei nie etwas zu tun gehabt. Vor meinem Hause nehme ich die Waren in Empfang und gebe bares Geld dafür. Also damals in der Nacht kommt der Nickelsberger mit seinem Schlitten vorgefahren ...«

»Schmelkes, mit einem Schlitten!«

»Ich frage Sie, Hochwürden, sollen's die armen Leute auf den Köpfen tragen? Ist's nicht besser, daß das Pferd zieht?«

»Woll, woll, Schmelkes, aber einen ganzen Schlitten voll!«

»Es hat mir leid genug getan, Hochwürden. Der Nickelsberger ist mir gleich so anders vorgekommen. Also er zeigt mir die Ware, fünfzigtausend Stück Hamburger, Zigarren nämlich, und ein Faß Petroleum, vier Hektoliter. Wie sind übrigens die Hamburger?«

»Verzeihung, Herr Schmelkes, ich habe ganz vergessen.«

Und der Pfarrer holte hinter einem Bücherregal ein altes verstaubtes Kistchen von Trabuko-Zigarren, Regieware, mit welchen jedoch Zigarren von anderer Länge durcheinanderlagen.

»Nehmen Sie, Schmelkes!«

Die Herren zündeten sich jeder eine der geschmuggelten Zigarren an, und Schmelkes sprach weiter:

»Wie ich nun alles in Ordnung gefunden habe, gebe ich dem Nickelsberger sein Geld ohne Abzug, und sag' ihm noch ein paar gemütliche Worte, weil ich schon damals so heimlich in petto hatte, fortzugehen. Wie der Nickelsberger das Geld eingesteckt hat, sagt er ganz freundlich, der Spitzbub: Aber jetzt schnell, Herr Schmelkes. Sie sind hinterher. Vor der Fabrik muß uns einer gesehen haben.«

»Merkwürdig,« sagte der Pfarrer, »bei so großer Kälte. Die Grenzaufseher haben doch ein schweres Brot.«

»Wer nicht, Hochwürden? Der Nickelsberger nicht? Und der Schmelkes nicht? Ich habe schnell nachgedacht. Herausgegeben hätte mir der Nickelsberger das Geld nicht wieder. Und wenn man ihn bei der Fabrik gesehen und nicht aufgehalten hat, so ist mir das ein Zeichen gewesen, daß man mir aufsässig ist, und daß man mich ertappen und mir was beweisen will. Und das hat mich gerade gefuchst. Ich habe selbst die Torflügel aufgemacht, habe den Nickelsberger mit seinem Knecht schnell auf den Hof fahren lassen und habe ihm noch gesagt, er soll achtgeben auf das Loch, wo ich hab' angefangen einen Brunnen graben zu lassen. Wo er die Sachen hintun soll, das hat er schon gewußt. Und ich das Haustor wieder zu und hinein. Richtig, ich habe kaum meine Kleider ausgezogen gehabt, da klopft's schon. Ich bei der Bärenkälte einen Pelz umgeworfen, sonst wie aus dem Bett, ans Fenster. »Was verschafft mir die Ehre, Herr Korporal?« »Sie werden schon wissen, Herr Schmelkes, machen Sie nur auf. Sie sind ja so spät noch auf.« Ich mache meinen Pelz auseinander, und der Korporal und die beiden Aufseher wundern sich schon, daß ich darunter im Hemd bin. Ich schreie und zanke und was man so tut, um Zeit zu gewinnen. Da höre ich den Nickelsberger pfeifen, und zwar den Radetzkymarsch. Das heißt, die Zigarren sind unten. Petroleum, habe ich mir gedacht, das ist keine so hohe Strafe. Ich gehe also langsam daran, das Haus aufzumachen. Sie werden mir glauben, Hochwürden, die Riegel sind schwer herausgegangen, und bevor ich noch meine verfrorenen Finger ansetze, höre ich auf dem Hof so dumpf und kurios einen Krach. Es ist mir durch's Herz gegangen.«

»Der Nickelsherger hat doch nicht Schaden genommen?«

»Ach nein, Hochwürden. Bevor ich fertig war mit Aufmachen, höre ich ihn auch schon wieder pfeifen, und dieses Mal so eine deutsche Melodie, wo ich den Text nicht weiß, die aber immer bedeutet: alles in Ordnung. Ich also aufgemacht, und die drei Kerls herein. Sie suchen und spionieren, ich mach' alles auf und immer hinter ihnen her. Wie wir auf den Hof kommen, steht da der Schlitten vom Nickelsberger gerade auf den Planken über dem Brunnenloch, so daß gar niemand hat auf den Einfall kommen können, daß gerade unter dem Schlitten ein Loch ist. Der Knecht sitzt auf dem Bock und schläft, der Lump; und der Nickelsberger steht breitbeinig da und schlägt sich Feuer in seine Pfeife. Ein komischer Kerl. Es läßt sich nicht zählen, wieviel Zigarren der herüberschafft, und dabei raucht er Pfeife. Hat ein schönes Einkommen und schlägt sich Feuer mit Stahl und Feuerstein.«

»Ja, lieber Schmelkes, eine Pfeife ist doch eigentlich ... aber erzählen Sie weiter.«

»Der Korporal geht auf ihn los und sagt: »Da habe ich euch endlich, alle beide zusammen.« Der Nickelsberger hat endlich Feuer gekriegt, steckt den Schwamm in den Pfeifenkopf und sagt guten Abend. »Was machen Sie hier?« fragt der Korporal. »Ich habe mir was kaufen wollen,« antwortet der Nickelsberger. »Um diese Zeit?« – »Bin gerade vorbeigekommen.« – »Was habt Ihr kaufen wollen?« – »Ein Paar Hosenträger« – und dabei lacht der Nickelsberger ganz gemütlich, zieht seine Weste so hinauf und seine Beinkleider so ein bißchen herunter und zeigt sein graues Hemd und sagt: »Seht Ihr, Korporal, da habt Ihr den Beweis, ich habe wirklich keine.« Nun hat das Fluchen angefangen. Erst der Korporal, dann der Nickelsberger, dann alle beide, dann der Knecht, und wissen Sie, Hochwürden, am Ende habe ich mir gesagt, es ist ein Zeichen von Unschuld, und habe auch geflucht. Dann hat der Korporal selber zu suchen angefangen. Er ist wirklich wütend gewesen von wegen der Hosenträger und hat gar keine Vernunft annehmen wollen, überhaupt nichts, und dann, weil seine Leute da waren. Nun, Gott sei Dank, sie haben bis um acht Uhr früh gesucht und haben nichts gefunden. Eine schöne Nacht war es aber trotzdem nicht, Hochwürden. Und in dieser Nacht ist es bei mir beschlossene Sache geworden, zu liquidieren und fortzugehen. Der Korporal hat nachher Anzeige gemacht, es ist eine Kommission gekommen und ich habe Scherereien gehabt beim Bezirksgericht, ich kann gar nicht sagen wieviel. Rausgekommen ist Gott sei Dank nichts.«

Der Pfarrer wurde unruhig. Daß sein lieber Gast mit Schmugglern Geschäfte machte, das war ja etwas altes, und er erfuhr ja die Sache offiziell nur gewissermaßen in der Beichte. Aber das mit dem Bezirksgericht war unangenehm. Er sagte aber bloß:

»Ja, ja, bester Herr Schmelkes. So ist es nun auf dieser Welt. Aber wie ist denn die Geschichte mit dem Petroleum gewesen? Die Zigarren, das kann ich mir denken, für die habt ihr schlechten Menschen schon ein sicheres Versteck gehabt. Aber das große Faß?«

»Die Zigarren waren ja nur fünf Pack. Das Faß aber hat der Unmensch, der Nickelsberger, mit seinem Knecht vom Schlitten heruntergeschoben, mit den Füßen die Bretter auseinander, und das Faß ins Brunnenloch hinein. Dann die Bretter wieder darüber und mit dem Schlitten nach rückwärts hinauf gefahren. Dabei hat das Faß ein Leck gekriegt, Sie wissen, Hochwürden, einen Sprung, und wie die Aufseher fort waren und wir nachsehen, da war das halbe Faß ausgelaufen. Wir haben das Loch nun rasch zugeschüttet, und jetzt, Hochwürden, wissen Sie, warum es in Oberntal nach Petroleum stinkt.«

Der gute Pfarrer hatte über der Erzählung des Herrn Schmelkes völlig den Ausgangspunkt vergessen und sogar seine geheime Hoffnung, die Petroleumgeschichte würde sich als ein Schwindel des Schmelkes herausstellen. Als Schmelkes nun plötzlich gerade das mitteilte, da wußte sich der Pfarrer nicht gleich zu fassen.

»Also Sie glauben, Herr Schmelkes, daß nur Ihre vier Hektoliter darin stecken? Ist es nicht möglich, daß am Ende doch zufällig ...«

»Hochwürden, auch ich bin ein gläubiger Mann. Wenn Gott will, so wird aus einem Faß eine Quelle. Wenn Gott aber nicht ausdrücklich gewollt hat, dann steckt da mein Faß Petroleum drin, mein Faß, und nicht mehr.«

»Herr Schmelkes!« rief der Pfarrer. Er sprang auf und stellte sich ans Fenster. Es schickte sich nicht für ihn, seine ganze Freude zu zeigen. Er war ein Priester, und es wäre Schadenfreude gewesen. Und er zwang sich, liebevoll an den Schmerz des guten Laska zu denken. Es gelang ihm nicht. Er sagte, während er schwer atmend gegen ein Lachen ankämpfte: »Herr Schmelkes, Sie können das nicht wissen ... Ich bin kein kluger Mann, aber so was fühlt man. Sie hätten mich fortgeschoben von hier, glauben Sie es mir, Herr Schmelkes, mich fort von meinen Beichtkindern in Oberntal. Die Tschechen hätten es durchgesetzt, wenn sie hier Boden gefaßt hätten. Verzeihen Sie einem alten Mann, daß er auch an sich selber denkt. Ich weiß, ich bin ein schlechter Priester. Der arme Herr Laska ... Herr Schmelkes, wissen Sie, es ist doch ein Glück von Gott, daß Sie ein Israelit sind, und nicht eines von meinen Beichtkindern. Dann müßte ich Sie fortschicken. Sie dürfen's nicht sehen ... Herr Schmelkes, ist es wirklich wahr? Aufgesessen sind sie? Und sie werden wieder abziehen müssen? Alle?«

Langsam setzte sich eine ungeheure Fröhlichkeit in des Pfarrers Gesicht fest.

»Herr Schmelkes! Herr Schmelkes, was wollen Sie von mir haben? Ich darf's ja keinem Christen auf der Welt sagen, aber ich bin doch auch ein Mensch, ich bin auch einmal jung gewesen, und ein dummer Bub, und da hab' ich lachen dürfen. Herr Schmelkes, ich halt's nicht aus.«

Und der alte Pfarrer setzte sich schwer auf den Holzstuhl und fast krachend schlug endlich das Lachen aus ihm heraus.

Zuerst pochte er mit den Fäusten auf den Tisch, um durch den Schmerz die Heiterkeit zu bekämpfen. Doch es half nichts. Mit Händen und Füßen zappelte er und schrie vor Lachen und verlor den Atem und wurde dunkelrot im Gesicht. Nach einer Pause brach er wieder los. Und der Pfarrer schlug dem Herrn Schmelkes aufmunternd auf die Knie, fast beleidigt, daß Schmelkes nicht mitlachte, bis endlich auch der Händler einstimmte und die Bibliothek dröhnte von dem Lachen und Husten und Aufschlucken und Händezusammenschlagen der beiden Herren.

Die Wirtschafterin war zurückgekommen und riß bestürzt die Tür auf.

»Schweigen! Nicht fragen!« rief der Pfarrer sie an, und ein neuer Anfall schüttelte ihn, daß der Stuhl wackelte. »Barbara, wünschen Sie sich was! Barbara, Sie müssen es seit acht Tagen gemerkt haben. Nicht einmal die Zwetschgenknödel haben mir geschmeckt. Und jetzt, Barbara, holen Sie vom Besten herauf, von dem, den mir die gnädige Frau Fürstin zum Namenstag geschickt hat, vom Fürstlichen, und so wahr ich lebe, Schmelkes, Sie müssen heute hier nachtmahlen. Barbara, braten Sie uns was Besonderes und Zwetschgenknödel nachher ... Lassen Sie nur, Schmelkes, es wird schon vorübergehen.«

Eine lange Weile blieben die Herren so. Bald keuchten sie sich aus, bald lachten sie wieder, und als alles schon vorüber schien, genügte ein Blick des einen oder des anderen, und die Heiterkeit brach wieder los. Endlich stellte sich der Pfarrer ans Fenster, um Herrn Schmelkes nicht mehr anzusehen. Nur noch von Zeit zu Zeit flog eine leichte Erschütterung durch seinen Körper. Herr Schmelkes hatte sich gefaßt und fing wieder an.

»Ich bin noch nicht fertig, Hochwürden. Zu einer Beichte gehört doch auch eine Buße. Was? Ich kenne Sie doch lange genug. Und da habe ich mir so gedacht. Fünfzehntausend Gulden ist mein Grundstück wert, nicht gerade unter Brüdern, aber wenn ich's gut verkauft hätte, will ich sagen: sehr gut. Und den Rest von fünftausend Gulden wollen wir teilen, habe ich mir so gedacht. Es ist auch besser, wenn nachher der Skandal kommt, daß man das erfährt. Sie verstehen mich, Hochwürden. Das, was ich Ihnen vorhin für die Armen versprochen hab', das war für mich, weil ich so lange hier gelebt habe und weil man eigentlich immer gut zu mir war. Aber zweitausendundfünfhundert Gulden will ich noch hergeben in Ihre Hand, Hochwürden. Und ich habe mir das so gedacht: Meine Kinder kommen in Wien zu den Schotten, in ein feines Gymnasium, und hier sitzen sechzig in einem kleinen Zimmer, und der Lehrer hat nur eine Dachstube. Da können Sie anbauen. Eine ordentliche Wohnung für den Lehrer und zwei große Stuben für die Kinder. Das habe ich mir so gedacht, Hochwürden.«

Barbara trat herein, sie hatte ihre Sonntagshaube aufgesetzt und die Flasche vom fürstlichen Wein nebst zwei blinkenden Glasern auf den Tisch gesetzt. Der Pfarrer blickte wie geistesabwesend. Er mußte lange nachdenken, bis er begriff, daß da wirklich jemand eine so ungeheure Summe herschenkte.

»Barbara,« sagte er, »Sie meinen, das wäre Herr Schmelkes? Sie haben sich geirrt. Das ist wirklich ein Verkleideter, und wenn Sie der Tischlersfrau was vom Kaiser Joseph erzählt haben ... Herr Schmelkes, bleiben Sie in Oberntal, gehen Sie nicht fort! Was soll ich denn ohne Sie anfangen?«

Die Wirtschafterin ging stillvergnügt hinaus. Wenn der Herr Pfarrer auch jetzt gar nicht mehr wußte, was er sprach, soviel merkte sie, daß er glücklich war.

Schmelkes drang in den Pfarrer, ihm noch einen persönlichen Wunsch auszusprechen. Er verlasse Oberntal als ein ganz wohlhabender Mann, und es würde ihn freuen, ein recht gutes Andenken zu hinterlassen.

»Nichts, Herr Schmelkes. Für mich selbst bedanke ich mich nicht gern, für Jahre hinaus haben Sie mir Freude genug gemacht. Wenn Sie dazu mir selber auch noch etwas schenken wollten, es wäre mir nicht lieb, es wäre nicht gut. Oder wenn Sie wollen, schicken Sie der Barbara zu Weihnachten Stoff zu einem schwarzen Seidenkleid. Seit zehn Jahren möcht' sie es gern haben, und ich kann es ihr doch nicht kaufen. Mir aber nichts. Ihre Gesundheit, Herr Schmelkes. Aus dem Wein trinkt der Fürst am Namenstag der Fürstin dero Gesundheit. Das ist einer.«

Die Herren rauchten und tranken, und Herr Schmelkes setzte dem Pfarrer weitläufig auseinander, wie der Schulbau am billigsten und raschesten gefördert werden könnte. Der Pfarrer staunte nur über die Klugheit seines Gastes. An das alles hätte er nie gedacht.

Wieder kehrte das Gespräch zu der Petroleumentdeckung zurück. Wieder bekam der Pfarrer einen kleinen Lachanfall; dann sagte Herr Schmelkes, er habe vor etwas Angst. Bevor die Geschichte herauskäme, würde der Laska ein großer Mann sein und der Schwiegersohn des Herrn Weißmann werden. Das hätte er dann auf dem Gewissen, und der Pfarrer sollte die Geschichte hintertreiben.

»Tu' ich, Freunderl!« rief der Pfarrer, der doch etwas heiß und lebhaft geworden war. »Tu' ich, und wenn das Aufgebot bestellt wird, ich biete sie nicht auf. Keinen Tschechen. Ich dulde keinen in Oberntal. Fortschieben haben sie mich wollen! Mich alten Mann aus Oberntal fortschieben.«

Und der Pfarrer klagte dem einzigen Oberntaler, der nicht sein Beichtkind war, all seinen Kummer und seine Sorgen.

Schlag sieben Uhr rief die Wirtschafterin zum Nachtmahl.

Schwerfällig führte der Pfarrer seinen Gast die Treppe hinunter in das lichte kleine Speisezimmer, wo der Tisch sonntäglich gedeckt war. Schlohweißes Tischzeug und die gemalten Teller. Stumm verrichtete Herr Schmelkes sein jüdisches Tischgebet, laut sprach der Pfarrer das seine. Dann trug Barbara eine große Schüssel herein. In ihrem freundlichen Gesicht zuckte es vor Mutwillen. Auch der Pfarrer schmunzelte, als er den mächtigen Schweinebraten roch.

Herr Schmelkes schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte:

»Warum, Hochwürden? Warum, Fräulein Barbara?«

»Aber Herr Schmelkes,« sagte Barbara, »Sie haben doch schon hie und da eine Kleinigkeit genommen. Sie sind doch ein aufgeklärter Mann.«

»Nu ja,« sagte Schmelkes, »ich habe hier so allein gewohnt. Keine Judengemeinde. Da habe ich manche kleine Sünde gegen das Gesetz begehen müssen. Aber Schweinebraten!«

»Herr Schmelkes, ein aufgeklärter Mann!«

»Aufgeklärt und aufgeklärt ist ein Unterschied, Hochwürden. Man kann nicht wissen. Man kann gar nichts wissen. Aber wenn Hochwürden ... Hochwürden können doch meine Sünde gar nicht auf sich nehmen.«

»Herr Pfarrer,« sagte Barbara, »sagen Sie ihm, daß es Gänsebraten ist.«

»Schmelkes, es ist Gänsebraten.«

»Gewiß, Hochwürden?«

Der Pfarrer hatte sich niedergesetzt und griff nach dem großen Transchiermesser.

»Gänsebraten!« sagte er und lachte übers ganze Gesicht.

»Na, dann geben Sie mir ein großes Stück Gänsebraten, und wenn Sie einmal nach Wien kommen sollten, Hochwürden, dann kommen Sie zu Schmelkes, und es soll ein Ehrentag für ihn sein und für alle seine Kinder. Und vergessen Sie nicht, Fräulein Barbara mitzubringen. Die muß meiner Frau das Rezept geben ... So hat mir noch kein Gänsebraten geschmeckt.«

Siebentes Kapitel

Mikulasch Laska war der Herr von Oberntal geworden. Oberntal lag dem Sieger zu Füßen.

Die Aktiengesellschaft »Böhmische Sonne von Opretal« war Wirklichkeit geworden. Die Leiter des Unternehmens hatten den Gedanken durchgeführt, die Aktien fürs erste wenigstens nur in tschechische Hände zu spielen. Es war daher keine öffentliche Subskription veranstaltet worden. Einige zuverlässige nationale Banken Prags hatten ihren nationalen Geschäftsfreunden das neue Papier angeboten, das links oben in der Ecke wirklich einen Löwenkopf mit goldenem Strahlenkranz als Symbol der »Böhmischen Sonne« trug. In den Provinzstädten waren Vertrauensmänner dazu ausersehen worden, die Aktien unterzubringen, und bei dem Aufsehen, das die große Entdeckung machte, und beim Lärm der tschechischen Zeitungen war die vorläufig verlangte halbe Million Gulden noch vor dem ersten September gezeichnet.

Natürlich war Mikulasch Laska zum Generalsekretär der Gesellschaft ernannt worden; er sollte am ersten Oktober sein erstes Monatsgehalt im Betrage von tausend Gulden – monatlich! – erhalten. Außerdem war er der Besitzer von hunderttausend Gulden in Aktien, wofür er der Gesellschaft allerdings den Kaufpreis des Schmelkeshof schuldete. Das machte nichts, er war doch ein Krösus geworden. Wenn die »Böhmische Sonne« auch nur zwanzig Prozent Dividende bezahlte, so war Mikulasch Laska doch ein richtiger Krösus. Die Amtswohnung in Oberntal baute ihm die Gesellschaft. Fürstlich. Libussa sollte allein für ihre persönliche Bedienung zwei, drei, nein vier Kammermädchen haben. Vielleicht war Pepitschka aufzufinden. Wagen und Pferde. Drei verschiedene Wagen, auch einen auf zwei Rädern, Laska wußte nur noch die kuriosen Namen von allen diesen Zeugeln nicht ... und vier Wagenpferde. Der Kutscher hieß Johann. Reitpferde auch. Er wird reiten lernen und die Kavaliere der Umgegend zu Pferde besuchen. Er wird natürlich vom Fürsten zur Jagd geladen werden. Er wird überhaupt ein bequemes Leben führen. Zu tun hat er ja doch nichts, als von Zeit zu Zeit nach der Stadt zu fahren und bei Gericht ein Aktenstück zu unterschreiben.

Einstweilen litt Mikulasch Laska empfindlich an Geldmangel. Die letzten dreißig Gulden von Weißmann hatte er in der Stadt ausgegeben, im Gasthaus, wo er sich vor der hübschen Kellnerin genierte, etwas anderes als Wein zu trinken. Dann hatte er sich einen neuen Schlips und taubengraue Handschuhe gekauft. Beim Lamm in Oberntal war er seine ganze Kost seit vierzehn Tagen schuldig. Glücklicherweise gehörte ihm gewissermaßen der Schmelkeshof und er hatte keine Miete zu bezahlen. Es war aber eine Tatsache, daß der Generalsekretär und Hauptaktionär der »Böhmischen Sonne« am ersten September nur noch einen Gulden und fünf Sechserl in der Tasche hatte.

Aber das schadete nichts. Hocherhobenen Hauptes ging er in seiner Tschamara umher, auf das üppige Haar hatte er das nationale Hütchen aufgesetzt, und sogar den Ziskastock hatte er hervorgesucht und fuchtelte mit ihm durch die Luft, wenn er in Oberntal spazieren ging. Diese ganze Bekleidung hätte eigentlich erneuert werden müssen, und Laska hatte Kredit. Aber eine geheime Scheu hielt ihn davon zurück, andere Schulden zu machen als die beim Wirt. Am liebsten hätte er von seinem Siege gar keine persönlichen Vorteile gehabt. Träumen, ja. Aber ihm schien es beinahe ein Verrat an der Sache des Vaterlandes, wenn er reich wurde und den Schneider bezahlen konnte.

Und die nicht mehr tadellosen Kleider schadeten seiner Stellung durchaus nicht. Ganz Oberntal sah in ihm nur noch den mächtigen Mann, der Aktien zu vergeben habe. Bis dahin war Weißmann überall der erste Mann von Oberntal gewesen. Weißmann war jetzt völlig in den Schatten gestellt. Was konnte denn Weißmann? Seinen Arbeitern höheren Lohn geben oder kündigen, und für die Feuerwehr von Oberntal zehn Gulden mehr beisteuern als der Bäcker. Mikulasch Laska konnte jedem einzelnen durch ein einfaches Kopfnicken ein Vermögen zuwenden. Wie der Herr Fürst, wenn er einmal in seinem Jagdwagen durchs Dorf kam, so wurde Laska gegrüßt. Nachdem er ein Dutzend der angesehensten Leute lächelnd dahin beschieden hatte, kein Deutscher dürfe eine Aktie erhalten, belästigte man ihn nicht mehr in seiner Stube; aber auf der Straße, wohin er blickte, sah er sehnsüchtig bittende Blicke auf sich gerichtet.

Der Gemeinderat kam wieder zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Man mußte doch beraten. Da lag in Oberntal das Geld auf der Straße, und man hätte doch gern zugegriffen. Niemand stellte einen Antrag. Der Lammwirt fragte, ob es wahr sei, daß jemand den Antrag gestellt habe, den Namen des Ortes in Opretal umzuwandeln. Doch niemand hatte es vorgeschlagen. Der Gemeindevorsteher wartete und wartete, doch niemand wollte es gewesen sein. Der Müller fragte an, ob es wahr sei, daß jemand den Antrag gestellt habe, aus Gemeindemitteln die tschechischen Schulen in Wien zu unterstützen. Doch wieder wollte niemand den Anfang machen. Der Gemeinderat blieb lange beisammen, aber es geschah nichts.

Nur Weißmann glückte es, von Laska zwanzig Aktien zu fünfhundert Gulden zugesichert zu erhalten. Natürlich nicht für sich selbst, sondern für seine Tochter, die ja bekanntlich eine halbe Tschechin war und der Laska unmöglich etwas abschlagen konnte. Weißmann machte bei dieser Unterredung allerlei scherzhafte Anspielungen auf menschliche Schicksale, auf die Schüchternheit großer Männer, und erklärte mit derber Aufrichtigkeit, er sei nicht so verrannt; ihm sei ein braver und wohlhabender Tscheche als Schwiegersohn ebenso willkommen wie ein Deutscher. Laska wurde sehr verlegen; er überlegte, wie ein eleganter Mann und Krösus in einem solchen Fall um die Hand einer Fabrikantentochter zu werben habe. Er stand vom Stuhle auf mit der unklaren Empfindung, er müßte die Taubengrauen aus dem Kasten nehmen. Weißmann hielt diese Bewegung für Ablehnung oder Unentschlossenheit, und so kam es für diesmal zu keiner endgültigen Aussprache.

Am 15. September erhielt Laska offiziell die telegraphische Mitteilung – er bekam jetzt überhaupt mehr Telegramme als alle übrigen Oberntaler zusammen –, daß das Aktienkapital vollkommen gezeichnet sei. Laskas nationales Bewußtsein und sein Selbstvertrauen stieg aufs höchste. Er gab dem Postboten eines seiner selten gewordenen Sechserl als Trinkgeld und beschloß, das große Ereignis würdig zu feiern. Morgen war Sonntag. Er hatte zweimal im nationalen Verein zu Kippsdorf gefehlt. Morgen wollte er den Mitgliedern ein Fest geben, und als dessen Krönung das zweite Werk vollbringen, das dem Vaterlande noch ganz anderen, noch höhern Nutzen bringen mußte, als die Aufdeckung der Petroleumquelle.

Vom Ofen herunter holte er das Stammseidel vom »Blauen Schwan« und aus dem Koffer entnahm er die künftige Handschrift von Opretal. Beide Schätze stellte er vor sich auf dem Tische aus und schloß die Tür ab.

Im Seidel war nach den Proben, die er hatte abgießen lassen, kein reines Petroleum mehr vorhanden. Nur die etwa zollhohe Sandschicht am Boden war vom Öl durchtränkt. Aber köstlich roch es nach dem nationalen Erdöl, und schön fettig fühlte sich das historische Seidel an. Die Schauer großer geschichtlicher Taten umschwebten Laskas Haupt. So wie ihm einst zumute gewesen war, als er in seiner Knabenzeit in Prag zuerst die alte steinerne Brücke betreten hatte und den Stein geküßt, von dem der heilige Nepomuk angeblich hinuntergestürzt worden war in die frühlingskalten Fluten der Moldau, oder als er auf dem Hradschin den Türring an der Wenzelskapelle berührt hatte, der von der Hand des sterbenden heiligen Wenzel geheiligt worden. So wird vielleicht nach Jahrhunderten den böhmischen Enkeln zumute sein, die das Stammseidel vom »Blauen Schwan« im Museum erblicken werden und vernehmen, daß mit diesem Seidel der heilige Mikulasch Laska, nein, nein, der große, na, ja, der brave Mikulasch Laska, das erste Seidel nationalen Erdöls geschöpft hatte. Wenn man die Geweihe des Hirsches hätte, der sich auf der Flucht vor den Jägern in den Karlsbader Strudel stürzte und dadurch zum Entdecker des weltberühmten Karlsbades wurde, wären diese Geweihe nicht eine heilige Reliquie? Freilich Karlsbader Wasser und nationales Erdöl dienten nicht unmittelbar den idealen Zielen der Vaterlandsfreunde. Dieses alte, liebe Bierseidel, das Pepitschka so oft mit einem edlen und gleichfalls nationalen Naß gefüllt hatte, das besser schmeckte als Karlsbader oder Petroleum, dieses schlichte Gefäß wird doch nur Neugierde wecken – dereinst im Museum – neben diesem erhabenen Dokument aus Böhmens Vorzeit.

Mikulasch Laska nahm gerührt die dereinstige »Handschrift von Opretal« zur Hand. Er hatte völlig vergessen, daß er der Dichter und Pepitschka seine Muse war. Er hatte die beiden Freunde vergessen, deren Kenntnisse und Künste das ehrwürdige Dokument erst geschaffen hatten. Da hielt er es fest in seinen Händen und sah in die Zukunft voraus, wie ehrfurchtsvolle Gelehrtenhände vorsichtig und treu damit umgehen würden. Wie einst nach Jahrhunderten irgendwo in einer neuen Weltstadt einer neuen Welt eine internationale Ausstellung der heiligsten geistigen Schätze aller Völker eröffnet werden wird, wie in einem besonderen Raume das Königreich Böhmen, das mächtige große Königreich, das irgendwo wieder bis ans Meer reichen wird, seine Schätze ausstellen wird in goldenen Kästchen, und in dem schönsten goldenen Kästchen unter einem dicken Glasdeckel wird, noch dunkler und ehrfurchtsgebietender geworden, dieses Dokument ruhen, und darüber an der Wand eine große silberne Tafel mit roten Buchstaben: »Die Handschrift von Opretal, aufgefunden von Mikulasch, Mikulasch – ach was, wenn man schon träumte, dann auch ordentlich – Mikulasch von Laska am« – wieder kam es über ihn wie eine Eingebung, »am Tage des heiligen Wenzel des Jahres 188...« Laska sprang auf, er war ein Begnadeter. Jawohl, am Tage des heiligen Wenzel, am 28. September, sollte in Opretal das große Fest der Grundsteinlegung begangen werden, der Grundsteinlegung für die Petroleumfabrik, für seine Amtswohnung und nicht minder der erste Spatenstich zur Fassung der Petroleumquelle. Und an diesem selben Tage, es war ein Wink des Schicksals, sollte die »Handschrift von Opretal« entdeckt werden.

Da mußte sie also vorher eingemauert sein. Laska hüllte das Pergament wieder in ein Zeitungsblatt und legte es in den Koffer zurück. Er schrieb noch eine Karte an den Stationsvorsteher von Kippsdorf und lud ihn sowie das Mitglied Trouba für morgen zu einem Fest, dessen Kosten er, der Vizepräsident, allein tragen wolle. Sie möchten dieses Mal womöglich schon um sieben Uhr kommen. Den Hrntschirsch, der jetzt allnächtlich als Wächter der »Böhmischen Sonne« sein Hausgenosse war, werde er persönlich benachrichtigen.

Als Hrntschirsch sich abends meldete, führte ihn Laska in den Keller hinab und ließ ihn bei einer Talgkerze schwören, von dem, was er ihm anvertrauen wollte, nichts zu verraten. Auf Kelch und Schwert sollte Hrntschirsch schwören. Er tat es aber stumpfsinnig bei allen Heiligen, und Laska war auch so zufrieden. Im Keller des Schmelkes hatten sich glücklicherweise eine halbvolle Tonne Zement und ein Haufen neuer Ziegelsteine vorgefunden, als ob da unten erst jüngst etwas vermauert worden wäre.

Hrntschirsch erhielt den Befehl, sich eine Mauerkelle zu verschaffen und für die nächste Nacht alles vorzubereiten, um in der Nähe etwas einzumauern. Vorher wird es ein warmes Nachtmahl geben und soviel Bier, wie Hrntschirsch trinken will. Ein Fest.

»Auch Sliwowitz?«

»Auch Sliwowitz.«

Hrntschirsch wischte sich den Mund und erklärte sich bereit, seinen verstorbenen Großvater bei lebendigem Leibe einzumauern.

Den Sonntag vormittag verbrachte Laska in einiger Aufregung. Als Hauslehrer von Weißmann war er immer zur Kirche gegangen mit der ganzen Familie. Jetzt kehrte er den Freidenker heraus, recht eigentlich den alten Hussiten, und ging zur Kirchenzeit in seiner Tschamara spazieren, das nationale Hütchen auf, den Ziskastock in der Hand. Und heute hatte er die Taubengrauen angelegt. Die deutschen Mädchen im Dorf blickten ihm nach, traurig und bewundernd, wie sie dem Fürsten nachblickten. Laska aß heute schon vor zwölf Uhr zu Mittag und wanderte dann, so heiß es war, nach Kippsdorf hinüber, um bei der hübschen Wirtin das Fest zu bestellen. Ein Achtel Bier sollte aufgelegt werden und ein Kistchen von ihren guten geschmuggelten Zigarren. Was getrunken und geraucht wurde, auch den Schnaps, wollte Laska alles bezahlen. Und was sie dem ganzen Verein, vollzählig, zu essen geben könnte? Was Gutes.

Die Wirtin war schnell entschlossen. Eingemachtes Huhn konnte sie beschaffen, oder Rostbraten mit Sauerkraut.

Beides, entschied Laska errötend. Er werde alles am ersten Oktober bezahlen. Ob sie ihm bis dahin ...

Die hübsche Wirtin lachte auf und stieß ihn in die Seite. So einem schönen und noblen Herrn. Und sie rückte dicht an ihn heran und tatschelte ihm seinen Oberarm. Laska wurde ganz verlegen. Eine Wirtin! Eine so feine Dame! Aber nur heute nicht, der heutige Tag gehörte der Nation. Er zog die Hand, mit der er der Wirtin schon unter das Kinn greifen wollte, ungeschickt zurück und empfahl sich kurz.

Ob er nicht wenigstens das Bier kosten wolle? Bei der Hitze! Laska nahm ein Glas im Vereinszimmer und wunderte sich, als er fortging, darüber, daß er richtig einen Kuß bekommen hatte. Bescheiden wollte er es nur seinen Taubengrauen verdanken. Aber kaum vor der Tür, kam das Bewußtsein seiner Stellung wieder über ihn, und er nahm die Eroberung hin wie ein ganz unwichtiges alltägliches Ereignis. Man war eben auch etwas geworden. Und wenn er sich's recht überlegte, so hätte doch auch Pepitschka Wirtin sein können.

In Oberntal legte er sich für eine Stunde aufs Bett und träumte, ohne einzuschlafen, von Weltruhm, von Libussa, von Fürstinnen und der Wirtin von Kippsdorf. Gegen fünf Uhr ermannte er sich und ging ans Briefschreiben. Es handelte sich darum, die Mitgliederzahl des Vereins zu verdoppeln. Mit dieser Mitteilung wollte er das Vereinfest einleiten und begründen. Der Briefträger von Kippsdorf hatte sich ihm als einen Tschechen eröffnet. Hrntschirsch hatte ihm die Adresse eines zweiten Bergarbeiters genannt, der an seiner Stelle Mitglied werden sollte. Denn Hrntschirsch bildete sich's fest ein und ließ es sich nicht ausreden, daß er jetzt als Beamter der »Böhmischen Sonne« mehr geworden sei als Mitglied und daß er einen Ersatzmann stellen müsse. Das waren nur die Proletarier unter den neu Angemeldeten. Aber auch ein jüdischer Kaufmann aus Teplitz, der Aktien haben wollte und sich dafür bereit erklärte, eine tschechische Firmentafel über seinen Laden zu setzen, hatte sich auf eine rasche Frage Laskas hin als Mitglied des Vereins von Kippsdorf angemeldet. Er werde für das erste halbe Jahr nicht erscheinen können, er müsse erst besser Tschechisch lernen, er und seine Söhne. Es war ein reicher Kaufmann, der zur Sommerzeit vier Stuben im eigenen Hause an Fremde vermietete und dessen Tochter Piano lernte. Und doch war es noch nicht der höchste Trumpf, den Laska ausspielen konnte. Der Graf, der Präsident der »Böhmischen Sonne«, war Mitglied geworden. Fast gegen Laskas Willen. Laska hatte in einem ehrenvollen Privatgespräch ein bißchen geprahlt, hatte von dem Verein, dessen Vizepräsident er wäre, als von etwas Rechtem gesprochen. Da hatte der Graf leutselig gebeten, ihn auf die Mitgliederliste zu setzen, und noch gefragt, ob für ihn ein Jahresbeitrag von zwanzig Gulden genüge. Laska hatte aus nationalen Gründen die Anmeldung annehmen müssen, hatte aber den Grafen ausdrücklich gebeten, vorläufig bei keiner Sitzung zu erscheinen, weil der Sitzungssaal seiner nicht würdig sei und auch unter den Mitgliedern bis auf weiteres sozialdemokratische Elemente vorhanden seien.

Zu früher Zeit brach Laska auf, um heute zum zweitenmal, jetzt bei gelinderer Sonne, den Weg nach Kippsdorf zu machen. Im Paterbüschel traf er den Pfarrer, der zur Tarockpartie ging. Laska wollte ohne Gruß vorübereilen, nahm aber schließlich doch sein Hütchen ab. Der Pfarrer dankte freundlich, und es war, als ob er dabei ein Lächeln unterdrückt hätte. Ja, einige Schritte weiter glaubte Laska ein ganz merkwürdiges Lachen hinter sich zu vernehmen. Es konnte auch ein Hustenanfall sein. Laska nahm das als böses Vorzeichen und faßte den Entschluß, in seiner Opposition gegen die Kirche noch strenger und rücksichtsloser zu sein als bisher.

Das Vereinszimmer war reich geschmückt. Auf dem gedeckten Tisch stand ein Strauß von Rittersporn und Sonnenblumen, auf einem alten Stuhl, der das Achtel Bier trug, war so etwas wie eine Tannengirlande angebracht, und die alte Hängelampe, die seit dem Bestehen des Vereins noch keinen sauberen und ganzen Zylinder gesehen hatte, war hergerichtet und blank geputzt. Eine sinnige Ovation für die »Böhmische Sonne«.

Hrntschirsch war schon anwesend. Er hatte sich seinen Stuhl neben das Faß gesetzt. Er hätte es nie gewagt, sich allein an den gedeckten Tisch zu setzen. Die Gans, die Wirtin, hätte vier solcher Tücher hingelegt, zum Maulabwischen, nicht nur für den Herrn Präsidenten und den Herrn Vizepräsidenten. Er, der Hrntschirsch, sei aber kein Schwein und werde die saubern Tücher nicht beschmutzen. Gewiß auch der Trouba nicht. Das Bier sei gut, da sei nichts zu sagen.

Laska ermahnte ihn, nicht zu viel zu trinken, weil nachher noch die gewisse geheime Arbeit besorgt werden müsse.

»Bitte gehorsamst, pane Vizepräsident, sie wird sehr gut gemacht werden. Wenn Bier auf Zement gegossen wird, so hält das dreifach.«

Hrntschirsch wiederholte diesen Witz noch einige Male. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und der Vorsteher trat ein, in seiner Sonntagsuniform, wie am Fronleichnamstage. Gerührt drückte ihm Laska die Hand. Hrntschirsch machte große Augen und wischte sich kräftig den Bart ab, um doch auch etwas für seine Toilette zu tun.

Trouba werde nach wenigen Minuten erscheinen. Er habe nur noch einen Wagen zu verschieben. Und dann müßte der Vorsteher mit Trouba um halb zehn Uhr wieder auf der Station sein, des Personenzuges wegen. Sie würden aber danach bald wiederkommen.

Als endlich auch Trouba in seinem besten Staat erschien, wurde es Hrntschirsch so unbehaglich, daß er rasch zwei Glas Bier nacheinander trank. Dann fühlte er sich wieder, und als man zu Tische ging, nahm er ganz behaglich auf seinem Stuhle Platz.

Das Nachtmahl verlief über Erwarten gut. Die beiden Präsidenten mußten das Essen loben, und Hrntschirsch und Trouba stellten ein förmliches Wettessen an. Ihre Gesichter röteten sich, als ob's inwendig gekocht hätte. Trouba hatte außerdem das Amt erhalten, die Gläser zu füllen, wenn sie leer waren; und Hrntschirsch ließ es sich nicht nehmen, sich von Zeit zu Zeit ein Glas außer der Reihe zu holen. Die beiden Arbeiter wurden immer gemütlicher und lauter. Aber auch die beiden Präsidenten tranken mehr als gewöhnlich, sie sagten einander scherzhafte Wahrheiten, bis dann der Vorsteher auf einmal gerührt wurde und auf deutsch darüber zu klagen anfing, daß der Herr Generalsekretär seine Frau immer noch nicht besucht und ihm nicht eine einzige Aktie abgelassen hätte.

Etwas protzig lehnte sich Laska in seinen Stuhl zurück und murmelte nur immer: »Wir werden sehen, wir werden sehen.« Dann trommelte er auf den Tisch und schaute sich in der Stube um, etwas verstimmt, wie es schien, oder wenigstens erwartungsvoll. Das Gespräch verstummte.

»Es wundert mich nur,« sagte Laska endlich, »daß keine einzige Tischrede angemeldet worden ist.«

»Ich hätte geantwortet,« sagte der Vorsteher ziemlich scharf. »Aber der erste Toast ist doch natürlich so, daß ich ihn unmöglich selbst halten kann.«

»Weil Sie Präsident sind?« fragte Laska, und lachte.

»Weil ich Präsident bin,« sagte der Vorsteher mit Würde.

Dann gab es wieder ein unheimliches Schweigen, und die beiden Präsidenten blickten einander feindselig an.

Trouba, der Schliff hatte, merkte, was vorging, winkte dem Hrntschirsch zum Faß, und die beiden besprachen sich leise. Hrntschirsch schien sich zu weigern. Dann hörte man den Trouba sagen, nur unter dieser Bedingung dürfe Bier getrunken werden. Mit gefüllten Gläsern kehrten beide an ihre Plätze zurück.

Trouba, der sich die Serviette wie die beiden anderen Herren um den Hals gebunden hatte, nahm sie ab, klopfte mit dem Salzfaß ans Glas und sprach:

»Der Herr Vizepräsident und Gastgeber kommen nachher. Der Herr Vorsteher, ich bitte gehorsamst um Verzeihung, der Präsident soll leben, er lebe hoch!«

Die Herren tranken einander zu, der Vorsteher schüttelte Trouba die Hand, und Hrntschirsch stürzte sein Glas hinunter mit einem Schwung, als ob er es auf die Erde geschüttet hätte. Dann holte er frisches Bier, stellte es vor seinen Platz und blieb stumpfsinnig stehen.

»No, Ochse, der du bist!« rief Trouba. »Bist du stumm?«

Hrntschirsch hob freundlich abwehrend beide Hände auf. Dann knöpfte er sich langsam die Serviette, auf der er bisher gesessen hatte, um den Hals fest und versuchte sie sofort wieder loszubinden. Er glaubte, das gehöre zur Sache.

»Das ist doch überflüssig!« schrie ihn Trouba an. »Du bist und bleibst ein Bauer.«

»Was du bist, bin ich schon lange,« sagte Hrntschirsch, aber freundlich und würdevoll. Er hatte die Serviette endlich wieder losbekommen und reichte sie wie ein Geschenk dem Laska hinüber. Dann faßte er über den Tisch hinweg das Salzfaß, sah sich eine Weile prüfend um und schlug endlich kräftig gegen das Glas des Vorstehers.

»Ein Esel bleibt ein Esel, auch wenn man ihn eine Stunde belehrt hat,« brummte Trouba vor sich.

Hrntschirsch lachte herablassend. Er öffnete den Mund und stürzte dann plötzlich sein volles Glas herunter.

»Du hast ja noch kein Wort gesagt!« schrie Trouba.

Hrntschirsch setzte sich nieder.

»Das ist einerlei. Das sind Faxen,« sagte er, »und deutsche Dummheiten. Der Trouba ist ein Speichellecker. Der Trouba redet nicht, wie's ihm ums Herz ist.«

Plötzlich sprang er wieder in die Höhe und schrie wie unter einer plötzlichen Eingebung:

»Unser Gastgeber, unser teurer allmächtiger Vizepräsident, er soll leben!«

»Er soll leben!« stimmte Trouba donnernd ein; dann traf ihn ein mißbilligender Blick des Vorstehers.

Der Vorsteher sah nach der Uhr und erhob sich; schwerfällig folgte ihm Trouba. Man werde bald wiederkommen. Aus der Stimme des Vorstehers klang es heraus, als ob es ihm mit dem Wiederkommen nicht recht ernst wäre.

Da erhob sich Laska, dankte für die Gesundheit, die ihm gebracht worden sei, und kündigte an, er werde sofort nach der Rückkehr der beiden Mitglieder geschäftliche Mitteilungen von äußerster Wichtigkeit zu machen haben. Die Organisation des Vereins verlange neue Maßnahmen.

Als er mit Hrntschirsch wieder allein war, wurde es still in der Stube. Laska trank nicht mehr und Hrntschirsch machte mit geschlossenen Augen eine Trinkpause, oder er war eingeschlafen. Die Wirtin kam herein, um abzuräumen. Sie stieg auf einen Stuhl, um die Petroleumlampe höher zu schrauben, und ließ sich dabei von Laska festhalten. Sie schäkerte ein wenig, ging aber bald wieder in die Vorderstube, wo sie zwei Forstbeamte sitzen hatte.

Hrntschirsch öffnete die Augen und erzählte die Geschichte von einem sehr guten Freunde in Ungarn, dem einmal so ein Herr Wohltäter aus Spaß aufgegeben hätte, ein Achtel Bier allein auszutrinken, da hätte sein Freund geantwortet: »Ein Achtel Bier kann ich nicht allein austrinken. Dazu bin ich zu schwach. Dazu gehört noch einer. Dazu gehört noch ein Viertel von einem Ochsen. Wenn ich ein Viertel von einem Ochsen essen darf, so kann ich dazu ein Achtel Bier trinken. Sonst nicht.«

Ob Laska nichts von diesem Freunde gehört habe? Hrntschirsch habe schon viele Jahre nichts von ihm vernommen. Es sei ein so braver Mann gewesen, immer zu guten Späßen aufgelegt. Vielleicht sei er gar schon tot. Es sei schrecklich mit dem menschlichen Leben. Ein so kräftiger Mann. Er, Laska, sehe auch so kräftig aus, und wer könne wissen ...

Hrntschirsch schloß wieder Augen und Mund, und auch Laska wurde so müde, daß er sich nach seiner Stube sehnte. Er bezwang sich aber, stand auf und ging auf und nieder.

Nach langer Zeit kam der Vorsteher allein zurück. Er hatte den Galarock abgelegt und entschuldigte sich nur obenhin. Trouba habe sich nach getanem Dienst hingelegt und sei nicht wieder zu erwecken gewesen.

Laska war wieder ganz munter geworden und hielt einen Vortrag, worin er die neuen Mitglieder ankündigte. Beinahe verlegen fügte er hinzu, der Graf habe einen Jahresbeitrag von zwanzig Gulden in Aussicht gestellt. Was man damit machen solle?

Der Vorsteher ergriff das Wort. Das sei sehr einfach. Es müsse ein Kassierer gewählt werden, und der Kassierer müsse persönlich zum Herrn Grafen gehen und das Geld holen.

Gut wäre es, wenn man aus diesem Anlaß auch einen Vereinsstempel anfertigen ließe. Dann könnte die Quittung gestempelt werden.

»Wer soll denn den Stempel bezahlen?« rief Laska sarkastisch.

»Wir bezahlen ihn,« sagte der Vorsteher, »aus dem Vereinsvermögen, vom Jahresbeitrag des Grafen.«

»Diese Antwort habe ich von Ihnen erwartet, Herr Präsident,« sagte Laska noch sarkastischer. »Es hat nur eine Schwierigkeit: wollen wir den Stempel jetzt bestellen, so haben wir kein Geld, und wollen wir mit der Bestellung warten, so haben wir keine Quittung. Aber ich denke den gordischen Knoten zu durchhauen, wie die Deutschen sagen. Ich habe jetzt ohnehin viele Stempel zu bestellen. Ich werde auch einen Vereinsstempel machen lassen und ihn dem Verein schenken.«

»Sie können das ja, Herr Generalsekretär. Aber wer soll Kassierer werden?«

»Ich!« schrie Hrntschirsch, daß beide Herren zusammenfuhren. Er hatte doch nicht geschlafen.

»Ich, meine Herren! Der Trouba, der dumme Kerl, ist nicht da, weil er nichts vertragen kann. Und es wäre eine Niederträchtigkeit und eine Ungerechtigkeit und eine Trampelei, wenn einer von den Herren Präsidenten auch noch Kassierer würde. Ich bin ein sehr guter Kassierer. Ich bin kein Dieb. Die ganze Nacht will ich vor der Kasse liegen wie ein Hund, und wenn ich ein ganzes Achtel Bier getrunken habe und es kommt einer, ich wach auf und zerreiß ihn.«

Hrntschirsch verzichtete erst, als er erfuhr, ein Kassierer müsse gut schreiben können. Nach langem Hin- und Herreden wurde der Teplitzer Kaufmann einstimmig zum Kassierer gewählt und der Präsident beauftragt, dem Herrn Grafen mitzuteilen, daß der Verein es sich zur größten Ehre schätze ...

»Das werde ich schon machen,« sagte der Vorsteher. »Ich bin der Präsident des Vereins, und er ist der Präsident der Gesellschaft. Ich werde das fein einkleiden.«

Noch ein Gläschen Sliwowitz und noch ein paar Glas Bier, dann zog der Vorsteher sich zurück. Hrntschirsch wollte dem Herrn Vizepräsidenten eine ganz neue Geschichte von einem Achtel Bier und einem Viertel Ochsen erzählen, aber jetzt drängte Laska zur Eile und Hrntschirsch mußte sich vom halbgeleerten Faß trennen, obgleich er versicherte, daß er eben erst anfange, frischen Durst zu bekommen.

Wirklich schritt er zwar schwer und keuchend, aber aufrecht neben Laska her, als sie durchs Paterbüschel heimzogen. Laska stolperte einigemal im Dunkeln.

Sie gingen nach Hause, um das Handwerkszeug zu holen. Als Laska von seiner Stube herunterkam, das kleine Paket in Zeitungspapier fest in der Hand, da war Hrntschirsch schon bereit. In der Rechten hielt er eine Stallaterne, und auf einem Karren hatte er ein Paar Ziegelsteine, ein Schaff mit Zement, einen Eimer Wasser und etwas Sand.

Rasch ging's aus dem Hause hinaus und die wenigen hundert Schritte bis zum Spritzenhaus. Kein Mensch war zu sehen. Unter den vielen Schlüsseln, welche Schmelkes seinem Rechtsnachfolger übergeben hatte, war auch der zum Spritzenhaus. Mit nervösen Fingern öffnete Laska das halbverrostete Schloß. Er zog das breite Tor wieder fest hinter sich zu und hieß Hrntschirsch den Karren an der Spritze vorüber nach der Hinterwand schieben. Dort allein durfte der Schatz vermauert werden. Hrntschirsch sollte so ungefähr in Manneshöhe ein Loch schlagen, das Dokument hineinlegen, es dann wieder zumauern und die neuen Ziegel mit Mörtel bewerfen. In einer Stunde spätestens mußte das Werk getan sein.

Ohne zu fragen und ohne zu zögern machte sich der Mann an die Arbeit. Laska ging unruhig hin und her und stellte sich endlich als Wächter vor die Tür, ob niemand vorüber käme. Alles blieb still. Nur aus dem Innern hörte man das dumpfe Losstemmen der Steine. Als Laska wieder einmal nachsah, erfuhr er, daß nur der erste Stein Schwierigkeiten gemacht habe, die übrigen seien leicht vom schlechten Mörtel loszulösen. Zwei Steine tief sei die Mauer, und die Höhlung von einem halben Stein werde wohl genügen.

Laska trat wieder ins Freie. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Bald klopfte Hrntschirsch von innen. Es sei soweit, das Paket drin. Ob Herr Laska es aber nicht lieber in eine Blechbüchse tun wolle. Das Zeitungsblatt werde die Feuchtigkeit nicht abhalten.

Mit einem Fluch trat Laska wieder in die Scheune. Ob Hrntschirsch verrückt geworden sei.

Natürlich, der dumme Kerl wußte nicht, um was es sich handelte. Das hätte gerade gefehlt, daß man am heiligen Wenzelstage das Dokument aus dem dreizehnten Jahrhundert, in ein Zeitungsblatt von diesem Jahr eingewickelt, gefunden hätte.

Laska riß die Umhüllung herunter und legte die Handschrift selbst in die Höhlung, mit der Kante auf den Stein und gegen die alten trockenen Ziegel gelehnt. So sollte sie bleiben und so sollte Hrntschirsch rasch das Loch zumauern.

Wieder trat ihm der Schweiß aus den Poren. Er wußte selbst nicht warum. Er tat doch nichts Unrechtes. Er beaufsichtigte, wie Hrntschirsch jetzt leise einen Ziegelstein nach dem anderen mit Zementmörtel bestrich und hineinlegte. Hrntschirsch hatte geraten, die alten ausgebrochenen Steine wieder zu benutzen. Laska war überrascht, wie schnell sie vorwärts kamen. Den letzten Stein, der freilich erst für die übriggebliebene Öffnung zurechtbehauen werden mußte, reichte er selbst hin. Dann noch ein paar Kellen voll Mörtel darauf geworfen, die Stelle oberflächlich abgeputzt, und man war fertig.

Laska wünschte jetzt nur, allein zu sein. Er wagte es nicht, mit dem Karren noch einmal über die Straße zu fahren. Später einmal, bei schlechtem Wetter, wird man ihn holen. Hrntschirsch solle jetzt nur voraus nach Hause gehen und sich schlafen legen. Man brauche ihn nicht mehr.

»Ich bitte gehorsamst, pane Vizepräsident,« sagte Hrntschirsch demütig und verschmitzt, »ein Guldenzettelchen werde ich doch wohl für die Arbeit verdient haben.«

Eilig gab ihm Laska seinen letzten Gulden und schickte ihn fort. Nur das Stemmeisen und die Kelle sollte er mitnehmen und die ausgelöschte Stallaterne. Dann schloß Laska selbst das Spritzenhaustor zu und trat tief aufatmend wieder ins Freie. Er wußte nicht, wohin sich wenden. Nach einigen Schritten stand er vor der Kapelle des heiligen Nepomuk. Ängstlich blickte er hinein, ob der Heilige wirklich von Stein wäre und ob sich hinter ihm kein Mensch verberge. Alles war ruhig. Plötzlich ging es wie ein gutes Vorzeichen durch Laskas Gemüt.

Entweder es ist unser Hus, wie man sagt, dachte er bei sich, dann gehört er uns zu, oder es ist der Heilige von der Prager Brücke, dann schweigt keiner besser als er.

»Auf Wiedersehen am Wenzelstag!« sagte er halblaut und ging nach Hause.

Aber er fand die ganze Nacht keinen Schlaf. Als ob er ein Verbrechen begangen hätte, so plagte ihn eine unnennbare Angst. Und als er endlich am späten Morgen einschlief, träumte ihm, er stehe auf dem Dach des Königsschlosses von Prag, das Schloß brenne und in ungeheuren Bogen werfe die Feuerspritze von Oberntal Wassermassen darüber her. Aber dann war es wieder kein Wasser, sondern Petroleum von der Marke »Böhmische Sonne«, das von allen Seiten über ihn herflutete und sich an seinem eigenen Leibe entzündete. Sein Haar flammte auf; und als er mit beiden Händen nach dem Kopfe griff, wachte er schweißbedeckt auf.

Achtes Kapitel

Das Fest des heiligen Wenzel fiel auf einen Samstag. Den ganzen September über hatte Laska daran gearbeitet, schon an diesem Tage die »Böhmische Sonne« einweihen zu können. Um alle Brücken hinter sich abzubrechen, hatte er seine Einladungen an Private und an Korporationen sehr früh ergehen lassen. Ganz Oberntal erwartete eine noch nie dagewesene Feier, und sein Opretal durfte nicht enttäuscht werden.

Auf den Grundstücken am Paterbüschel sollten einst die eigentlichen großen Petroleumwerke errichtet werden. Dafür waren aber die Pläne noch nicht in Angriff genommen; man mußte doch erst mehr über die Mächtigkeit der Quelle wissen. Aber am Wenzelstage wird, unmittelbar vor der Hauptfestlichkeit, dem ersten Spatenstich zur Fassung der Quelle, auch der Grundstein gelegt werden zu dem palastähnlichen Gebäude, das Raum gewähren sollte für das Generalsekretariat, für die gesamte ungeheure Buchhaltung und für verschiedene Beamtenwohnungen. Am oberen Eingang des Dorfes, hart an der Nepomukstatue, wird das Gebäude stehen. Und an der Rückseite der Nepomukstatue sollte der Grundstein gelegt werden. Das Spritzenhaus mußte der Neuzeit Platz machen. Und nicht ohne Großartigkeit hatte Mikulasch Laska im Namen der »Böhmischen Sonne« eine neue Scheune, nicht weit von der Kirche, für die Feuerspritze erworben und das neue Spritzenhaus der Gemeinde zum Geschenke gemacht. Denn auf dem Schmelkeshof hatte die Spritze nur zur Miete gewohnt.

In den letzten Tagen vor dem Fest arbeiteten die Leute von früh bis abends, um den Schauplatz würdig herzurichten. Der Hof wurde um die Petroleumquelle herum mit Flaggenmasten besteckt, um diese wurden Reisiggirlanden gewunden. Fahnen wurden aufgezogen, über das Bohrloch selbst wurde ein weites Zelt aufgespannt und dicht daneben eine Rednertribüne errichtet. Gegenüber, am Wohngebäude, gerade unter der ärmlichen Stube, die der bescheidene Herr Generalsekretär immer noch bewohnte, wurde ein Gerüst aufgeschlagen für die Musikbande, eine Bergknappenkapelle aus der Nachbarschaft.

Auch bei der Nepomukstatue sollte ein Zelt errichtet werden. Aber Laska zögerte da mit seinen Befehlen. Zuerst mußte das alte Spritzenhaus fallen, und das schien immer wieder aufs neue untunlich. Man ahnte in Oberntal irgendeine neue Überraschung. Vielleicht wollte der Herr Generalsekretär der Gemeinde gar auch noch eine neue Spritze schenken. Jetzt war alles möglich.

Die Arbeiter, welche unter Laskas Oberkommando und unter Führung des Hrntschirsch am Werke waren, hatte man aus tschechischen Ortschaften kommen lassen. Darüber murrte man in Oberntal gar nicht mehr. Es war natürlich, daß sich vieles änderte, über den neuen Namen »Opretal« hatte man im Wirtshaus wochenlang gelacht. Da der erste Brief für Herrn Laska ankam, der als Bestimmungsort den Namen Opretal und daneben in Klammern Oberntal trug, da war man im Gemeinderat sogar entrüstet. Aber der erfahrene Müller meinte, man werde sich daran gewöhnen müssen.

Am Tage vor dem Fest begannen die Gäste aus Prag einzutreffen. Sämtliche Stuben im »Lamm« waren von Laska vorausbestellt, im Hause des Schmelkes hatte er für die Hauptpersonen Unterkunft geschaffen; auch in den zwei schlechteren Wirtshäusern von Oberntal war jede Kammer belegt, selbst in Kippsdorf mußten noch Ehrengäste untergebracht werden. Das Vereinszimmer war geschmückt und in ein Fremdenzimmer umgewandelt.

Die tschechischen Herren aus Prag waren erstaunt, die deutsche Ortschaft so verwandelt zu sehen. Von den Masten um das Brunnenloch wehten weißrot die Flaggen in den national-tschechischen Landesfarben herunter, die Nepomukstatue war ebenso geschmückt, das Wirtshaus zum Lamm hatte um eine riesige schwarzgelbe Fahne Dutzende von weißroten Fähnchen angebracht, und vom Gebirge her flatterten über dem Wohnhaus des Weißmann lustig schwarzgelbe und weißrote Flaggen.

Am Pfarrhaus allein war nur die schwarzgelbe Fahne zu sehen. Der Pfarrer hatte einen Wink erhalten, sich dem Feste nicht zu entziehen. Er steckte die Farben des Kaiser Joseph heraus, weigerte sich aber entschieden, an dem ersten Spatenstich einer Aktiengesellschaft in amtlicher Eigenschaft teilzunehmen. Nur bei der Grundsteinlegung am Nepomukdenkmal wollte er erscheinen, anderswo nicht. In einem devoten Schreiben an den Herrn Fürsten, seinen Patron, entschuldigte er sein Fernbleiben. Die Unternehmer hätten ein national-tschechisches Fest verkündigt, und daran könnte er sich nicht von Herzen erbauen.

Am Freitag abend erlebten die Oberntaler, die nicht mehr müde wurden, spazieren zu gehen und das Großstadttreiben, wie sie es nannten, zu beobachten, neue Überraschungen. Im »Lamm« traf ein tschechischer Kellner ein, der für die nächsten zwei Tage extra aus Prag verschrieben war; er hatte eine große Speisenkarte, in beiden Sprachen bedruckt, mitgebracht und behandelte den Wirt herablassend.

Über dem Eingang des Schmelkeshauses wurde am Nachmittag eine mächtige Tafel angebracht, die in tschechischer Sprache, rot auf weiß, die Inschrift zeigte: »Böhmische Sonne von Opretal, kaiserlich königlich privilegierte Aktiengesellschaft.« Der Name Opretal war gewissermaßen zum erstenmal amtlich geworden.

Am Freitag abend faßte Laska endlich den Entschluß, das alte Spritzenhaus hinter der Nepomukkapelle über Nacht abzutragen. Niemand fand dieses Vorgehen außerordentlich. Auch anderswo in Großstädten wurde, wie man gehört hatte, bei Fackelschein gearbeitet. Und bei dem romantischen Lichte von vier Pechfackeln gingen zahlreiche Arbeiter daran, die alte Scheune einzureißen.

Die Spritze war längst in ihr neues Haus geschafft worden. Hrntschirsch, der alles besorgt hatte, arbeitete jetzt im Innern des Spritzenhauses, während die anderen Arbeiter teils das Dach abtrugen, teils mit spitzen Hacken die dünnen Fachwerkmauern zertrümmerten, Laska schaute zu und drängte aufgeregt zur Eile. Um ihn her standen im roten Fackellicht viele der Ehrengäste und weiter zu Hunderten die Einwohner von Oberntal.

Die Spitzhacken klangen, die Ziegel flogen vom Dach, und aus dem Innern hörte man dumpfe Schläge. Laska lief dahin und dorthin und hatte das Aussehen, als ob er einen gefährlichen Einsturz oder sonst einen Unglücksfall befürchtete.

Plötzlich trat Hrntschirsch, über und über mit Ziegelstaub und Kalk bedeckt, heraus und näherte sich dem Generalsekretär in dienstlicher Haltung.

»Halt!« schrie Laska und faßte die einzelnen Arbeiter an den Armen, winkte den Oberntalern und warf den Prager Freunden sorgenvolle Blicke zu und schien eine Unglücksbotschaft zu erwarten.

»Halt! Was ist geschehen?«

So still wurde es im Kreise, daß man deutlich das Flackern und Rauschen der Fackelflammen vernahm.

»Gnaden, pane Vizepräsident, bitte um Verzeihung, Herr Generalsekretär, ich habe gehorsamst zu melden, das alte Spritzenhaus hat nämlich nur drei Seiten, was die vierte Seite ist, das ist nämlich die Kapellenmauer. Die ist nicht Fachwerk, die ist eine richtige Mauer. Und wie ich da hineinschlag', bei meiner Ehre und Seligkeit, und mir gar nichts dabei denke, da kommt ein Loch, und in dem Loch liegt ein Schatz. Gnaden Herr Generalsekretär.«

»Gold?« fragte Laska.

»Nein, Gnaden Herr Generalsekretär. Alte Papiere.«

Laska stand da wie ein Verzückter. Plötzlich sprang er auf einen der Karren, die zum Abfahren der Steintrümmer bereitstanden, und rief in deutscher Sprache:

»Freunde! Bürger von Oberntal! Ich habe gehört, daß soeben in der uralten Mauer der Kapelle, die seit Jahrhunderten dem Johann von Nepomuk geweiht ist, alte Dokumente entdeckt worden sind. Dieser brave Mann verdient das größte Lob, weil er, die Bedeutung des Fundes ahnend, uns sofort Mitteilung gemacht hat. Auch ich will die Dokumente nicht ohne Zeugen heben. Ich schlage vor, daß zwei Fackelträger voranschreiten, und daß wir, etwa zwei der Herren aus Prag und zwei angesehene Bürger von Oberntal, gemeinsam vorgehen.«

Er nannte zwei der Prager Herren beim Namen und blickte dann nach den Oberntalern hin.

»Darf ich Sie bitten, Herr Weißmann?«

Weißmann trat geschmeichelt mit den beiden Prager Herren vor. Während Laska nach einem zweiten Deutschen suchte, dem er die Ehre antun könnte, rief eine Stimme aus dem Hintergrund:

»Der Doktorpeppi muß dabei sein!«

Und vielstimmig rief es sofort durcheinander:

»Der Doktorpeppi! Das ist ein Gelehrter! Vom Kurieren versteht er nichts, aber ein Gelehrter ist er! Der Doktorpeppi!«

Laska hatte ein unbehagliches Gefühl. Aber rasch überwand er es und rief:

»Ich bitte also auch den Herrn Doktor Scheibler junior, die Sache mit uns in Augenschein zu nehmen. Es kann mir nur lieb sein, wenn ein Gegner unserer nationalen Bestrebungen die Auffindung eines ehrwürdigen Dokumentes bezeugen muß.«

Langsam trat der Doktorpeppi vor und sagte halblaut zu Weißmann:

»Woher weiß er denn schon, daß das da drinnen so ein Dokument ist?«

Unter feierlichem Schweigen traten Laska und die vier Vertrauensmänner mit den Fackelträgern in das Spritzenhaus. Der schwarze Rauch der Pechfackeln schlug durch das zerrissene Sparrenwerk zum Nachthimmel empor. Das rote Licht beschien die kahlen Wände. Der Doktorpeppi entdeckte auf der Innenseite des Tores ein großes Plakat mit Regeln zur Rettung Ertrunkener. Er wollte eine Bemerkung darüber machen, daß auf zwei Stunden im Umkreis nicht einmal ein Bach vorhanden wäre, da stieß Laska einen Schrei aus, und der Doktorpeppi stellte sich rasch zu den anderen Herren, die neugierig oder verwundert in ein Loch der Hinterwand hineinstarrten. Laska schien aufs äußerste erregt.

»Sehen Sie, meine Herren, das merkwürdige Ding in der Höhlung dieser uralten Mauer. Sie alle sind Zeugen, daß es von niemand berührt worden ist. Ich schlage vor, daß der Herr Advokat aus Prag und der Herr Doktor Scheibler gemeinsam dieses unbekannte Etwas hervornehmen.«

»Bitte, bitte,« sagte der Doktorpeppi, und schon hatte der Advokat in das Loch hineingegriffen und brachte ein feuchtes, schimmelüberzogenes, verwittertes Pergament ans Licht.

Laska mußte sich an die Wand lehnen, um nicht umzusinken. Die freudige Aufregung hatte ihn überwältigt, dazu aber eine rätselhafte Angst und im letzten Augenblick ein ernster Schmerz. Die schöne Handschrift verschimmelt! Aber vielleicht war nur das erste Blatt verloren, das Pergament mit dem epischen Gedicht, auf das er doch geringern Wert legte. Und schon hatte der andere Herr aus Prag, ein Professor, die Pergamentblätter vorsichtig geöffnet und rief mit ehrlichem Entzücken:

»Altböhmisch! Aus dem dreizehnten Jahrhundert! Alles altböhmisch!«

Laska fiel ihm halb ohnmächtig in die Arme. Der Doktorpeppi bückte sich, nahm ein Stück eines ausgebrochenen Steins und steckte es ruhig in die Tasche.

»Merkwürdig feucht diese alte Mauer,« sagte er zu Weißmann.

»Die Schlangen zischeln schon,« rief Laska. »Aber was wir haben, lassen wir uns nicht nehmen. Was haben Sie gefunden?«

Der Professor hatte beim Fackellicht die Augen dicht an die Handschrift gebracht.

»Merkwürdig!«

»Heraus zum Volke!« rief Laska. »Wir dürfen ihnen den großen Fund nicht länger vorenthalten.«

Man drängte ins Freie, und Laska wollte eine Ansprache halten. Man ließ ihn aber nicht dazu kommen. Nach den dunkeln Andeutungen des Hrntschirsch hatte man schon die Hauptsache erraten und wollte nun das Dokument selber sehen.

Hunderte von Händen streckten sich danach aus. Der Professor hielt es mit beiden Händen hoch über seinen Kopf und schrie:

»Nicht anfassen! Nicht in die Nähe kommen! Schützt nationales Eigentum!«

Laska drängte die Nächsten zurück. Morgen bei Tageslicht werde es irgendwo, hinter Glas und Rahmen, dem Volke sichtbar gemacht werden.

Da drängte sich der Gemeindevorsteher von Oberntal durch die Menge und sagte, entweder sei das Ding da nichts wert, dann gehe es ihn nichts an; oder es sei wirklich ein so kostbarer Schatz, dann gehöre er der Gemeinde und müsse ihm übergeben werden.

Die Tschechen protestierten einstimmig, und Laska berief sich darauf, daß es auf seinem Eigentum gefunden worden wäre.

Im Spritzenhaus sei es gefunden worden. Was im Spritzenhaus sei, das gehöre der Gemeinde.

Aber nicht das Spritzenhaus selber.

Just die dicke Mauer gehöre gar nicht zum Spritzenhaus, die gehöre zur Kapelle. Laska hätte gar nicht das Recht gehabt, die Kapellenmauer abzubrechen! Die Gemeinde werde ihn verklagen.

Der Advokat sprach leise mit Laska. Überall hatten sich lebhafte Gruppen gebildet, und bei der Überzahl der Deutschen schien es gefährlich, den Schatz mit Gewalt entführen zu wollen. Der Professor hielt ihn immer noch hoch über seinem Kopf; er sah aus wie ein gemalter Moses mit den Gesetzestafeln auf dem Berge Sinai und schrie von Zeit zu Zeit:

»Nicht anfassen!«

Laska trat jetzt mit einem versöhnenden Vorschlag hervor. Mit Rücksicht darauf, daß die Wand möglicherweise wirklich aus alter Zeit stamme und zur Kapelle gehöre, was die Bedeutung des Fundes nur erhöhen könne, wolle er das Dokument, das bei Kind und Kindeskindern sicherlich berühmt sein werde als die unvergleichliche Handschrift von Oberntal, vorläufig bei dem Herrn Pfarrer deponieren, wohlgemerkt, nur deponieren, denn ein nationaler Schatz müßte nationales Eigentum bleiben, aber die Rechte der Gemeinde sollten nicht verletzt werden.

Mit wirren Rufen erklärten sich alle Anwesenden einverstanden, und die ganze Menge, die Fackelträger voran, wälzte sich durch das Paterbüschel zum Pfarrhaus. Als der Pfarrer die lärmende Masse vor seinem Fenster wahrnahm, sagte er ängstlich zu Barbara, die eben den Abendtrunk abräumte:

»Sie wollen mich zwingen. Aber ich gebe nicht nach. Ich habe auch meine Eingebungen! Ich glaube nicht an den Schwindel. Sie werden sehen, Barbara, meine Eingebungen sind die richtigen.«

Nach einer Weile traten artig einige Herren herein, unter ihnen Weißmann und der Doktorpeppi, und Laska hielt eine sehr schöne Ansprache. Er erzählte dem Pfarrer, was vorgefallen war, und bat ihn, als den ehrwürdigen Friedensrichter der Gemeinde, den Schatz einstweilen in seine geistliche Verwahrung zu nehmen. Er solle ihn wohl behüten wie das Allerheiligste. Vielleicht wäre es am besten, ihn in der Kirche selbst zu verschließen, wenn dort irgendwo ein sicherer Ort sei.

Der Pfarrer nahm mit höflichem Dank die schimmelige Handschrift an sich, öffnete sie leicht, blickte verwundert hinein, und versprach den Herren, dem alten Papier, auf das sie solchen Wert legten, ein treuer Hüter zu sein.

»Wissen S',« fügte er hinzu, »verstehn tu' ich von solchen Dingen gar nix. Ich bin ein einfacher alter Mann, der sich nie mit so gelehrten Sachen abgegeben hat. Riechen tut's nicht gut. Und wissen Sie, Herr Laska, jetzt, wo alles herum nach Petroleum riecht, da kommt es mir vor, das Ding da rieche auch nach Petroleum. Ich mag den Geruch nicht. Ich brenne Öl, wie Sie sehen. Aber darum kann es doch sehr wertvoll sein.«

Und der Pfarrer hustete merkwürdig von unten herauf, wie damals im Paterbüschel, als er Laskas Gruß so seltsam erwidert hatte.

Neuntes Kapitel

Die ganze Nacht hatte Laska durcharbeiten lassen. Als der Tag des heiligen Wenzel anbrach, war vom alten Spritzenhaus nicht eine Spur mehr vorhanden. Nur das Loch in der Rückwand der Kapelle erinnerte an das große Ereignis des gestrigen Tages.

Der Himmel war trüb und über dem Schwarzenberg hing das dunkle Gewölk tief herab. Es war sonst das sichere Regenzeichen für die ganze Gegend. Heute aber achtete niemand darauf, heute hatten Einheimische und Fremde nur Sinn für die Feier der »Böhmischen Sonne«. Die ältesten Leute konnten sich nicht erinnern, so viele Menschen in Oberntal gesehen zu haben. Man drängte sich auf der Straße vom frühen Morgen an. Als ob Oberntal ein Wallfahrtsort geworden wäre.

Wie üblich, wurde der Feiertag mit den Kirchenglocken eingeläutet, und die Bewohner nahmen es als gutes Zeichen; der Pfarrer habe nachgegeben und werde in seinem geistlichen Ornat den Segen über den ersten Spatenstich sprechen. Doch in der Kirche, die heute für Andächtige und Neugierige doppelt so groß hätte sein können, erfuhr man, daß der Pfarrer trotzig geblieben war. Mitten in seiner gewohnten milden Predigt war er plötzlich still geworden, hatte eine Weile mit dem Schnupftuch gearbeitet und endlich eine ganz überraschende Philippika gegen die Wechslertische im Hause des Herrn losgelassen, gegen die Mammonsknechte, die sich wie Wallfahrer nach dem Gnadenorte drängen, nicht aber um der Gnade Gottes teilhaftig zu werden jenseits der Erde, nicht um dem Lobgesang der Vögel zu lauschen über der Erde, nicht einmal um die gesegnete Frucht zu sammeln auf dem Antlitz der Erde, sondern um sich einzuwühlen in die Eingeweide der Erde wie gottlose Schatzgräber und andere Verüber von Teufelswerken. Gottes Langmut sei groß, aber seine Wunderkraft nicht minder, und er werde vielleicht die Mammonsknechte, die doch auch Feinde seiner heiligen Kirche seien, strafen und den Schatz tausend Ellen tief in das Innere der Erde versinken lassen. Oder sonst seinen Spott treiben mit den Ungläubigen. Danach wischte sich der Pfarrer den Schweiß von seinem guten alten Gesicht und redete weiter von der Güte und Weisheit des Schöpfers.

Die Zuhörer waren bestürzt. Sie gönnten den Tschechen ihre »Böhmische Sonne« nicht. Sie hatten ja auch keine Aktien erhalten. Aber der große Erfolg war einmal da, mit den Wölfen mußte man heulen, und der Pfarrer brachte nur sich selbst und das ganze Dorf in Ungelegenheiten, wenn er gegen den Strom arbeiten wollte. Na ja, der Strom war nun einmal nicht so, wie der Kaiser Joseph ihn gedacht hatte. Ja, ja, der gute Pfarrer wurde recht alt.

Während der Predigt war ein tüchtiger Regenschauer niedergegangen; als die Gemeinde das Gotteshaus jedoch verließ und eilig zum Festplatz strömte, schien das Wetter sich wieder aufheitern zu wollen. Nur über dem Schwarzenberg lagen die Wolken noch dicker als am Morgen.

Auf dem Hofe waren die Prager Gäste schon seit elf Uhr versammelt. Niemand von den Tschechen war in der Kirche gewesen. Die Absage des Pfarrers hatten sie durch ihre demonstrative Fernhaltung beantwortet. Der Nachtwächter und Hrntschirsch hielten das gemeine Volk ab. Es war ihnen gesagt worden, wen von den Oberntalern sie einlassen sollten, und wen nicht. Aber es bedurfte auch keiner besonderen Anweisungen. Die Tschechen und die Honoratioren wurden auf den Hof gelassen, die anderen blieben draußen. Bezüglich der Honoratioren konnte man sich auf den Takt des Nachtwächters verlassen, bezüglich der Tschechen auf Hrntschirsch. Der hatte heute eine Tschamara an, dazu eine rot-weiße Krawatte und über dem rechten Ärmel der Tschamara eine rot-weiße Binde. Er sah prächtig aus, und es wurde kaum bemerkt, daß seine Beinkleider zu wünschen übrig ließen.

Von der Kirche her kamen durchs Paterbüschel die Honoratioren, sie waren vollzählig beisammen. Allen voran Weißmann, Frack und Zylinder, neben ihm Libussa, die sich für die Kirche in einen grauen Regenmantel und eine Kapuze gehüllt hatte, die aber jetzt in dem ehemaligen Verkaufsladen des Schmelkes rasch Toilette machte. Sie trat heraus, und Fremde und Einheimische begrüßten sie mit einem Ah der Bewunderung. Auf dem turmartigen Haarbau lag ein Kränzlein von kleinen roten Rosen; ein wallender weißer Schleier floß hinunter. Die hohe Gestalt in einem weißen Seidenkleid, von der rechten Schulter herab zur linken Hüfte eine weiß-rote Schärpe. Niemand wußte recht, was sie vorstellte; daß sie aber irgendetwas Nationales sei, das war gewiß.

Mit Weißmann war der alte Doktor erschienen. Auch er hatte seinen uralten Frack angelegt, trug darunter aber seine gewohnte bunte Plüschweste. Der Doktorpeppi war nicht in der Kirche gewesen. Er stand jetzt außerhalb des Kreises und schien die Zeichen nicht zu bemerken, die sein Vater ihm machte.

Laska war noch auf seiner Stube und blickte dort von Zeit zu Zeit heimlich hinaus. Er hatte im letzten Augenblick die Grundsteinlegung abgesagt. An der geheiligten Stelle, wo das Dokument gefunden worden sei, durfte fürs erste keine andere Handlung vorgenommen werden.

Als der Gemeinderat von Oberntal erschienen war und feierlich unter dem Zelt Aufstellung genommen hatte, als die Prager Gäste sich darauf wie in einem feindlichen Karree formierten, und das Volk von Oberntal erwartungsvoll die Hälse reckte hinterm Zaun, als alle Zeugen den großen Augenblick wie eine nahe Notwendigkeit erwarteten, da warf Laska noch einen letzten Blick in seinen kleinen Spiegel. Er war zufrieden. Ein Prager Schneider hatte ihm für die Feierlichkeit einen schwarzen Anzug von musterhaft nationalem Schnitt geliefert. Die nationale Sache verlangte es! Jugendlich schnell eilte er die Treppe hinunter und stand plötzlich mitten unter der Festversammlung. Er war so aufgeregt, daß er keinen einzelnen erkannte. Nicht einmal die Freundin Libussa erkannte er; die stand verlegen neben ihrem Vater und wunderte sich selbst darüber, daß sie den Laska in seinem Staate ein bißchen komisch fand, wie übrigens plötzlich auch sich selbst. Er grüßte auch niemand, sondern bestieg, ohne stehen zu bleiben, die Rednerbühne. Er hatte sich die Festrede vorher aufgeschrieben und auch den Versuch gemacht; sie auswendig zu lernen. Aber seine Phantasie ging mit ihm durch. Nachdem er mit ein paar deutschen Einleitungsworten die Ortschaft Oberntal seines ferneren und dauernden Wohlwollens versichert hatte, beleuchtete er auf Tschechisch die Bedeutung der »Böhmischen Sonne« für Oberntal, für Böhmen, für Österreich, für den Welthandel. Er verstieg sich zu ungeheuren Prophezeiungen. Und wenn die Quellen so mächtig wären, daß den Einwohnern von Oberntal durch die Gewalt des Stromes oder durch die entstehenden tiefen Höhlungen alle ihre Häuser fortgerissen würden, so sollten sie sich nichts daraus machen. Leben erzeugend sei die Sonne immer gewesen, und Leben erzeugend, Städte bauend werde auch die »Böhmische Sonne« sich erweisen.

Laska hörte erst zu reden auf, als seine tschechischen Gäste unruhig zu werden begannen. Da brach er plötzlich ab mit einem begeisterten Hoch auf alles, was böhmisch sei, insbesondere auf die »Böhmische Sonne«.

Unter endlosen Hoch- und Slawarufen sprang er von der Rednerbühne herab und überreichte eigenhändig dem Grafen einen Spaten. Hrntschirsch, der am Eingang überflüssig geworden war, stand daneben und hatte die Aufgabe, den Spaten jedesmal tief in das Erdreich zu treten, wenn einer der Herren ihn ungeschickt handhabte. Der Graf winkte ihm ab und holte mit einem Kernspruch eine Scholle herauf.

Sechzig Herren hatten hintereinander einen Spatenstich zu tun und dazu ein kräftiges Wörtlein zu sagen. Man vernahm von den Tschechen merkwürdige Aussprüche. »Wir wollen graben in den Eingeweiden unserer Mutter.« »Wie dieser Sand sollen unsere Feinde vor uns verfliegen.« »Dem Lande Böhmen fehlt nichts, als Freiheit.« Ein Gelehrter unter den tschechischen Gästen hatte den Spruch: »Non olet.« Laska hatte gesagt: »Flectere si nequeo superos Acheronta movebo

Anderthalb Stunden waren vergangen. Die Oberntaler fingen an, ihren pünktlichen Mittagshunger zu fühlen, und jetzt erst kamen die Deutschen an die Reihe. Inzwischen war das Bohrloch, dem Hrntschirsch und zwei tschechische Taglöhner in den Pausen nachhalfen, tiefer und tiefer gediehen, und wie in jener Nacht rieselte es von der Seite herab, naß, braun und fett. Die Quelle. Die Festgäste steckten die Köpfe zusammen. Als der Gemeinderat an die Reihe kam, seine zahlreichen Spatenstiche zu tun, meinte der Ortsvorsteher, der seinen Spruch vor Aufregung vergessen hatte, man könnte ein bißchen weiter rechts zu graben anfangen, dort, woher das Petroleum kam.

Stirnrunzelnd wegen der programmwidrigen Bemerkung nickte Laska seine Zustimmung. Die Mitglieder des Gemeinderats machten sich ans Werk, und da es rüstige Männer waren, die zu Hause manche Erdarbeit verrichtet hatten, so stachen sie tief und auch wohl drei- bis fünfmal und hoben und warfen das Erdreich weit fort. Man mußte jedem den Spaten fast mit Gewalt aus der Hand nehmen. Der Gemeinderat war einen halben Meter tief gekommen. Nach ihm ergriff Weißmann den Spaten, entnahm dem Boden aber nur Bröckchen.

Als jetzt der alte Doktor den Spaten ergriff, sagte er laut und vernehmlich: »Festgemauert in der Erden.« Dann schlug er tapfer ein. Ein dumpfer Klang ertönte. Es gab allen Anwesenden einen Ruck. Hrntschirsch fuhr drei Schritte zurück und sagte:

»Retten Sie sich, pane Vizepräsident. Jetzt kommt's. Zehn Klafter hoch werden wir mitgenommen.«

Der alte Doktor hatte aber inzwischen mit der Spatenspitze nachgeforscht und sagte:

»Ich stoße auf Holz und darunter muß es hohl sein.«

Unbewegt in seiner Feldherrnstellung winkte Laska die Arbeiter heran. Sie sollten das Hindernis entfernen.

Sie machten sich rüstig ans Werk, und schon nach wenigen Minuten kam für alle sichtbar der obere Boden eines Fasses zum Vorschein.

»Ein Faß,« sagte der Graf und blickte vorwurfsvoll auf Laska.

»Warum soll da kein Faß liegen, Erlaucht?« erwiderte Laska mit Selbstbewußtsein. »Wir wollen es rasch ausheben lassen und dann die Feier fortsetzen.«

»Wollen wir die Feier nicht lieber beendigen?«

»Niemals, Erlaucht!«

Die Arbeiter hatten inzwischen nicht geruht. Während sie den oberen Teil des Fasses von allen Seiten freimachten, hatte der Gemeindevorsteher in das nächste Bauernhaus um einige weitere Schaufeln und Spaten geschickt und einige junge Leute aufgefordert, zu helfen. Niemand ließ sich bitten. Die Neugierde half. Aber die Ordnung war gelöst. Von allen Seiten, über den Zaun, durch die Haustür und durch die Lücke an der Nepomuk-Kapelle strömte die Bevölkerung heran. Das Faß hatte jedenfalls etwas zu bedeuten.

Als das Faß, das aufrecht stand, einen Meter tief, gerade über die Mitte hinaus freigelegt war, sagte der Wirt vom »Lamm« ruhig und sachlich:

»Das ist eines von Schmelkes seinen großen Petroleumfässern.«

Der Graf drückte sich leise zwischen den Umstehenden durch und trat ins Haus zurück.

Man sah ihn nachher nicht wieder.

Wieder nach zehn Minuten erreichte man eine Stelle, an der das Petroleum leise zwischen den losen Dauben herausfloß.

Der Gemeindevorsteher sprang selbst in die Grube, fing etwas von der Flüssigkeit mit der Hand auf und rief mit vorwurfsvollem Gesicht von unten herauf:

»Wahrhaftig, es kommt aus dem Faß.«

Zehn Hände streckten sich ihm entgegen, er schwang sich wieder hinauf, stellte sich drohend vor Laska hin, sagte aber nur:

»Wir werden sehen, Herr Laska; wir sprechen uns noch, Herr Laska.«

Der Prager Advokat schaute auf die Uhr und meinte zu seinen Nachbarn, die Geschichte daure ihm zu lange; er wolle Mittagessen gehen und nachher zurückkommen, wenn das Hindernis beseitigt sei. Ohnehin werde es gleich mit Kannen regnen. Er ging, und etwa zehn Herren schlossen sich ihm mit selbstbewußten, drohenden oder verlegenen Gesichtern an.

Jetzt sprang Laska mit einem Spaten in die Grube. Ohne ein Wort zu sprechen, mit zusammengebissenen Zähnen, warf er große Schollen der Lehmschicht aus, auf die man geraten war. Langsam, aber stetig rann das Erdöl aus den Fugen des Fasses und verschlammte den Boden der Grube. Neben Laska lösten die Arbeiter einander ab. So fieberhaft grub ein jeder, daß er nach wenigen Minuten entkräftet innehalten mußte.

Der Himmel war dunkel überzogen, die Kämme des Erzgebirges waren nicht mehr zu sehen. Es war windstill. Einzelne schwere Tropfen fielen nieder. Langsam und ohne Verabredung verließen die letzten der Prager Herren den Festplatz. Der Gemeinderat und die anderen Honoratioren von Oberntal standen dichtgedrängt unter dem Zeltdach.

Jetzt reichte die Grube bis zu dem Boden des Fasses. Zugleich hörte das Rinnen des Erdöls auf. Oberhalb hatten ein paar Burschen in fliegender Eile ein kleines Gerüst errichtet, von dem aus man das Faß einfach an einen Haken befestigen und heraufziehen konnte. Einen Augenblick schwebte es in der Luft, dann rissen es zwei Bäckergesellen herunter, und als ob plötzlich die Wahrheit klar geworden wäre, brach die ganze Bevölkerung in Schreien und Gelächter aus.

Die übrigen Arbeiter hatten die Grube vorher verlassen. Nur Laska war drinnen geblieben, hatte sich an die Erdwand gedrückt und stach jetzt schon wieder mit seinem Spaten wie wahnsinnig darauf los. Die da oben glaubten offenbar, daß alles vorüber sei, daß die ganze Petroleumquelle ein Irrtum gewesen sei. Auch seine Freunde schienen abfallen zu wollen. Nein, es war nicht möglich! Das mit dem Faß ist nur ein rätselhafter Zufall, oder ein Dummerjungenstreich. Es muß Petroleum da sein!

Ohne aufzublicken grub Laska weiter. Er stand so tief, daß er den Rand des Lochs nur noch gerade mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Die Lehmschollen hinaufzuwerfen kostete ihn jedesmal eine Anstrengung. Er war über und über mit Schweiß bedeckt. Und er fühlte deutlich, wie er sich mit jedem Spatenstich weiter und weiter von der Petroleumquelle entfernte. Es war aus.

Libussa glaubte krank geworden zu sein; eine seltsame Hitze überflog sie; sie schämte sich und hätte gern ihren Regenmantel wieder umgenommen.

Plötzlich ließ Laska den Spaten sinken und stützte sich schwer auf ihn. Am liebsten hätte er weinen mögen, bitterlich weinen, wie damals vor zwanzig Jahren, als er sich die ersten neuen Hosen zerrissen hatte und wußte, er würde gerade an der beschädigten Stelle fünfundzwanzig aufgezählt bekommen. Er war einer Ohnmacht nahe.

Hrntschirsch beugte sich herab. Außer ihm stand kein Tscheche mehr auf dem Hof. Unter dem Zelt die Honoratioren mit den finsteren Mienen, ringsum ganz Oberntal, in gespannter Erwartung und bereit, einer ungeheuren Lustigkeit Ausdruck zu geben.

»Ich bin nur ein Ochse!« flüsterte Hrntschirsch hinunter. »Aber, gnädiger Herr Vizepräsident, ich möchte mir untertänigst erlauben, einen Rat zu geben. Sagen Sie nur, daß das Petroleum wieder fließt und daß wir morgen weitergraben werden. Dann lassen Sie uns ruhig nach Kippsdorf gehen.«

Der Gemeindevorsteher war mißtrauisch geworden. Auch er trat dicht an die Grube und sagte: »Na, Herr Laska, wollen Sie oben oder unten herauskommen. Foppen lassen wir uns nicht. Von Ihnen schon gar nicht. Zwei lange Sitzungen hat der ganze Gemeinderat wegen Ihnen gehabt. Und meine Frau hat mir was gesagt, was ich nicht wiederholen will. Alles wegen Ihnen. Und jetzt so eine Blamage! Soll ich Ihnen sagen, was Sie sind?«

»Schweigen Sie,« rief Laska heiser von unten herauf.

»Gnaden, pane Vizepräsident,« sagte Hrntschirsch weich in tschechischer Sprache, »befehlen gütigst, daß ich diesem alten Mann mit meinem Spaten den Schädel einschlage?«

»Ein Schwindler sind Sie!«

»Kommen Sie heraus, pane Vizepräsident, unten können wir nicht durch.«

Weißmann trat vor.

»Herr Laska, ich bin nicht sentimental. Sie können morgen von mir für das ganze Gehöft sechstausend Gulden bar haben.« Libussa fieberte; ängstlich legte sie ihrem Vater die Hand auf den Arm.

»Schweigen Sie,« rief Laska wie verzweifelt von unten herauf. Es klang wie ein Heulen. »Wir dringen durch! Nicht ein Fußbreit trete ich den Deutschen ab.«

»Dann adieu, Herr Laska; grüß Gott und lassen Sie sich da unten die Zeit nicht lang werden. Komm, Libussa, leg die dumme Schärpe ab und zieh dir was Warmes an.« Weißmann entfernte sich mit seiner Tochter, die nur noch wie bewußtlos zusah und die Aufregung der Männer nicht mehr begriff.

Diese Männer! Was lag denn daran, ob man Petroleum beim Schmelkes kaufte oder ob es aus der Erde floß? Das dumme Geld!

Mikulasch Laska war unglücklich, das fühlte sie. Er hatte sich geirrt, oder man hatte ihm einen Streich gespielt. Es war schrecklich. Aber doch nur für sie, die gestern so glücklich gewesen war, als man das alte Pergament gefunden hatte. Was ging sie die dumme Petroleumgeschichte an? Er, der künftige Führer seines Volkes, hätte sich nicht so gebärden sollen, nicht so verzweifelt, nicht so unwürdig. Er blieb doch, der er war. Er hatte doch seine Handschrift! Sein Traum war doch in Erfüllung gegangen!

Willenlos ließ Libussa sich fortführen. Sie freute sich, in den Regenmantel schlüpfen zu können, den Pepperl schon bereithielt. Sie schauerte und hatte ein Gefühl, als ob sie fliegen könnte.

Laska hatte sich in die Höhe gereckt.

»Es ist alles erlogen!« schrie er ihr nach. »Das Faß haben sie aus Bosheit da hinein gesteckt. Da unten ist Petroleum! Es rinnt von allen Seiten, es rinnt aus allen Fugen. Wer zuletzt lacht, lacht am besten! Ich wate in Petroleum!«

»Gnaden, pane Vizepräsident, belieben verrückt zu werden. Belieben mir die Hand zu geben, ich helfe Ihnen heraus.«

Mit einem mächtigen Ruck schleuderte Laska einen Spaten voll Erde dicht am Kopfe des Gemeindevorstehers heraus.

»Da, riechen Sie! Da! Lauter Petroleum! Es kommt mächtig! Es wird uns alle überschwemmen. Großer Gott der Böhmen, du wirst dein Geschenk nicht zurücknehmen!«

»Sie werden mir meinen Rock bezahlen!« schrie der Gemeindevorsteher. »Er hat mich mit Lehm beschmissen!«

»Gnaden, pane Vizepräsident, kommen Sie heraus, es stinkt wirklich nicht ein bißchen mehr.«

In diesem Augenblick klatschte es vom Himmel herunter, und zugleich fegte urplötzlich ein heftiger Windstoß wie vom Schwarzenberg herunter über den Platz. Mit Kannen schüttete es, und schon lag auch das Zeltdach über und neben den Honoratioren grau und schmutzig auf der Erde.

Mit lautem Geschrei, als ob es lauter Weiber gewesen wären, flohen die Honoratioren ins Haus. Der Gemeindevorsteher zögerte noch eine Sekunde, als ihm aber ein Schuß Wasser wie von einer höheren Macht gezielt zwischen Hals und Rock an den Leib fuhr, lief auch er watschelnd davon.

Es klatschte und prasselte und rauschte, und doch hörte einer aus der Tiefe jetzt das jammervolle Schluchzen von Mikulasch Laska.

Hrntschirsch war geblieben.

»Gnaden, pane Vizepräsident,« sagte er freundlich warnend. »Sie ersaufen. Wenn Sie größer wären als das Loch, würden Sie nicht ersaufen. Aber Sie sind kleiner als das Loch. Belieben mir die Hand zu geben.«

Hrntschirsch beugte sich hinab, und plötzlich war er ausgeglitten und lag neben Laska in der Grube.

»Hab' ich Ihnen sehr weh getan, pane Vizepräsident? Belieben mir zu verzeihen, es ist nicht extra geschehen. Hier ist es nicht hübsch. Aber es ist gut, daß ich hier bin. Belieben der Herr mir auf den Buckel zu steigen und so hinauszukriechen.«

Es war wirklich nicht hübsch in der Grube. Immer noch wie mit Kannen platschte der Regen hinein, und dazu rann das Wasser von allen Seiten über den Rand hinunter.

Laska stöhnte etwas Unverständliches und versuchte dem Rat des treuen Hrntschirsch zu folgen. Es gelang nicht gleich, sein erster Beamter mußte ihn ordentlich huckepack heben. Dann erst kroch Laska, der wie aus dem Schlamm gezogen aussah, durch den fegenden Wasserguß über das nachgebende Erdreich auf festes Land, auf seinen Hof. Mühselig stand er auf, blickte sich um, wischte sich die Augen und rannte an der Kapelle vorbei davon.

»Gnaden, pane Vizepräsident!« schrie ihm Hrntschirsch nach. »No freilich, das hat man davon. So sind sie aber alle. Mir ist nur lieb, daß er fort ist. Ewig regnen wird's nicht. Und vor dem Ersaufen hat sich meiner Mutter ihr Sohn nie gefürchtet. Aber hübsch ist's nicht hier.«

Langsam zog Hrntschirsch seine Feldflasche hervor und setzte sie an den Mund. Es war nicht mehr viel darin und er mußte den Kopf stark zurückbeugen.

»Das verdammte Regenwasser!« murmelte er.

Zehntes Kapitel

Wind und Regen, ein abscheuliches Herbstwetter herrschte an den Abhängen des Erzgebirges, überall fing die Wintersaat der Landärzte zu blühen an. Niemand hatte aber so viel zu tun wie der alte Doktor von Oberntal. Die Prager Gäste freilich hatten ihre großen und kleinen Erkältungen mit nach Hause genommen. Am Morgen nach dem Wenzelstag waren sie von der Station Kippsdorf zurückgereist, hatten den Zug überfüllt und saßen in allen Wagen verschnupft und verärgert zusammen. Aber die Oberntaler ließen den Doktor rufen. Sogar der dicke Gemeindevorsteher hatte das Reißen gekriegt, fast alle Honoratioren hatten etwas abbekommen, und der Doktor mußte an ihnen herumflicken, wie der Schneider an den stark mitgenommenen Bratenröcken. Am nächsten Sonntag war der Pfarrer kaum zu verstehen, so hustete und krächzte die ganze Gemeinde, und doch hatte der Pfarrer vielleicht noch niemals so milde, so fröhlichen Herzens geredet, wie heute. Ordentlich wie ein Bischof sah er aus, wohlgenährt und zufrieden, zufrieden mit sich und mit seinen anvertrauten Schafen, zufrieden mit dem Weltlauf und mit der göttlichen Gerechtigkeit.

Selbst dem alten Doktor wurde die Arbeit zuviel. Hatte er doch zwei Patienten außerhalb des Orts, die beide besondere Pflege verlangten. Libussa Weißmann lag mit einem schweren Husten zu Bett, und weil sie selbst immer davon sprach, sie wolle sterben wie Thekla im »Wallenstein«, so schickte der Vater mehr als einmal täglich um den befreundeten Arzt. Der alte Doktor wußte, daß es nur ein tüchtiger Bronchialkatarrh war und glücklich vorübergehen würde; dennoch baute er ein kleines Plänchen und erklärte sich eines Tages bereit, diese Patientin, aber auch nur diese und auch diese nur für diesmal, dem eingebildeten Herrn Doktor, seinem gelehrten Sohne, zu überlassen. Der Peppi aber lehnte die Behandlung ab. Bis Mitte November habe er an seiner Schrift zu arbeiten, dann müsse Libussa gesund sein, denn dann werde er sie vornehmen und zu Weihnachten sich mit ihr verloben.

»Esel« nannte der Doktor seinen Sohn im Verlaufe dieses Gesprächs. Und es kam zu einer theoretischen Auseinandersetzung über die Pflichten der Höflichkeit zwischen Eltern und Kindern. Aber die liebe Patientin übernahm der Doktorpeppi doch nicht, und auch sein Programm änderte er in keinem Punkt.

Der andere Kranke, der dem alten Doktor müde Beine schaffte, lag im alten Wirtshaus von Kippsdorf. Es mußte ein ernster Fall sein, denn der Doktor machte eine Woche lang den Weg zweimal täglich und schimpfte während dieser Zeit jeden Abend mächtig auf die Gelehrten. Das tat er immer, wenn er den Tod eines seiner Patienten befürchtete. Der Peppi ahnte wohl aus allerlei Reden, daß es der Mikulasch Laska war, der dort in Kippsdorf daniederlag, und wahrscheinlich an einer Lungenentzündung. Denn der Vater hatte so eine gewisse Art, die Meinung des Sohnes in schwierigen Fällen einzuholen. Unter Hohn und Spott und wie zum Spaß; aber der Alte versuchte doch so viel als möglich zuzulernen.

Als die Gefahr bei dem Kippsdorfer Patienten aufs höchste gestiegen war, wechselte der Doktor sein Behandlungssystem, er folgte der neuen Schule, wie er sagte, weil doch nichts mehr zu verderben war. Und wie die jungen Leute eben ein unverschämtes Glück haben, so wurde es mit dem Kippsdorfer von da ab merklich besser.

Als der Doktor ungefähr acht Tage, nachdem die Krisis vorüber, wieder einmal des Morgens ins Kippsdorfer Wirtshaus trat, kam ihm die hübsche Wirtin mit rotgeweinten Augen entgegen. Es gehe drinnen viel besser, und der Laska habe gestern mittag sein eingemachtes Huhn und heute früh seine Kümmelsuppe endlich mit bestem Hunger gegessen. Aber nun schlage ihr, der Wirtin, das Gewissen, und sie müsse dem Herrn Doktor etwas anvertrauen.

»Geht zum Pfaffen, wenn Ihr beichten wollt,« schrie sie der Doktor an. »Ich habe keine Zeit für Eure Faxen. Und bei heulenden Weibern bleibe ich nicht stehen.«

Die Wirtin versuchte zu lächeln und bat den Doktor mit aufgehobenen Händen, ihr doch ein paar Minuten zu schenken. Der Laska habe während der schlimmsten Tage, wie er nicht bei sich selbst war, immer den Namen von einem Frauenzimmer gerufen, von dem Fräulein drüben in Oberntal. Na, da sei nichts zu machen gewesen, aber nachher, wie's nur ein bißchen besser ging, habe der Laska täglich an das Fräulein geschrieben und die Briefe zur Besorgung der Wirtin übergeben. Sie habe sich aber nicht dazu entschließen können. Sie habe alle Briefe in ihren Wäscheschrank verschlossen, denn sie habe den Laska so furchtbar liebgewonnen ...

Der Doktor unterbrach sie heftig. Sie solle sich schämen und ihn wenigstens nicht mit solchen verrückten Geschichten belästigen.

»Aber ich frage ja nur, weil ich wissen möchte, ob es dem Laska nicht schaden kann, wenn er keine Antwort kriegt. Er fragt immer danach. Und wenn ich glauben soll, daß es ihn zum zweiten Male packt und daß er mir stirbt, dann soll er lieber mit Fräulein Weißmann glücklich werden, dann will ich lieber sterben!«

Und die Wirtin heulte jämmerlich, unbekümmert darum, ob ihr Mann das Gespräch hören konnte oder nicht.

Der Doktor horchte plötzlich auf. So ein alter Narr! Hatte da am Krankenbett ganz und gar vergessen, daß dieser verdammte Kerl der Nebenbuhler seines Sohnes war. Ihn kurieren nach besten Kräften, natürlich, das war ganz was anderes. Aber jetzt die Liebesgeschichte, die will er einmal selbst in die Hand nehmen und seinem dummen Buben väterlich helfen. Er strich sich den Bart und brummte nur noch einmal etwas von dummem Frauenzimmer, um nicht allzusehr aufzufallen. Dann ließ er sich neben die Wirtin nieder, nahm sogar einen Schnaps und setzte ihr auseinander, daß sie ganz richtig gehandelt hätte, daß so ein Kranker überhaupt keine Antwort bekommen dürfte, und daß sie ihm, dem Doktor, die Briefe des Laska übergeben sollte. Er werde mit dem alten Weißmann reden, der werde der Geschichte schon ein Ende machen. Sie solle sich trösten, der Laska werde das reiche Mädel nicht zur Frau kriegen.

Die Wirtin war so glücklich, daß sie dem Doktor die Hand küssen wollte. Dann trippelte sie davon und brachte ihm ein kleines Paket Briefe, die alle die gleiche Aufschrift trugen:

Ihrer Hochwohlgeboren dem Fräulein Libussa Weißmann Durch Güte.

Loco.

Der Doktor ließ die Briefe zusammenbinden und steckte sie dann in die Tiefe einer seiner Schoßtaschen.

Laska lag in dem nach hinten gelegenen Stübchen, dem Vereinszimmer. Das Bett war rein gehalten und der ganze Raum wohnlicher hergerichtet. Die Wirtin hatte die paar Fremdenzimmer, die ohnehin nie benutzt wurden, geplündert, um ihrem Laska eine Freude zu machen. Über dem Bette hing das Gemälde einer Ente, aus natürlichen Federn hergestellt; Laska hatte zu ihrer Freude während des ärgsten Fiebers immer Angst vor dem Vogel gehabt. Auf dem Nachttisch lag eine Lichtschere, unter dem Bett ein merkwürdiger Stiefelzieher, dessen Konstruktion darauf berechnet schien, daß zwei Herren zugleich sich die Stiefel ausziehen konnten. Einer allein konnte es nicht fertig bringen, aber das tat nichts; Laska lag ja doch zu Bett. Am Fenster stand ein alter Polsterstuhl mit Roßhaarüberzug, und eine spanische Wand, deren Nutzen die Wirtin nicht verstand, war um den Ofen herumgestellt.

Als der Doktor eintrat, erhob sich Hrntschirsch. Er hatte als Krankenwärter am Kopfende des Bettes gesessen. Er grinste, da er sich mit dem Doktor nicht verständigen konnte, von einem Ohr zum anderen.

»Geht's gut, Hirnpschi?« fragte der Doktor. Es war sein grober Spaß, weil er den Namen doch nicht aussprechen konnte. Er sagte zuerst Hirn und ahmte dann ein Niesen nach. Hrntschirsch versuchte noch bis über die Ohren hinaus zu grinsen; da ihm das nicht gelang, machte er wieder ein ernsthaftes Gesicht, zeigte mit dem Finger auf den Kranken und sagte mit glücklichen Augen: »Pane Doktor.«

Laska lag blaß und vergrämt unter dem hohen Federbett und beantwortete kaum die Begrüßung des Arztes. Aber für dessen scharfe Augen wäre auch ohne den Bericht der Wirtin und ohne die ehrliche Freude des Hrntschirsch kein Zweifel gewesen am Fortschreiten der Genesung. Er stellte einige kurze Fragen, untersuchte den Patienten, der sich vor Mattigkeit immer noch kaum zu regen vermochte, und sagte endlich:

»Na, Herr Laska, da wären wir wieder soweit. Vierundzwanzig Stunden habt Ihr auf der Kirchhofmauer oben gelegen, hättet ebensogut hinüberfallen können. Mein Verdienst ist es nicht, daß Ihr nicht hinübergefallen seid. Wenn Ihr Euch bei jemand bedanken wollt, so tut's bei diesem Meerkalb hier und bei der braven Wirtin. Die soll noch acht bis vierzehn Tage tüchtig für Euch kochen und auch mal eine halbe Flasche Wein spendieren, dann entlasse ich Euch. Dann macht, was Ihr wollt, aus der Gefahr hinaus seid Ihr, wie gesagt.«

»Was soll ich machen?« sagte Laska dumpf. »Mit mir ist's vorbei.«

»Papperlapapp und Geigenmatz!« rief der Doktor, wie er es am Krankenbett von Kindern zur Gewohnheit hatte. »Das geht mich nichts an und geht überhaupt keinen Menschen was an. Und was meine Meinung betrifft, Herr Laska, aus Euch wird noch was. Richtig, noch eins! Ihr dürft für die nächsten vierzehn Tage durchaus keine geistigen Arbeiten verrichten, nicht lesen und nicht schreiben. Ihr könnt Euch ja mit dem Meerkalb unterhalten.«

»Herr Doktor, ich möchte um die Erlaubnis bitten ...«

»Nichts da, es wird nichts gelesen und nichts geschrieben. Und ich bitte mir aus, daß Ihr das jetzt auf der Stelle für das Meerkalb ins Tschechische übersetzt, damit es Euch hindert, wenn Ihr lesen oder schreiben wollt. Es scheint treu zu sein.«

Als Laska nun so was auf tschechisch vor sich hinmurmelte, nahm der Doktor den Krankenwärter selbst vor, und versuchte ihm durch Zeichen begreiflich zu machen, was er wollte. Er machte mit Hilfe einer Zeitung und eines Bleistiftes die nötigen Gesten und deutete durch eine drohend erhobene Faust an, daß Laska sonst sterben müßte; aber Hrntschirsch verstand nicht. Er sah dem Gebaren des Doktors nur aufmerksam zu und nickte mit dem Kopf. So mußte wieder einmal die Wirtin als Dolmetscher zu Hilfe gerufen werden, und sie, die ein bißchen Tschechisch radebrechte, machte dem Hrntschirsch verständlich, Herr Laska müßte sterben, wenn man ihn vor seiner Herstellung irgend etwas lesen oder schreiben ließe.

Der alte Doktor ging seiner Wege und war mit sich zufrieden. Dem Kranken konnte seine strenge Verordnung schließlich nur nutzen, und seinem Sohn hatte er einen Dienst erwiesen. Er ging geradeswegs nach Hause und erzählte dem Peppi, was sich ereignet hatte. Dann überreichte er ihm das Briefpaket. Peppi schloß es ruhig in seinen Schreibtisch.

»No, dummer Bub, du rührst dich nicht, du läufst nicht auf der Stelle hin zu ihr?«

»Erst Mitte November, wenn ich mit meiner Arbeit fertig bin.«

»Bock!«

»Ein Mann von festem Charakter bist du auch, Vatter.«

»..Flegel!«

»Das bist du nicht, Vatter!«

Da faßte der alte Doktor seinen Buben plötzlich von rückwärts bei beiden Ohren und flüsterte ihm zärtlich zu: »Du Lausbub!«

»Na ja, Vatter, so hab' ich's auch verstanden.«

Nur am Sonntag ging der Doktorpeppi nach wie vor ins Haus des Herrn Weißmann zur Tarockpartie.

An den Wochentagen ließ er durch den Vater grüßen und für seine Person nach dem Befinden fragen, schickte auch wohl ein Buch zum Lesen oder eine Blume ins Glas. Weiter ging er nicht.

Anders war es am Sonntag. Da wurde er erwartet, und da vergab er sich nichts, wenn er ein Viertelstündchen mit der Rosel redete, wenn er ihr, die es eigentlich nicht annehmen wollte, kleine Geschenke machte, wenn er ihr die Kranke recht ans Herz legte und mit einem besonderen Sonntagssträußchen besondere Sonntagsgrüße hinaufschickte.

Lange konnte er doch mit der Rosel nicht plauschen. Die Herren riefen ihn zu den Karten, als ob in dieser aufgeregten Zeit nicht mehr geredet als gespielt worden wäre. Die Tarockpartien wurden jetzt schon im Speisezimmer abgehalten, draußen war es zu kalt, und die letzten grünen Blätter hingen nur noch so an den Zweigen herum.

Gegen Ende Oktober, am Sonntag, nachdem der alte Doktor sein Meisterstück als Diplomat ausgeführt, die Briefe an sich genommen, und dem Laska das Schreiben verboten hatte, ging man zum Nachtmahl, fast ohne gespielt zu haben.

Der Pfarrer mußte wieder über die Schicksale der Handschrift berichten, die er in Verwahrung genommen hatte. Von den gerichtlichen Händeln wußte er freilich nicht viel mehr, als daß die Aktiengesellschaft und der Gemeindevorstand von Oberntal auf Herausgabe der Handschrift geklagt hätten. Einstweilen zeige er sie jedem, der sie sehen wolle, und aus Prag habe er der Handschrift wegen mehr Gäste, als ihm lieb sei. Lauter Tschechen. Am Abend des Wenzelstages selbst, während in Oberntal die Geschichte passierte, habe schon ein gelehrter junger Herr bei ihm in der Bibliothek gesessen und habe von früh bis abends an der Handschrift herumgeguckt und sie Buchstabe für Buchstabe abgeschrieben. Mit der Lupe habe er manches studiert. Einige Tage später sei ein ganz ähnlicher junger Mann aus Prag gekommen, habe sich im Pfarrhaus einquartiert, drei Tage und drei Nächte, und sei ebenfalls mit einer vollständigen Abschrift abgereist. Ebenso vor kurzem noch ein dritter. Der habe aber kein Sitzfleisch gehabt und nur einiges herausgeschrieben. Vierzehn Tage nach dem Wenzelsfest sei ein Prager Photograph dagewesen und habe das Ding Blatt für Blatt photographiert, mit so viel Umständen und so viel Formalitäten, wie wenn ein Oberntaler Mädel sich für ihren Soldaten in Wien photographieren ließe. Es sei nicht zu glauben. Und Tag für Tag bekomme er Zuschriften von gelehrten Gesellschaften und von Professoren; da werde er um Auskünfte über die Handschrift ersucht, wie lang und breit sie sei, welches Gewicht sie habe, und noch ganz andere Dinge, wozu man ein Mikroskop nötig hätte. Und wenn er alle diese Briefe beantwortete, so seien die Leute noch nicht zufrieden. Grobheiten bekäme er zu hören. Man werfe ihm vor, er verstehe nichts von Handschriften; und das sei richtig. Auch Drohbriefe habe er schon aus Prag bekommen. Drohbriefe, in deren einem die Rache der Nation angekündigt wurde, für den Fall, daß »ein Haar auf dem Haupte der Handschrift gekrümmt würde«.

»Wenn ich nicht so froh wäre,« sagte der Pfarrer, »wenn ich nicht so heidenmäßig froh wäre, wahrhaftig, es könnte mir Sorgen machen. Aber ich habe heute einen ganz besonderen Grund zur Freude. Ihr wißt, daß mein hoher Patron in der Kirche war, der Fürst. Nun, ich sage nur so viel, man ist mit mir zufrieden, man hat mich sogar für meine christliche Festigkeit bei der ganzen Petroleumgeschichte recht belobt.«

Man wünschte dem Pfarrer Glück, und darüber errötete er wieder; als ob er ein schlechtes Gewissen hätte. Etwas unvermittelt sagte er:

»Wißt Ihr, der Schmelkes, das ist ein Mann. Der geht mir ab. Ein Verlust für die ganze Gemeinde.«

Nach dem Nachtmahl setzte man sich wieder an den Nebentisch zum Tarockspiel nieder. Gezankt wurde jetzt fast nur noch vom alten Doktor. Der Peppi spielte wirklich besser, und machte er auch einmal einen Fehler, so wurde er vom Pfarrer und von Weißmann in Schutz genommen. Weißmann wußte gar nicht, wie er ihn zum Schwiegersohn wiedergewinnen sollte. Um Entschuldigung bitten, wegen der Petroleumepisode, mochte er nicht. Er sprach überhaupt nicht gern von der ganzen Geschichte, und dann war es auch gar nicht seine eigene Schuld gewesen; das waren die verschrobenen Ideen des Mädels. So lobte er bald das Tarockspiel des Doktorpeppi, bald sprach er kummervoll von seiner eigenen schwachen Gesundheit und von den Sorgen, die ihm das Befinden Libussas mache. Heute klagte er wieder recht erbärmlich. Er werde mit dem armen Geschöpf wohl nach Meran gehen müssen und auch das noch versuchen. Sollte aber auch das nichts helfen, er würde den Schmerz nicht überleben. Der Doktorpeppi hörte aber gar nicht darauf hin, und so ging das Spiel unter Friedhofsgesprächen gemütlich weiter.

Auf dem Heimwege fing der Vater wieder an, den Sohn zur Entscheidung zu drängen, der Peppi aber lehnte jede Erörterung ab; erst müßte er mit seinem Buch fertig sein.

Nur um wenige Tage wurde der Termin überschritten, den er sich selbst gestellt hatte. Am achtzehnten November gegen sechs Uhr nachmittags schrieb er mit seiner gleichmäßigen Handschrift das letzte Wort nieder, legte dann die Feder aus der Hand und schloß sinnend die Augen. So, jetzt war er soweit.

Er stand auf, zog den Überrock an, setzte die Pelzmütze auf und stampfte durch den Schnee zur Fabrik hinauf. Vor dem Wohnhaus blieb er eine Weile zögernd stehen. Es war vielleicht doch besser, er sprach zuerst mit Libussa. Er trat ins Haus und wurde von der alten Rosel mit Ausrufen des Erstaunens empfangen. An einem Wochentag! Das hatte gewiß etwas zu bedeuten!

Weißmann kam ins Vorzimmer hinaus, auch er überrascht und, wie es schien, in gespannter Erwartung, was der Peppi wollte. Der aber machte nur einige richtige Bemerkungen über die Kälte und über andere Eigentümlichkeiten des Winters und fragte dann ganz ruhig nach Libussa. Sie wäre oben auf ihrem Zimmer. Schön, er werde hinaufgehen. Er ließ Weißmann und die alte Rosel in ihrer Aufregung zurück und schritt ruhig die Holztreppe hinauf. Auf sein Klopfen antwortete eine leise Stimme »Herein«. Er trat ein und fand das Mädchen beim Schein einer Lampe am Schreibtisch. Sie las in einem kleinen Buch, das sie verwirrt schnell mit einem Löschblatt zudeckte.

»Grüß dich Gott, Peppi!«

»Grüß dich Gott, Libussa! Ich bin soeben mit meiner Arbeit fertig geworden.«

Sie errötete und stand unentschlossen auf.

»Da muß ich dir wohl gratulieren?«

»Das möcht' ich eben wissen, Busserl, und deshalb bin ich hergekommen. Ich muß endlich mit dir reden.«

Libussa hob beide Hände auf, als ob sie um Gnade flehen wollte. Der Peppi aber zog den zweiten Stuhl der kleinen Stube an den Schreibtisch heran, drückte sie artig auf ihren Platz zurück, setzte sich ihr gegenüber und begann ohne weiteres Zögern:

»Du weißt, liebes Busserl, daß wir beide miteinander verlobt worden sind, bevor wir etwas zu sagen hatten. Also eigentlich brauchte es nicht zu gelten. Zwingen lasse ich dich nicht und zwingen tue ich dich nicht. Weißt du noch, wie es gekommen ist? Ich bin nach Hause gekommen nach der Maturitätsprüfung und habe ein Zeugnis mit Auszeichnung mitgebracht. Oberntal hat Kopf gestanden. Achtzehn Jahre war ich erst alt, und dumm war ich und eingebildet habe ich mir was, und mein Vater und der deine haben das ihrige dazu getan. Bier und Wein und Schnaps haben sie mir beigebracht und das Zigarrenrauchen. Ich habe aber die ganze Woche immer gelauert und gelauert, ob du kommen wirst, wie du sonst in den Ferien jeden Sonntag gekommen bist, in meines Vaters Garten, etwas stehlen. Weißt du noch? Du bist gekommen. Noch nicht Dreizehn bist du alt gewesen, und ich habe mich geschämt, daß ich noch mit dir spiele, wo ich doch schon halb und halb Universitätsstudent war. Aber wie du gekommen bist, weißt du noch ... ich bin auf den alten Nußbaum heraufgeklettert, damit du mich nicht siehst. Du aber bist unter dem Baum gestanden und hast dreimal ganz leise gerufen: »Pepperl!« und dann hast du angefangen zu weinen. Da habe ich mich gemeldet, und da hast du zu lachen angefangen und hast zu mir hinauf wollen. Ich habe dir geholfen und so sind wir langsam immer höher geklettert, immer höher, bis zu der Stelle, wo zwei bequem nebeneinander sitzen können. Weißt du noch? Jetzt können's drei. Da hast du mich allerlei gefragt, und ich habe dir was vorschwadroniert. Die Nüsse waren noch unreif. Plötzlich ist dein Vater und der meine gekommen, und wie sie uns, zwei Stock hoch, oben gesehen haben, haben sie geschimpft, und dein Vater ist beinahe umgekommen vor Angst, bis du unten warst. Ich bin nachgesprungen, und der meinige hat mich ohrfeigen wollen. Ich bin davongelaufen, und am Abend hat mein Vater mir gesagt, daß es schon eine alte Abmachung war zwischen deinem seligen Mutterl und meinem, und daß der Weißmann nichts dagegen habe, und daß wir beide einmal Mann und Frau werden sollen.«

»Alles weiß ich noch,« sagte Libussa ängstlich, »und noch viel mehr als du. Alles. Aber du sagst ja selbst, es gilt nicht.«

»Es gilt auch nicht, wenn du nicht willst. Ich will dir nur etwas erzählen. Ich bin dann auf die Universität gekommen, zuerst in Prag und dann auf ein Jahr nach Leipzig. Da hat's mich auf einmal gepackt mit der Liederlichkeit. Weiß der Teufel, wie's gekommen ist. Ich hab' kein Buch mehr in die Hand genommen, die Kollegien hab' ich nicht besucht, in den Kneipen hab' ich Geld vertan. Gekleidet habe ich mich wie ein Geck, und Schulden hab' ich gemacht wie ein Lump. Ich war über Zwanzig, wie ich zu Weihnachten nach Haus gekommen bin, und du warst Fünfzehn. In Vaters Keller sind wir Äpfel stehlen gegangen. Da bist du mir um den Hals gefallen und hast mich geküßt und hast mir das Geheimnis anvertraut, du seist meine Braut. Du hast geglaubt, ich wüßt' es nicht. So gut hab' ich dir damals gefallen, wie ich ein Lump war ...«

»Liebster, bester Pepperl, du hast doch gesagt ...«

»Gewiß gilt's nicht, wenn du nicht mehr willst. Ja also ich bin wieder nach Leipzig zurück, und zum Frühjahr ist die Bombe geplatzt. Ich habe dem Vater schreiben müssen, ich hätte Schulden. Es war eine große Summe. Der Vater hat mir das Geld mit der nächsten Post eingeschickt und mir dazu einen Brief geschrieben ... Busserl, den Brief werd' ich unserm ältesten Buben ... das heißt, na ... also vorlesen, wenn's ihn einmal packt. Einmal packt's ja wohl jeden. Bei mir hat der Brief eingeschlagen. Der Vater, den ich für einen wohlhabenden Mann gehalten hatte, weil zu Hause immer alles Nötige dagewesen ist, der gute Vater hat mir eingestanden, daß er nichts habe. Daß er sich auf seine alten Tage immer noch um sein bissel Leben plagt. Und daß er das Geld von Weißmann ausgeborgt hätte. Der hätte es gern gegeben, und wenn ich erst sein Schwiegersohn wäre, dann könnte ich's mir wohl sein lassen, bis dahin aber sollte ich sparsam und fleißig sein. Viel mehr hat in dem Brief nicht gestanden, nur so ein Ton war drin, daß ich eine Stunde lang fest entschlossen war, mich zu erschießen. Dann habe ich mir gesagt, es wird meinem Alten lieber sein, wenn ich leben bleibe. Aber geschworen habe ich mir damals etwas. Und ich hab's gehalten bis heute. Frag' mal deinen Vater. Sie haben sich beide gewundert, daß ich nichts weiter von ihnen genommen habe, von ihnen beiden nicht. Student bin ich geblieben, aber was ich gebraucht habe, hab' ich mir zu gleicher Zeit verdient. Na ja, du mußt mich nicht so ansehen, es ist nichts Besonderes. Es tun's viele. Aber just Lebensfreuden hab' ich mir zu der Arbeit nicht verschaffen können. Ich habe aber gewußt, nur so hol' ich mir das Mädel vom Nußbaum. Ein Jahr hab' ich durch meine Dummheit verloren gehabt. Es tut mir nicht leid. Ich habe seitdem gelernt, mir und anderen Wort halten. Ich habe nicht gewollt, daß das Mädel vom Nußbaum zeitlebens sich absorgen soll mit einem verdrießlichen, gehetzten, armen Landarzt. Schüttelt mir das Mädel goldene Nüsse herunter, hab' ich mir gesagt, so muß ich wenigstens eine anständige Truhe dafür schaffen. Vor einem Jahr war es soweit, wie ich mir's vorgesetzt hatte. Da ist der Ehrgeiz gekommen für dich und mich, und ich habe erst eine ordentliche Arbeit machen wollen. Vor einer Stunde bin ich fertig geworden. Und jetzt Busserl, sag mir, ob du wieder meine Braut sein willst?«

Fast atemlos blickte Libussa zu Boden.

»Übereil dich nicht, Busserl, und noch eins.«

Er zog aus seiner Rocktasche ein kleines Paket.

»Hier, diese Briefe hat Laska nach seiner großen Blamage und krank und elend an dich geschrieben. Mein Alter hat's gut gemeint. Er hat sie unterschlagen wollen. Verzeih's ihm. Es steckt noch jemand dahinter, aber das geht dich nichts an. Ich weiß, daß du geglaubt hast, der Kerl wär' etwas. Ich sag' dir, Busserl, er ist ein Narr, ehrlich und brav nur in seiner Vaterlandsliebe. Und wenn du mir glaubst, so ist alles gut.«

Der Doktorpeppi legte das Paket, nachdem er es eine ganze Weile vor ihre Hände gehalten hatte, auf den Schreibtisch.

»Solltest du mit dem Kerl unerlaubte Heimlichkeiten gehabt haben, so wirst du es mir sagen. Ich glaub's nicht. Und jetzt, wenn du mich so ansiehst, glaub' ich's erst recht nicht. Davon also kein Wort mehr. Solltest du den Menschen aber so innig lieben oder zu lieben glauben, daß du darum meine Frau nicht werden kannst, dann sag' mir's. Sieh, Busserl, nimm mir's nicht übel, aber ich bin jetzt ein Mann. Und ich werde damit fertig werden. Ich werde am Leben bleiben und, was man so von außen sehen kann, keinen Schaden davon haben. Mitleid brauchst du nicht mit mir zu haben, aber schon gar nicht. Ich habe einen guten Magen. Und noch mehr, Busserl, meine Dankbarkeit gegen dich wird nicht kleiner werden. Ich bin kein großes Tier, aber das bissel, was ich geworden bin, so im Vergleich zu dem armen Dasein meines Vaters und im Vergleich mit dem, wovor man schon in Oberntal Respekt hat, das bissel, das verdank' ich dir, Busserl. Du bleibst mir das Mädel auf dem Nußbaum, und wenn du mir einen Korb gibst, na, dann werde ich ihn eben mit gemeinen Nüssen füllen und ihn aufrecht nach Hause tragen. Auf dem Kopf. Mein Kopf ist auch gesund. Und jetzt, wenn du magst, gib mir gleich Antwort.«

Libussa saß regungslos auf ihrem Stuhl und holte tief Atem, als sei sie aus dem Schlaf aufgewacht. Langsam streckte sie die Hand nach dem Briefpaket, und in dem Augenblick, als sie es berührte, brach sie in Tränen aus. Hastig zog sie die Briefe an ihren Mund und rief schluchzend:

»Ich darf nicht von ihm lassen, er ist ein so unglücklicher, ein so edler Mensch.«

»Das glaube ich nun wieder nicht,« sagte der Doktorpeppi, scheinbar ungerührt von ihrem Weinen. »Eigentlich ist es mir aber gleichgültig. Wissen möchte ich nur, ob er bloß unglücklich und edel ist oder ob du ihn ernsthaft lieb hast?«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht!« rief Libussa. »Hilf mir, Pepperl, du bist ja doch mein einziger Freund.«

»Wann und wo du willst, will ich dir helfen, Busserl. Nur in dieser Sache kann ich's nicht. Da mußt du dir schon allein helfen. Spiel dir nur keine Komödie vor. Wie dir ernsthaft ums Herz ist, so tu!«

»Ich darf nicht von ihm lassen!«

Der Peppi stand auf und legte ihr leise die Hand auf die Stirn. Sie hob den Kopf und küßte ihm die innere Hand. Er lächelte.

»Du bist ein Kind, Busserl, und ich glaube nicht, daß du ihn lieb hast. Du hättest das sonst nicht tun können. Ich glaub's wahrhaftig nicht. Denk' einmal darüber nach.«

Und ohne sich weiter umzublicken, verließ er das Zimmer und ging seinen ruhigen Schritt die Treppe hinunter. Da standen schon wieder Herr Weißmann und die alte Rosel.

»Es wird wohl diese Nacht wieder tüchtigen Frost geben,« sagte der Peppi, zog seinen Überrock an, setzte die Mütze auf und ging seiner Wege. Er machte aber doch einen recht weiten Umweg, und ihm wurde erst wohl, als er an einer verwehten Stelle schwer durch den knietiefen Schnee stampfen mußte.

Zu Hause empfing ihn der Vater brummig. Was das für neue Einrichtungen wären, zu spät zum Nachtmahl zu kommen.

Der Peppi setzte sich zum Alten an den Tisch, die Magd trug das einfache Mahl auf, Reste vom Mittagessen und eine Wurst. Das Tischgetränk war Wasser.

Nach zehn Minuten waren sie mit dem Essen fertig, und jetzt erst fragte der Vater, wo denn der dumme Bub gesteckt habe.

»Ich bin halt mit meiner Arbeit fertig geworden, Vatter, ich glaub', sie ist ganz gut geraten. Du weißt, einen Verleger hab' ich dafür, ein paar hundert Gulden wird's tragen und ... Vatter, ich weiß, du legst keinen Wert darauf, aber für die Arbeit könnten sie mich schon einmal irgendwo zum Professor machen.«

»Dummheiten,« sagte der Alte, »es freut mich aber, daß du fertig bist. Das heißt, ich leg' gar keinen Wert auf solche Schmierereien. Weißt du was, da hab' ich noch ein paar von den guten Zigarren des Schmelkes. Spaßeshalber wollen wir sie rauchen, ich auch. Und weißt du, bring mir das Zeug einmal herüber. Ich möcht' doch sehen, wieviel Papier und Tinte du verbraucht hast.«

Als der Peppi mit dem Manuskript, einem ordentlichen Stoß von etwa sechshundert großen, eng beschriebenen Blättern, hereinkam, stand der Alte am Fenster und trommelte wie sinnlos gegen die Scheiben. Er drehte sich scharf um, blickte aber in die Zimmerecke.

»So eine dumme Welt. Und wirklich, für diese Klecksereien, da könnten sie dir ...«

Der alte Doktor hatte sich an den Tisch gesetzt, schob die Teller beiseite und legte das Tablett der Wasserflasche, nachdem er es sorgfältig abgewischt hatte, unter das Manuskript. Dann las er laut und spöttisch das Titelblatt.

»Du, Peppi, wenn ich mir das hineinnehme und noch eine Stunde darin so herumblättere, dann wirst du dir doch nichts darauf einbilden.«

»Doch, Vatter. Und freuen werde ich mich wie ein Schießhund.«

»Du ... du Lümmel ..., du Lümmel ..., du Lausbub ...«

Lange konnte der Doktor kein anderes Wort hervorbringen.

Dann polterte er heraus:

»Ich will dir was sagen, Peppi, es soll irgendwo geschrieben stehen, daß die Kinder die Pflicht hätten, ihren Eltern Gutes zu tun. Du bist immer ein frecher Bengel gewesen, ein Bock und ein Lümmel. Solltest du aber jetzt Lust haben, mir den Hals abzuschneiden, und solltest du dafür angeklagt werden, hier oder drüben, so ruf' du mich. Dann will ich den Leuten sagen, und ebenso dem Herrgott, der Bub hat mir einmal am achtzehnten November etwas so Gutes erwiesen, hat mir altem Betrüger ein solches Glück bereitet, daß er danach das Recht hat, mir den Hals abzuschneiden, wann er will! Und er tut's nicht einmal! Was sitzt du da wie ein Stock? Wenn die Mutter noch lebte, der wärest du um den Hals gefallen.«

Der Alte erhob sich mit zusammengepreßten Zähnen. Peppi warf sich ihm an die Brust, und eine Weile hielten sich die beiden Männer umschlungen. Zum erstenmal, soweit sich der Doktorpeppi erinnern konnte, küßte ihn sein Vater, und jetzt sah und hörte er ihn schluchzen.

Dann schob ihn der Alte gewaltsam von sich.

»Ein Esel bist du doch und bleibst du. Das hast du von mir. So was Dummes! Aber geschmeckt hat's heut abend, was? So schmeckt's nicht immer. Ich glaub', du weißt noch, wie man einen Grog braut. Heute sollst du sehen, was dein alter Vatter vertragen kann. Wir wollen einen Grog brauen und nachher einen Salamander reiben. Du mußt's mich lehren. Du weißt ja, ich bin kaum auf einer Universität gewesen, niemals aktiv, niemals in so einer Verbindung. Ich bin ein alter Betrüger.«

»Vatter!«

»Halt's Maul, ich bin nicht der Schlimmste. Aber auf der Universität, da lernt man das Salamanderreiben. Sonst nichts. Das soll mein Lausbub mich heute lehren. Und wenn ich's gelernt hab', dann bin ich promoviert, und dann können alle Fakultäten der Welt mir ...«

Sie brauten den Grog und stießen an.

Schon nach dem zweiten Glas rief der alte Doktor: »So dumm! So dumm! Als ob es für einen ordentlichen Professor eine Ehre oder überhaupt etwas Besonderes wäre, die Tochter vom Fabrikanten Weißmann zu heiraten. Nicht einen Schritt machst du deshalb. Gekrochen soll er kommen! Nein, nein, das ist ja Unsinn! Aber nicht einen Schritt! Jetzt kann ich dir's sagen, jetzt bist du ja kein Kind mehr! Welche du willst, kannst du haben, in Prag oder in Wien.«

»Vatter, hör auf, ich hab' die Busserl lieb.«

Und der Peppi erzählte ausführlich, wie es ihm heute mit dem Mädel ergangen war. Der Alte konnte vor Ungeduld kaum zuhören.

»Die dumme Gans!« schrie er endlich. »Wenn du sie nicht lieb hättest, niemals würde ich meine Einwilligung geben. Aber so ... Ich will dir was sagen, ein braves Mädel ist sie, hat nur einen Sparren zu viel. Ich hab' oft mit dem Pfarrer darüber gesprochen. Der ist halt schwach, aber in der Beichte erfährt er wieder manches, was wir nicht wissen. Und ich will dir sagen, wie's steht. Da wächst so ein Mädel heran, ist reich und gesund und hat nichts zu tun, und möcht' halt was erleben. Sie wächst zu Haus heran und erlebt nichts, und wie sie groß ist, steht der Bräutigam schon auf dem Tisch wie das tägliche Brot. Und das ist ihr nicht romantisch genug. Das ist die ganze Geschichte. Erleben möcht' sie was.«

»Meinst du, Vatter?« sagte der Peppi und nahm einen mächtigen Schluck. »Ich glaube, du hast recht. Na wart, Busserl, jetzt sollst du was erleben.«

Elftes Kapitel

Der alte Doktor fürchtete, sein Bub hätte ein Duell mit Laska im Sinn oder so was Ähnliches. Er war darum froh, daß der arme Generalsekretär, kaum daß der Arzt ihm dazu die Erlaubnis gab, abreiste. Niemand wußte wohin. Auch die gute Wirtin von Kippsdorf nicht, die doch keine Eier im Stalle und keine Hühner im Hofe mehr hatte, und die drei ganze Tage sich die braunen runden Augen rotweinte um den lieben, bildhübschen Menschen.

Der Peppi fragte aber gar nicht nach Laska. Er schrieb am Tage nach der Vollendung seines Werkes nach Leipzig an zwei alte Korpsbrüder, die jetzt Universitätsdozenten waren, der eine sogar ein Professor, eine junge Berühmtheit. Beide Freunde, den Professor H ..., der sich auf chemische Analysen verstand wie kein zweiter, und den Privatdozenten für slawische Philologie, Doktor Vollenius, lud er nach Oberntal. Sie hätten wahrscheinlich nichts Besseres zu tun, und wenn doch, sie müßten kommen, um ihm und nebenbei auch der Wahrheit und der deutschen Sache einen wichtigen Dienst zu erweisen. Im übrigen wären die Bierverhältnisse im Lande Böhmen nirgends schlecht, und sein Alter wäre ein beachtenswertes altes Haus.

Wenige Tage später trafen die beiden Herren ein. Der Privatdozent Doktor Vollenius war ein lebhafter, etwas zu kurz geratener, schwarzbärtiger Mann, der in der ersten Stunde schon eine böhmische Müllerstochter mit Volksliedern und dazu ein Klavier suchte. Ein Klavier, das nicht zum Haarausraufen verstimmt gewesen wäre, fand er nur bei Weißmann, in Libussas Zimmer. Nach der böhmischen Müllerstochter zu forschen, wurde er während des achttägigen Aufenthalts nicht müde: er wandte die halben und wohl auch die ganzen Nächte daran, nahm ungern, aber geduldig mit Ersatz vorlieb und hatte bei seiner Abreise wirklich drei Photographien von müllerstochterähnlichen Geschöpfen und sieben tschechische Volkslieder gesammelt. Er war die ganze Zeit lustig und sah gar nicht aus wie ein fleißiger Arbeiter oder gar wie ein Verschwörer.

Der Professor, der durch die glückliche Entdeckung oder Erfindung eines neuen Arzneistoffes sich früh einen Namen gemacht hatte, nahm den Aufenthalt in Oberntal scheinbar nur als Luftkur. Auf allen Straßen sah man den hageren blondbärtigen Mann in seinem lose umgehängten Mantel durch den Schnee stapfen. Ganz Oberntal wunderte sich über die Freunde des Doktorpeppi. Solche Narren waren sie aber alle draußen im Reich, überstudiert.

Das überstudierte Kleeblatt kehrte sich nicht viel an das Gerede von Oberntal. Sie hatten sich beim »Lamm« ein Kneipstübchen einrichten lassen und saßen da allabendlich hinter verschlossenen Türen, was die Honoratioren des Orts nicht wenig übelnahmen. Ganz unerklärlich war es, wie der alte Doktor, sonst ein vernünftiger Mann, sich verleiten lassen konnte, an diesen Gelagen so häufig teilzunehmen. Freilich, man konnte sich mancherlei denken. Durch die Bäckersfrau war es herumgekommen. Ein großes Paket hatte der Doktorpeppi ins Ausland geschickt mit zwei Deklarationen, was Geschriebenes war darin, und viele hundert Gulden waren als Wert angegeben. Er mußte doch was sein, der Doktorpeppi. Denn wenige Tage später war ein Geldbrief an ihn gekommen, auch aus dem Ausland, über die Höhe der Summe stritt man in Oberntal. Jedenfalls ging's dem Doktor auf seine alten Tage gut, und der Doktorpeppi, den ja die Libussa Weißmann nicht will, wird gewiß ... von da ab sprachen gewöhnlich alle durcheinander.

Erst zwei Tage vor der Abreise der beiden Fremden leuchteten sie den Honoratioren von Oberntal ein. Ein Vetter der Stationsvorsteherin von Kippsdorf, er war Lehrer in Brüx, war auf Meyers Konversationslexikon abonniert, lieferungsweise. Wenn so eine neue Lieferung kam, blätterte er darin, um sich zu bilden. Den Namen des Professors, der zum Doktorpeppi auf Besuch gekommen war, wußte man natürlich auch in Brüx. Die Frau Stationsvorsteherin war eine gute Briefschreiberin. Na, und der Lehrer fand den Mann unter dem Buchstaben H. in der letzten Lieferung. Er war einsichtsvoll genug, die Lieferung sofort an seine Schwester zu schicken, und die kam damit nach Oberntal, trotzdem sie gerade Wäsche hatte.

War es die Möglichkeit! In dem Konversationslexikon, wovon Oberntal kein Exemplar besaß – der Pfarrer hatte keins, und Weißmann hatte keins –, in dem großen Buch, wo man in der Stadt so zum Beispiel Napoleon nachschlug, oder Krimkrieg oder Veloziped oder Sozialismus, da stand er richtig darin, der Freund des Pepperl, der im »Lamm« wohnte und im Hinterstübchen trank und mit dem Pepperl Lieder sang.

Weißmann bestellte ein fertiges Konversationslexikon, und der Lammwirt abonnierte auf die Lieferungen. Er hatte eigentlich nur den Band haben wollen, wo sein Gast drin stand; aber auf Zureden abonnierte er.

»Übermorgen steigt Bismarck bei mir ab,« pflegte er von der Zeit ab täglich zu sagen.

Das überstudierte Kleeblatt hatte nichts von dem Wachstum seines Ansehens erfahren. Denn der alte Doktor, mit dem allein die Leute sich aussprachen, hielt den Mund. Er redete mit seinem Sohn und dessen Freunden überhaupt nicht gern über solche Dummheiten, und dann ... Schweigen, abwarten und leben bleiben. Leben bleiben, bis sein Peppi da drin stand. Ob er dann mit dem betreffenden Bande dem Herrn Weißmann oder dem Gemeindevorsteher ein Loch in den Kopf schlug, das wußte der alte Doktor noch nicht. Aber so etwas mußte seine letzte Tat auf Erden sein. Die jungen Leute machten ihn ganz wirblig mit ihrem Trinken, ihrem Singen und ihrem Wissen. Der alte Doktor berauschte sich jetzt an dem Wissen dieser Fratzen. Als ob er wie ein Bauer durch ein Museum gegangen wäre.

Der letzte Abend, der mit einem wirklich solennen Gelage begangen werden sollte – das Kleeblatt war so vergnügt, als ob ihm was ganz Besonderes gelungen wäre, – wurde nur unwesentlich durch eine Ovation der Honoratioren gestört. Um halb acht Uhr abends – man wollte doch beizeiten wieder zu Hause sein – klopfte es an die Tür des Kneipzimmers, und zur nicht geringen Überraschung des Kleeblatts trat der Gemeindevorsteher mit zwei Beisitzern feierlich herein; in der offenen Tür drängte sich das Volk; der Gemeindevorsteher aber hielt eine Ansprache, in der er seine Freude darüber nicht unterdrückte, daß Oberntal einen so weltberühmten Mann in seinen Mauern beherberge.

»Hochgeehrter Herr Professor, glauben Sie nicht, daß wir keine Bücher lesen, wenn wir auch nicht gleich nachgeschlagen haben. Der Lammwirt hat abonniert. Meine Tochter hat viele Bücher. Hier der Bäcker hat vier Bände Gartenlaube, und unser Pfarrer hat eine große Bibliothek von ausländischen Berühmtheiten, griechischen und sogar lateinischen. Wir wollten nur so frei sein, Ihnen, hochgeehrter Herr Professor, das zu sagen, und Sie bitten, oft und oft zu uns zurückzukommen. Gelt, das Ländel ist schön? Wenn Sie auch nichts zu tun bekommen werden, weil wir doch mit dem alten Doktor ganz zufrieden sind, so verachten Sie uns darum nicht. Und wenn der neue Aussichtspunkt auf dem Schwarzenberg bis dahin fertig ist, so soll er nach Ihrem Tode zu Ehren den Namen ...«

Der Gemeindevorsteher konnte nicht weiter, er hatte den Namen des berühmten Fremden vergessen. Der Professor war linkisch aufgestanden. Eine solche Geschichte war so ziemlich das Schrecklichste, was ihm widerfahren konnte. Undeutlich fuhr es ihm durch den Kopf, diesen dicken Mann zu rempeln oder die Flucht zu ergreifen.

Der alte Doktor saß wie ein Großwürdenträger da, geschmeichelt, daß er zur kleinen Tafelrunde gehörte, und geärgert, daß ein anderer als sein Peppi so geehrt wurde. Der Doktorpeppi schämte sich ein wenig der dörflichen Beschränktheit, war aber dabei doch belustigt von der Verlegenheit seines Freundes. Ganz toll vor Lustigkeit jedoch war Doktor Vollenius. Er schlug vor Vergnügen mit seinen kurzen Beinen gegen die Stuhlbeine und mußte an sich halten, um nicht laut zu krähen, was bei ihm der Ausdruck höchster Zufriedenheit war. Endlich konnte er sich nicht länger halten, kletterte, ganz leise vor sich hin krähend, auf den Tisch und rief, indem er sein rechtes Ärmchen pathetisch emporhob und drohend, wie zu einer Ohrfeige ausholend, in die Luft hielt:

»Meine Herrschaften! Männer von Oberntal! Würdige Männer! Ehrenwerte Männer! Wundert euch nicht! Ich kann euch nicht alles sagen! Ihr würdet das Zeichen meiner unbändigen Freude mißverstehen. Ich unterdrücke es krampfhaft. Jawohl, wir stehen drin. Der Professor steht schon in dieser Auflage. In der nächsten Auflage kommen wir beide 'ran. Von mir nichts weiter, denn es interessiert euch nicht, Männer von Oberntal. Von eurem Freunde aber wird es heißen: Geboren am soundsovielten in Oberntal, daselbst genannt der Doktorpeppi. So wird durch uns auch Oberntal ins Konversationslexikon kommen. So sind die Schicksale der Menschen. Wir aber bilden eine gelehrte Gesellschaft mit strengen Satzungen. Leider muß ich es sagen, Männer von Oberntal, an unseren Sitzungen dürfen keine Nichtmitglieder teilnehmen, höchstens noch unsere Väter. Sind Väter von uns unter euch? Leider nein. Eine andere Bestimmung unserer Satzungen schreibt vor, daß, wer mal darin steht, nicht mehr antworten darf. Der Professor möchte für sein Leben gern antworten, aber er darf nicht. Er steht drin. Eines aber gestatten uns glücklicherweise unsere Satzungen, bevor ihr euch wieder entfernt, einen urkräftigen Salamander zu reiben auf den famosen Geburtsort unseres Doktorpeppi, auf den Wirkungskreis unseres herzlich lieben alten Herrn, seines Vaters, auf den Stammsitz des künftigen Aussichtspunktes, auf die Gegend, die nach allem duftet, nur nicht nach Petroleum, auf die Heimat der schönsten Mädchen, auf die Gemeinde des guten Pfarrers, auf den Ort eines solchen Gemeindevorstandes! Ad exercitium salamandri!«

Blitzschnell sprang der Redner vom Tisch herunter und glühend von Jugendübermut kommandierte er den Salamander. Stolz erhob sich auch der alte Doktor und trommelte mit und trank mit und schlug zuletzt mit seinem Deckelkrug auf den Tisch, ohne nachzuklappen.

»Ich kann's!« rief er dann mit feuchten Augen in das Stillschweigen hinein.

»Was sollen wir tun?« flüsterte ihm der Gemeindevorsteher zu.

»Abfahren!«

Der Gemeindevorsteher und die beiden Beisitzer machten eine tiefe Verbeugung. Das Kleeblatt verbeugte sich noch tiefer, dann drängte der Privatdozent die Besucher mit traurigem Anstand zur Tür hinaus, schloß hinter ihnen zu, und ohne Verabredung stimmten die drei mit jubilierenden Bierstimmen an: »O, alte Burschenherrlichkeit.«

So ereignisreich und doch wieder so harmlos verlief der Aufenthalt der beiden Freunde. Und als sie am nächsten Tage im Schlitten, vom Doktorpeppi noch bis auf den Kamm begleitet, übers Gebirge fuhren, glaubte niemand in Oberntal, daß die gelehrten jungen Herren irgend etwas Besonderes im Orte zu tun gehabt hätten. Ihre fast täglichen langen Besuche beim Pfarrer waren nicht aufgefallen. Der hatte eine Bibliothek und war ein studierter Mann, und da war es natürlich, daß so berühmte Leute mit ihm lateinisch oder griechisch sprachen und, was sonst die Gewohnheit solcher Menschen ist, trieben.

Selbst der Pfarrer war nicht ganz in die böse Absicht des Kleeblattes eingeweiht. Er hatte dem Doktorpeppi und seinen Freunden die altböhmische Handschrift ebenso vorgelegt wie den tschechischen Gelehrten, und wunderte sich nur darüber, daß Deutsche an dem Dinge so viel Anteil nahmen. Er erzählte, was die Herren aus Prag über die Handschrift geäußert hätten, und machte den Professor, den das offenbar freute, auf den unangenehmen Petroleumgeruch der Handschrift aufmerksam. Später ließ er die wackeren jungen Herren, die auch mit ihm ein Gläschen zu trinken nicht verschmähten, oft viele Stunden mit den Pergamentblättern allein; und da er ihrer Ehrlichkeit vollkommen vertraute, so ließ er sie das Ding sogar ins Wirtshaus mitnehmen. Sicher war, daß sie es nicht für so wertvoll hielten, wie Laska. Sie würden es ihm schon wieder zurückbringen. Sie brachten es auch zurück, und der Professor gestand, er habe vom ersten Blatt, das ohnehin verdorben war, ein erbsengroßes Stück herausgeschnitten und an einer Stelle des letzten Blattes die Tinte chemisch untersucht.

Das sei gescheit, meinte der Pfarrer. Man könne von den alten Handwerkern immer lernen. Einmal, des Sonntags, lud der Pfarrer das Kleeblatt zu Tisch, und bei der Zigarre wurde sogar wirklich ein bißchen lateinisch gesprochen. Es war nicht ganz klassisch, aber es machte dem alten Herrn rechte Freude. Man bemühte sich, den Satz: »Die Magd unseres guten Pfarrers kocht die Zwetschgenknödel besser als irgendeine in Böhmen« in vollendetem Latein wiederzugeben, und dem Pfarrer rannen vor Vergnügen nur so die Tränen über seine roten Wänglein. Noch lange nachher zitierte er die schönen Wendungen, wenn Barbara ihm was Gutes auf den Tisch gesetzt hatte.

So hatte Peppi Scheibler alles klug vorbereitet, um nach seinen Gedanken die Libussa etwas erleben zu lassen. Führte er mit Hilfe seiner Freunde den Beweis, daß die Oberntaler Handschrift eine grobe literarische Fälschung war, so konnte das gut bürgerliche Mädchen unmöglich länger bei seinem Glauben an Laska bleiben. Einen Verbrecher an der Wissenschaft kann man unmöglich lieben. Ja, der Doktorpeppi wunderte sich eigentlich schon darüber, daß die Libussa sich für jemand interessieren konnte, der nicht einmal Doktor war.

Es war gleich, nachdem seine Freunde angekommen waren, angenehm gewesen, daß der Privatdozent im Hause des Herrn Weißmann etwas fand, das ihn anzog. War es auch nur das Klavier, so durfte man doch bestimmt erwarten, daß das Mädchen im Verkehr mit einem deutschen Gelehrten den böhmischen Schwindler nach Gebühr würdigen lernte.

In dieser Berechnung täuschte sich der Doktorpeppi gründlich. Der philologische Privatdozent war ein so leidenschaftlicher Sammler von Volksliedern und vergaß bei solcher Tätigkeit so sehr alle anderen irdischen Dinge, daß er mit Libussa in ihrer Schwärmerei für den nationalböhmischen Gesang bald gemeinsame Sache machte. Jedesmal, wenn er auf seinen nächtlichen Entdeckungsfahrten mit Hilfe seiner legendären Müllerstochter ein neues Volkslied ausfindig gemacht hatte, trieb es ihn anderntags zu Libussa, um an ihrem Klavier die Noten für die Melodien zusammenzusuchen und sich dann das Ganze von ihrer hübschen Stimme vorsingen zu lassen. Die alten Lieder, die Libussa selbst von Jugend her singen konnte, waren zwar durchaus bekannte Stücke, längst gedruckt und in die Sammlung des Privatdozenten eingereiht. Und er beherrschte die tschechische Sprache philologisch so gründlich, daß er von Libussa nicht mehr viel lernen konnte. Dennoch waren ihr die Aussprache und die volkstümlichen Bedeutungen einzelner Worte geläufiger als ihm, und so wurde er nicht müde, sich allmählich alles von ihr mitteilen zu lassen, was sie wußte. Für ihn bestand der Erfolg in ein paar Dutzend wichtiger Notizen, Libussa aber entnahm aus diesem seltsamen Verkehr mit Freude, daß auch der deutsche Freund ihres Pepperl nicht umhin konnte, sich für die tschechische Bewegung zu erwärmen, und daß die deutsche Wissenschaft ganz und gar auf seiten des armen Laska stand.

Dessen Name wurde niemals genannt, und auch von der Oberntaler Handschrift war vor ihr nicht mehr die Rede. Daß sie das große Ereignis in Laskas Leben aber nicht vergaß, dafür hatten seit einiger Zeit regelmäßige Postsendungen gesorgt, die sie aus Prag bekam.

Die Handschrift von Oberntal wurde in einer Prachtausgabe herausgegeben, und sie, Libussa Weißmann, die Egeria des glücklichen Entdeckers, war eine der ersten, die sich mit dem Inhalt der unsterblichen Dichtung bekannt machen durfte.

Der unbekannte und doch so leicht zu erratende Absender konnte es nicht abwarten, ihr zu Weihnachten das fertige Buch zu senden. Jeder einzelne Bogen, sowie er die Buchdruckerpresse verließ, wanderte zu ihr nach Oberntal. Wie Laska sie früher zur Mitwisserin aller seiner kleinen Sorgen und großen Pläne gemacht hatte, so legte er ihr jetzt – sagte sie sich – die Blumen zu Füßen, die der Unglückliche in seiner Verbannung pflücken durfte. Jeder einzelne Bogen war ihr wie ein stolzer Gruß eines verkleideten Bettlers, der unvergängliche Ehren zu verschenken hatte. Und es waren einige Bogen, in denen die kleine Handschrift in Oberntal alle ihre Schönheit ausbreiten durfte.

Die Prachtausgabe war so eingerichtet, daß jedes der kleinen Gedichte sein besonderes reich illustriertes Titelblatt erhielt, und dann hinter dem alttschechischen Urtext Übersetzungen in sechs modernen Sprachen folgten. Alles in schöner Schrift und mit großer Papierverschwendung gedruckt, übersetzt waren die Verse ins Neuböhmische, ins Englische, ins Französische, ins Italienische, ins Russische und am Ende auch ins Deutsche. Die ganze gebildete Welt sollte zu gleicher Zeit in den Vollbesitz der poetischen Schätze dieser Handschrift gelangen können.

Die mittelalterlichen Originalgedichte trugen keine Überschrift. Schon die neuböhmische Nachdichtung jedoch zeigte moderne Titel, und diese waren dann in die anderen Sprachen übertragen.

Im dritten Bogen hatte Libussa nicht ohne Erregung ein Gedicht gefunden, welches im Deutschen überschrieben war: »Die Liebe und der blaue Schwan«. Sie las die Gedichte jedesmal in allen den Sprachen, die sie ein wenig verstand, und kam so auch dieses Mal von der zuletzt stehenden deutschen Übersetzung über: »L'amour et le cygne bleu« und so weiter zu der neuböhmischen Übersetzung: »Laska a modrá labut«.

Sie wußte, daß das tschechische Wort »laska« Liebe bedeutete, sie hatte eine dunkle Erinnerung, daß »blauer Schwan« vor Monaten über Laskas Lippen gekommen war, und daß der blaue Schwan etwas mit seinem Leben zu tun habe. Weiter dachte sie nicht und lernte nun mit um so tieferer Rührung die tschechischen Verse von der Liebe und dem blauen Schwan auswendig.

Kam ein blauer Schwan gezogen.
Blauer Schwan, du heil'ger Vogel,
Schenk mir eine weiße Feder!
Sprach der Schwan, der blaue Schwan:
Was nur willst du, armer Knabe,
Mit der blauen weißen Feder?
Küssen will ich die Geliebte,
Küssen will ich die Andulka
Mit der weißen Schwanenfeder.
Und der Knabe malte fleißig
Mit der Feder bunte Zeichen,
Zeichen, welche Küsse waren,
Denn die blaue weiße Feder
Hatte Liebe (Laska) nur geführt.

Anfang Dezember brachte ihr die Post anstatt des erwarteten vierten Bogens Titelblatt und Vorrede. »Opretaler Handschrift nach dem unschätzbaren Dokument, buchstabengetreu herausgegeben und mit einer polyglotten Übersetzung begleitet von einem Verein böhmischer Gelehrter.«

Nachdem Libussa mit Hilfe ihres Wörterbuches den langen Titel entziffert hatte, machte sie sich daran, ebenso die Vorrede verstehen zu lernen. Sie hatte ja niemand mehr, an den sie sich hätte wenden können. Ihre Mühe wurde reich belohnt, denn Laskas wurde mit großen Ehren gedacht.

Die Absicht des Gelehrtenvereins sei, gleichzeitig mit einer diplomatisch getreuen Ausgabe des Urtextes und mit einer wohlfeilen und volkstümlichen neuböhmischen Übersetzung auch die vielsprachige Prachtausgabe zum Weihnachtstage in die Welt zu senden. Denn das Fest heiße auf tschechisch mit Recht der freigebige Tag. Am Weihnachtstage dieses Jahres werde Böhmen freigebig sein gegen die Welt.

Es folgte in der Vorrede eine schwerfällige und, wie es Libussa schien, vollkommen überflüssige Beschreibung der Handschrift. Dann wurde die Geschichte der Auffindung so ausführlich erzählt, wie Libussa sich nur erinnerte, die Entstehung und die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges beschrieben gelesen zu haben. Sie freute sich aber, daß da in großen Buchstaben schwarz auf weiß von der Nepomukkapelle die Rede war, vom Paterbüschel, von Hrntschirsch, von Schmelkes, vom Herrn Pfarrer, kurz und gut von allem war da die Rede, was sie von Jugend auf umgab und was nun durch Laskas Tat unvergessen bleiben würde in der Geistesgeschichte eines interessanten und von der Vorsehung zu großen Dingen bestimmten Volkes. Und nun gar was über Laska selbst dastand, den armen Glücklichen, der in seinem eigenen Leben ein Opfer feindlicher Intrigen geworden sei, den man aus Opretal fortgejagt habe, wie den letzten aller Elenden, und der doch allein vermocht habe, den Namen Opretal (Oberntal) über Nacht berühmt zu machen, wie Ajaccio berühmt geworden sei durch Napoleon, wie Konstanz durch Hus, wie Friedrich der Große durch die Schlacht bei Kolin in Böhmen, wie Königinhof durch seine Handschrift. Der Name Laska werde nicht verschwinden, solange Europas Mädchen und Jünglinge ihre halbentnervten Gemüter reinbaden würden in der Poesie der Opretaler Handschrift; und da die Poesie der Opretaler Handschrift unvergänglich sei, so sei der Name Laska unvergänglich, und er werde (mit einem tschechischen Wortspiel) immer die Liebe und Freude des schönen Geschlechts sein.

In kurzen Zügen war das Leben des Handschriftenentdeckers erzählt. Von seiner bäuerlichen Abkunft war die Rede, von der Schwierigkeit, die Mittel zum Studieren aufzubringen, von seiner Not in den letzten Jahren, von dem ärmlichen Leben in Prag. Und da ... Libussa glaubte vor Scham und Glück vergehen zu müssen, und dabei war sie trostlos über die Langsamkeit, mit der das Wörterbuch ihr bei der Übersetzung half – da stand etwas, was sie selbst wie übergossen von dem goldenen Lichte der Unsterblichkeit hinstellte neben die Wohltäter des böhmischen Volkes, des Volkes, dem sie aus freier Wahl angehören wollte, um nachträglich zu verdienen, was sie da las:

»Das Walten der unsichtbaren Macht, die Böhmens Geschick behütet, führte den armen jungen Gelehrten nach Opretal. In unwürdiger Stellung, ein Knecht des Feindes, wie in Kriegsgefangenschaft, mußte er dort das Brot des Exils essen, aber licht und hehr scheint ihm dort eine Muse geleuchtet zu haben, eine jener Schicksalsfrauen, die bestimmt sind, wie unsere historische Fürstin Libussa, ihren Erkorenen Rätsel aufzugeben, aber sie auch zu lösen. In dem Schatten dieses Lichtes sollte Laska seine große Aufgabe vollbringen.«

Da stand es! Da stand es wirklich! Und wie fein ihr Name verschwiegen war und doch wieder genannt! Libussa blieb an diesem Tage wie vergeistigt. Wenn doch wenigstens Pepperl wieder gekommen wäre, der ja auch als Student gedarbt hatte und der auch im Begriff war, sich einen Namen zu machen – bescheidener natürlich –, wenn nur der Pepperl dagewesen wäre! Am nächsten Morgen vermißte sie ihren Pepperl nicht mehr. Die Post brachte den vierten Bogen und dazu endlich, endlich!... einen Brief von Laska.

Der Brief lautete:

»Hochwohlgeborenes, gnädiges Fräulein! Mit dankbaren und ergebenen Gefühlen denke ich immer an das Haus zurück, in welchem ich in schwerer Zeit einen Wirkungskreis und Obdach fand, und in welchem mir die Sonne der Gunst von einem Fräulein leuchtete, das hoffentlich nicht aufgehört hat, des armen Lehrers zu gedenken, der nur für ihren Bruder bestimmt war und der Sonne dennoch zu Füßen zu sitzen als Lehrer die außerordentliche Ehre hatte. Sie sehen, hochwohlgeborenes Fräulein, der Poet verleugnet sich auch in der ärgsten Not nicht. Wenn ich von Not spreche, so meine ich nur die materielle Seite des Daseins, denn was das Höhere betrifft, so bin ich im Begriff hervorzuragen unter meinem Volke, wie die Druckbogen Ihnen, mein gnädiges Fräulein, hoffentlich schon verraten haben. Doch ohne Umschweife. Wohl sorgt hier ein Engel für mich, aber ein Engel, der nicht Sie sind, nicht mein hochwohlgeborenes Fräulein.

Haben Sie Erbarmen mit mir! Kommen Sie in meine Arme. Ich habe nichts als einen Ruhm, aber den will ich mit Ihnen teilen. Kommen Sie, oder senden Sie mir wenigstens ein Zeichen Ihrer Huld zu meinem Namenstag, den ich sonst, trotz der Güte meines Prager Engels, nur traurig verbringen könnte.

Mit Grüßen an Ihren kleinen Bruder und mit einer ergebenen Empfehlung an Ihren hochzuverehrenden Herrn Vater in heißer Liebe Ihr

Mikulasch Laska.

Zu erfragen in Prag im Gast- und Einkehrhaus zum blauen Schwan am Porschitsch.«

Mit widerstreitenden Gefühlen las Libussa den merkwürdigen Liebesbrief. Der arme Laska! Er war so unsicher! Am liebsten hätte Libussa ihren Vater sofort gebeten, dem guten Menschen gleich eine größere Summe Geldes zu schicken. Aber da war ein Wort, das ihr immer wieder durch den Kopf ging. Sie hatte eine Nebenbuhlerin! Sein Prager Engel war ein Weib, gewiß eine große Künstlerin oder eine böhmische Gräfin. Ja, es mußte eine Gräfin sein, und der gute Laska mußte dem ungeliebten, ehrgeizigen Weibe verfallen, wenn Libussa nicht selbst erschien, um ihn und seinen Ruhm für sich zu bewahren.

Am sechsten Dezember war sein Namenstag, der Tag des heiligen Nikolaus, der Niklastag, an dem in Prag der Weihnachtsmarkt eröffnet wurde und an dem man alle artigen Kinder vorläufig beschenkte, um ihnen eine Vorfreude des Weihnachtsabends zu verschaffen. Sie mußte am Niklastag in Prag sein! Sie mußte ihren Vater nach Prag begleiten! Aber was dort? Wie stellte sie es an, in das Gast- und Einkehrhaus zum blauen Schwan zu kommen?

Die Worte »blauer Schwan« bedrückten sie. Es war ihr unangenehm, daß Laska gerade dort wohnte. Sie hatte das Gefühl, daß sie ihn dort nicht allein aufsuchen dürfe. Wenn doch der Pepperl mitgekommen wäre! – –

Inzwischen hatte der Doktorpeppi viele Briefe mit Leipzig gewechselt und mit Doktor Vollenius alles vorbereitet. Es war nur noch nötig, Herrn Weißmann dazu zu bringen, daß er in der ersten Dezemberwoche mit seiner Tochter nach Prag fuhr. Der Peppi zerbrach sich den Kopf, wie er das diplomatisch einrichten könnte. Dafür hatte er gesorgt, daß Libussa in Prag etwas erlebte.

Der Sonntag war der letzte Termin, sein Anliegen vorzubringen. Er spielte bei der Tarockpartie so schlecht, daß sein Vater wieder, ganz wie in früheren Zeiten, zu brummen und zu schelten begann. Der Peppi entschuldigte sich sehr artig, denn er wollte Herrn Weißmann günstig stimmen. Libussa saß heute neben ihrem Vater am Kartentisch. Von ihrer Krankheit war kaum eine Spur mehr vorhanden. Ihr Husten war eines Tages vergangen, von einer Reise nach dem Süden oder gar vom Tode war nicht mehr die Rede; nur noch hübscher war sie geworden, weil sie immer so verschämt aussah, recht wie ein Kind vor Weihnachten, das liebreiche Geheimnisse zu verbergen hat. Sie war heute gegen ihren Vater besonders zuvorkommend und weich, als ob sie einen Weihnachtswunsch auf dem Herzen hätte.

Plötzlich bemerkte das Herr Weißmann und sagte, gutmütig lachend:

»Willst du was von mir, Busserl? Übermorgen fahr' ich nach Prag, um die Einkäufe zu machen. Was soll ich dir mitbringen? Eine Petroleumlampe oder eine ganze Ausstattung?«

»Mitnehmen sollst du mich, Vatterl.«

»Aber gern, mein Kind, da mußt du nicht erst bitten. Du nimmst mir ja die halbe Arbeit ab.«

Der Doktorpeppi war von dem glücklichen Zufall so überrascht, daß er dem Gegner seinen Pagat zuwarf und sein Partner, der Pfarrer, einen halben Fluch freundlich vor sich hin sprach.

Der Peppi aber zeigte kein Zeichen von Reue und sagte nur:

»Ich habe auch in Prag zu tun. Wenn Sie erlauben, Herr Weißmann, so schließe ich mich Ihnen an. Und wenn Busserl nichts dagegen hat?«

»Das ist lieb von dir, Pepperl,« sagte Libussa errötend.

»Was hast du denn in Prag zu tun?« sagte Weißmann zum Doktorpeppi mit einem groben Versuch, schalkhaft zu lachen.

Auch der Pfarrer und der alte Doktor lachten. Alle freuten sich, daß der Peppi mit Libussa zusammen die Reise machen sollte.

»Ein paar Einkäufe. Und dann hält mein Freund Vollenius am fünften Dezember in Prag einen interessanten Vortrag. Den sollt ihr euch anhören.«

»Tun wir,« sagte Weißmann, »wenn im Theater nicht gerade was Hübsches gegeben wird.«

»Und du, Busserl?«

»Ich tu', was du willst, Pepperl. Fahr nur mit!«

Zwölftes Kapitel

Am dritten Dezember gegen Mittag trafen die Reisenden in Prag ein. Allen dreien war die Stadt wohlbekannt, sie hatten alle nicht nötig, sich um die Sehenswürdigkeiten zu kümmern, und hätten ihren fröhlichen Weihnachtsgeschäften nachgehen können. Aber nur Herr Weißmann machte sich sofort an diese Pflicht. Der Doktorpeppi und Libussa bummelten am ersten Tag müßig durch die Straßen.

Sie waren in einem der großen Gasthöfe, dem Pulverturm gegenüber, abgestiegen und konnten schon vom Fenster aus einige von den alten Baulichkeiten betrachten. Wie unter der gotischen Wölbung des Pulverturms das Leben aus der finstern Zeltnergasse herausflutete, wie links auf dem breiten Bürgersteig des Graben die vornehme Welt flanierte, wie dem Gasthof gegenüber, in der klaren Winterluft deutlich sichtbar, jenseits der Moldau die schneebedeckte Höhe des Belvedere herüberschimmerte, das war für das Fräulein aus Oberntal wie für den weitgereisten jungen Doktor ein sehenswertes Schauspiel. Dann aber, als sie zusammen den Gasthof verließen und Libussa nach langem Zieren Pepperls Arm nahm, da wurde ihr doppelt reisewohlig zumute. Und übermütig wurde sie, daß er einige Male staunend in ihre leuchtenden Augen sah. Sie wußte, warum sie so lachte. Die Leute auf dem Graben hielten sie und Pepperl gewiß für ein Brautpaar. Wie komisch!

Pepperl plauderte wunderhübsch. Ganz anders als in Oberntal. Eigentlich noch hübscher als – der, an den sie fürs erste nicht denken wollte. Und sie merkte gar nicht, wie heimtückisch Pepperl mit ihr verfuhr. Mitten im tschechischen Prag der Gegenwart zeigte er ihr ganz unbefangen das deutsche Prag der Vergangenheit. Auch auf das Deutsche Haus machte er sie aufmerksam, dann auf das Deutsche Landestheater; an der Universität, der ältesten deutschen Universität, führte er sie vorüber – oben zeigte er ihr das Kapellenfenster des Saales, in welchem er zum Doktor promoviert worden war. Dann führte er sie durch ein unendlich langes und finsteres Durchhaus und an den Palästen deutscher Adelsgeschlechter vorüber zu der alten deutschen Teynkirche, die zwischen dunkeln Häusermassen ihre alte Pracht verbarg und nur mit den Türmen frei hervorragte. Über den Altstädter Ring am Rathaus vorüber gingen sie weiter durch die Jesuitengasse bis zur steinernen Brücke. Hier blieben sie stehen, und Peppi hielt ihr einen gelehrten historischen Vortrag über die deutschen Kaiser, die da drüben gelebt und die alle Werke ringsumher geschaffen hatten.

»Nein, was du alles weißt, Pepperl!«

»Gelt, Busserl, du kennst dich gar nicht in mir aus. So bin ich immer auf der Reise. Und wenn du mit mir allein eine größere Reise machen willst, bis nach der Schweiz oder bis nach Italien, Busserl, kannst's mir glauben ... ich weiß noch mehr.«

»Geh! Komm weiter.«

»Was ist dir auf einmal, Busserl?«

»Wenn nur der Niklastag schon da wäre.«

Der Doktorpeppi wurde schweigsam. Kannte Libussa seinen Plan? Und wird der Vortrag des Vollenius genügen, um sie von den alten Erinnerungen zu befreien? Daran war kein Zweifel. Einem wissenschaftlichen Beweise konnte sich niemand verschließen.

Auch Libussa war schweigsam geworden. Die Sonne war untergegangen, und während sie die steinerne Brücke hinüber und wieder zurück schritten, tauchten die stolzen Gebäude des Hradschin, des Laurenziberges und des Franzenskais in ein undeutliches Grau, das ihre Linien verwischte, als ob sie zurückgesunken wären in die Schatten einer toten Vergangenheit. Unten aber rauschte lebendig der ewige Fluß, die heimatliche Moldau, und wollte dem Mädchen die Sagen aus Böhmens Vorzeit erzählen, und um sie her drängten sich die Menschen, und sie lauschte und vernahm kein deutsches Wort. Sie steckte fröstelnd die Hände tiefer in den Muff und hätte den Arm am liebsten aus dem des Freundes gezogen. Wie war ihr denn? Dem Mikulasch Laska zuliebe war sie nach Prag gekommen, und nun vergnügte sie sich am Arme des Menschen, der sie heiraten sollte. O je, was war das für eine Welt, und was ist ein Mädchenherz?

Langsam kehrten sie in den Gasthof zurück und betrachteten auf dem Wege noch dieses und jenes, aber die Brautpaarstimmung wollte nicht wiederkommen.

Im warmen Gasthofzimmer trafen sie den Vater, der einiges von seinen Einkäufen vorzeigte, anderes versteckte, und der am Abend mit ins Deutsche Theater ging.

Am nächsten Morgen traf Doktor Vollenius aus Leipzig ein. Der Doktorpeppi hatte ihn am Bahnhof abgeholt und in den Gasthof gebracht. Er mußte Zimmer an Zimmer mit ihnen wohnen.

Der brachte nun freilich ein ganz neues Leben in die kleine Gesellschaft.

Er hatte Prag vor Jahren auf einer Studienreise kennen gelernt und wollte jetzt die wenigen Tage benutzen, um Volkslieder und Volkssitten genauer zu beobachten und vor allem seine Sprachkenntnisse zu vermehren. Das kleine dicke Wörterbuch ließ er nicht aus der Hand. Er wollte in Prag nicht deutsch sprechen. Im Gasthof unterhielt er sich nur mit dem Hausknecht und auf der Straße sprach er alle paar Minuten Dienstmänner und Dienstmädchen, Briefträger und Stiefelputzer an. Er hatte so viel vom Prager Kuchelböhmisch gehört, von der abenteuerlichen Sprache der gemeinen Leute, die zur Hälfte aus deutschen Wörtern bestand, die aber durch slawische Endungen und Beugungen zu einem für ihn zunächst unverständlichen Mischmasch geworden war. Er schwelgte in philologischen Genüssen und kam nicht zur Ruhe. Wenn er sich zum zehntenmal auf der Straße die Stiefel wichsen ließ, um sich dabei einige Notizen einzutragen, so gebrauchte der Wichsier gewiß ein paar Worte, die ihm wieder zu denken gaben, und wenn er sich in irgendeinem volkstümlichen Bierhaus niederließ, abermals um sich Notizen zu machen, so wurde die Kellnerin regelmäßig wieder eine Quelle philologischer Erkenntnis. Er suchte zwar immer noch seine böhmische Müllerstochter, hatte aber von Oberntal her eine gewisse wissenschaftliche Vorliebe auch für böhmische Kellnerinnen angenommen. Die halbe Nacht zum Fünften verbrachte er allein in den verrufensten Kneipen am Moldauufer. Er sammelte eine Fülle ungeahnter und kräftiger Ausdrücke ein. Für Ohrfeige allein fünf Synonyma.

Ohne Gnade mußten bei Tage Libussa und der Doktorpeppi mit ihm umherstrolchen. Kleine Besorgungen, die Libussa nicht länger aufschieben wollte, mußte sie in Kaufläden machen, die sich durch eine einsprachige, tschechische Tafel für echt national erklärten. Und der kleine, schwarze Vollenius freute sich diebisch darüber, daß er, der Sachse, für die eingeborenen Böhmen den Dolmetsch machen mußte. Zwar verstanden die Verkäufer seine merkwürdige Sprache auch nicht, das konnte aber nur an seiner mangelhaften Übung liegen. Wissenschaftlich war er den Tschechen über. Wissenschaftlich hätte er den Leuten die Augen öffnen können über ihre Orthographie, ihre Entstehung der Eigennamen. Na, morgen abend wollte er ihnen ja ein kleines Licht aufstecken. Am Abend ging man dem tollen Vollenius zuliebe ins tschechische Theater. Eine Oper von Smetana wurde aufgeführt. Vollenius hatte sich das Textbuch gekauft und machte sich Notizen. Libussa wurde schwermütig. Der Komponist hatte die Lieblingsweise eines gewissen unglücklichen Mannes in die Ouvertüre eingeflochten.

Auch am zweiten Tage blieb Vollenius bei seiner Lebensart. Er müsse eilen, sagte er zu Libussa, denn morgen werde man ihn in Prag nicht mehr dulden. Sie achtete nicht weiter darauf und ließ sich von den beiden Doktoren bis zum Dunkelwerden umherschleppen. Heute hatte es Vollenius besonders auf die Bezeichnungen der Waren abgesehen, die von Hökerweibern feilgeboten oder von fliegenden Händlern ausgerufen wurden. Er machte wieder etymologische Entdeckungen und schien von seinem Aufenthalt aufs höchste befriedigt.

Um fünf Uhr erst zog er sich zur Vorbereitung auf sein Zimmer zurück. Libussa benutzte die Zeit, um ihrem Vater beim Aussuchen von Geschenken für den Bruder, für Franzel, zu helfen. Um halb sieben Uhr wollte man im Gasthof wieder zusammenkommen, um gemeinsam mit dem Vortragenden in die Vorlesung zu gehen. Da erst, als Vollenius seinen Reisepelz über den Frack warf, fragte Libussa, worüber er eigentlich sprechen werde.

»Über die Merkwürdigkeiten von Oberntal,« gab Vollenius lachend zur Antwort.

Pepperl aber reichte ihr triumphierend ein Zeitungsblatt und zeigte auf eine Stelle, wonach »Doktor Vollenius, der bekannte Leipziger Philologe für slawische Sprachen, über die sogenannte Oberntaler Handschrift und die Beweise ihrer Unechtheit einen Vortrag halten werde, der gewiß ...«, und so weiter.

Libussa wurde blaß vor Schrecken. Aber es kam ihr nicht einmal der Gedanke, sich zu widersetzen. Stumm ließ sie sich den neuen Abendmantel um die Schultern legen, und erst als Pepperl ihr dabei zuflüsterte: »Paß auf, Busserl, heute wirst du was erleben!« – erwiderte sie ängstlich: »Hast du mir das getan, Pepperl?«

»Jawohl, Busserl. Du weißt auch warum.«

Der Saal, der etwa fünfhundert Personen fassen mochte, war dicht gefüllt. Wie Vollenius seinen Freunden im Nebenraum, dem Künstlerzimmer, erklärte, war durchaus nur deutsches Publikum anwesend; einige Tschechen, die aus Neugierde, oder um zu demonstrieren, doch hereingekommen waren, sollten von einer Schar deutscher Studenten im Zaum gehalten werden.

Libussa blickte forschend durch den ganzen Saal. Laska mußte da sein, um zu antworten. Sie sah ihn nicht.

Fast bewußtlos nahm sie endlich zwischen ihrem Vater und Pepperl in der ersten Reihe Platz. Es war schrecklich, aber es war doch gut, daß Pepperl da war.

Eine Viertelstunde nach sieben Uhr betrat Doktor Vollenius den Saal. Gerade als er über eine Stufe stolperte, wurde er mit lebhaftem Beifall begrüßt. Lachend sprang er aufs Podium, verbeugte sich und begann seinen Vortrag.

Seine wissenschaftlichen Arbeiten hätten ihn schon vor langer Zeit in die alte, schöne Stadt Prag geführt und ein Zufall vor kurzem in die herrliche Gegend von Oberntal.

Lustig genug machte er seinen anwesenden Freunden aus Oberntal ein verstecktes Kompliment, und noch lustiger berichtete er den übrigen Zuhörern, er meine dasselbe Oberntal, wo man ein Faß für eine Quelle gehalten habe. Ein Faß Pilsener sei zwar auch für ihn wie für jeden guten Deutschen draußen im Reich eine achtungswerte Quelle, aber ein Faß Petroleum sei so wenig das genügende Fundament für eine nationalökonomische Großtat, wie die Schreibversuche eines dilettantischen Fälschers der Ausgangspunkt werden dürfen für eine Belästigung der gelehrten Welt. Er sei in die Lage gekommen, die sogenannte Handschrift von »Opretal« selbst zu prüfen, und wolle den Beweis liefern, daß eine entschiedene, daß sogar eine liederliche Fälschung vorliege.

Schon dieser Einleitung folgte lebhafter Beifall und die Heiterkeit steigerte sich, als Vollenius die Entdeckung der Handschrift und ihre äußere Erscheinung einer eingehenden Kritik unterzog.

Es sei vor allem ein historischer Irrtum der Fälscherbande, daß die Mauer, in der die Handschrift gefunden wurde, aus dem Mittelalter stamme. Nach den Kirchenbüchern sei die Statue des heiligen Nepomuk erst am Ende des siebzehnten Jahrhunderts errichtet worden. Die Kapelle um die Statue, zu der die fragliche Wand gehöre, sei aber gar erst vor fünfunddreißig Jahren neu aufgemauert worden. Ein heute noch lebender Maurermeister habe diese Arbeit ausgeführt und seine Aussagen habe Vollenius vor Zeugen protokolliert. Dieser Maurermeister könne beschwören, daß er damals gewöhnlichen Maurerkalk genommen habe. Zement habe man vor fünfunddreißig Jahren in jener Gegend gar nicht gekannt. Nun aber habe ein zuverlässiger Mann einen der ausgebrochenen Steine gerade von der Stelle, wo der Schatz gefunden wurde, unmittelbar nach der Entdeckung in Verwahrung genommen. Der Ziegel sei mit Zementmörtel, mit frischem Zementmörtel versehen gewesen. Wenn man nicht ein neues Wunder des heiligen Nepomuk annehmen wolle, so müsse man zugeben, daß die Handschrift aus dem Mittelalter in einer Mauer gefunden worden sei, die erst seit fünfunddreißig Jahren dastand und in einer Höhlung, die Spuren allerjüngster Tätigkeit trug.

Was die Blätter der Handschrift selbst betreffe, so habe vor allem eine photographische Untersuchung den merkwürdigen Zufall erwiesen, daß die Rückseite des letzten Blattes den Abdruck einer gefetteten Männerhand trage. Das Fett habe sich auch ohne chemische Untersuchung für feinere Nasen als Petroleum verraten. Und so würde eine gerichtliche Nachforschung wahrscheinlich ergeben, daß dieselbe dreiste Männerhand, die mit dem Petroleumfaß von Oberntal den Welthandel habe erschüttern wollen, auch bei der Fälschung der Handschrift im Spiel gewesen sei. Die Handschrift trage den Daumenstempel der »Böhmischen Sonne«.

Nach einer Pause, die durch stürmische Heiterkeit verursacht war, fuhr Vollenius fort. Fachmännische Kollegen von der Leipziger Universität hätten Proben des Pergaments und der benutzten schwarzen Farbe peinlich untersucht. Es sei keine Frage, daß durchaus modernes Material vorliege. Der Redner brachte eine Fülle technischer Kenntnisse bei, um wissenschaftlich festzustellen, daß das Pergament der Handschrift in einer modernen Fabrik hergestellt sein müsse, und daß die gebrauchte Tusche nach ihrer Zusammensetzung eine englische Tusche von bestimmter Art sei. Dann erst ging Vollenius zu seiner eigentlichen Aufgabe über, als Kenner der slawischen Philologie die Unechtheit der Handschrift aus ihrem Inhalte zu erweisen. Er erging sich ausführlich über die Schriftzeichen der Handschrift und über ihre Orthographie, noch ausführlicher über alttschechische Grammatik und alttschechische Sprache. Mit verblüffender Gelehrsamkeit, der die wenigsten Zuhörer zu folgen vermochten, suchte er darzulegen, daß gewisse Worte und Wortformen in der Zeit, aus welcher die Handschrift nach ihrem Äußern stammen mußte, gar nicht gebraucht werden konnten.

Der Vortrag hatte über eine Stunde gedauert und das Publikum war etwas ermüdet. Man hatte dem Redner seine ersten Behauptungen willig geglaubt und war ihm für die einleuchtenden Beweisgründe in den äußeren Tatsachen dankbar gewesen. Die eigentliche philologische Kritik hätte man ihm gern geschenkt.

Als er aber zum Schluß alles keck zusammenfaßte, als er an die Unechtheit der berühmten Königinhofer Handschrift erinnerte, und schließlich noch den Fälschern den Rat gab, sich bei einschlägigen Arbeiten künftig von gewissenhaften deutschen Gelehrten helfen zulassen – er stehe den Herren jederzeit mit seinen geringen Kenntnissen zu Diensten –, da war die gute Stimmung wiederhergestellt, und als Vollenius sich nach seinen letzten Worten verbeugte, gab es endloses Händeklatschen.

Der Doktorpeppi hatte Libussa von Zeit zu Zeit angesehen, ob sie auch was Rechtes erlebte. Sie aber verwandte kein Auge vom Sprecher und gab durch keine Miene zu erkennen, was in ihr vorging. Nach dem Vortrag stand sie mit dem übrigen Publikum auf und verlangte, sofort in den Gasthof zurückkehren zu dürfen. Doktor Vollenius war von einigen Herren umgeben, und so ließ man ihn zurück, als Libussa mit unterdrückter Heftigkeit wiederholte, sie müsse nach Hause. Auf dem Wege sprach Herr Weißmann allein. Der Vollenius sei doch ein verdammt tüchtiger Kerl. Er habe es den Tschechen gegeben. Das mit dem Petroleum hätte er freilich nicht erwähnen müssen. Aber wenn die Handschrift gefälscht sei, da solle doch ein Donnerwetter dreinschlagen. Und er drückte dem Doktorpeppi hinter Libussas Rücken vertraulich die Hand. Er sah ganz gut, daß die ganze Geschichte gegen den verfluchten Laska gerichtet war.

Im Gasthof wollte Libussa nicht erst ins Speisezimmer gehen. Schwer atmend bat sie, man möge sie allein lassen. Vor der Tür ihres Zimmers aber fiel sie dem Pepperl vor ihrem Vater und einem geschäftigen Zimmerkellner um den Hals und rief schluchzend:

»Das hättet ihr nicht tun sollen, Pepperl! Jetzt wird er gar zu unglücklich sein, und ich muß ihm helfen.«

Damit machte sie sich los, stürzte in ihr Zimmer und schloß hinter sich ab.

Sorgenvoll gingen die beiden Herren ins Speisezimmer zurück, um den Doktor Vollenius zu erwarten. Der Doktorpeppi gestand, daß er sich die Wirkung seines großen Planes anders vorgestellt hätte.

Dreizehntes Kapitel

Am nächsten Morgen, am Nikolaustage, saßen die beiden Doktoren um acht Uhr im Frühstückszimmer des Gasthofs, lobten den Kaffee und das Gebäck und sahen die Zeitungen durch. Der Doktorpeppi war beinahe eifriger, als Doktor Vollenius. Der sagte, er wüßte genau, daß er von den Deutschen mit Auszeichnung, von den Tschechen mit Wut behandelt werden würde. Ganz genau hatte er nicht das Richtige getroffen. Nur eines der deutschen Blätter unterschrieb die Anschauungen des deutschen Gelehrten. Die anderen hielten mit ihrem Endurteil vorsichtig zurück und wollten die Frage, ob die Oberntaler Handschrift eine Fälschung sei oder nicht, nicht mit Sicherheit beantworten. Fast ebenso stand es um die beiden tschechischen Blätter, die sie vorfanden. In dem einen wurde Doktor Vollenius ein Lügner genannt, ein hergelaufener Bettelpreuße, ein Lump, den man auf offener Straße durchprügeln sollte, ein Lohnschreiber, der gar nicht tschechisch verstehe und sich trotzdem ein Urteil über die Heiligtümer der Nation anmaße, ein Verbrecher, der vor den Staatsanwalt gehöre. In dem anderen Blatte wurden einige Verdienste des Doktor Vollenius, die er sich früher um die slawische Philologie erworben hätte, ganz freundlich anerkannt, dann freilich seine Gründe gegen die Echtheit der Oberntaler Handschrift nicht ohne weiteres zugegeben. Solange keine tschechische Akademie die Fälschung festgestellt habe, brauche man sich um das Besserwissen der Preußen nicht zu kümmern. Doktor Vollenius aß sein drittes Kipfel und freute sich, ja, er wußte selbst nicht worüber.

Um fünf Uhr nachmittags wollte er abreisen und bis dahin noch lernen, was binnen weniger Stunden noch irgend möglich war. Wenn der Doktorpeppi und das Fräulein Libussa nicht mittun wollten, so werde er sich allein in die Bewegung stürzen, und dann geradeswegs unter die Eishauer des Podskal. Deren Sprache sollte nach seinen Erkundigungen die gröbste sein.

Herr Weißmann kam herunter und meldete vergnügt, Libussa sei wieder kreuzfidel und lasse die Herren bitten, auf sie zu warten. Sie habe sich schon um sieben Uhr vom Stubenmädchen alle diese Zeitungen aufs Zimmer bringen lassen und sie durchgelesen. Er verstehe das nicht. Es sei genug, wenn man einen langen Vortrag anhöre. Auch noch etwas darüber lesen? Herr Doktor Vollenius möge es nicht übelnehmen, aber das sei doch vollkommen gleichgültig, ob ein Buch vor fünfhundert Jahren geschrieben sei oder heute; im Gegenteil, die heutigen seien ihm lieber. Ob der Kerl zum Beispiel, der mit den schönen Romanen »Kaiser Joseph und sein Hof« und so weiter, ob der ein Fälscher sei?

»Jawohl,« erwiderte Doktor Vollenius ernsthaft, beschwichtigte den guten Herrn Weißmann aber bald, indem er aufs neue den Kaffee lobte.

»Ich bin Sie nämlich aus Leipzig,« fügte er im Dialekt hinzu. Und Herr Weißmann wollte sich krank lachen und versicherte ein über das andere Mal, er hätte den Herrn Doktor nach seiner gestrigen Leistung gar nicht für so witzig gehalten.

Endlich erschien Libussa. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen und frischgewaschene Augen. Aber so bleich sah sie aus und so widerwillig trank sie eine halbe Tasse Kaffee, daß der Peppi wohl merkte, mit ihrer Kreuzfidelität sei es nicht weit her. Während Doktor Vollenius sofort auf Belehrung ausging und notierte: »Sahne heißt smetana, in Deutschböhmen Schmetten, ostpreußisch Schmand« – sann Pepperl darüber nach, worin er es eigentlich verfehlt habe. Mit Hilfe deutscher Gelehrter hatte er dem Mädchen doch die Unhaltbarkeit ihrer Anschauungen gründlich bewiesen. Was wollte sie noch mehr? Selbst wenn sein Vater recht hatte und das arme blasse Ding was erleben wollte, ja, was in aller Welt konnte man denn Größeres erleben als den streng wissenschaftlichen Nachweis einer Fälschung? Es wurde ihm trübselig zumute, und er bot dem Mädchen, um ihr doch seine Liebe zu zeigen, dreimal das Zuckerschälchen an.

Libussa war in einer schlaflosen Nacht zu einem Entschluß gekommen, in dem sie durch die Berichte der Morgenblätter nur bestärkt worden war. Seit drei Tagen war sie ziellos in Prag umhergegangen. Nur Laskas wegen war sie hergekommen und hatte doch nicht den Mut gefunden, ihn aufzusuchen. Zweimal schon hatte sie unter einem Vorwand allein den Gasthof verlassen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Das erstemal gleich hatte sie den Porschitsch gefunden; der lag ja so nahe, gleich gegenüber; vom Josephsplatz aus bog man in die breite, merkwürdige Straße ein. Aber sie hatte sich nicht weit vorgewagt, denn mit jedem Schritt schien ihr die Gegend unheimlicher. Gar so tschechisch hatte sie sich den Porschitsch nicht gedacht. Der lag nur fünf Minuten von der vornehmen Hauptstraße entfernt und sah doch so furchtbar anders aus, so ... so bäuerisch, so, wie ihr Laska nicht gefiel, so, wie sich Laska beim Essen benahm. Das nächstemal hatte sie richtig nicht weit vom Stadttor, am Ende des Porschitsch, den »Blauen Schwan« gefunden. Schon von weitem hatte sie das Wirtshausschild erblickt, einen ungeheuren blauen Schwan aus Blech, der weit in die Straße hinausragte. Aber dieses Haus konnte sie unmöglich betreten, nicht ohne Pepperl. Das war ja eine Fuhrmannskneipe. Sie war in ihren Gasthof zurückgeflüchtet.

Heute wußte sie, was sie zu tun hatte. In Begleitung der Herren wollte sie die Fuhrmannskneipe besuchen, den Laska wollte sie rufen lassen und ihn seinem Verleumder gegenüberstellen. Das war sie ihm und sich selber schuldig. Hätte man dem unglücklichen Tschechen eine große Summe Geld geschickt und ihr gesagt, daß er damit ganz seinen Idealen lebe, hätte man sie versichern können, daß er aus Schmerz über ihre Treulosigkeit zeitlebens unbeweibt bleiben würde, dann ... ja dann hätte sie vielleicht eingewilligt, bei einer Prager Schneiderin ein weißes Seidenkleid zu bestellen, und beim Goldarbeiter auf dem Graben die beiden Ringe. Denn reisen ließ sich am Ende ganz gut mit dem Pepperl. Doch jetzt ... Jetzt mußte der Laska seine Genugtuung haben.

Als Doktor Vollenius sich für ihre Teilnahme bedankte und fragte, was sie zu den Zeitungsberichten gesagt hätte, erwiderte sie sehr gewandt, seine Darlegung wäre sehr interessant gewesen, aber man müßte beide Parteien hören. Niemand dachte dabei was Arges.

Erst gegen zehn Uhr machte sich die Gesellschaft auf den Weg. Heute wollte Libussa die Führung übernehmen. Den Nikolausmarkt wollte man besuchen und dann schon um zwölf Uhr in einer recht tschechischen Kneipe zu Mittag essen, damit Herr Doktor Vollenius nachher in aller Ruhe einpacken und abreisen konnte.

Über Nacht war frischer Schnee gefallen, ein ruhiges Frostwetter machte das Gehen zum Vergnügen, und die Sonne schien kalt und hell über die weißen Dächer hinunter. Langsam und vom Doktor Vollenius wieder auf hundert Dinge aufmerksam gemacht, begaben sie sich nach dem Altstädter Ring, der heute der Jahrmarkt des heiligen Nikolaus war. Beim Pulverturm und dann beim Rathaus ließ sich Doktor Vollenius wieder die Stiefel wichsen, um in Ruhe seine Notizen machen zu können. Die Wichsiers kannten ihn schon und kamen ihm mit geschwungenen Bürsten entgegen. »Küß die Hand, gnädiger Herr!« Gnädiger Herr hieß jednostpan. Ein sehr merkwürdiges Wort.

Auf dem Nikolausmarkt vergaß selbst Libussa ihren Kummer. Wie armselig auch die ausgestellten Waren in den elenden Buden waren, man konnte nicht anders als sich kindlich freuen, wenn man die Kleinen sah, die, in wollene Tücher vermummt, allein oder in Begleitung ihrer Mütter hin und her gingen und die Herrlichkeiten mit glücklichen Augen betrachteten. Schon waren die bescheidenen Schätze des nahen Weihnachtsmarktes auch zur Stelle. Aber vor allem, was der Niklas bringen sollte, Apfel und Nüsse, natürliche, versilberte und vergoldete Früchte, goldene und silberne Schäfchen und Schweine, Krippen für den heiligen Weihnachtsabend, Krippen für wenige Kreuzer und dann auch Krippen, die einen Gulden kosteten, und wo die Öchslein und Eselein ganz natürlich aus Holz geschnitzt waren, wo die Jesuskindlein aus Wachs auf goldenem Stroh lagen, wo ein ganzes Dutzend Hirten auf silberschimmernden Felsen verteilt waren und ihre Herden weideten. Und der Niklas selbst, der heilige Mikulasch, und sein Gegner, der Teufel, der Krampus. Es gab heilige Mikulasche schon für einen Kreuzer. Aber die waren nicht schön. Die konnten die Kinder kaufen, aber die gefielen ihnen nicht. Da gab es aber heilige Mikulasche, die eine Elle lang waren, die fußhohe Bischofsmütze gar nicht mitgerechnet, mit vergoldeten Gewändern und mit langen weißen Bärten aus Watte. Da gab es in einer vornehmen Bude, dicht neben der alten Mariensäule, einen heiligen Mikulasch, der hielt einen goldenen Bischofsstab in der Hand und bewegte die Augen. Die Verkäufer ringsherum schimpften und schrien, denn der Weg war an dieser Stelle versperrt. Zwanzig Kinder und mehr standen da und rissen die Augen auf und wunderten sich, daß es so was auf der Welt gäbe.

Herr Weißmann kaufte für die Kinder seiner Fabrikarbeiter die größte Krippe, die aufzutreiben war; sie sollte in eine Kiste verpackt nach dem Gasthof geschickt werden. Doktor Vollenius erstand da und dort Kleinigkeiten, Ruten und Krampusse; es war ihm aber nicht um die Waren zu tun, sondern um ethnologische Studien. Er lachte unaufhörlich vor Vergnügen, denn die Verkäufer hatten, wenn er sie nur ein bißchen reizte, so grobe Worte, daß er sich gar nicht mehr nach den Eishauern vom Podstal sehnte. Wenn die Einkäufe auf seinem Arm ihn am Notizenmachen hinderten, verschenkte er sie an Bettelkinder, die umherstanden und bald ein kleines Gefolge hinter dem Manne herstellten, der so pudelnärrisches Kauderwelsch sprach.

Als die Knaben einmal um einen schwarzen Krampus mit roter Zunge zu raufen anfingen, sagte Libussa zu Pepperl:

»So ist's nicht recht. Ich möcht' auch was schenken.«

»Wir!« rief Pepperl. Und nun machten sich die beiden ein kleines Fest. Vier nette Mädchen suchte sich Libussa aus und fragte sie, ob sie was haben möchten. Die Augen der Kleinen hungerten nach Freude. Libussa suchte planmäßig aus. Keines der Mädel sollte auf das andere eifersüchtig werden. Eine hübsche Krippe bekam jede, Äpfel und Nüsse, warme Handschuhe und ein wollenes Tuch. Pepperl durfte bezahlen. Sie hatte ihm das erstemal zugenickt und ließ es dann immer lächelnd geschehen. Ihre Wangen hatten sich gerötet, und wenn ihre Augen wieder feucht geworden waren, so kam das wohl nur von dem Schnee, der weiß und blendend von dem gotischen Zierat des Rathausdaches herunterblitzte. Herr Weißmann ging schmunzelnd hinterher. Das weißseidene Kleid wurde wohl doch bestellt.

Plötzlich drängte sich ein lang aufgeschossener Bettelbub von etwa zehn Jahren an Libussa heran.

»Bitt i, Fraile, bitt i, bitt i, bitt i! Heiß ich Mikulasch! Is sich heute Namenstag meiniges, bitt i, schenkens klein wunziges Mikulascherl dem armen Mikulasch. Ganz klein wunziges! Hab ich noch nie Mikulasch gehabt. Immer nur Schläg.«

Dem Mädchen stürzten die Tränen aus den Augen.

»Pepperl,« sagte sie und schämte sich und mußte doch weiter sprechen. »Pepperl, ich verdien's nicht um dich. Aber jetzt, du mußt dem kleinen Buben drüben den großen Niklas kaufen, den mit den beweglichen Augen. Tu mir die Liebe. Es ist meine erste Bitte.«

»So viel Worte?«

Er nahm den kecken Buben bei der Hand und langsam drängte man sich bis an die Bude neben der Mariensäule. Immer frecher blickte der Bettelbub zu Libussa auf.

»Alle habens Masse kriegen. I nix.«

Über zehn Kinderköpfe hinweg fragte der Doktorpeppi nach dem Preis, und unter atemloser Stille der nächsten Umgebung reichte er die zwei Guldenzettel hinüber und bekam den großen Mikulasch. Ein Ah des Entzückens ging durch die Kinderschar, als beim Herüberreichen das goldpapierne Obergewand des Bischofs sich bewegte und in der Sonne hell aufglitzerte.

Der glückliche Herr! Das glückliche Fraile!

»Bitt i, Fraile, nur ein klein wunziges Mikulascherl!«

»Hier, du Bengel, den großen sollst du haben.«

Alle Frechheit verschwand aus dem Gesicht des Buben. Einen Augenblick verstand er nicht. Dann flog es wie ein Traum von Seligkeit und Stolz über seine Züge und er kreischte auf. Zitternd faßte er nach dem papiernen Heiligen mit der linken Hand, während er die rechte zum Boxen bereit ballte und sich mit dem Ellbogen Raum schaffte.

»Mikulasch!« schrie er gellend, daß es den Lärm des Marktes übertönte.

»Mikulasch!« höhnten hundert Kinder, doch sie machten ihm ehrfurchtsvoll Platz, als er ohne Dank und Gruß, aber schreiend wie ein Besessener forteilte, die kleine Bande hinter ihm drein. Ein böhmischer Gassenhauer füllte die Luft, lustig und sinnlos. Der Bube aber mit dem großen Mikulasch hatte jetzt die letzte Bude hinter sich und rannte in langen Sprüngen über den weiten Platz links herunter, wo die ärmsten und schmutzigsten Gassen mündeten.

»So ein Unsinn,« sagte Herr Weißmann.

»Mikulasch,« sagte Libussa leise vor sich hin. Dann faßte sie sich und sagte zu Pepperl:

»Ich danke dir, du bist ein guter Mensch. Du bist nicht wie dein Freund. Du mußt jetzt noch eins tun. Du mußt alles tun, was ich will. Ich habe eine große Dummheit vor. Wirst du sie mir verzeihen?«

»Ja, Busserl.«

»So will ich sie machen. Sie ist furchtbar groß. Komm, Pepperl, komm mit mir voraus und gib mir den Arm. Ach Gott, ach Gott, das wird eine schreckliche Geschichte werden! Aber ich muß ... Wir wollen zu Tisch gehen.«

»Wohin?« rief Herr Weißmann.

»Wohin ich euch führe,« sagte Libussa und schmiegte sich ängstlich an Pepperls Arm.

Wiewohl sie nur langsam vorwärts kamen, waren sie doch vor halb zwölf Uhr auf dem Porschitsch angelangt. Herr Weißmann wollte wissen, wo man speisen wollte. In einer Fuhrmannskneipe? Fiel ihm nicht ein. Das schickte sich gar nicht für den Fabrikanten Weißmann aus Oberntal. Libussa sollte solche Geschichten nicht mitmachen. Gut, gut! Wenn sie ihren Willen haben wollte, schön, er werde ordentlich im Gasthof speisen. Und er kehrte wirklich um und ließ die Tochter mit den beiden überstudierten Herren allein weitergehen.

Libussa war sehr kleinlaut geworden, vielleicht weil sie nicht mehr unter dem Schutze des Vaters stand.

Als sie von weitem auf das blaue Schild hinwies, fragte Pepperl, wer ihr denn dieses Gast- und Einkehrhaus empfohlen habe?

»Ich hab's!« rief Doktor Vollenius. »Es ist eine Ovation für Oberntal. Blauer Schwan, das kommt in der famosen Handschrift vor. Blauer Schwan, blauer Schwan! Ich hab's gestern nicht erwähnt, wie so vieles. Aber blauer Schwan ist gar nicht volkstümlich, das ist entweder verblaßte Romantik oder ein Wirtshausschild. Richtig, da steht er, der blaue Schwan. Modrá labut. Merkwürdiges Wort. Aber sehr romantisch sieht das Gasthaus nicht aus. Meine Hochachtung, Sie haben ganz meinen Geschmack getroffen.«

Durch eine breite Einfahrt, die auf einen schmutzigen und übelriechenden Hof mündete, mußte man eintreten. Rechts führte eine halbgeöffnete Tür nach der Wirtsstube. Es war ein dunkler, niedriger, weiter Raum, in dem an großen viereckigen Tischen über hundert Personen Platz gehabt hätten. Aber eigentlich voll war es nicht. Die Freunde entdeckten im Hintergrund noch einen freien Tisch und nahmen dort Platz. Libussa an der rechten Schmalseite, Doktor Vollenius zu ihrer Rechten, Pepperl zu ihrer Linken.

Das Geschirr, von dem die Gäste aßen, war schlechtes Steingut. Das Bier wurde in runden Krügen auf den Tisch gestellt, ganz kleine schlechte Gläschen daneben. Vier oder fünf Kellnerinnen hatten vollauf zu tun. Nicht weit von den Tischen hantierte ein starker Mann, dessen brauner Schnauzbart der Libussa bekannt vorkam, mit den leeren Krügen. Er spülte sie in Wasser ab und trank diejenigen vollends aus, in denen noch eine Neige enthalten war.

Eine der Kellnerinnen kam eilfertig heran. Was die Herrschaften wünschten. Doktor Vollenius übernahm, zappelnd vor Vergnügen, den Dienst eines Dolmetschers.

Eine Speisekarte war nicht da. Kälbernes, Schweinernes, Schinken und svickowa peceni.

Was das letzte bedeute? Libussa wußte es. Lungenbraten, Talgbraten, zu deutsch Filet. Doktor Vollenius schlug vor Freude auf den Tisch. Köstlich! Drei Portionen bestellte er und Knödel und Sauerkraut dazu und drei Krügel Bier.

Libussa wurde immer schweigsamer. Als das Essen bald darauf gebracht wurde und Libussa, so wohlschmeckend der Braten war, nicht einen Bissen hinunterbringen konnte, fragte Pepperl, was ihr sei. Doktor Vollenius hatte eben die Kellnerin bei der Schürze festgehalten und ließ sich von ihr unter schmeichelhaften Reden die Suppen aufzählen, die es in Böhmen gäbe. Sie solle sich um die übrigen Gäste im Augenblick nicht kümmern. Und er steckte ihr ein vorläufiges Trinkgeld zu.

Libussa beugte sich zum Pepperl hinüber und flüsterte:

»Es wird eine schreckliche Geschichte geben. Hier im Hause wohnt der Laska. Ich werde ihn rufen lassen und ihn deinem Freund gegenüberstellen. Das bin ich ihm schuldig. Ich muß!«

Der Doktorpeppi legte die Gabel hin und fragte:

»Hast du ihn gesprochen?«

»Nein, seit dem Wenzelstage habe ich ihn nicht wiedergesehen. Ich habe keine Heimlichkeiten. Aber er hat mir geschrieben. Nicht nur die Briefe, die du mir übergeben hast. Er hat mir vor kurzem geschrieben. Er ist sehr unglücklich und arm. Ich muß ihm helfen.«

»Es ist eine ernste Sache,« sagte der Peppi. »Busserl, nimm dich zusammen und antworte mir ernsthaft. Liebst du den Menschen?«

Libussa senkte ihren Kopf und eine Träne lief ihr die Wange hinunter. Dabei fühlte Pepperl, wie eine kalte weiche Hand unter dem Tischrand die seine faßte. Wie im Krampf faßte Libussa seine rechte Hand und hielt sie fest.

»So!« sagte da Pepperl und lachte, und da Libussa erschreckt ihre Hand wieder zurückzog, faßte er nach dem Messer und schnitt sich ein Stück Fleisch ab. »Das schmeckt ja ganz vorzüglich, Busserl! Aber, hör' mal, das geht nicht so, wie du dir das ausgedacht hast. Wir dürfen meinen Freund nicht der Gefahr aussetzen, hier halbtot geschlagen zu werden. Das laß ich unter keinen Umständen zu. Aber darauf kommt es dir doch auch nicht an. Laß mich nur machen.« Und laut sagte er zu Vollenius: »Du, ich höre eben, daß der Laska hier im Hause wohnt. Weißt du was, ich laß ihn herunterbitten. Deinen Namen braucht er nicht zu erfahren. Es wird dich interessieren zu hören, was er auf deinen Vortrag zu erwidern hat. Wenn er auch nicht da war, so wird er doch wohl die Berichte gelesen haben.«

Da Doktor Vollenius lebhaft zustimmte, fragte der Doktorpeppi die Kellnerin, ob sie einen gewissen Herrn Laska kenne, der hier im »Blauen Schwan« wohnen solle.

»Der Laska?« sagte das Mädchen verächtlich. »Mit so a Kerl gebb ich mich niemols nicht ab. Das ist ein Pepe. Wissen S', was in Wien ein Strietzi ist. Da müssen S' die Pepitschka fragen. Pepitschka!«

Und sie rief einer Kollegin ein paar tschechische Worte zu. Die, ein großes und mächtig starkes, vollbusiges Frauenzimmer mit einem gutmütigen, aufgedunsenen Vollmondgesicht, kam schweren Schrittes heran. Sie war den Freunden schon vorhin aufgefallen. Sie schien die oberste von den Kellnerinnen zu sein, beaufsichtigte die anderen und bediente nur, wenn diese keine Zeit hatten. Die erste wiederholte wieder einige tschechische Worte.

»Was wollt's ihr vom Laska?« fragte Pepitschka mit einer rauhen Bierstimme.

»Pepitschka heißen Sie?« rief Doktor Vollenius. »Köstlich! Kommt von Joseph her! Denk nur, Scheibler, ein hebräischer Name. Aus der Endung seph wird in Bayern Sefferl oder Sepp, in Italien Beppo. Aus dem Italienischen machen die Wiener Peppi, so wie du heißt. Nun wird wieder ein Frauenname mit slawischer Endung ...«

»Was wollt's ihr vom Laska?«

»Ach bitte, Fräulein,« sagte Libussa mit festem Entschluß. »Wir haben gehört, daß er hier im Hause wohnt, und möchten ihn einladen, mit uns zu speisen. Wenn Sie ihn benachrichtigen wollten. Sagen Sie nur, Freunde aus Oberntal.«

»So ...?« fragte Pepitschka. »Aus Oberntal sein S'? So – wo sie ihn krank gemacht haben.«

»Wir meinen's gut mit ihm. Ich bin eine Freundin.«

»Jesus, Maria und Joseph!« sagte Pepitschka mit möglichst leiser Stimme. »Do sein S' goar am End' die Frail'n, wo er hingeschrieben hat, wie er wieder krank worden is, und wo ich das Brieferl hob tragen müssen auf Post.«

Schwerfällig setzte sich Pepitschka an die Tischecke zu Libussa und dem Doktorpeppi.

»Sogen S', sind S' die Frail'n Libussa? Das ondere hob ich vergessen. Jesus, Maria und Joseph, sein S' also wirklich herkommen? Und hait is sein Namenstog. Hoben S' ihm was mitbracht? Mitgebringtes hot er gern.«

»Es soll ihm schlecht gehen, Fräulein Pepitschka?«

»Sagen Sie nur Pepitschka zu mir, ohne Fräulein. Und von Schlechtgehn ist gar kan Rede nicht. Gut geht's ihm.«

Pepitschka blickte feindlich auf die beiden Herren, dann rief sie eine vorübergehende Kollegin heran, nahm ihr zwei frischgefüllte Krügel ab und reichte sie den Herren.

»Erlauben S', daß ich was spendier. Aber ich bitt', setzen sich gefälligst an anderes End' von Tisch. Nur solang das Krügel reicht. Ich hob was mit der Frail'n zu reden, wo Mannsbilder nix zu hören brauchen.«

Auf einen Wink Libussas taten die Herren, wie ihnen geheißen war.

»Und jetzt sein wir unter uns, Frail'n. Bitt' ich, bin ich nicht unverschämt. Sein Sie sich eine feine Frail'n, und ich a Kellnerin. Weiß ich ganz gut. Aber Madeln san wir alle zwei und sauber sein wir auch alle zwei. Und jetzt, ich red' ich, wie mir der Schnabel gewachsen is. Sein S' herkommen, daß mir ihn wegnehmen? Hoben S' Techtelmechtel? Oder wollen S' gar heiraten?«

Pepitschka benahm sich bei diesen Worten sehr würdevoll. Sie ließ ihre rechte Hand mit der festgehakten Geldtasche spielen und blickte das Fräulein zierlich lächelnd an. Aber dabei klang ihre Stimme gedrückt, und es war, als ob sie wie ein geprügeltes Kind laut schreien wollte.

Libussa wagte kaum zu atmen. Ihrem Vater hätte sie eine trotzige Antwort gegeben, vielleicht auch dem Pepperl. Dieser Kellnerin gegenüber wurde sie weich. Sie reichte ihr die Hand und flüsterte:

»Also unter uns. Ich hab' geglaubt, ich hätte ihn lieb. Aber es ist nicht wahr. Den dort!«

»Den kleinen Schwarzen oder den Großen?«

»Den Großen.«

»Natürlich. Is er brav?«

»Er ist ein lieber Mensch. Aber der Laska, der tut mir nun so furchtbar leid. Helfen möchte ich ihm. Wie kann ich ihm helfen? Raten Sie mir!«

Der Mann am Spültisch war aus seinem Verschlag herausgetreten und hatte sich dem Tisch genähert.

»Hrntschirsch!« schrie ihn Pepitschka an. So ein Kerl! Was er hier zu lauschen habe, er solle sich zu seinen Krügeln scheren. Gleich werde er ein frisches Faß anstechen müssen.

Brummend entfernte sich Hrntschirsch.

Pepitschka aber rückte noch näher an Libussa heran und sagte:

»Jetzt, meine liebe gnädige Frail'n, jetzund hob ich Sie lieb, bitt' um Verzeihung. Jetzund will ich Ihnen sogen. Tun Sie nix für ihn. Auf Ehr' und Gewissen, die ganze Wahrheit sog ich. Der Mikulasch Laska is sich so furchtbar noblig. Weiß ich, viel zu noblig für mich, aber wer kann was gegen Lieb? Was, Frail'n? Viel zu noblig is er. Und wenn Sie ihm schicken Geld, no ich sog's raus, Dummheiten! Nachrechnen tut er, was er mir is schuldig, wo ich doch so froh bin. Nachrechnen tut er, und wenn Sie ihm schicken Geld, bezahlt er mich und geht. Oder er nimmt Geld Ihriges nit.«

Wie ein Kind verzog Pepitschka ihr rundes Gesicht zum Weinen, bezwang sich aber, lächelte in ihrer gezierten Weise, schneuzte sich in ein großes gesticktes Taschentuch und sagte:

»So is es. Wie er mich kann auszahlen, geht er furt. Und ich spring in Moldau. Ja, ja, Frail'n, von der Brücken, neben dem heiligen Nepomuk. Vor vier Jahren, wie er furtgangen is, hob ich mir das Plätzel schon aussucht. Tun Sie nix für ihn! Ich nehm's auf mich, es wird ihm gut gehn. Ich kann die Pacht hier kriegen. Der Herr, wissen S', Frail'n, dem das Ganze gehört, ist alt und krank und hot mich gern. Ich übernehm die Pacht und 's Geschäft tu ich verstehn. Tun Sie nix für ihn. Freilich zuerst könnten wir noch a paar hundert Gulden mehr brauchen, als ich hob erspart. Aber ihm geben S' nix.«

Libussa fühlte ein schweres Weh. Sie wußte nicht, was es war. Mitleid mit dem guten verliebten Geschöpf, aber noch größeres Mitleid mit ihm, dem Unglücklichen, der sein Leben einsetzte für die idealen Güter seiner Nation, und der so enden sollte. Da fuhr Pepitschka fort:

»Wissen S' Frail'n, er war nix für Sie. Is ja viel zu gut für mich. Hot viel zu viel Büldung. Ober ich kenn mich aus. Verliebt is er nur in so eine wie ich. Mit Sie und so Frail'n, alle Hochachtung, aber wenn Sie wüßten, wie lieb er kann sein. Wenn er sich so schmiert und mich streichelt, wissen S', und zärtelt und mir sogt: »Andulka!« Andulka tut er mich nennen.«

Libussa schloß die Augen. Aber auf einmal sah sie es so deutlich vor sich, daß sie hätte lachen mögen:

Küssen will ich die Andulka
Mit der blauen Schwanenfeder,
Und der Knabe malte fleißig
Mit der Feder bunte Zeichen,
Zeichen, welche Küsse waren,
Denn die blaue weiße Feder
Hatte Liebe ihm geführt.

Hatte Liebe ihm geführt. »Liebe« hieß auf tschechisch Laska. Laska hatte die Feder geführt, er selbst. Einen Witz mit der Kellnerin hatte er sich gemacht. Andulka war Pepitschka, und der romantische blaue Schwan war die dicke Pepitschka.

Die dummen Gelehrten! Was sie sich für Mühe gaben, die Unechtheit der Handschrift zu beweisen. Ein Mädchen war doch klüger. Vom ersten Augenblick an hatte sie die Fälschung durchschaut. Vom ersten Augenblick hatte sie daran gedacht, daß nicht sie die Muse des Dichters war, sondern eine Kellnerin. Und wie hätte sie überhaupt bei den Gedichten der Handschrift an sich denken können, wenn sie nicht von Anfang an gewußt hätte, daß Laska der Dichter war? Immer hatte sie ihn verachtet. Alle Leute hatte sie gefoppt, den Vater und den dummen Pepperl, den lieben guten Menschen. Lustig gefoppt hatte sie alle.

Aus beiden Augen traten ihr schwere Tränen und liefen ihr die Wangen herunter.

»Was hoben S', Frailn?«

»Nichts, Pepitschka. Ich weine bei jedem Anlaß. Das ist mir so angeboren. Aber ich wollte Sie was fragen. Hat der Laska Gedichte auf Sie gemacht? Ich meine damals, vor vier Jahren?«

Ein verklärendes Lächeln glitt über Pepitschkas Gesicht.

»Masse,« sagte sie und zeigte ihre weißen Zähne. »Er weiß nix davon, aber ich hob ich eins noch aufhoben im Schubkastel bei meinem Betbücherl.«

»Hören Sie, Pepitschka. Ich hab' eine große Bitte an Sie. Lassen Sie mich die Gedichte des Laska sehen. Jetzt gleich. Ich gehe dann für immer fort, und wenn Sie einmal eine Freundin brauchen, in jeder Not, Sie können auf mich rechnen.«

»Dummheiten,« sagte Pepitschka freundlich. »Sie brauchen nix zu versprechen. Das Gedichterl zeig ich holt gern. Viertel Stündel werd' ich Zeit haben. Wenn sich nicht genieren zu mir rauf zu kommen. Wissen S' was, die beiden Mannsbilder können S' mitnehmen. Das schickt sich besser. Wissen S' weil ich doch halt Kellnerin bin. Warten S' a bissel.«

Pepitschka erhob ihre massigen Glieder, gab ihren Kolleginnen und dem Mann an der Spülbank einige Befehle und sprang dann nach der Küche, wohl um sich abzumelden, oder für ein Weilchen Ersatz zu schaffen. Der Doktorpeppi und Doktor Vollenius kamen rasch und neugierig zu Libussa heran. Die würdigte Pepperl keines Blickes und sagte nur rasch zu Vollenius:

»Sie sollen mich hinaufbegleiten, in das Zimmer dieser Kellnerin. Wir werden die Gedichte des Laska zu sehen bekommen, die er ihr vor vier Jahren gegeben hat und die jetzt in der Mauer in Oberntal gefunden worden sind. So. Jetzt wissen Sie, ob ich was von der Sache verstehe oder nicht, Herr Doktor. Und eines von den Gedichten, das ist ein viel besserer Beweis, als alle Ihre Geschichten. Andulka heißt diese Person, und der blaue Schwan ist das Wirtshaus, und Laska hat die Feder geführt. Das steht alles drin und das haben Sie gar nicht bemerkt. Und du auch nicht ... Tschapperl.«

Bevor die Herren antworten konnten, näherte sich Pepitschka wieder dem Tisch.

»Wenn's is g'fällig.«

Einige der Gäste wandten sich verwundert um, als die Kellnerin mit den fremden Deutschen die Wirtsstube verließ. Hrntschirsch warf ihnen mißtrauische Blicke zu, aber er war gerade dabei, den Spund aus einem Faß herauszuschlagen.

Der Weg führte über den kalten schmutzigen Hof, an Stallungen vorüber, und dann auf einer abscheulich vernachlässigten Holztreppe im Hintergebäude hinauf. Im ersten Stock legte Pepitschka den Finger auf den Mund und sagte dann leise:

»Da wohnt er.«

Sie zeigte rasch nach einer schlechten Tür, Nummer sechs.

Im zweiten Stock war man schon dicht unter dem Dach. Auf den Stiegenflur gingen vier Türen. Pepitschka öffnete die erste und ließ ihre Gäste eintreten. Eine einfache Mansarde, die Wände nur mit Kalk bestrichen, der Fußboden von Feuchtigkeit arg mitgenommen. Das Bett war nicht geordnet. Rasch warf Pepitschka zwei weiße Unterröcke, die sie vom Nagel riß, über die geblümten Kissen. Außer dem Bett und einem Strohsessel enthielt die Stube nichts als eine Kommode und eine große gemalte Holzkiste. Über der Kommode an der Wand hing ein kleiner, halbblinder Goldrahmenspiegel. Darunter ein Heiligenbild.

»Frail'n wohnen gewiß sich besser. Wenn ich Pacht krieg, werden wir auch fein wohnen.«

Ohne Zögern zog Pepitschka die unterste Schublade der Kommode heraus und entnahm ihr eine alte, verschließbare Ledertasche. Vor den Augen der Gäste ließ sie die Bügel auseinanderklaffen und warf rasch ein halb Dutzend Bänder, Schleifen und dergleichen Erinnerungen heraus, dann ergriff sie ein Bündel loser Papiere und eine Photographie. Das alles reichte sie dem Fräulein und sagte herzlich:

»Schauen S' sich an. Aber dann gehn S' wirklich furt. Und hier, so hat er vor die vier Jahre ausg'sehen. Da war er noch a magerer Span.«

Libussa legte die Photographie beiseite, und ihre Hand zitterte wohl ein wenig. Dann setzte sie sich auf den einzigen Stuhl am schrägen Mansardenfenster, legte die vergilbten und an den Bruchstellen zerrissenen Blätter auf ihren Schoß. So schnell als möglich flog sie die Briefe und Gedichte durch.

Inzwischen hatte Doktor Vollenius mit Pepitschka eine Unterhaltung angefangen. Es fehlten ihm noch einige tschechische Bezeichnungen für Mehlspeisen. Die hätte er gern beisammen gehabt, bevor es hier zu einer Katastrophe kam.

Pepperl war an Libussa herangetreten, und sie sprach leise mit ihm. Sie hatte ein Gedicht aus der Oberntaler Handschrift gefunden, das Lied vom blauen Schwan, das von Andulka und von Laska so zierlich sang. Dann aber noch einige andere Blätter, die sie nicht zu Ende lesen mochte, weil sie entsetzlich grobe Zärtlichkeiten zu enthalten schienen. Sie teilte dem Pepperl das Ergebnis mit und gestand, daß sie das Gedicht vom blauen Schwan gern an sich bringen wollte.

Der Doktorpeppi fragte Pepitschka, ob sie ein oder das andere Gedicht hergeben wolle.

»Nicht für an Meierhof,« sagte Pepitschka.

»Hören Sie, Fräulein,« sagte Peppi zur Kellnerin. »Uns ist an diesen Blättern viel gelegen. Sie können einen hohen Preis fordern. Der Laska kann froh sein, für seine Verse ein paar hundert Gulden zu bekommen.«

Mit einem hastigen Griffe riß die Kellnerin ihm die Blätter aus der Hand und forderte dann die übrigen mit einer energischen Handbewegung von Libussa. Schweratmend warf sie wieder alles in die Ledertasche, schmiß sie in die Kommode, warf das Schubfach zu und lehnte sich dann hintenüber. Sie war rot geworden vor Zorn.

»Ihr sollt euch was schämen, und von Ihnen, Frail'n, hätte ich das nicht geglaubt. Ihr mant wohl, so ane arme Kellnerin, die an Trinkgeld nimmt von jeden hergelaufenen Gast, könntet ihr auch abkaufen, was ihr's Liebste is. Schamt's euch alle mit einand.«

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen und Laska trat in die Stube. Auf dem Flur wurde Hrntschirsch sichtbar, der sich demonstrativ die Ärmel hinaufkrempelte. Laska war stärker geworden und hatte einen Ausdruck, vor dem Libussa erschreckt die Augen schloß. Liederlich sah er aus. In der Hand hielt er noch eine brennende Virginia, hinter dem Ohr hatte er den Strohhalm aus der Zigarre stecken. Um den Kragen schlotterte ihm eine bunte Schleife. Die Füße steckten in hohen Stiefeln. Er war lebhaft eingetreten und stand jetzt, plötzlich verlegen geworden, zwischen Pepitschka und Libussa.

»Mein gnädiges Fräulein Weißmann ... ich bin außer mir ... Sie kommen in die Hütte der Armut ... ich weiß nicht ... ich weiß wirklich nicht ...«

Und er warf ängstliche Blicke bald auf die Herren, bald auf Pepitschka.

Libussa hatte sich dicht an ihren Pepperl herangedrängt.

»Ich weiß wirklich nicht,« wiederholte Laska. »Und wenn ich so kühn sein dürfte, zu hoffen ...«

»Wir sind nur gekommen,« sagte der Doktorpeppi, »um uns Ihnen, dem alten Hausfreunde, als ein glückliches Brautpaar vorzustellen.«

Libussa warf ihren Kopf schluchzend an Pepperls Brust.

»Ich gratuliere ergebenst ... wirklich so eine Ehre ... das gnädige Fräulein Weißmann nämlich ...«

Laska war blaß geworden.

»Und ich,« sagte Doktor Vollenius vortretend, »wollte mich Ihnen ebenfalls vorstellen. Ich heiße Vollenius, Doktor Vollenius. Ich habe mich, wie Sie vielleicht wissen, angelegentlich mit Ihren Dichtungen beschäftigt.«

»Hrntschirsch!« schrie Laska außer sich.

Gemächlich trat Hrntschirsch ein und schloß hinter sich zu. Er glättete seinen Lederschurz und zwinkerte mit den Augen.

»Was befehlen Sie, pane Vizepräsident?« sagte er freundlich auf tschechisch. Doktor Vollenius verstand jedes Wort. »Nicht wahr, den kleinen Schwarzen da belieben zu meinen? Was wünscht der Herr? Bloß ein Kopfstück, fein gemischt mit Watschen? Oder soll ich ihn umgestülpt und zugespitzt in den Fußboden hineinschlagen, daß er die Überreste nachher im Schnupftüchel nach Hause tragen kann?«

»Mikulasch!« schrie Pepitschka jetzt gleichfalls auf tschechisch. »Bring' uns nicht ins Unglück. Ich bin eine Kellnerin. Ich darf nichts mit der Polizei zu tun haben. Und mit der Pacht wäre es aus für immer. Erbarm dich!«

Der Doktorpeppi, der Laskas drohende Fäuste sah, wollte vortreten. Libussa hinderte ihn.

Doktor Vollenius hatte die kurze Rede des Hrntschirsch mit wachsendem Vergnügen angehört. »Mensch!« rief er in seinem besten Tschechisch und mit möglichst Prager Betonung. »Ihr seid ja ein Brunnen von Sprachweisheit. Hier, für das Kopfstück fein gemischt mit Watschen einen harten Silbergulden. Da, nur nicht genieren. Und jetzt bitte ich, wiederholen Sie Ihre liebenswürdige Ansprache. Nur nichts abschwächen. So saftig, wie sie war.«.

Und er zog den verblüfften Hrntschirsch am Ärmel zum Fenster, nahm sein Notizbuch aus der Tasche und wiederholte:

»Recht saftig! Vorwärts!«

»Gut!« sagte Hrntschirsch. »Wie Euer Gnaden befehlen. Aber nachher bläu ich Euer Gnaden durch, wenn pan Vizepräsident befiehlt.«

»Das wird sich finden,« sagte Vollenius eifrig. »Vorwärts! Vorwärts! Um fünf Uhr geht mein Zug.«

Er vergaß alles andere und fing an, Notizen zu machen. Inzwischen hatte Libussa ihren Pepperl losgelassen und war entschlossen vor Laska getreten.

»Sie sind ... ich muß Ihnen sagen ... ich bin gar nicht unglücklich gewesen. Ich habe Ihnen früher geglaubt, aber jetzt schon lange nicht. Und Herr Doktor Vollenius hat Ihnen gar nichts getan. Er hat nur herumstudiert an Ihren ... an Ihren Erdichtungen. Wenn Sie jemand umbringen lassen wollen, so lassen Sie mich umbringen. Herr Doktor Vollenius hat Ihnen gar nichts bewiesen. Aber ich, ich ganz allein, ich habe hier bei Ihrer Braut ...«

»Wer sagt Ihnen ...?«

»Mikulasch!«

»Sie hat mir ein Original gezeigt. Vor vier Jahren ... die Entdeckung hab' ich gemacht, ich ganz allein ... daß in der Handschrift aus dem Mittelalter das Wirtshaus zum blauen Schwan vorkommt, und der Laska, der die Feder geführt hat. Es ist zum Lachen, tausend Jahre später hat wieder ein Laska die Handschrift entdeckt.«

Laska wurde bleich bis auf die Lippen.

»Pepitschka, du weißt was? Du hast die Gedichte noch?«

»Was? Was is, Mikulaschko? Natürlich hab' ich Gedichterl aufhoben. Hab' ich nit sollen? Waas? Hast du Ärger? Nix hab' ich! Hören Sie, Frailn, nix hab' ich! Alles tu ich abschwören. Nix hab' ich. Nix haben S' g'sehn!«

Laska atmete schwer.

»So ist's recht, Andulko. Nicht wahr, du kannst es beschwören, die Gedichte hab' ich dir erst vor ein paar Wochen abgeschrieben, weil du mein Schatz bist. Ich will auch immer bei dir bleiben, Andulko.«

»Hrntschirsch,« klang es von unten herauf. »Jeden spric ale v cuku.« (Einen Gespritzten, aber gleich.)

»Marsch herunter, Hrntschirsch,« rief Pepitschka.

»Bitte, gleich,« sagte Hrntschirsch und wandte sich zum Gehen.

»Was war das?« schrie Doktor Vollenius. »Was hat man von unten gerufen? Das hab' ich nicht verstanden.«

Laska hatte sich gefaßt.

»Gehen Sie und tun Sie, was Sie wollen. Gar nichts können Sie beweisen! Nur elende deutsche Vermutungen haben Sie. Mit Vermutungen können Sie mir gar nichts tun.«

Pepitschka faßte Libussa ängstlich beim Arm.

»Bitte, Frail'n, gehen Sie furt! Schnell, bevor er wieder bös wird. Er schlagt sonst drein. Bitte! Und beiden Herren voraus! Furt, furt!«

Doktor Vollenius war schon an der Tür.

»Ich muß noch erfahren ...«

Da Libussa an Pepperls Arm die Stube verließ, sah sie noch, wie Laska in einer Pose von Stolz und Verachtung dastand, aber gleichzeitig flehend nach ihr blickte.

»Jawohl,« sagte sie leise. »Ich werde schweigen. Leben Sie wohl, Fräulein Pepitschka.«

Im Hausflur sahen sie sich ängstlich nach Doktor Vollenius um. Da kam er eben fröhlich aus der Wirtsstube heraus.

»Unsere Zeche habe ich doch bezahlen müssen. Kinder. Und ich weiß jetzt, was ein Spritz ist. Richtig wieder ein deutsches Wort. Ein gespritzter Pfiff, Wein mit Selterswasser. Ich muß bald wieder nach Prag kommen. Es ist zu hübsch hier.«

Sie traten auf die Straße hinaus, in ein dichtes Schneegestöber. Große Flocken fielen unablässig, wie mit lautloser Luftigkeit, ruhig nieder. Die Menschen eilten darum nicht schneller vorüber. Alle blickten froh und angeheimelt in das Weihnachtswetter hinein und hüllten sich nur dichter in ihre Tücher und Pelze und steckten den Kopf lachend zwischen die Schultern. Pepperl und Libussa schmiegten sich fester aneinander und senkten die Köpfe zusammen und sahen sich an und schwiegen.

Doktor Vollenius blieb von Zeit zu Zeit stehen, holte sein Notizbuch hervor, schrieb ein Wort hinein und schimpfte auf den Schnee, der ihm das Buch benetzte. Dann lief er wieder den Freunden nach und stampfte neben ihnen her. Plötzlich rief er:

»Richtig, Fräulein Weißmann! Wie war das mit dem Schwanengedicht? Sie haben es doch gesehen?«

Libussa drückte Pepperls Arm. Der sagte:

»Kurz und gut, liebster Vollenius, Libussa verweigert ihr Zeugnis. Und sie hat recht. Und der Kerl hat auch recht. Du mußt es bei bloßen Vermutungen bewenden lassen. Übrigens finde ich es zum mindesten bedauerlich, lieber Vollenius, daß du jetzt an deine Eitelkeiten denkst. Hast du denn nichts gehört? Libussa ist meine Braut. Du hast noch gar nicht gratuliert.«

»Ja, Kinder, ist das denn etwas Neues für euch? Das ist doch eine alte Geschichte.«

»Na ja,« sagte Libussa verlegen, »eigentlich weiß es aber Papa noch nicht.«

»Und mein Vatter auch noch nicht,« meinte Pepperl. »Komm Busserl.«

Sie gingen weiter durch das Schneegestöber, bis Doktor Vollenius plötzlich dem Pulverturm gegenüber stehen blieb und wie im Theater in die Hände klatschte. »Seht nur! Diese Weihnachtslandschaft! Diese Brautdekoration! Sogar der alte Turm zieht ein weißes Kleid an, um euch zu gratulieren. Seht nur! Wie eine richtige Kranzeljungfer sieht er aus. Und ich kann nichts tun als meinen gestrigen Vortrag drucken lassen und um eine neue gelehrte Kombination vermehren. Jawohl, Fräulein Weißmann, ich werde die neue Vermutung von dem blauen Schwan und dem Laska, die ich doch nur Ihnen verdanke, mit einflechten. Aber ich werde irgendwo die große Weisheit aussprechen, daß die Wahrheitsliebe allein nicht ausgereicht hat, meine Schrift zu verfassen, daß die Kritik nichts vermochte ohne die Eifersucht. Jawohl, Fräulein Weißmann. In der Dichtung wird die Feder von der Liebe geführt, in der Kritik oft von der Eifersucht. Merk' dir das, Doktorpeppi. Es kann dir helfen bescheidener zu werden, du potenzierter Glückspilz, du.«

»Du mußt wissen, Busserl, das war für den Vollenius schon äußerst sentimental und warm. Und sollte sein Glückwunsch sein.«

Sie gingen weiter. Unter dem gotischen Torbogen des Pulverturmes eilten die Menschen hinauf und hinab. Viele kamen vom Niklasmarkt und trugen einen Mikulasch oder einen Krampus oder Papiersäcke mit Nüssen, und alle, die so etwas heimzubringen hatten, lachten durch die Schneeflocken hindurch, die jetzt nicht mehr so dicht, aber immer größer niedersanken.

»Als ob sie uns alle gratulieren wollten,« flüsterte Libussa.

Sie traten in den Gasthof und eilten ins Speisezimmer, wo Herr Weißmann an einem Seitentisch allein noch bei einer Flasche saß. Libussa fiel ihm um den Hals, der Peppi sagte ein paar schickliche Worte, man küßte sich und trank Champagner.

Doktor Vollenius schmollierte mit Herrn Weißmann und mit Libussa und durfte die Braut des Freundes auf die rechte Wange küssen. Dann sprang Vollenius davon, um sich für die Abreise zurechtzumachen. Unter dem Vorwand, ihm beim Einpacken zu helfen, folgte ihm das Brautpaar. Herr Weißmann brummte. Sie aber stiegen langsam die Treppe hinauf und gingen auf Libussas Zimmer. Dort erst kam sie ordentlich zu sich.

»Wie sehen wir aus.«

Plötzlich faßte Libussa mit beiden Händen nach seinem Kopf und rief erregt:

»Ich bitte dich, Pepperl, glaub' mir und sprich nie wieder davon.«

»Ich will nie wieder davon sprechen, Busserl, und ich glaube dir, daß du ihn überhaupt gar nicht lieb gehabt hast. Und dann, Busserl – auch davon werde ich nicht oft reden, aber just heut möcht' ich dir's sagen – ich hab' dich eigentlich viel lieber, als du zu wissen brauchst. Ich hab' dich so – so nötig!«

Sie hielten sich lange umarmt, und Libussa fühlte zum erstenmal, was Küsse wohl bedeuten mögen. Sie schauerte zusammen und flüchtete zum Fenster. Bald stand Pepperl neben ihr. Draußen hatte das Schneegestöber fast ganz aufgehört; nur einzelne verirrte Flocken ließen sich langsam herabfallen. Aber so weit das Auge reichte, lag der unberührte Schnee auf den Dächern und Türmen, auf den Kirchen und den Bergen. Die sinkende Dezembersonne schimmerte rot durch weißen Dunst hervor, und auf den weiten Flächen und Hügeln und Spitzen von Schnee lag ein rosiger Hauch.

»Lach' mich nicht aus, Pepperl,« sagte Libussa bewegt. »Sieh, wie schön das ist. Und ich hab' dieses Land so lieb. Hab' Geduld mit mir. Es ist ja alles Unsinn, ich will ja, weiß Gott, nicht mehr all die Dummheiten mitmachen; ich versteh' ja nichts von eurem Eigensinn auf Nation und so. Weißt du, Pepperl, versteh' mich recht, du sollst all deinen Eigensinn behalten, auch den deutschen. Ich meine nur, was mich betrifft, mich sollst du darin so dumm lassen, wie ich bin. Ich habe dieses Land so lieb. Hier an dieser Stelle hast du auch – ich meine nicht nur die Sagen und Geschichten, nein, weißt du, das ganze Land. Sieh nur, wie ein rosiger Schimmer liegt es über all den dummen Kämpfen, schöner als ein Regenbogen. So friedlich. Und darunter die dummen, dummen Menschen.«

Pepperl hielt mit der Rechten Libussas Schulter umspannt und fuhr mit der Linken leise über ihr Haar.

»Geh, Busserl, ich versteh' dich schon. Es ist ja doch nur wegen deinem Mutterl, daß du gegen den Laska gerechter warst als wir. Freilich, auch er hat sein Land lieb. Er ist nur anders als du. Gott sei Dank.«

»Gelt, Pepperl? Ich versteh' dich auch, du kannst ein bißchen Achtung vor ihm haben, nicht wahr? Schau! Darin bin ich früher gescheit gewesen als du. Weißt du, du hast nur immer im Krankenzimmer zu tun. Schau, wie ein Schneehauch von Rosenblättern liegt es auf den Dächern der Häuser, ruhig und hell. Und unter den Häusern, unter dem Boden, nur ein paar Fuß tief, ist es wieder so still wie auf den Dächern, ruhig und ganz dunkel. Nur dazwischen, bei den Menschen in ihren Zimmern, ist so viel Schmerz und Kummer. Sind diese Menschen nicht dumm, wenn sie Schmerz und Kummer noch steigern durch Haß? Pepperl, du bist Arzt, du sollst nicht hassen.«

»Ich hab' dich doch lieb.«

»Kasper, zwischen uns ist das zu leicht und zu schön. Alle im ganzen Lande sollten einander liebhaben.«

»Das ist oft schwer, Frau Kasper. Aber wir wollen zu Haus bleiben und ein bissel ein Beispiel geben.«


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