Guy de Maupassant
Die kleine Roque
Guy de Maupassant

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die kleine Roque

Der Landbriefträger Médéric Rompel, den die Leute in der Gegend kurz ›Médéric‹ nannten, verließ zur gewöhnlichen Stunde das Postamt Rouy-le-Tors. Nachdem er das kleine Städtchen mit dem kräftigen Tritt des ehemaligen Soldaten durchschritten hatte, ging er quer über die Wiesen von Villaumes, um an die Brindille zu gelangen, deren Wasserlauf er bis zum Dorf Carvelin verfolgte, wo seine Tour begann. Er ging schnell hin an dem schmalen Bach, der schäumend, plätschernd, gurgelnd in Gras-eingefaßtem Bett unter hängenden Weiden hinschoß. Um die großen Steine, die den Bachlauf aufhielten, strudelte es und bildete etwas wie den Knoten eines Halstuches aus Schaum. Hier und da fiel das Wasser einen Fuß hoch herab, manchmal unsichtbar unter dem Grün, und verursachte dann unter dem grünen Dach von Blättern und Schlinggewächsen ein heftiges Getöse. Weiterhin wurden die Uferränder breiter, und man kam zu einem kleinen, stillen See, in dem zwischen all dem grünen Gewächs, das sich auf dem Boden ruhiger Gewässer hin und her wiegt, Forellen schwammen.

Médéric ging seines Weges, ohne irgend etwas zu sehen, und dachte nur immer: – Der erste Brief ist für Poivron, dann habe ich einen für Herrn Renardet, – ich muß also durch den Hochwald gehen.

Seine blaue Bluse, durch einen schwarzledernen Gürtel an der Taille zusammengehalten, huschte schnell und in gleichmäßigem Tempo über der grünen Hecke von Weiden hin, und sein Stock aus kräftigem Rohr machte an seiner Seite die Bewegung der Beine mit. Er überschritt also die Brindille auf einer Brücke, die durch einen einzigen Baumstamm gebildet war, den man von einem Ufer zum anderen geworfen hatte und dessen Geländer aus einem, durch zwei Pfähle an beiden Ufern gehaltenen Strick bestand.

Der Hochwald, Herrn Renardet, dem Bürgermeister von Carvelin, gehörig, dem größten Grundbesitzer in der Gegend, bestand aus gewaltigen, alten Bäumen, gerade wie Säulen, und erstreckte sich eine halbe Meile auf dem linken Ufer des Baches, der die eine Grenze des riesigen Blätterdaches bildete. Längs des Wassers wuchsen hohe Büsche in der Sonnenwärme, aber im Hochwald selbst gab es nur Moos, dickes, weiches, schwellendes Moos, das in der bewegungslosen Luft einen leichten Geruch von Moder und abgestorbenen Zweigen verbreitete.

Médéric verlangsamte seinen Schritt, nahm die schwarze, mit rotem Streifen geschmückte Mütze ab, wischte sich die Stirn, denn es war schon warm auf den Wiesen, obgleich es noch nicht acht Uhr morgens war.

Er hatte eben die Mütze wieder aufgesetzt und wollte seinen schnellen Schritt wieder aufnehmen, als er zu Füßen eines Baumes ein Messer sah, ein kleines Kindermesser. Als er es aufhob, fand er noch einen Fingerhut und zwei Schritte weiter eine Nadelbüchse.

Er nahm die Gegenstände an sich und dachte: »Ich werde sie dem Herrn Bürgermeister geben.« Dann setzte er seinen Weg fort. Aber jetzt war er aufmerksam geworden, und er hoffte noch mehr zu finden.

Plötzlich blieb er stehen, als wäre er an einen Holzzaun gestoßen, denn zehn Schritt vor ihm lag auf dem Rücken ein Kind, ganz nackt auf dem Moos. Es war ein kleines Mädchen, etwa zwölf Jahr, hatte die Arme ausgestreckt, die Beine auseinandergespreizt und ein Taschentuch auf dem Gesicht. Seine Schenkel waren ein wenig blutbefleckt.

Médéric näherte sich auf den Fußspitzen, als fürchte er, Lärm zu machen, als ahnte er irgend eine Gefahr, und riß die Augen auf.

Was war denn das? Sie schlief wahrscheinlich? Dann überlegte er sich, daß man um halb acht Uhr früh unter kühlen Bäumen nicht so unbekleidet schläft. Sie war also tot, und es handelte sich um ein Verbrechen. Bei diesem Gedanken lief es ihm kalt über den Rücken, obgleich er Soldat gewesen. Und dann war ein Mord in der Gegend etwas so Seltenes und noch dazu an einem Kinde, daß er seinen Augen nicht traute. Aber er sah keine Wunde, nur das geronnene Blut auf dem Bein. Wie hatte man sie denn getötet?

Er blieb dicht bei ihr stehen, blickte sie an, auf den Stock gestützt. Er kannte sie unbedingt, denn er kannte doch alle Leute in der Gegend. Aber da er ihr Gesicht nicht sehen konnte, erriet er ihren Namen nicht. Er beugte sich nieder, um das Taschentuch vom Gesicht fortzunehmen, hielt aber nach kurzer Überlegung die ausgestreckte Hand zurück.

Hatte er das Recht, irgend etwas am Zustand der Leiche zu ändern, ehe das Gericht dagewesen war? Ihm erschien das Gericht wie so eine Art General, dem nichts entgeht und für den ein verlorener Knopf ebenso wichtig ist, wie ein Messerstich in den Leib. Unter dem Taschentuch fand man vielleicht ein wichtiges Beweismittel, das möglicherweise seinen Wert verlieren konnte, wenn eine ungeschickte Hand daran rührte. Er erhob sich also, um zum Bürgermeister zu laufen. Aber ein anderer Gedanke hielt ihn wieder zurück: wenn das kleine Mädchen etwa noch lebte, so konnte er sie doch nicht so liegen lassen. Und ganz vorsichtig, ein Stück von ihr entfernt, kniete er nieder und streckte die Hand nach ihrem Fuß aus. Er war kalt, eisig, von jener fürchterlichen Kälte, die das tote Fleisch so schrecklich macht und keinen Zweifel mehr erlaubt. Bei dieser Berührung drehte sich dem Briefträger das Herz im Leibe um, wie er später sagte, und sein Gaumen wurde ganz trocken. Er stand schnell auf und rannte durch den Wald zum Haus des Herrn Renardet.

Den Stock unter dem Arm, die Fäuste geballt, den Kopf vorgestreckt, lief er im Laufschritt dahin, und in gleichmäßigem Tempo schlug die Ledertasche voll Briefe und Zeitungen ihm auf die Hüften.

Das Haus des Bürgermeisters lag am anderen Ende des Waldes, der ihm als Park diente, und spiegelte eine Seite seiner Mauern in einem kleinen Teich, den dort die Brindille bildete.

Es war ein viereckiges, sehr altes Haus aus grauem Stein, das früher Belagerungen ausgehalten hatte und auf dem sich, etwa zwanzig Meter hoch, ein riesiger Turm, der in's Wasser hineingebaut war, erhob.

Von der Spitze dieses Wachtturms aus hatte man über die Gegend Umschau gehalten. Er hieß der Fuchsturm, ohne daß man recht wußte warum, und daher war auch wahrscheinlich der Name Renardet (Fuchser) gekommen, den die Besitzer dieses Lehns trugen, das sich, wie man sagte, in derselben Familie seit über zweihundert Jahren befand. Denn die Renardet gehörten zu jenem beinahe feudalen Bürgertum, wie es in Frankreich vor der Revolution in der Provinz vielfach vorkam.

Der Briefträger rannte sofort in die Küche, in der die Dienerschaft frühstückte, und rief:

– Ist der Herr Bürgermeister auf? Ich muß ihn gleich sprechen.

Man kannte Médéric als gesetzten, gewichtigen Mann und begriff sofort, daß etwas Außerordentliches geschehen sein mußte.

Herr Renardet wurde benachrichtigt und befahl, den Briefträger vorzulassen. Der Briefträger trat bleich, außer Atem, die Mütze in der Hand, ein und fand den Bürgermeister vor einem langen Tisch, der mit zerstreuten Papieren bedeckt war.

Er war ein dicker, großer Mann, schwer, rot, stark wie ein Ochse und in der Gegend sehr beliebt, obgleich überaus heftig. Er war etwa vierzig Jahr alt und seit einem halben Jahr Witwer. Er lebte wie ein Landedelmann auf seinem Gut. Sein aufbrausendes Temperament hatte ihm oft Unannehmlichkeiten bereitet, aus denen die Magistratsbeamten von Rouy-le-Tors ihm als duldsame, diskrete Freunde herauszuhelfen pflegten. Hatte er nicht eines Tages den Postillon vom Bock heruntergeschmissen, weil er seinen Jagdhund Mic-Mac beinah totgefahren hätte! Hatte er nicht dem Jagdhüter, der ihn zur Rede stellte, weil er, das Gewehr unter dem Arm, über ein Stück Jagdgebiet des Nachbars ging, die Rippen eingeschlagen! Hatte er nicht sogar den Unterpräfekten, der sich im Ort auf einer Dienstreise aufgehalten hatte, die Herr Renardet aber für eine Wahlagitation ansah, beim Wickel genommen! Denn aus Familientradition machte er der Regierung Opposition.

Der Bürgermeister fragte:

– Was giebt's, Médéric?

– Ich habe ein kleines Mädchen tot in Ihrem Hochwald gefunden.

Renardet fuhr auf und wurde ziegelrot:

– Was sagen Sie? Ein kleines Mädchen?

– Ja, Herr Bürgermeister, ein kleines Mädchen, ganz nackig, auf dem Rücken, blutig, tot, – ganz tot.

Der Bürgermeister fluchte:

– Gott verdamm mich, ich will doch wetten, daß das die kleine Roque ist. Man hat mir nämlich eben gemeldet, daß sie gestern abend nicht zu ihrer Mutter nach Haus gekommen ist. Wo haben Sie sie denn gefunden?

Der Briefträger erklärte die Stelle, erzählte noch ein paar Einzelheiten und erbot sich, den Bürgermeister hinzubringen.

Aber Renardet wurde grob:

– Nein, ich brauche Sie nicht. Schicken Sie mir sofort den Jagdhüter, den Ratsschreiber und den Arzt. Und setzen Sie Ihren Dienstweg fort. Aber schnell, schnell! Und sagen Sie ihnen, wir wollen uns im Hochwald treffen.

Der Briefträger gehorchte, zog sich zurück, wütend und verzweifelt, der Untersuchung nicht beiwohnen zu können.

Der Bürgermeister nahm nun seinen Hut, einen großen, weichen, grauen Filzhut mit sehr breiten Rändern und blieb ein paar Augenblicke in der Hausthür stehen. Vor ihm dehnte sich der Rasen aus, auf dem drei große Flecken, rot, blau und weiß, drei ausgedehnte Blumenbeete mit voll erblühten Blumen standen, eins dem Haus gegenüber, eins links und eins rechts. Weiter draußen streckten die ersten Bäume des Hochwaldes ihre Kronen in den Himmel, während man links, über der zum Teich geweiteten Brindille, ausgedehnte Wiesen sah, ein ebenes, grünes Land, von Bewässerungsgräben durchzogen und von Weidenhecken durchschnitten, die großen Ungetümen, untersetzten Zwergen, ähnlich sahen: Stämme ohne Äste, die auf einem gewaltigen Stumpf einen kurzen, im Winde zitternden Wedel von dünnen Zweigen trugen.

Rechts hinter den Ställen, Remisen und den Wirtschaftsgebäuden begann das Dorf, ein reicher, von lauter Viehzüchtern bewohnter Ort.

Renardet ging langsam die Stufen hinab, wendete sich nach links zum Wasser, dem er mit langsamen Schritten, die Hände auf dem Rücken, folgte. Er senkte die Stirn, und von Zeit zu Zeit blickte er um sich, ob die Leute noch nicht kämen, nach denen er geschickt.

Als er unter das Laubdach kam, blieb er stehen, nahm den Hut ab und wischte sich, wie es Médéric gethan, die Stirn, denn die glühende Junisonne sendete einen Feuerregen zur Erde herab. Dann setzte sich der Bürgermeister wieder in Gang, blieb noch einmal stehen, kehrte zurück, beugte sich plötzlich nieder und tauchte sein Taschentuch in den Bach, der zu seinen Füßen murmelte. Dann legte er sich das Tuch unter dem Hut auf den Kopf. Wassertropfen rannen ihm die Schläfe herab auf seine violetten Ohren, auf seinen gewaltigen, roten Hals und flossen, einer nach dem anderen, unter den weißen Kragen seines Hemdes.

Da immer noch niemand erschien, stieß er mit dem Fuß auf und rief:

– Holla! holla! – Eine Stimme rechts antwortete: – Holla!

Und der Arzt tauchte unter den Bäumen auf. Es war ein kleiner, magerer Mann, ein ehemaliger Militärarzt, den man in der Gegend für sehr ausgezeichnet hielt. Er hinkte, da er im Dienst verwundet worden, und bediente sich eines Stockes zum Gehen. Dann gewahrte man den Jagdhüter und den Ratsschreiber, die, zu gleicher Zeit benachrichtigt, zu gleicher Zeit ankamen. Sie sahen ganz verstört aus, kamen keuchend gelaufen, gingen und trabten abwechselnd, um schneller hinzukommen, und warfen dabei so die Arme, als wären die nötiger zum Gehen als die Beine.

Renardet sagte zum Arzt: – Wissen Sie, um was es sich handelt?

– Ja. Médéric hat ein totes Kind im Walde gefunden.

– Gut, also los.

Und Seite an Seite gingen sie dahin, von den beiden Männern gefolgt. Ihre Schritte machten auf dem Moos nicht das geringste Geräusch, die Augen hatten sie suchend vor sich hingerichtet. Doktor Labarbe streckte plötzlich den Arm aus: – Da liegt sie.

Noch weit entfernt sah man unter den Bäumen etwas Helles. Wenn sie es nicht gewußt hätten, was es war, hätten sie es nicht erraten. Es leuchtete so weiß, daß man hätte glauben können, dort läge Wäsche, denn ein Sonnenstrahl fiel durch die Zweige und warf einen hellen Schein über den Leib. Als sie näher kamen, unterschieden, sie allmählich die Gestalt, den verhüllten Kopf, der zum Wasser gewendet war und die beiden Arme, rechts und links ausgestreckt, wie bei einer Gekreuzigten.

– Es ist verflucht heiß, – sagte der Bürgermeister.

Und indem er sich wieder zur Brindille bückte, tauchte er von neuem sein Taschentuch ein, das er wieder auf den Kopf legte.

Der Arzt schritt eiliger, die Entdeckung interessierte ihn. Sobald er neben dem Mädchen stand, beugte er sich nieder, ohne sie anzurühren. Er hatte seinen Kneifer aufgesetzt, wie man wohl einen besonderes merkwürdigen Gegenstand betrachtet, und ging langsam um die Leiche herum.

Ohne sich aufzurichten, sagte er:

– Notzucht und Mord. Wir werden das nachher feststellen. Das Mädchen ist übrigens schon fast erwachsen, sehen Sie die Brust. – Die beiden, schon ziemlich entwickelten Brüste waren etwas eingesunken, durch den eingetretenen Tod weich geworden.

Der Arzt lüftete leicht das Taschentuch, das das Gesicht bedeckte. Es war schwarz, fürchterlich, mit heraushängender Zunge und herausquellenden Augen. Er sagte:

– Mein Gott, man hat sie erwürgt nach der That.

Er faßte den Hals an:

– Mit den Händen erwürgt, ohne übrigens irgend ein besonderes Merkmal zu hinterlassen. Kein Nagelriß noch Fingereindruck. Ja ja, es ist die kleine Roque, allerdings.

Er legte vorsichtig das Taschentuch wieder darauf: – Ich kann nichts Weiter thun, sie ist mindestens schon zwölf Stunden tot. Das Gericht muß benachrichtigt werden.

Renardet stand, die Hände auf dem Rücken, da und betrachtete mit starren Augen den kleinen, auf dem Grase liegenden Körper. Er murmelte:

– So ein Schuft! Wir müßten mal die Kleider suchen.

Der Arzt betastete die Hände, die Arme, die Beine und sagte: – Sie muß gerade gebadet haben, sie werden wohl am Wasser liegen.

Der Bürgermeister befahl:

– Du, Principe, (das war der Ratsschreiber) suchst die Kleider am Bach. Du, Maxime, (das war der Jagdhüter) läufst nach Rouy-le-Tors und holst den Untersuchungsrichter und den Gendarm. Binnen einer Stunde müssen sie hier sein, hörst Du?

Die beiden Leute eilten schnell davon. Und Renardet sagte zum Arzt:

– Welcher Lump mag denn das nur hier in unserer Gegend gethan haben?

Der Arzt brummte:

– Wer weiß, dazu ist jeder fähig. Jeder im besonderen und niemand im allgemeinen. Na, jedenfalls wird es wohl irgend ein Landstreicher gewesen sein, ein Arbeitsloser! Seitdem wir die Republik haben, wimmeln alle Straßen davon.

Sie waren beide Bonapartisten.

Der Bürgermeister fuhr fort:

– Ja, es wird wohl irgend ein Fremder, ein Bummler, ein Landstreicher gewesen sein ohne Behausung und Unterkommen.

Der Arzt fügte mit halbem Lächeln hinzu:

– Und ohne Frau. Da er nichts zu essen und kein Bett hatte, hat er sich wenigstens das verschafft. Man glaubt garnicht, wie viel Menschen es auf der Erde giebt, die in einem gewissen Augenblick zum Verbrechen fähig sind. Wußten Sie denn, daß die Kleine verschwunden war?

Und mit der Spitze seines Stockes berührte er die starren Finger der Toten, einen nach dem anderen, und drückte darauf wie auf Tasten eines Klaviers.

– Ja. Die Mutter ist gestern abend um neun bei mir gewesen, weil das Kind um sieben zum Abendessen nicht nach Haus gekommen war. Bis Mitternacht haben wir es auf der Straße gesucht, aber an den Wald haben wir nicht gedacht. Übrigens mußte es ja erst Tag sein, daß die Nachforschungen einen Zweck hätten.

– Rauchen Sie eine Cigarre? – sagte der Arzt.

– Danke, ich habe keine Lust zu rauchen. Ich kann so was nicht sehen.

Sie blieben beide neben dem zarten, halbwüchsigen Körper stehen, der so bleich sich von dem dunklen Moos abhob. Eine große, blaue Fliege, die auf dem Schenkel hinlief, machte auf den Blutflecken Halt, lief wieder fort, kletterte wieder hinauf, lief über den ganzen Leib, schnell und gleichmäßig, erklomm die eine Brust, stieg wieder hinunter, um die andere in Augenschein zu nehmen und suchte etwas zu saugen an dieser Toten. Die beiden Männer blickten auf den hin- und herirrenden schwarzen Punkt.

Der Arzt sagte:

– Wie das hübsch ist, so eine Fliege auf der Haut. Die Damen im vorigen Jahrhundert wußten sehr wohl, warum sie sich das aufs Gesicht klebten. Warum man's nur nicht mehr macht, möchte ich wissen.

Der Bürgermeister war ganz in Gedanken versunken und schien nicht zu hören.

Aber plötzlich wendete er sich um, ein Geräusch hatte ihn überrascht. Eine Frau in Mütze, eine blaue Schürze umgebunden, stürzte unter den Bäumen herbei. Es war die Mutter, die alte Roque. Sobald Sie Renardet sah, begann sie zu heulen:

– Meine Kleene, meine Kleene, wo ist meine Kleene? – Sie war so verzweifelt, daß sie garnicht auf den Boden blickte. Mit einem Male entdeckte sie die Tote, blieb kurz stehen, schlug die Hände zusammen, hob beide Arme und stieß einen scharfen, herzzerreißenden Schrei aus, wie ein verwundetes Tier.

Dann sank sie über dem Körper in die Kniee und riß mit einem Ruck das Taschentuch vom Gesicht. Als sie dieses fürchterliche, schwarze verzerrte Antlitz sah, fuhr sie wieder auf, warf sich dann mit dem Gesicht zu Boden, indem sie unausgesetzt in das dichte Moos schrie.

Ihr großer, magerer Körper, an dem die Kleider hingen, zuckte in Krämpfen. Man sah ihre hageren Knöchel und ihre vertrockneten, in groben blauen Strümpfen steckenden Waden fürchterlich zucken. Mit den gebogenen Fingern riß sie den Boden auf, als wollte sie ein Loch machen, sich darin zu verstecken.

Der Arzt wurde weich und flüsterte:

– Arme Alte. – Renardet gab ein eigentümliches Geräusch von sich, er stieß es heraus wie ein Niesen, zugleich durch Nase und Mund, zog ein Taschentuch, hustete, schluchzte, heulte hinein und schnaubte sich mit großem Getöse. Er stammelte: – Gott! Gott! Gott verdamm mich, wer ist das Schwein. Ich möchte sehen, wie man ihm den Kopf abschneidet.

Aber Principe erschien wieder, verzweifelt, brachte nichts und rief:

– Ich finde nichts, Herr Bürgermeister, nichts. Nirgends.

Der andere antwortete mit trockener, erstickter Stimme, ganz verstört:

– Was findest Du nicht?

– Die Kleider von der Kleinen.

– Na, na, na, da such doch, such doch! Du mußt sie finden oder Du sollst's mit mir zu thun kriegen.

Der Mann, der wußte, daß man dem Bürgermeister nicht widersprechen durfte, lief wieder in Verzweiflung davon und warf noch auf den Leichnam einen kurzen, ängstlichen Blick.

Unter den Bäumen klangen in der Ferne Stimmen, das ungewisse Summen einer nahenden Menschenmenge, denn Médéric hatte beim Briefeaustragen die Nachricht von Thür zu Thür verbreitet. Die Leute waren zuerst entsetzt gewesen, hatten auf der Straße davon gesprochen, von einem Haus zum anderen sie verbreitend, und waren dann zusammengeströmt, hatten geschwatzt, diskutiert, ein paar Minuten das Ereignis besprochen, und nun kamen sie, um zu sehen.

Gruppenweis, etwas zögernd, unruhig durch die Furcht vor der ersten Aufregung, näherten sie sich. Als sie den Leichnam sahen, blieben sie stehen, wagten nicht, näher zu kommen, und sprachen leise.

Dann faßten sie Mut, traten ein paar Schritte heran und bildeten um die Tote, die Mutter, den Arzt und Renardet, erregt, lärmend, einen dichten Kreis, der immer enger wurde durch das Herandrängen der zuletzt Gekommenen. Bald standen sie dicht an der Leiche, ein paar bückten sich nieder, sie anzufassen. Der Arzt trieb sie aber davon.

Doch der Bürgermeister ward plötzlich wütend, nahm den Stock des Doktors Labarbe, warf sich auf die Leute und rief:

– Macht, daß ihr weiterkommt! Macht, daß ihr weiterkommt! Macht, daß ihr weiterkommt, ihr Lumpengesindel! – Und in ein paar Augenblicken hatte sich der Kreis der Neugierigen um zweihundert Meter erweitert.

Die alte Roque hatte sich aufgerichtet, herumgedreht, saß nun da und weinte, die Hände vor das Gesicht geschlagen.

In der Menschenmenge wurde der Fall besprochen, und gierige Knabenaugen betrachteten den entblößten Leib. Renardet bemerkte es, zog plötzlich seinen Leinenrock aus und warf ihn über das Mädchen, das unter dem großen Kleidungsstück ganz verschwand.

Langsam kamen die Neugierigen näher. Der Wald war voller Menschen, ein unausgesetztes Stimmengewirr stieg zu den Blätterkronen der Bäume empor.

Der Bürgermeister blieb in Hemdärmeln stehen, den Stock in der Hand, in Kämpferstellung. Er schien über die Neugierde der Bevölkerung verzweifelt zu sein und rief unausgesetzt:

– Wenn einer 'rankommt, schlage ich ihn nieder wie einen tollen Hund.

Die Bauern hatten große Angst vor ihm und hielten sich entfernt. Doktor Labarbe rauchte und setzte sich neben die alte Roque und sprach ihr zu, indem er ihre Gedanken abzulenken suchte.

Sofort nahm die alte Frau die Hände vom Gesicht und antwortete mit thränenseliger Redeflut, indem sie ihren Schmerz in unendlichem Wortschwall ausströmen ließ. Sie erzählte ihr ganzes Leben, ihre Hochzeit, den Tod ihres Mannes, der Ochsenhirt gewesen und durch einen Hörnerstoß getötet worden, die Kindheit ihres Mädchens, ihr kümmerliches Witwendasein, ohne Verdienst mit der Kleinen. Sie hatte nur die kleine Luise gehabt. Und man hatte sie getötet, hier in dem Wald getötet. Plötzlich wollte sie sie noch einmal sehen, schleifte sich auf den Knieen bis an den Leichnam, hob einen Zipfel des Gewandes, das sie bedeckte, auf, ließ es wieder fallen und begann von neuem zu heulen. Die Menge schwieg und betrachtete aufmerksam alle Bewegungen der Mutter.

Aber plötzlich kam eine große Aufregung unter die Leute, und man rief: »Die Gendarmen! Die Gendarmen!«

Zwei Landgendarmen erschienen von weitem, kamen im Trab gelaufen mit ihrem Gendarmerieoffizier und einem kleinen Herrn mit rotem Backenbart, der auf einer hohen Schimmelstute wie ein Affe herumtanzte.

Der Jagdhüter hatte Herrn Putoin, den Untersuchungsrichter, gerade getroffen in dem Augenblick, als er zu Pferde stieg, um seinen täglichen Spazierritt zu machen, denn er hielt sich zur großen Freude der Offiziere für einen gewaltigen Reitersmann. Er stieg mit dem Offizier zusammen ab, drückte dem Bürgermeister und dem Doktor die Hand und warf einen flüchtigen Blick auf den Leinenrock, den der darunterliegende Körper blähte.

Als er alles genau erfahren hatte, ließ er zuerst das Publikum zurücktreten; die Gendarmen jagten es aus dem Wald, aber die Leute erschienen bald wieder auf der Wiese und bildeten da eine dichte Mauer von erregten Köpfen, längs der Brindille, auf der anderen Seite des Baches.

Nun gab der Arzt seine Auseinandersetzung zu Protokoll, die Renardet in sein Taschenbuch mit Bleistift eintrug. Alles wurde einzeln festgestellt, aufgeschrieben und besprochen, ohne zu irgend einer Entdeckung zu führen. Auch Maxime war zurückgekehrt, ohne eine Spur von den Kleidern gefunden zu haben.

Das erstaunte alle, niemand konnte es anders erklären, als durch Diebstahl. Und da die Lumpen des Mädchens nicht zwanzig Sous wert waren, so konnte man einen Diebstahl kaum annehmen.

– Der Untersuchungsrichter, der Bürgermeister, der Gendarmerieoffizier und der Arzt hatten zu zwei und zwei sich daran gemacht zu suchen und hoben die kleinsten Zweige längs des Baches auf.

Renardet sagte zum Untersuchungsrichter:

– Wie kommt es, daß der Elende die Lumpen versteckt oder mitgenommen und den Körper so vor aller Augen öffentlich liegen gelassen hat?

Der andere antwortete listig und alles voraussehend:

– He, he, vielleicht nur eine List. Das Verbrechen ist durch einen Lumpen ausgeführt worden oder durch einen gerissenen Schuft. Wir werden ihn jedenfalls schon finden.

Von weitem klang das Rollen eines Wagens, und sie wendeten den Kopf.

Es war der Staatsanwaltssubstitut, der Gerichtsarzt und der Gerichtsschreiber, die nun ihrerseits ankamen. Man unterhielt sich über die Sache und begann von neuem nachzusuchen.

Renardet sagte plötzlich: – Meine Herren, darf ich Sie zum Frühstück bitten.

Lächelnd nahmen sie alle an, und der Untersuchungsrichter, der fand, daß sie sich für heute genug mit der kleinen Roque beschäftigt hätten, wendete sich zum Bürgermeister:

– Ich kann wohl den Leichnam zu Ihnen bringen lassen, nicht wahr? Sie haben vielleicht irgend einen Raum, um ihn bis heute abend zu behalten.

Der andere wurde verlegen und stammelte: – Jawohl . . . Nein, nein, – offen gestanden, wäre mir's lieber nicht, wegen, wegen meiner Dienstboten. Die reden schon von Gespenstern in meinem Turm, im Fuchsturm, wissen Sie, und dann behalte ich nicht einen einzigen mehr. Nein, lieber wäre mir's, sie käme nicht zu mir.

Der Beamte lächelte:

– Gut. Ich werde die Tote sofort nach Rouy zur gerichtsärztlichen Feststellung bringen lassen. – Er wendete sich zum Substituten und sagte:

– Kann ich Ihren Wagen dazu nehmen?

– Ja, selbstverständlich.

Sie kehrten alle zur Leiche zurück. Die alte Roque saß jetzt neben ihrer Tochter, hielt ihre Hände und starrte unbestimmt, wie geistesgestört, vor sich hin.

Die beiden Ärzte versuchten, sie fortzubringen, damit sie nicht sehen sollte, wie die Kleine fortgebracht wurde. Aber sie begriff sofort, was geschehen sollte, warf sich über den Leib, umarmte ihn, blieb darüber liegen und rief: – Sie sollen ihn nicht haben, er gehört mir, jetzt gehört er noch mir. Man hat sie mir totgeschlagen, ich will sie behalten, ich gebe sie nicht her.

Die Männer blieben unentschlossen, verwirrt, um sie herum stehen. Renardet kniete nieder, um mit ihr zu sprechen:

– Seien Sie doch vernünftig, Frau Roque. Es muß sein, um herauszukriegen, wer sie getötet hat. Sonst erfährt man es nicht. Man muß ihn doch suchen, um ihn zu bestrafen. Sie bekommen Ihre Tochter wieder, wenn man ihn gefunden hat, das verspreche ich Ihnen.

Dieser Grund machte die Frau unsicher, und aus ihrem verzweifelten Blick leuchtete etwas wie Haß.

– Man wird ihn also fassen?

– Ja, das verspreche ich Ihnen.

Sie erhob sich, entschlossen, die Leute thun zu lassen, was sie wollten. Aber als der Offizier sagte: »Es ist doch sonderbar, daß man ihre Kleider nicht gefunden hat,« – kam ihrem Bauernverstand plötzlich ein Gedanke, und sie fragte:

– Wo sind denn ihre Lumpen? Die gehören mir. Ich will sie haben. Wo hat man sie denn hingethan?

Man erklärte ihr, daß sie nicht gefunden seien. Da verlangte sie, sie zu haben, mit verzweifelter Beharrlichkeit, heulte und stöhnte:

– Mir gehören sie, ich will sie haben. Mein sind sie, ich will sie haben.

Je mehr man versuchte, sie zu beruhigen, desto mehr schluchzte sie und wehrte sich. Sie wollte nicht mehr den Körper behalten, sie wollte die Kleider haben, die Kleider ihrer Tochter, vielleicht ebensowohl aus Habgier eines armen Weibes, für das jedes winzige Stück ein Vermögen bedeutet, als aus mütterlicher Zärtlichkeit,

Und als der kleine Leib in Decken gewickelt, die man von Renardet geholt, im Wagen verschwunden war, rief die Alte, die unter den Bäumen stehen blieb und vom Bürgermeister und vom Offizier gehalten wurde:

– Ich habe nischt mehr, nischt mehr! Ich habe nischt mehr auf der Welt. Nischt mehr, nicht mal ihre kleene Mütze, ihre kleene Mütze. Ich habe nischt mehr, nicht mal ihre kleene Mütze!

Der Pfarrer war eben angekommen, ein junger, schon sehr wohlbeleibter Priester. Er übernahm es, die Roque fortzubringen, und sie gingen zusammen zum Dorf. Unter den süßen Worten des Geistlichen beruhigte sich der Schmerz der Mutter, denn er versprach ihr tausend andere Dinge. Aber sie sagte unausgesetzt: – Wenn ich nur ihre kleene Mütze hätte! – und blieb an dem Gedanken hängen, der alle anderen zurückgedrängt hatte.

Renardet rief von weitem: – Sie kommen doch zum Frühstück, Herr Pfarrer. In einer Stunde.

Der Priester wendete sich um und antwortete:

– Sehr gern, Herr Bürgermeister. Um zwölf bin ich bei Ihnen.

Und alles strömte zum Haus, dessen graue Wände und dessen gewaltigen, an der Brindille aufgeführten Turm man durch die Zweige sah.

Die Mahlzeit dauerte lange. Man sprach vom Verbrechen. Alle waren derselben Ansicht, es müßte durch irgend einen, zufällig in die Gegend gekommenen Landstreicher ausgeführt worden sein, während die Kleine gebadet hatte.

Dann kehrten die Herren nach Rouy zurück, nachdem sie angekündigt, daß sie am nächsten Tag frühzeitig wieder da sein würden. Der Arzt und der Pfarrer gingen nach Haus, während Renardet, nachdem er einen langen Spaziergang durch die Wiesen unternommen, wieder in den Hochwald ging, in dem er, bis es dunkel wurde, langsamen Schrittes, die Hände auf dem Rücken gefaltet, auf und ab lief.

Er ging zeitig zu Bett, und als der Untersuchungsrichter am anderen Morgen in sein Zimmer trat, schlief er noch. Der rieb sich die Hände, er schien zufrieden zu sein, und sagte:

– Ach, Sie schlafen noch. Nun, mein Lieber, wir haben etwas gefunden heute früh.

Der Bürgermeister setzte sich im Bett auf:

– Was denn?

– Nun, etwas sehr Sonderbares. Sie erinnern sich doch, wie die Mutter durchaus die Kleidungsstücke haben wollte, ein Andenken an ihre Tochter vor allen Dingen die kleine Mütze. Nun, als sie heute früh ihre Thür öffnete, hat sie auf der Schwelle die beiden kleinen Holzschuhe des Kindes gefunden. Das beweist, daß das Verbrechen von jemand aus der Gegend begangen worden ist, der Mitleid mit ihr gehabt hat. Und außerdem hat mir der Briefträger Médéric den Fingerhut, das Messer und die Nadelbüchse der Toten gebracht. Der Mörder hat also, wie er die Kleider mitnahm, um sie zu verstecken, die Gegenstände, die in der Tasche waren, herausfallen lassen. Mir erscheinen am wichtigsten die Holzschuhe, die bei dem Mörder ein gewisses moralisches Gefühl und eine Art Weichheit verraten lassen. Wenn es Ihnen also recht ist, wollen wir doch mal im großen Ganzen die Einwohner aus der Gegend durchsprechen.

Der Bürgermeister war aufgestanden, klingelte nach warmem Wasser zum Rasieren und sagte:

– Sehr gern, aber das wird sehr lange dauern. Wir können ja gleich anfangen.

Herr Putoin hatte sich rittlings auf einen Stuhl gesetzt, indem er seiner Reitpassion auch im Zimmer fröhnte.

Renardet seifte sich jetzt ein und blickte sich in den Spiegel. Dann zog er das Rasiermesser auf dem Leder ab und sagte: – Der wichtigste Einwohner von Carvelin heißt Josef Renardet, Bürgermeister, reicher Grundbesitzer, ein Mann, der Kutscher und Feldhüter prügelt.

Der Untersuchungsrichter begann zu lachen: – Genug! Der nächste.

– Der nächst-wichtigste ist Herr Belledent, Viehzüchter, gleichfalls reicher Grundbesitzer, großer Pfiffikus, sehr gerissen, in allen Geldangelegenheiten gewiegt, aber meiner Ansicht nach unfähig, ein solches Verbrechen zu begehen.

Herr Putoin sagte:

– Weiter.

Da setzte Renardet, während er sich rasierte und wusch, die Durchmusterung sämtlicher Einwohner von Carvelin fort, und nachdem sie zwei Stunden geredet, hatten sie drei Menschen als ziemlich verdächtig ausgelesen: einen Wilddieb, Cavalle genannt, einen Forellen- und Lachsfischer, Paquet geheißen, und einen Viehhirten, dessen Name Clovis lautete.

II

Die Nachforschungen dauerten den ganzen Sommer über. Man fand den Verbrecher nicht. Die Leute, die man in Verdacht hatte und festnahm, konnten leicht ihre Unschuld beweisen, und das Gericht mußte auf die Verfolgung des Schuldigen verzichten.

Aber dieser Mord schien die ganze Gegend in ganz ungewöhnlicher Weise erregt zu haben. Es war in den Seelen der Bewohner eine Unruhe und unbestimmte Angst, ein geheimnisvolles Entsetzen zurückgeblieben, das nicht nur daher kam, weil man keine Fährte entdecken konnte, sondern vor allem weil man seltsamerweise die Holzschuhe am anderen Morgen vor der Thür der Roque gefunden hatte. Die Gewißheit, daß der Mörder der Bergung der Leiche beigewohnt haben mußte, daß er ohne Zweifel noch im Ort lebte, beschäftigte die Geister, quälte sie unausgesetzt und schien wie ein Alp auf der Gegend zu liegen.

Der Hochwald war seitdem ein gemiedener, gefürchteter Ort geworden, den man wie für verhext hielt. Früher gingen die Dorfbewohner Sonntag nachmittags dort spazieren, setzten sich zu Füßen der riesigen Bäume auf das Moos oder liefen am Wasser hin und beobachteten die Forellen, die unter den Wassergräsern hinhuschten. Die Knaben spielten Ball, Kegel oder mit Kugeln an bestimmten Stellen, die eben waren und wo die Erde festgetreten, und die Mädchen gingen, zu vier oder fünf untergehakt, spazieren, gröhlten mit ihren schrillen Stimmen Lieder, die den Ohren wehthaten und deren falsche Töne die ruhige Luft erfüllten und Zahnschmerzen verursachten wie scharfer Essig. Jetzt ging niemand mehr unter der hohen, dichten Wölbung spazieren, als hätte man gefürchtet, überall eine Leiche zu finden.

Der Herbst kam, die Blätter fielen, fielen Tag und Nacht, kamen flatternd, rund und leicht, längs der großen Bäume herab, und man konnte schon durch die Zweige ein Stück Himmel sehen. Ab und zu, wenn ein Windstoß die Kronen traf, verstärkte sich der langsame, ununterbrochene Blätterfall plötzlich und wurde ein wahrer rauschender Regen, der das Moos mit einem gelben Teppich bedeckte, der unter den Schritten raschelte. Und das fast unhörbare unausgesetzte Rauschen dieses Blätterfalls, süß und traurig, war wie eine Klage, und die Blätter sanken unablässig, wie Thränen, große Thränen, vergossen von den gewaltigen, traurigen Bäume, die da Tag und Nacht das Ende des Jahres beweinten, das Ende warmer Sommermorgen, süßer Abenddämmerungen, das Aufhören der warmen Winde, des klaren Sonnenscheines, die da vielleicht auch weinten über das Verbrechen, das sie in ihrem Schatten hatten begehen sehen, weinten über das vergewaltigte, zu ihren Füßen getötete Kind. Sie weinten in der Stille des kleinen verlassenen Waldes, des gemiedenen und gefürchteten Gehölzes, in dem die Seele, die kleine Seele der kleinen Toten allein umherirren müßte.

Die Brindille, durch Regengüsse angeschwollen, lief schneller dahin, gelb und heftig, zwischen den vertrockneten Uferrändern, zwischen zwei Hecken von mageren, kahlen Weiden.

Da kam Renardet plötzlich wieder in den Wald, sich dort zu ergehen. Täglich, wenn es Abend wurde, verließ er sein Haus, ging mit langsamen Schritten die Treppe hinab und, nachdenklich die Hände in den Taschen, unter die großen Bäume. Er lief lange Zeit auf dem feuchten, weichen Moos hin, während eine ganze Legion von Raben, die aus der Nachbarschaft herbeigeeilt waren, um in den großen Wipfelkronen zu übernachten, zum Himmel aufflogen, wie ein riesiger Trauerschleier, der im Winde flattert, und laut und unheimlich krächzten.

Manchmal ließen sie sich nieder und besäten die sich vom roten Himmel, vom blutigen Himmel des Herbstsonnenunterganges abhebenden Zweige mit schwarzen Flecken. Dann flogen sie plötzlich wieder fort und krächzten fürchterlich, indem sie wieder über den Wald sich in langer, trauriger, dunkler Kette ausbreiteten.

Endlich ließen sie sich auf den höchsten Gipfeln nieder, und allmählich erstarb ihr Lärm, während die sinkende Nacht ihr schwarzes Gefieder im Dunkel des Himmels verschwimmen ließ.

Renardet irrte noch immer langsam zwischen den Bäumen umher. Wenn dann die tiefe Dunkelheit ihm nicht mehr erlaubte, spazieren zu gehen, kehrte er heim, fiel wie erschlagen in seinen Lehnstuhl vor dem lodernden Kamin und streckte seine feuchten Füße gegen das Feuer, daß die Sohlen lange an der Flamme dampften.

Da verbreitete sich eines Tages eine große Neuigkeit im Land: der Bürgermeister ließ den Hochwald schlagen.

Zwanzig Waldarbeiter arbeiteten schon. Sie hatten an der Ecke begonnen, die seinem Haus am nächsten lag und kamen unter Aufsicht des Herrn schnell vorwärts.

Zuerst kletterten Leute am Stamm hinauf, um die Äste abzuschlagen.

Durch einen Strick waren sie an den Baum gebunden, umschlangen ihn mit den Armen, hoben dann ein Bein und schlugen, eine Eisenspitze an der Sohle, kräftig hinein. Die Spitze bohrte sich ins Holz, blieb darin, und dann erhob sich der Mann wie auf einer Treppenstufe, mit dem anderen Fuß die andere Spitze einzuhauen, auf der er wieder stehen blieb, um die nächste Stufe mit dem anderen Fuß zu erklimmen.

Und bei jedem Schritt schiebt er die Seilschlinge, die ihn an dem Baum hält, höher. An der Hüfte hängt und blitzt das Beil. Er klettert langsam wie ein Schmarotzer, der einen Riesen angreift, er klettert schwer an der riesigen Säule hinauf, sie umschlingend und ihr die Sporn gebend, um ihr den Kopf abzuschlagen.

Sobald er an die ersten Zweige kommt, bleibt er halten, nimmt von der Seite das scharfe Beil und schlägt, schlägt langsam, methodisch, indem er ganz nahe am Stamm den Ast einkerbt. Und plötzlich kracht dieser, beugt sich, bricht zusammen, reißt sich los, fällt hin, indem er in seinem Sturz die Nachbarbäume streift, dann mit dem Lärm niederbrechenden Holzes fällt er zur Erde, und alle kleinen Ästchen zittern noch lange nach.

Der Boden bedeckte sich mit Ästen, die andere Männer nun zerstückelten, in Bündel zusammenbanden, aufhäuften, während die noch stehen gebliebenen Bäume aussahen wie Riesensäulen, gewaltige Amputierte, durch das schneidende Messer abrasierte Pfähle.

Und wenn der Mann, der die Zweige abschlug, fertig war, ließ er an der geraden schmalen Spitze die Seilschlinge, die er mit hinaufgebracht, stieg dann mit Sporenschlägen längs des entkronten Stammes wieder hinab, den die Baumfäller dann an der Wurzel angriffen, indem sie mit lauten Schlägen arbeiteten, die in den noch stehenden Bäumen ihr Echo fanden.

Wenn der Einschnitt am Fuß tief genug zu sein schien, begannen ein paar Leute, unter taktmäßigem Anruf, an dem großen Seil, das in der Krone befestigt war, zu ziehen, plötzlich krachte der gewaltige Mast, fiel zu Boden mit dumpfem Getöse und der Erschütterung eines fernen Kanonenschusses.

Und der Wald nahm täglich ab, verlor die gefällten Bäume, wie eine Armee die Soldaten verliert.

Renardet wich nicht mehr von der Stelle. Vom Morgen bis zum Abend blieb er unbeweglich, die Hände auf dem Rücken gefaltet, stehen und betrachtete das langsame Sterben seines Waldes. Wenn ein Baum gefallen war, setzte er den Fuß darauf wie auf eine Leiche. Dann hob er die Augen zum nächsten mit einer Art geheimer Ungeduld, unruhig, als hätte er am Schluß dieses Mordens irgend etwas erwartet.

Nun kamen sie der Stelle nahe, wo man die kleine Roque gefunden hatte, und endlich, als die Dämmerung hereingebrochen war, gelangten sie bis dorthin.

Da es dunkel war und Wolken am Himmel standen, wollten die Arbeiter aufhören, um am nächsten Morgen eine gewaltige Buche zu fällen. Aber der Herr mochte davon nichts wissen und verlangte, daß man den Koloß, der das Verbrechen beschattet hatte, sofort entholzte und fällte.

Als der Mann, der die Zweige abschlug, den Stamm kahl gemacht, ihn so in die Tracht des zum Tode Verurteilten gekleidet und die Baumfäller unten den Stamm eingekerbt hatten, begannen fünf Mann an dem Seil, das am Wipfel hing, zu ziehen.

Der Baum widerstand. Sein mächtiger Stamm, obgleich er bis zur Mitte eingeschnitten war, schien fest wie Eisen. Die Arbeiter spannten immer zugleich in regelmäßigem Anziehen das Seil, indem sie sich beinah zu Boden warfen und einen halbunterdrückten Schrei ausstießen, der ihre Anstrengung zeigte und regulierte.

Zwei Baumfäller standen neben dem Riesen, die Axt in der Hand wie zwei Henkersknechte, bereit noch zuzuschlagen, und Renardet wartete unbeweglich, die Hand auf der Rinde, mit nervöser Unruhe auf den Sturz.

Einer der Leute sagte:

– Sie stehen zu nah, Herr Bürgermeister . . . Wenn er fällt, könnte er Sie treffen.

Er antwortete nicht und wich nicht vom Platz, als wollte er selbst die Buche mit den Armen umfassen, um sie niederzukämpfen wie ein Ringer.

Plötzlich klang im Fuße der hohen Holzsäule etwas wie ein Reißen, das kurz bis zum Gipfel lief gleich einem schmerzlichen Stöhnen, der Baum neigte sich ein wenig, zum Sturz bereit, aber widerstand noch.

Die Männer spannten alle Kräfte an und zogen noch einmal stärker. Und als der Baum zusammenbrach, that Renardet plötzlich einen Schritt vorwärts, blieb dann stehen mit erhobenen Schultern, um den unwiderstehlichen Schlag zu empfangen, den tötlichen Schlag, der ihn zu Boden schmettern sollte.

Aber die Buche war etwas aus der Richtung gekommen und streifte ihn nur ein wenig, indem sie ihn fünf Meter weit aufs Gesicht fortschleuderte. Die Arbeiter eilten hinzu, um ihn aufzuheben. Er hatte sich schon selbst aufgerichtet, kniete, blickte verzweifelt um sich, wischte sich über die Stirn, als ob er aus einem Anfall von Tollheit erwacht.

Als er wieder stand, befragten ihn die erstaunten Leute. Sie begriffen nicht, was er gethan. Er antwortete stammelnd, er wäre einen Augenblick nicht bei Sinnen gewesen, er hätte einen Moment einen kindischen Einfall gehabt und geglaubt, es wäre noch Zeit, unter dem Baum vorbei zu kommen, wie die Jungen manchmal vor einem daherbrausenden Wagen noch vorüberlaufen. Er habe mit der Gefahr gespielt. Seit acht Tagen schon fühle er die Lust in sich immer größer werden und frage sich jedesmal, wenn ein Baum krache um zu stürzen, ob er nicht noch darunter durchlaufen könne, ohne getroffen zu werden. Es war Unsinn, das gab er zu, aber jeder Mensch habe seine verrückten Augenblicke und seine kindischen Einfälle.

Er sprach langsam, nach den Worten suchend, mit dumpfer Stimme. Dann ging er fort und sagte: – Auf Wiedersehen, lieben Freunde, morgen.

Sobald er in sein Zimmer zurückgekehrt war, setzte er sich an den Tisch, den die Lampe, mit dem Schirm darauf, hell erleuchtete, stützte die Stirn in die Hand und begann zu weinen.

Er weinte lange, dann wischte er sich die Augen, hob den Kopf, blickte auf zur Uhr. Es war noch nicht sechs. Er dachte: »Ich habe noch Zeit vor dem Essen.« Er ging zur Thür, schloß sie ab, dann setzte er sich wieder vor den Schreibtisch, zog das Mittelfach auf, nahm einen Revolver heraus und legte ihn in den Lichtschein der Lampe auf seine Papiere. Der Stahl der Waffe leuchtete und glitzerte wie Feuer.

Renardet betrachtete ihn einige Zeit mit dem unbestimmten Blick eines Trunkenen. Dann erhob er sich und begann auf und ab zu schreiten.

Er ging von einem Ende des Zimmers bis zum anderen, ab und zu blieb er stehen, dann setzte er den Spaziergang fort.

Plötzlich öffnete er die Thür des Toilettenzimmers, tauchte ein Handtuch in den Wasserkrug, und netzte sich die Stirn, wie er es am Morgen des Verbrechens gethan. Darauf begann er wieder hin und her zu laufen, und jedesmal, wenn er am Schreibtisch vorüberkam, zog die blitzende Waffe seinen Blick auf sich, daß ihm die Hand danach zuckte. Aber er spähte zur Uhr und dachte: »Ich habe noch Zeit.«

Es schlug halb sieben Uhr. Da nahm er den Revolver, öffnete groß den Mund mit furchtbarer Fratze, steckte die Mündung hinein, als wollte er sie verschlucken, blieb so unbeweglich ein paar Sekunden, den Finger auf dem Abzuge, – dann spuckte er plötzlich, von Entsetzen übermannt, die Waffe auf den Boden. Und er fiel wieder schluchzend in seinen Stuhl zurück. – »Ich kann nicht, ich wage es nicht. Mein Gott, mein Gott, was soll ich nur anfangen, daß ich Mut habe, mich zu töten.«

Man klopfte an der Thür. Erschrocken fuhr er auf. Der Diener rief:

– Es ist angerichtet. – Er antwortete: – Schön, ich komme.

Dann hob er die Waffe auf, schloß sie wieder in das Fach ein und betrachtete sich dann im Spiegel des Kamins, um zu sehen, ob sein Gesicht nicht zu verstört wäre. Er war rot wie immer, vielleicht etwas röter als sonst. Sonst sah man ihm nichts an. Er ging hinab und setzte sich zu Tisch.

Er aß langsam, wie jemand, der die Mahlzeit möglichst verlängern und nicht allein mit sich bleiben will. Dann rauchte er mehrere Pfeifen, während man abdeckte, und ging wieder in sein Zimmer hinauf.

Sobald er sich eingeschlossen hatte, blickte er unter sein Bett, öffnete alle Schränke, durchsuchte alle Ecken, alle Möbel, steckte dann die Lichter auf seinem Kamin an, drehte sich ein paar Mal herum, durchforschte mit den Augen die ganze Wohnung, mit der Qual des Entsetzens, die ihm die Züge verzerrte. Denn er wußte wohl, daß er sie erblicken würde, wie jede Nacht, die kleine Roque, das kleine Mädchen, das er genotzüchtigt und dann erwürgt hatte.

Jede Nacht begann die furchtbare Vision von neuem. Zuerst tönte ihm in den Ohren etwas wie ein Schnarchen oder wie das entfernte Rauschen eines Zuges über eine Brücke. Da kam er außer Atem, rang nach Luft und mußte seinen Hemdkragen öffnen und den Hosenriegel. Er ging hin und her, um das Blut wieder in Bewegung zu bringen, und versuchte zu lesen, er versuchte zu singen, alles vergebens. Gegen seinen Willen kehrten seine Gedanken immer zu dem Tage des Mordes zurück und bis auf die kleinsten Einzelheiten ließen sie ihn denselben mit allen heftigen Gemütsbewegungen, von der ersten Minute bis zur letzten, von neuem durchleben.

Er hatte am Morgen des furchtbaren Tages den Kopf etwas benommen gefühlt, Kopfschmerzen die er der Hitze zuschrieb, so daß er bis zum Frühstück auf seinem Zimmer geblieben war. Nach dem Essen hatte er geschlafen, dann war er am Spätnachmittag ausgegangen, um frische kühlende Luft unter den Bäumen seines Waldes zu atmen.

Aber sobald er draußen war, bedrückte ihn die schwere, brennende Luft der Ebene noch mehr. Die Sonne stand noch hoch am Himmel und warf auf die vertrocknete, durstende Erde glühende Lichtstrahlen herab. Kein Windhauch regte sich in dem Blättern, alle Tiere, die Vögel, die Heuschrecken sogar, schwiegen. Renardet trat unter die hohen Bäume, ging auf dem Moos hin, auf das die Brindille ein wenig Frische unter dem gewaltigen Blätterbach ausströmte. Aber ihm war nicht wohl zu Mute, als drückte ihm eine unbekannte, unsichtbare Hand den Hals zu. Er dachte fast an nichts, wie er gewöhnlich nicht viel Ideen im Kopf hatte. Nur ein unbestimmter Gedanke quälte ihn seit drei Monaten, der, wieder zu heiraten. Er litt darunter, allein zu sein, moralisch und physisch. Er war seit zehn Jahren daran gewöhnt, eine Frau bei sich zu fühlen, sie immer da zu haben, gewöhnt an ihre tägliche Nähe, und er hatte ein unbestimmtes, dringendes Bedürfnis, immer mit ihr zusammen zu sein, ein Bedürfnis nach der regelmäßigen Befriedigung seiner Sinne. Seit dem Tode seiner Frau litt er ununterbrochen, ohne recht zu wissen warum. Er litt darunter, daß er nicht mehr ihr Kleid an seiner Seite rauschen fühlte, und vor allen Dingen, daß er sich nicht mehr beruhigen, befriedigen konnte in ihren Armen. Seit kaum einem halben Jahr war er Witwer und suchte doch schon in der Umgebung, welches junge Mädchen oder welche Witwe er heiraten könnte, wenn seine Trauer zu Ende wäre.

Er besaß eine keusche Seele, die aber in einem gewaltigen, herkulischen Körper wohnte, und sinnliche Träume begannen ihn Tag und Nacht zu quälen. Er suchte sie zu verjagen, sie kehrten wieder, und er flüsterte, über sich selbst lächelnd, ab und zu: »Mir geht's wie dem heiligen Antonius.«

An jenem Morgen hatte er mehrere jener quälenden Gedanken gehabt, und plötzlich kam ihm der Wunsch, in der Brindille zu baden, um sich zu erfrischen und sein Blut zu beruhigen.

Er kannte ein Stück weiter hinauf eine tiefe breite Stelle, wo die Leute der Gegend manchmal im Sommer badeten. Dorthin ging er.

Die dichten Weiden versteckten dieses helle Bassin, in dem der Bach langsamer lief und etwas auszuruhen schien, ehe er weiter eilte. Als Renardet nahe kam, glaubte er ein leichtes Geräusch zu hören, ein Plätschern, das nicht vom Anschlagen des Wassers an die Ufer kam. Er schob vorsichtig die Blätter auseinander und blickte hin. Mit beiden Händen klatschte ein kleines Mädchen, ganz nackt, ganz weiß, im durchsichtigen Wasser die Wellen, sie sprang umher und drehte sich mit niedlichen Bewegungen im Kreise. Es war kein Kind mehr und noch keine Frau. Sie war voll und ausgebildet und hatte doch etwas Kindliches, schnell gewachsen, fast reif. Ganz erstaunt blieb er regungslos stehen, eine seltsame Erregung schnitt ihm den Atem ab. Mit klopfendem Herzen, als ob einer seiner sinnlichen Träume Wahrheit geworden wäre, blieb er stehen, als ob eine unreine Fee vor ihm dieses verführerische und zu junge Wesen hätte erscheinen lassen, diese kleine bäuerliche Venus geboren aus den Wirbeln des Baches, wie die andere große Schaumgeborene aus den Fluten des Meeres.

Plötzlich stieg das Kind aus dem Bade und ging, ohne ihn zu bemerken, auf ihn zu, um ihre Kleider zu holen und sich wieder anzuziehen. Wie sie mit kleinen zögernden Schritten sich ihm näherte, ängstlich wegen der spitzen Steine, fühlte er sich in unwiderstehlicher Gewalt zu ihr hingezogen, durch ein viehisches Gelüst, das seinen ganzen Leib durchbebte, seine Seele in Fesseln schlug und ihn erzittern ließ vom Fuß bis zum Kopf.

Sie blieb ein paar Sekunden hinter der Weide, die ihn verbarg, stehen. Da verlor er alle Vernunft, schlug die Zweige zurück, warf sich auf sie, packte sie mit den Armen, sie fiel, war zu erschrocken um zu widerstehen, zu entsetzt, um zu schreien, und er besaß sie, ohne zu begreifen, was er that.

Er erwachte aus seinem Verbrechen, wie aus einem schweren Traum. Das Kind begann zu weinen.

Er sagte: – Schweige doch, schweige doch. Ich werde dir Geld geben.

Aber sie hörte nicht und schluchzte. Er wiederholte:

– So schweige doch, schweige doch, schweige doch! Sei doch ruhig.

Sie heulte und wand sich, ihm zu entfliehen. Da sah er plötzlich ein, daß er verloren war. Er packte sie beim Hals, um in ihrer Kehle ihre herzzerreißenden, furchtbaren Klagen zu ersticken. Wie sie sich mit der Verzweiflung eines Wesens, das dem Tode entgehen will, wehrte, schloß er seine gewaltigen Hände um ihren kleinen, vom Schreien geblähten Hals und hatte sie nach ein paar Augenblicken erwürgt, so schnürte er die Finger zusammen, garnicht in der Absicht, sie zu töten, nur ruhig sollte sie sein. Dann erhob er sich in Entsetzen.

Sie lag vor ihm, blutig, mit schwarzem Gesicht. Er wollte davonlaufen, als in seiner verstörten Seele der unbestimmte Instinkt aufstieg, der alle Wesen leitet, die sich in Gefahr befinden.

Er wollte den Körper ins Wasser werfen, aber eine andere Regung trieb ihn dazu, zuerst die Kleider zu verstecken, die er in ein winziges Packet zusammenwickelte. Da er Bindfaden in der Tasche hatte, band er es zusammen und versteckte es in einem tiefen Loch des Baches unter einem Baumstamm, dessen Fuß die Brindille bespülte.

Dann ging er mit langen Schritten hin auf die Wiesen, machte einen riesigen Umweg, um sich den Bauern zu zeigen, die weit entfernt auf der anderen Seite wohnten, und kehrte zur gewöhnlichen Stunde zum Essen heim, indem er seinen Leuten von dem großen Spaziergang erzählte, den er gemacht.

Die Nacht schlief er, schlief wie ein Vieh, wie wohl die zum Tode Verurteilten manchmal schlafen mögen. Er schlug die Augen erst beim ersten Tagesdämmern auf und wartete, in der Furcht vor der Entdeckung des Verbrechens, seine gewöhnliche Aufstehstunde ab.

Dann mußte er all den Untersuchungen beiwohnen. Er that es, wie ein Schlafwandler, in einer geistigen Abwesenheit, die ihm Dinge und Menschen wie im Traum zeigte, in einer Wolke von Trunkenheit, in jenem Zustand der Unbewußtheit, der die Menschen angesichts großer Katastrophen überkommt.

Nur der durchdringende Schrei der alten Roque schnitt ihm ins Herz. In diesem Augenblick hätte er sich der alten Frau zu Füßen werfen mögen und rufen: »Ich bin es gewesen.« Aber er beherrschte sich, ging jedoch während der Nacht hinaus, um die Holzschuhe der Toten herauszufischen und sie der Mutter auf die Schwelle zu legen.

Während der Untersuchung, während er das Gericht leiten und irreleiten mußte, war er gefaßt, Herr seiner selbst, gerissen, lächelnd. Ganz ruhig besprach er mit dem Beamten alle Möglichkeiten, die ihnen durch den Kopf schossen, bekämpfte ihre Überlegungen und stieß ihre Schlüsse um. Es machte ihm sogar ein gewisses bitteres und schmerzliches Vergnügen, sie in Verwirrung zu setzen und die Unschuld derer, die sie in Verdacht hatten, zu beweisen.

Aber vom Tage ab, wo die Untersuchung eingestellt war, wurde er allmählich nervös, erregbarer noch als früher, obgleich er seinen Jähzorn möglichst dämpfte. Ein unerwartetes Geräusch ließ ihn vor Angst zusammenfahren, er zitterte bei der geringsten Veranlassung, schauerte manchmal von Kopf bis zu Fuß zusammen, wenn sich nur eine Fliege auf seine Stirn setzte. Da überkam ihn ein unwiderstehliches Bedürfnis, sich Bewegung zu machen, es zwang ihn zu abenteuerlichen Gängen, hielt ihn die ganze Nacht hindurch wach und ließ ihn im Zimmer auf und ab laufen.

Es waren nicht Gewissensbisse, die ihn quälten, seine brutale Natur überkam keine Gefühlsregung oder moralische Furcht. Er war ein Mann der That, sogar ein Gewaltmensch, eigentlich zum Krieg geboren, um eroberte Länder zu verwüsten und die Besiegten zu töten, voll wilder Jäger- und Kämpferinstinkte. Und so zählte ein Menschenleben für ihn nicht viel; obgleich er aus Schlauheit vor der Kirche seinen Kratzfuß machte, glaubte er weder an Gott noch an den Teufel und erwartete infolgedessen in einem anderen Leben weder Strafe noch Belohnung für das, was er in diesem Dasein gethan. Statt alles Glaubens, hatte er sich eine Art unbestimmter Philosophie zurechtgelegt, Ideen der Encyklopädisten des vorigen Jahrhunderts zusammengetragen, und er betrachtete die Religion als moralische Sanktion des Gesetzes, beide von den Menschen erfunden, um den Verkehr unter ihnen zu regeln.

Jemand im Duell, im Krieg, bei einem Streit, einem Unglücksfall, aus Rache oder sogar Prahlerei zu töten, erschien ihm ganz spaßhaft und schneidig, und es würde in seinem Geist keinen tieferen Eindruck hinterlassen haben, als ob er einen Hasen geschossen hätte. Aber der Mord an diesem Kind hatte ihn tief gepackt. Erstens hatte er ihn in der Verrücktheit einer unwiderstehlichen Trunkenheit begangen, in einem Ansturm der Sinne, der ihm den Verstand genommen. Und dann hatte er in seinem Herzen, in seinem Fleisch, auf den Lippen, sogar bis in seine mörderischen Finger, etwas wie einen viehischen Liebestrieb bewahrt für dieses kleine Mädchen, das er überrascht und feig getötet hatte. Gleichzeitig aber ein fürchterliches Entsetzen. Alle Augenblicke stand die Scene wieder vor seinen Augen, und obgleich er sich zwang, das Bild zu verjagen, obgleich er es mit Grauen, mit Ekel aus seinem Geist zu entfernen suchte, fühlte er es in seinem Hirn, fühlte er es um sich herum, jeden Augenblick bereit wieder aufzutauchen.

Nun begann er vor den Abenden Angst zu haben, vor der Dunkelheit um sich herum. Er wußte noch nicht, warum die Dunkelheit ihm so schrecklich erschien, aber aus Instinkt fürchtete er sich davor, er fühlte, daß sie erfüllt war mit Schreckgespenstern. Der helle Tag hat nichts so Schreckhaftes; man sieht die Dinge und die Wesen, man begegnet nur natürlichen Dingen und Wesen, die sich bei Tageslicht zeigen können. Aber die Nacht, die unendliche Nacht, dichter als Mauern, ist leer, die unendliche Nacht so schwarz, so weit, daß ihm fürchterliche Dinge darin begegnen können. Die Nacht, in der man etwas umherirren, ein wundersames Entsetzen auf und ab gehen fühlt, die Nacht schien ihm eine unbekannte Gefahr zu bergen, nahe und drohend. Aber welche?

Er erfuhr es bald. Als er, es war schon sehr spät, eines Abends nicht schlafen konnte und in seinem Lehnstuhl saß, meinte er plötzlich zu sehen, wie der Vorhang am Fenster sich bewegte. Er wartete mit klopfendem Herzen, der Vorhang rührte sich nicht mehr. Aber plötzlich bewegte er sich wieder, wenigstens dachte er, daß er sich bewege. Er wagte nicht aufzustehen, er wagte nicht zu atmen, und doch war er mutig, hatte sich oft geschlagen, und es hätte ihm Spaß gemacht, Einbrecher bei sich abzufassen.

Bewegte sich der Vorhang wirklich? Er fragte es sich, in der Furcht, vor einer Augentäuschung zu stehen; außerdem war es so wenig, ein leises Rauschen des Stoffes, eine Art Zittern in den Falten, kaum eine Wellenbewegung, wie sie der Wind verursacht. Renardet starrte hin, streckte den Hals aus, plötzlich sprang er auf, er schämte sich vor seiner Furcht. Er machte vier Schritte, packte den Vorhang mit beiden Händen und zog ihn auseinander. Zuerst sah er nichts, als die schwarzen Fensterscheiben, schwarz wie der glänzende Spiegel auf der Tinte. Dahinter lag die Nacht, die tiefe, undurchdringliche Nacht und dehnte sich bis zum undurchdringlichen Horizont aus. Er blieb vor der unendlichen Dunkelheit stehen, und plötzlich sah er einen Schein, ein Licht, das sich hin und her zu bewegen schien, in weiter Ferne. Da legte er die Stirn an die Fensterscheibe. Er dachte, ein Krebsfischer wildert wahrscheinlich in der Brindille. Denn es war Mitternacht vorüber, und der Schein lief im Wald am Wasser hin. Da er noch nichts unterscheiden konnte, legte Renardet beide Hände rechts und links an die Augen. Plötzlich wurde dieser Schein zur großen Helle, und er sah die kleine Roque nackt und blutig auf dem Moos liegen.

Starr vor Schrecken wich er zurück, stieß an den Stuhl und fiel hintenüber. Ein paar Minuten blieb er verzweifelt liegen, dann setzte er sich und begann nachzudenken. Er hatte eine Sinnestäuschung gehabt, mehr nicht. Eine Täuschung, die daher gekommen war, daß ein Fischdieb mit seiner Laterne am Wasser hinlief. Und was war Sonderbares daran, wenn die Erinnerung an sein Verbrechen ihm ab und zu das Bild der Toten zeigte?

Nachdem er sich erhoben hatte, trank er ein Glas Wasser und setzte sich hin. Er dachte: »Was soll ich thun, wenn es wieder anfängt?« Und er fühlte es, er war dessen gewiß, es würde wieder beginnen. Schon zog das Fenster seinen Blick an, rief ihn und lockte ihn. Um es nicht mehr zu sehen, drehte er den Stuhl herum, nahm ein Buch und versuchte zu lesen. Aber es war, als hörte er etwas sich hinter ihm bewegen, und blitzschnell drehte er seinen Lehnstuhl herum. Der Vorhang bewegte sich wieder, ganz bestimmt, diesmal hatte er sich bewegt, er konnte nicht daran zweifeln. Er stürzte hinzu und packte ihn so heftig, daß er ihn mit der Stange zu Boden warf. Dann preßte er gierig die Stirn gegen die Scheiben. Er sah nichts, alles war draußen dunkel. Und er atmete auf, glücklich wie ein Mann, dem man das Leben gerettet hat.

Er kehrte also zurück und setzte sich wieder hin. Aber beinah augenblicklich packte ihn wieder die Lust, zum Fenster hinzusehen. Seitdem der Vorhang herabgefallen war, sah es aus, wie ein dunkles Loch, das seinen Blick mit furchtbarer Gewalt hinaus in die dunkle Weite zog. Um dieser gefährlichen Verlockung nicht zu folgen, zog er sich aus, löschte das Licht, legte sich zu Bett und schloß die Augen.

Er lag unbeweglich auf dem Rücken, seine Haut war warm und feucht, und er wartete auf den Schlaf. Plötzlich sah er hinter den Lidern ein helles Licht. Er öffnete die Augen, er meinte, es brenne. Alles war dunkel, und er stemmte sich auf den Ellbogen und versuchte nach dem Fenster zu blicken, das ihn unwiderstehlich anzog. Wie er die Augen anstrengte, sah er ein paar Sterne. Er erhob sich, ging auf den Fußspitzen durch das Zimmer, tastete an die Fensterscheibe mit ausgestreckten Händen und legte die Stirn daran. Da drüben unter den Bäumen leuchtete der Körper des Mädchens wie Phosphor und erhellte die Dunkelheit ringsum.

Renardet stieß einen Schrei aus, rannte zum Bett zurück und blieb dort, den Kopf unter die Kissen versteckt, bis zum Morgen liegen.

Von diesem Augenblick ab wurde sein Dasein unerträglich. Seine Tage brachte er hin in der Furcht vor den Nächten, und jede Nacht begann die Vision von neuem. Kaum hatte er sich in seinem Zimmer eingeschlossen, so kämpfte er dagegen, doch vergeblich. Eine unwiderstehliche Kraft trieb ihn an die Fensterscheibe, als wollte er das Gespenst herbeirufen, und sofort sah er es, zuerst am Ort des Verbrechens liegen mit geöffneten Armen, auseinander gespreizten Beinen, wie man die Leiche gefunden. Dann stand die Tote auf, kam mit langsamen Schritten auf ihn zu, wie es das Kind gethan, als es das Wasser verlassen. Sie kam langsam, gerade über den Rasen heran, über das Beet, auf dem die Blumen vertrockneten, dann erhob sie sich in die Luft und näherte sich dem Fenster, an dem Renardet stand. Sie kam zu ihm, wie sie am Tage des Verbrechens dem Mörder entgegengelaufen war. Und der Mann wich vor der Erscheinung zurück, zurück bis zum Bett, sank darauf nieder; er wußte genau, die Kleine war hereingekommen, stand nun hinter dem Vorhang, der sich bewegen würde. Und bis Tagesanbruch blickte er mit starren Augen auf den Vorhang, unausgesetzt erwartend, daß sein Opfer hervortreten würde. Aber sie zeigte sich nicht mehr, sie blieb da unter dem Stoff, der ab und zu zitterte. Und Renardet preßte die zusammengekrampften Finger in die Bettücher, wie er damals die Gurgel der kleinen Roque zusammengedrückt. Er hörte die Stunden schlagen, hörte in dem großen Schweigen den Pendel der Uhr gehen und hörte das Klopfen seines Herzens. Und der Elende litt mehr, denn je ein Mensch gelitten.

Sobald dann an der Decke der erste helle Schein erschien, den Tag ankündigend, fühlte er sich befreit, endlich allein, allein in seinem Zimmer. Und er legte sich hin, schlief ein paar Stunden fieberhaft und unruhig, und oft erschien in seinem Traum die Vision seiner wachen Stunden wieder.

Wenn er dann später mittags zum Frühstück hinunterging, fühlte er sich zerschlagen wie nach gewaltiger Anstrengung. Er aß kaum, immer quälte ihn die Furcht vor ihr, die er in der kommenden Nacht wiedersehen würde.

Und er wußte doch genau, daß es keine Erscheinung war, denn die Toten kommen nicht wieder, sondern daß seine kranke Seele, seine von dem einen Gedanken, von der einen unvergeßlichen Erinnerung gepeinigte Seele die einzige Ursache seiner Qual war, die einzige Erweckerin der Toten, die sie gerufen und vor seine Augen gezaubert, vor denen das Bild unauslöschlich stand. Aber er wußte auch, daß er nicht davon gesunden würde, daß er niemals der furchtbaren Qual, der Erinnerung entgehen konnte. Und er beschloß, lieber zu sterben, als das noch länger zu ertragen.

Da suchte er ein Mittel, sich zu töten. Er wollte es auf einfache, natürliche Weise thun, so daß der Gedanke an einen Selbstmord nicht aufkam. Denn er hielt auf den Namen, den ihm sein Vater hinterlassen, und wenn man den Grund seines Todes ahnte, würde man wahrscheinlich an das unaufgeklärte Verbrechen denken, an den nicht gefundenen Mörder, und ihn anklagen.

Ein seltsamer Gedanke war ihm gekommen, der: sich von dem Baum erschlagen zu lassen, an dessen Fuß er die kleine Roque getötet. Er entschloß sich also, den Hochwald fällen zu lassen, und zu thun, als wäre ein Unglück geschehen. Aber die Buche wollte ihn nicht zerschmettern.

Als er heimgekehrt war in tiefster Verzweiflung, hatte er seinen Revolver genommen, aber dann nicht gewagt zu schießen.

Es war Essenszeit, er hatte gegessen, war wieder hinaufgegangen und wußte nicht, was er thun sollte. Er fühlte sich jetzt feig, wo er einmal dem Tod entschlüpft war. Vorhin war er ganz bereit, stark, entschlossen, Herr seines Willens und Mutes gewesen; jetzt war er schwach, hatte Furcht vor dem Tode, ebenso wie vor der Toten.

Er stammelte: »Ich wage es nicht mehr, ich wage es nicht mehr!« – Und sah mit Entsetzen bald auf die Waffe auf dem Tisch, bald auf den Vorhang, der das Fenster verhüllte. Und es war ihm, als ob etwas Furchtbares eintreten würde, wenn sein Leben aufhörte. Etwas, – was? Vielleicht ihre Erscheinung? Sie spähte nach ihm, sie wartete auf ihn, sie rief ihn, um nun ihn vorzunehmen, um ihn in den Bereich ihrer Rache zu bringen, um ihn zum Selbstmord zu zwingen, deswegen hatte sie sich jeden Abend gezeigt.

Er begann zu weinen wie ein Kind und sagte vor sich hin: »Ich wage es nicht mehr, ich wage es nicht mehr.« Dann fiel er auf die Kniee und stammelte: »Mein Gott! Mein Gott!« obgleich er an Gott nicht glaubte. Und er wagte in der That nicht mehr zum Fenster zu blicken, wo er die Erscheinung versteckt wußte, noch nach dem Tisch, von dem sein Revolver leuchtete.

Als er aufgestanden war, sagte er laut: »So geht das nicht weiter, ich muß ein Ende machen.« Der Ton seiner Stimme, der in dem schweigenden Zimmer klang, ließ ihm einen Schauer über die Glieder laufen. Aber da er zu keinem Entschluß kam, da er fühlte, daß der Finger seiner Hand sich immer weigern würde, den Abzug der Waffe zu berühren, kehrte er zum Bett zurück, versteckte den Kopf unter die Decken und dachte nach.

Er mußte etwas finden, das ihn zwang zu sterben, irgend eine List ersinnen gegen sich selbst, daß er nicht mehr zögern konnte, daß es keinen Aufschub, kein Bedauern mehr gab. Er beneidete die zum Tode Verurteilten, die man durch die Reihen der Soldaten zum Schafott führt. Wenn er doch jemand bitten könnte, ihn zu erschießen, wenn er seinen Seelenzustand beichten könnte, einem sicheren Freund beichten, der ihn nie verriet, damit der ihn töte! Aber wen sollte er um diesen furchtbaren Liebesdienst bitten? Wen? Er suchte unter seinen Bekannten. Den Arzt? Nein, er würde es später gewiß erzählen. Und plötzlich durchschoß ein seltsamer Gedanke sein Hirn: er wollte dem Untersuchungsrichter, den er genau kannte, schreiben und sich selbst verraten. Er würde ihm in dem Brief alles auseinandersetzen, das ganze Verbrechen, die Qualen, die er litt, seinen Wunsch zu sterben, sein Zögern und das Mittel, das er benutzt, um seinen Mut aufzustacheln. Er würde ihn im Namen ihrer alten Freundschaft bitten, den Brief zu verbrennen, sobald er erfahren, daß der Schuldige sich selbst getötet. Renardet wußte, auf die Diskretion dieses Beamten konnte er rechnen, der war sogar irgend eines andeutenden Wortes nicht fähig. Er war einer jener Menschen, die ein unbeugsames Gewissen besitzen, die nur ihrer Vernunft folgen.

Kaum hatte er diesen Entschluß gefaßt, als ihn ein seltsamer Frieden überkam. Er war jetzt ganz ruhig, er wollte seinen Brief schreiben, langsam, und ihn dann, wenn es Tag wurde, in den Briefkasten stecken, der an der Wand der Bürgermeisterei hing. Dann wollte er auf den Turm steigen, abwarten, bis der Briefträger kam, und wenn der Mann in der blauen Bluse fortging, würde er sich, den Kopf voran, hinunterstürzen auf die Felsen, auf denen das Gemäuer stand. Er wollte es so einrichten, daß er von den Arbeitern die das Holz fällten, gesehen wurde. Er konnte auf den Vorsprung klettern, der den Fahnenmast trug, an dem an Festtagen geflaggt wurde; durch einen Stoß konnte er den Mast zerbrechen und mit hinunterstürzen. Wie sollte man etwas anderes vermuten, als einen Unglücksfall. Und er würde sofort tot sein bei seinem Gewicht und in Anbetracht der Höhe des Turmes.

Er stieg aus dem Bett, ging an den Tisch und begann zu schreiben. Er vergaß nichts, keine Einzelheit des Verbrechens, keine Einzelheit seines qualvollen Daseins, keine Einzelheit der Leiden, die sein Herz litt, und schloß, indem er sagte, er habe sich selbst verurteilt, er würde den Verbrecher richten, und er bat seinen ehemaligen Freund darüber zu wachen, daß kein Makel auf sein Gedächtnis fiele.

Als er den Brief schloß, bemerkte er, daß es Tag geworden war. Er siegelte, schrieb die Adresse, ging dann mit leichten Schritten hinunter, lief bis zu dem weißen, kleinen Kasten an der Ecke der Gutsmauer, und nachdem er das Papier, das in seiner Hand zitterte, hineingeworfen, kehrte er schnell zurück, schloß die Riegel der großen Thür, und stieg hinauf in seinen Turm, um das Vorübergehen des Briefträgers abzuwarten, der sein Todesurteil mitnehmen sollte.

Jetzt fühlte er sich ruhig, gerettet, erleichtert.

Ein kalter, trockener Wind, ein eisiger Wind traf sein Gesicht. Er sog gierig mit offenem Mund diese kühle Labung ein. Der Himmel war rot, von glühendem Rot wie im Winter, und die ganze weiße, Frost-überzogene Ebene glitzerte in den ersten Sonnenstrahlen, als wäre sie mit gestoßenem Glas übersät. Renardet stand barhaupt oben, schaute über die breite Ebene hin, links die Wiesen, rechts das Dorf, dessen rauchende Schornsteine die Stunde des ersten Frühstücks anzeigten.

Zu seinen Füßen sah er die Brindille sich winden durch die Felsen, auf denen er sich nachher zerschmettern würde. Er fühlte sich wieder jung werden an diesem eisigen Morgen, fühlte seine Kraft und seinen Lebensmut wiederkehren. Das Licht badete ihn, umflutete ihn, drang in ihn wie eine Hoffnung, tausend Erinnerungen bedrängten ihn an ähnliche Morgenstunden, an schnellen Lauf über die hartgefrorene Erde, die unter den Tritten klang, an glückliche Jagdtage bei den Sümpfen, in denen die Wildenten schlafen; alles, was er einst geliebt, alles, was er Köstliches im Leben genossen, kam ihm wieder zur Erinnerung, gab ihm neue Wünsche ein, erweckte alle Lebensgeister seines kräftigen riesigen Körpers.

Und er wollte sterben. Warum? Er wollte sich blödsinnigerweise töten, weil er sich fürchtete vor einem Schatten. Sich fürchtete vor nichts. Er war reich und noch in den besten Jahren. So eine Verrücktheit! Er brauchte ja nur irgend eine Zerstreuung, einmal eine Reise, um alles zu vergessen. Diese Nacht hatte er das Kind nicht mehr gesehen, weil seine Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt waren. Vielleicht sah er sie nie wieder, und wenn sie ihn noch in diesem Haus quälte, würde sie ihm gewiß wo andershin nicht folgen. Die Erde war groß, die Zukunft weit. Warum sterben?

Sein Blick irrte über die Wiesen, und er sah auf dem Wege längs der Brindille einen blauen Fleck. Es war Médéric, der kam, die Stadtbriefe zu bringen und die vom Dorfe mitzunehmen.

Renardet sprang auf. Ein Schmerz durchfuhr ihn, und er lief zur Wendeltreppe, um seinen Brief wieder zu holen, dem Briefträger abzunehmen. Es war gleich, ob er jetzt gesehen wurde. Er lief durch das Gras, das vom morgendlichen, eisigen Tau genetzt war, und kam an dem Briefkasten an der Ecke des Hofes gerade mit dem Briefträger zugleich an.

Der Mann hatte die kleine Holzklappe geöffnet und nahm die darin befindlichen Briefe heraus.

Renardet sagte zu ihm:

– Guten Morgen, Médéric.

– Guten Morgen, Herr Bürgermeister.

– Sagen Sie mal, Médéric, ich habe im Briefkasten einen Brief, den ich brauche, geben Sie ihn mir mal zurück.

– Gut, Herr Bürgermeister, ich werde ihn Ihnen wiedergeben.

Und der Briefträger blickte auf. Er war ganz erschrocken, als er Renardets Gesicht sah. Der hatte violette Wangen, die Augen irrten verstört mit dunklen Rändern, tief in den Höhlen liegend, sein Haar war wirr wie der Bart, die Kravatte war aufgegangen, man sah, daß er nicht zu Bett gewesen.

Der Mann fragte:

– Sie sind wohl krank, Herr Bürgermeister?

Der andere begriff plötzlich, daß sein Aussehen auffallen mußte, verlor die Fassung und stammelte: – Nein, nein, ich bin nur eben aus dem Bett gesprungen, um mir den Brief geben zu lassen. Ich schlief, wissen Sie.

Dem alten Soldaten kam ein unbestimmter Verdacht.

Er rief:

– Welchen Brief denn?

– Den Sie mir wiedergeben sollen.

Nun zögerte Médéric. Das Benehmen des Bürgermeisters erschien ihm sonderbar; vielleicht steckte da ein Geheimnis dahinter, etwas Politisches. Er wußte, daß Renardet nicht Republikaner war, und er kannte alle Schliche und Ränke bei den Wahlen.

Er fragte:

– An wen ist denn der Brief adressiert?

– An den Untersuchungsrichter Herrn Putoin, wissen Sie, an meinen Freund Putoin.

Der Briefträger suchte, fand den Brief, betrachtete ihn, wendete ihn hin und her in den Fingern, verstört und befangen, in der Furcht, entweder etwas Unrechtes zu thun oder sich den Bürgermeister zum Feind zu machen.

Renardet sah sein Zögern und machte eine Bewegung, um ihm den Brief zu entreißen. Diese plötzliche Bewegung brachte Médéric zur Überzeugung, daß es sich um ein wichtiges Geheimnis handelte, und er entschloß sich, koste was es wolle, seine Pflicht zu thun.

Er warf also seinen Brief in den Sack, schloß ihn und sagte:

– Nein, Herr Bürgermeister, das kann ich nicht. Da der Brief ans Gericht ist, kann ich's nicht.

Eine fürchterliche Angst schnürte Renardets Herz zusammen. Er stotterte:

– Aber Sie kennen mich doch. Sie kennen doch meine Handschrift. Ich sage doch, ich brauche den Brief.

– Nein, das darf ich nicht.

– Na, Médéric, hören Sie doch, ich betrüge Sie doch nicht. Ich sage Ihnen, ich brauche den Brief.

– Nein, das darf ich nicht.

Die Wut packte Renardets jähzornige Seele.

– Gott verdamm mich, nehmen Sie sich in Acht! Sie wissen, ich spaße nicht, und das kann Ihnen Ihre Stelle kosten und zwar sofort. Und dann bin ich hier Bürgermeister, und ich befehle Ihnen jetzt, mir meinen Brief zu geben.

Der Briefträgen antwortete bestimmt: – Nee, das kann ich nicht, Herr Bürgermeister.

Da verlor Renardet die Besinnung und packte den Briefträger beim Arm, um ihm die Tasche zu entreißen. Aber der Mann machte sich mit einem Stoß frei, wich zurück und hob seinen, Knotenstock. Ganz ruhig sagte er:

– Rühren Sie mich nicht an, Herr Bürgermeister oder ich haue zu. Nehmen Sie sich in Acht, ich thue meine Pflicht.

Renardet fühlte sich verloren, wurde plötzlich weich und bat flehend wie ein weinendes Kind:

– Ach, mein lieber Freund, geben Sie mir doch den Brief, ich werde Sie auch belohnen. Ich werde Ihnen Geld geben. Ich gebe Ihnen zehn, ich gebe Ihnen hundert Franken, hören Sie, hundert Franken.

Der Mann wendete sich um und ging fort. Renardet folgte ihm außer Atem und stammelte:

– Médéric, Médéric, hören Sie doch, ich gebe Ihnen tausend Franken, hören Sie, tausend Franken. – Der andere lief, ohne zu antworten, weiter. Renardet flehte: – Ich mache Ihr Glück, hören Sie, ich gebe Ihnen, was Sie wollen. Fünfzigtausend Franken, fünfzigtausend Franken für den Brief. – Was thut Ihnen denn das? – Wollen Sie nicht? – Nun also hunderttausend Franken, hören Sie hunderttausend Franken, verstehen Sie, hunderttausend Franken. – Hunderttausend Franken.

Der Briefträger drehte sich mit ernstem Blick und starrem Gesicht um:

– Nun seien Sie still, oder ich werde vor Gericht alles sagen, was Sie mir eben angeboten haben.

Renardet stockte. Es war aus, es gab keine Hoffnung mehr. Er wendete sich um und lief zum Haus, wie ein verfolgtes Tier.

Nun blieb Médéric stehen und sah seinerseits ganz starr dieser Flucht zu. Er sah, wie der Bürgermeister in sein Haus lief, und er wartete noch, als ob etwas Überraschendes eintreten müsse.

Und bald erschien in der That Renardets hohe Gestalt oben auf dem Fuchsturm. Er lief um die Plattform wie ein Verrückter, dann packte er die Fahnenstange, schüttelte sie wütend, ohne sie zerbrechen zu können, und plötzlich stürzte er sich mit einem Kopfsturz, wie ein Schwimmer beide Hände vorgestreckt, in die Luft hinaus.

Médéric lief fort, um Hilfe zu holen. Als er durch den Park kam, traf er die Baumfäller, die zur Arbeit gingen. Er rief sie an, teilte ihnen das Unglück mit, und sie fanden zu Füßen der Mauer einen blutigen Körper, dessen Kopf auf den Felsen zerschmettert war. Die Brindille umfloß den Felsen, und auf dem hier breiten, klar und ruhig rinnenden Wasser sah man lange, rote Streifen von mit Blut vermischtem Gehirn hinziehen.

 


 << zurück weiter >>