Guy de Maupassant
Ein Menschenleben
Guy de Maupassant

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VI.

Bei dem weissen Thor, welches zwischen den Ständern aus Backstein hing, wurden sie von der Familie und der Dienerschaft empfangen. Der Postwagen hielt an und es erfolgten lange herzliche Umarmungen. Mütterchen weinte, und auch Johanna wischte sich einige Thränen; der Papa ging aufgeregt hin und her.

Dann erfolgte im Salon vor dem Kaminfeuer die Aufzählung der Reiseerlebnisse, während draussen das Gepäck abgeladen wurde. Unaufhörlich flossen die Worte von Johannas Lippen und alles wurde erzählt, die ganze Reise, in einer halben Stunde. Einige Kleinigkeiten vielleicht wurden übergangen.

Dann ging die junge Frau daran, ihre Pakete und Paketchen auszukramen, wobei Rosalie voll tiefer Bewegung mithalf. Als dies zu Ende war, als das Leinenzeug, die Kleider und alle möglichen Toilettegegenstände an ihrem Platze lagen, verliess die Kammerjungfer ihre Herrin, und Johanna, allein gelassen, setzte sich nieder.

Sie frug sich, was sie jetzt machen sollte, indem sie sich ebenso nach geistiger wie nach körperlicher Beschäftigung umschaute. In den Salon zu ihrer schlafenden Mutter zurückzukehren, dazu hatte sie keine Lust; sie hätte lieber einen Spaziergang gemacht. Aber draussen schien es so öde zu sein, dass sie schon beim Betrachten der Umgebung vom Fenster aus eine Zentnerlast von Melancholie auf sich herabsinken fühlte.

Da kam ihr denn so recht zum Bewusstsein, dass es für sie nichts mehr, auch niemals mehr zu thun gab. Ihre ganze Jugendzeit über im Kloster hatte sie sich mit der Zukunft beschäftigt und Pläne geschmiedet. Unter dieser fortgesetzten Träumerei war ihr damals die Zeit vergangen, ohne dass sie es merkte. Dann kaum den engen Schranken des Klosters entwachsen, in dem ihre Jugendträume entsprungen waren, fühlte sie schon gar bald Herz und Sinn durch die Regungen der Liebe in Anspruch genommen. Den erhofften Mann sehen, ihn lieben, in kurzer Zeit heiraten, wie es bei solchen schnellen Entschliessungen üblich, in seinen Armen ruhen, ohne erst recht zur Besinnung zu kommen, das alles hatte sich wie im Fluge vollzogen.

Aber nun trat statt der sanften Gewohnheit der ersten Tage die rauhe Wirklichkeit des alltäglichen Lebens in ihre Rechte ein, welche allen undefinierbaren Hoffnungen, jener angenehmen aufregenden Erwartung des Unbekannten für immer die Thür schloss. Ja, jetzt war es aus mit allen Erwartungen.

Also weiter nichts mehr zu thun! heute nicht, morgen nicht und übermorgen nicht. Sie empfand das alles wie eine bittere Enttäuschung, eine langsame Vernichtung ihrer Hoffnungen.

Dann sprang sie auf und lehnte die Stirn an die kühlen Fensterscheiben. Nachdem sie eine Weile den Himmel betrachtet, an welchem düstere Wolken dahinzogen, entschloss sie sich auszugehen.

War das dieselbe Flur, dasselbe Gras, dieselben Bäume wie im Mai? Wo war das sonnige Leuchten auf den Blättern, wo das poetische Grün des Rasens geblieben, auf dem der Löwenzahn emporflammte, die Klatschrose ihr blutrotes Haupt erhob, die Margheriten sprossten und die grossen gelben Schmetterlinge zierlich von Blüte zu Blüte gaukelten? Auch dieses freudige Leben der Natur mit ihrem würzigen Duft, mit ihrer wohlthuenden Fruchtbarkeit war dahin.

Da lagen die von anhaltenden Herbststürmen zerzausten Alleen vor ihr; die Pappeln streckten ihre nackten Zweige zum Himmel empor, während fahles gelbes Laub den Boden unter ihnen wie ein Teppich bedeckte. Ihre dünnen Äste zitterten im Winde, der die letzten dürren Blätter abriss und im wilden Tanze durch die Luft wirbelte. Unaufhörlich wie ein anhaltender trostloser Regen fielen die Blätter nieder, gelb wie grosse Goldstücke, bald hierhin, bald dorthin, fuhren vom Winde wieder aufgestöbert nochmals empor, schleppten sich über den Boden hin, um endlich ihr letztes Ruheplätzchen zu finden.

Sie ging zum Bosquet; es machte einen traurigen Eindruck, wie ein Sterbezimmer. Die grüne Mauer, welche die lieblichen gewundenen Pfade von einander trennte und ihnen etwas geheimnisvolles verlieh, war entblättert. Hier und dort streckten die Ziersträucher, welche sonst das Gehölz belebt hatten, ihre mageren Zweige empor. Das Geräusch fallender Blätter, welche der Wind schüttelte, abriss und in Haufen auf die Erde streute, klang wie das schmerzhafte Stöhnen eines langsam Dahinsterbenden.

Die kleinen Vögelchen hüpften mit schrillem Gezirp von Zweig zu Zweig, um irgendwo Schutz zu finden.

Durch den dichten Vorhang der Ulmen geschützt, welche dem Seewinde Abbruch thaten, hatten die Linde und die Platane noch ihr Sommerkleid behalten; von den ersten Frösten getroffen, schienen sie jedoch die Farbe gewechselt zu haben, sodass die eine wie mit rotem Sammt, die andere mit orangefarbener Seide bekleidet schien.

Johanna ging langsam in »Mütterchens Allee« längs dem Pachthof der Couillards auf und ab. Es lag wie eine drückende Vorahnung der endlosen Langeweile ihres zukünftigen einförmigen Lebens auf ihrer Seele.

Dann setzte sie sich auf die Rasenbank, wo Julius ihr zum ersten Mal von Liebe gesprochen hatte. Dort blieb sie träumend, kaum eines Gedankens fähig, sitzen; sie fühlte sich müde bis ans Herz hinan und hätte sich am liebsten niedergelegt, um diesen traurigen Tag zu verschlafen.

Plötzlich bemerkte sie eine Möve, welche vom Winde durch die Lüfte getragen wurde, und da fiel ihr der Adler ein, den sie da unten in Korsika im finstern Ota-Thale gesehen hatte. Ihr Herz empfand die lebhafte Erregung, welche der Gedanke an etwas Schönes, das weit hinter uns liegt, hervorruft. Mit einem Male sah sie die herrliche Insel mit ihrem eigenartigen Aroma wieder vor sich, ihrem Sonnenglanz, in dem die Orangen und Citronen reiften, mit den rosigen Gipfeln ihrer Berge, dem Azurblau ihrer Buchten und ihren Thälern, durch welche die Bächlein rieselten.

Da erweckten das feuchte, rauhe Klima der Heimat, der melancholische Fall der Blätter und die vom Wind gejagten grauen Wolken in ihrem Herzen eine so grenzenlose Traurigkeit, dass sie nach Hause ging, um nicht laut aufweinen zu müssen.

Mütterchen schlummerte noch immer behaglich am Kamin; sie war der Melancholie dieser Tage so gewohnt, dass sie dieselbe nicht einmal bemerkte. Der Papa war mit Julius ausgegangen, um mit ihm von Geschäften zu sprechen. Schon senkte die Nacht ihre finsteren Schatten voraus in den grossen Salon, den der Widerschein des Herdfeuers zuweilen grell beleuchtete.

Draussen konnte man beim Rest des Tageslichtes noch jene trübe Herbstnatur und den grauen Himmel beobachten, der über sich selbst zu weinen schien.

Bald darauf erschien auch der Baron, gefolgt von Julius. Kaum war er in den finstern Raum getreten, als er heftig läutete und rief: »Licht! aber schnell! es ist ja ganz traurig hier.«

Hierauf setzte er sich gemütlich an den Kamin. Seine feuchten Schuhe dampften in der Nähe des Feuers und der getrocknete Schmutz fiel von seinen Sohlen.

»Ich glaube sicher,« sagte er, sich behaglich die Hände reibend, »dass es kalt wird. Der Himmel ist im Norden ganz klar und dabei haben wir heute Vollmond. Es wird diese Nacht gehörig frieren.

Nun, Kleine«, wandte er sich an seine Tochter, »freust Du Dich, wieder in der Heimat bei den Eltern zu sein?«

Johanna wurde durch diese einfache Frage verwirrt. Sie warf sich an den Hals ihres Vaters und küsste ihn heftig, die Augen voll Thränen, als wollte sie um Verzeihung bitten; denn trotz aller Anstrengungen, vergnügt zu scheinen, war ihr so bitter weh ums Herz. Sie dachte an die Freude, welche sie sich von dem Wiedersehen mit den Eltern versprochen hatte und war erstaunt über die Kälte, welche jetzt ihre Zärtlichkeit lähmte. Es war ihr zu Mute wie Jemandem, der in der Ferne viel an seine Lieben daheim gedacht hat und beim Wiedersehen, gleichsam als sei er ihnen entfremdet, eine Art Stockung seiner Zärtlichkeit empfindet, bis erst mal die Bande des gemeinsamen Zusammenlebens sich wieder erneuert haben.

Das Diner dauerte lange, aber es wurde wenig dabei gesprochen. Julius schien ganz seine Frau vergessen zu haben.

Im Salon liess sie sich hierauf durch das Kaminfeuer einschläfern. Ihre Mutter war wieder fest entschlummert. Einen Augenblick wurde Johanna wieder durch die Stimmen der zwei Herren wach, die über irgend etwas disputierten; und während sie ihre Gedanken zu sammeln suchte, frug sie sich, ob sie auch bereits von diesem dumpfen Stumpfsinn der Gewohnheit befallen sei, den nichts mehr zu erwecken vermag.

Die Flamme des Kaminfeuers, bei Tage mild und rötlich, wurde jetzt hell, lebhaft und knisternd. Sie warf vorübergehend ihren grossen Schimmer auf die Stickerei der Möbel, auf den Fuchs und den Storch, auf den einsamen Reiher, auf die Ameise und die Heuschrecke.

Der Baron näherte sich dem Feuer und streckte lächelnd seine flachen Hände gegen dasselbe aus.

»Ach, das brennt hübsch heute Abend«, sagte er. »Es friert, Kinder, es friert.«

Dann legte er eine Hand auf Johannas Schulter und deutete auf das Feuer.

»Siehst Du, Kindchen, das ist das Schönste und Beste auf der Welt, der Herd; der Herd mit den Seinigen darum. Darüber geht Nichts. Aber wie wär's, wenn wir schlafen gingen? Ihr werdet müde sein, Kinder.«

Als die junge Frau auf ihr Zimmer gekommen war, frug sie sich, wie es möglich sei, dass die Rückkehr nach ein und demselben Orte, den man zu lieben glaubt, sich so verschieden gestalte. Warum fühlte sie sich so zerschlagen; warum erschien ihr dieses Haus, diese teure Heimat, kurz Alles, was bis dahin ihr Herz bewegt hatte, so geistestötend?

Plötzlich fiel ihr Auge auf die Uhr. Die kleine Biene bewegte sich stets von rechts nach links und von links nach rechts mit derselben gleichmässigen Hast über den bronzenen Blumen dahin. Beim Anblick dieses kleinen zierlichen Machwerks, das so täuschend dem Leben nachgeahmt war und dessen Pendelschlag wie das Klopfen einer Brust ertönte, fühlte Johanna sich von einem Gefühl der Zärtlichkeit ergriffen, das sie fast bis zu Thränen rührte.

Selbst als sie ihren Vater und ihre Mutter umarmte, hatte sie sich nicht so bewegt gefühlt. Das Herz hat eben seine Geheimnisse, die kein Vernünfteln ergründet.

Zum ersten Male seit ihrer Verheiratung ging sie allein schlafen; denn Julius hatte, seine grosse Ermüdung vorschützend, sich auf ein anderes Zimmer zurückgezogen. Es war übrigens von vornherein ausgemacht worden, dass Jedes sein eigenes Zimmer haben sollte.

Lange konnte sie nicht einschlafen, so war sie schon daran gewöhnt, nicht mehr allein zu liegen. Zudem störte sie der heftige Nordwind, der an dem Dach des Schlosses rüttelte.

Am anderen Morgen wurde sie durch einen hellen Schimmer geweckt, der ihr Bett mit rosigem Lichte färbte. Auch die völlig bereiften Fensterscheiben waren rot, als ob der ganze Horizont in Flammen stände.

Sie hüllte sich in einen grossen Shawl und rannte ans Fenster, um es zu öffnen.

Ein kühler, reiner und gesunder Luftzug strömte ins Zimmer und umwehte ihr Gesicht, sodass bei der prickelnden Kälte ihr die Thränen in die Augen traten. An dem purpurumsäumten Horizont trat hinter den Bäumen des Parks, rötlich-glänzend und immer mehr anwachsend wie ein Traumgebilde, die Sonne hervor. Die mit weissem Reiffrost bedeckte Erde war hart und trocken; sie widerhallte unter den Schritten der Arbeitsleute. In dieser einen Nacht waren die letzten bisher noch belaubt gewesenen Zweige der Pappeln entblättert. Jenseits der Heide sah man die breite Linie der grünlich schimmernden Meeresflut mit weissen Schaumwellen gekrönt.

Auch die Platane und die Linde verloren bei dem heftigen Sturme rasch ihr Kleid. Bei jedem neuen Windstosse erhoben sich ganze Haufen von Blätter in die eisige Luft wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel. Johanna kleidete sich an, ging hinunter und entschloss sich, um doch irgend etwas zu thun, die Pächtersleute zu besuchen.

Die Martins erhoben vor Erstaunen die Hände und die Pächtersfrau küsste sie auf die Wangen; dann nötigte man ihr ein Gläschen Zwetschgengeist auf. Sie ging dann zu den Couillard's, welche ebenfalls die Hände zusammenschlugen. Die Pächterin küsste sie auf die Stirn und sie musste ein Gläschen Johannisbeerwein trinken.

Hierauf kehrte sie zum Frühstück heim. Der Tag verlief wie der vorhergehende; nur war er kalt, wo jener feucht war. Und die übrigen Tage der Woche glichen genau diesen beiden, ebenso wie die weiteren Wochen des Monats dieser ersten glichen.

Allmählich verlor sich ihre Sehnsucht nach den fernen Landen. Die Gewohnheit lullte ihr ganzes Leben in eine Art widerstandslosen Schlaf ein, ähnlich wie gewisse Wässer die Eigenschaft haben, den Boden, den sie tränken, zu verkalken. Mehr und mehr entstand wieder bei ihr ein gewisses Interesse an die tausenderlei Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens; sie begann sich den einfachen und harmlosen Beschäftigungen ihres Daseins mit Sorgsamkeit zu widmen. Es entwickelte sich bei ihr eine Art träumerische Melancholie; ihr Leben verlor das Zauberhafte, dem sie sich bisher hingegeben hatte. Was hätte ihr gefehlt? Wonach hätte sie Verlangen gehabt? Sie wusste es nicht. Sie besass keinen weltlichen Sinn und somit auch keine Vergnügungssucht, nicht einmal das Verlangen nach erreichbaren Freuden. Nach welchen übrigens? Alles verblasste langsam vor ihren Augen, es verwischte sich und nahm eine fahle trübe Färbung an, ähnlich wie die alten Möbel im Salon, die mit der Zeit verbleicht waren.

Ihr Verhältnis zu Julius hatte sich vollständig verändert. Seit ihrer Rückkehr von der Hochzeitsreise schien er ein ganz anderer geworden; wie ein Schauspieler, der seine Rolle vollendet hat und nun seine natürliche Miene wieder annimmt. Er bekümmerte sich kaum noch um sie, wenn er überhaupt noch mit ihr sprach. Jede Spur von Liebe schien plötzlich verschwunden zu sein. Nur ganz selten kam er noch Nachts zu ihr ins Zimmer.

Er hatte die Vermögens-Verwaltung übernommen, beaufsichtigte die Güter, plagte die Arbeiter und verminderte die Ausgaben. Und indem er selbst sich die Manieren und das Wesen eines biederen Landedelmannes aneignete, verlor er allmählich die elegante vornehme Art, die er als Bräutigam besessen hatte. Er kam aus einem alten Jagdkostüm von grauem Sammt mit kupfernen Knöpfen, das er unter seiner Junggesellen-Garderobe wieder aufgestöbert hatte, fast nicht mehr heraus, obschon es über und über voll Flecken war. Nicht mehr von dem Drange beseelt zu gefallen, hatte er aufgehört sich zu rasieren, sodass sein langer und schlecht zugestutzter Bart ihn unglaublich entstellte. Seine Hände waren nicht mehr wie einstmals sorgfältig gepflegt; und nach jeder Mahlzeit trank er vier oder fünf Gläschen Cognac.

Anfangs hatte Johanna versucht, ihm einige zärtliche Vorstellungen zu machen; aber er hatte sie in so rauhem Tone ersucht, ihn in Ruhe zu lassen, dass sie in Zukunft auf weitere Versuche verzichtete.

Die Wirkung dieser Veränderungen auf ihr eigenes Gemüt setzten sie selbst manchmal in Erstaunen. Er war für sie wieder ein völlig Fremder geworden, dessen Herz und Gemüt ihr noch verschlossen waren. Sie dachte oft hierüber nach und wunderte sich, wie es möglich sei, dass nach so zärtlichen Stunden, wie sie beide sie zusammen verlebt, sie sich plötzlich wie zwei Unbekannte gegenüberstanden, die nie das Bett miteinander geteilt hätten.

Und warum litt sie eigentlich gar nicht so sehr durch seine Vernachlässigung? War das immer so im Leben oder hatte man sie getäuscht? Würde es auch in Zukunft weiter nichts mehr für sie geben?

Wenn Julius hübsch, elegant, sauber und vornehm in seinen Manieren geblieben wäre, hätte sie wahrscheinlich mehr gelitten.

Man hatte beschlossen, dass von Neujahr an die jungen Leute allein bleiben sollten, während Mama und Papa zu einem mehrmonatlichen Aufenthalt nach Rouen zurückkehrten, wo sie ja ihr Hotel hatten. Das junge Paar wollte diesen Winter Peuples nicht verlassen, um sich dort völlig einzurichten und sich allmählich an die Stätte zu gewöhnen, wo sie ihr ganzes ferneres Leben zubringen würden. Ausserdem musste Julius seine junge Frau doch einigen Familien in der Nachbarschaft, wie den Brisevilles, den Couteliers und den Fourvilles vorstellen.

Aber die jungen Leute konnten mit ihren Besuchen noch nicht beginnen, weil es bis dahin nicht möglich gewesen war, den Maler zu bekommen, der die Wappenschilder an der grossen Kalesche verändern sollte.

Die alte grosse Familien-Equipage war seinerzeit vom Baron in aller Form dem Schwiegersohn abgetreten worden. Und Julius hätte um keinen Preis der Welt eingewilligt, seine Antritts-Besuche auf den Nachbarschlössern zu machen, wenn das Wappen der Lamare nicht neben dem der Le Perthuis des Vauds geglänzt hätte.

Nun gab es aber auf dem Lande dort weit und breit nur einen Mann, der sich noch speziell mit der Kunst der Wappenmalerei beschäftigte, ein Maler aus Bolbec, namens Bataille, der der Reihe nach auf allen Schlössern der Normandie beschäftigt war, die kostbaren Schildereien auf Kutschenschlägen zu erneuern.

Endlich eines Morgens im Dezember, gegen Schluss des Frühstücks, sah man ein Individuum das Thor öffnen und direkt auf das Schloss zuschreiten. Er trug einen Kasten auf dem Rücken. Das war Bataille.

Man liess ihn in den Speisesaal eintreten und setzte ihm wie einem Herrn zu essen vor. Seine Kunst, seine fortwährenden Beziehungen zu der gesamten Aristokratie des Landes, seine heraldischen Kenntnisse mit einem Worte, hatten ihn zu einem aussergewöhnlichen Manne gestempelt, dem die Edelleute die Hand drückten.

Es wurde sofort Papier und Bleistift herbeigeschafft, und während Bataille ass, entwarfen der Baron und Julius ihre Wappen mit allen Einzelnheiten. Die Baronin, die, sobald es sich um solche Dinge handelte, ganz lebendig wurde, gab ihre Ratschläge dazu. Sogar Johanna nahm an der Beratung Teil, als ob plötzlich irgend ein geheimnissvolles Interesse in ihr wach gerufen wäre.

Bataille gab, ruhig weiterkauend, seinen Senf dazu, nahm dazwischen mal einen Bleistift, zeichnete einen Entwurf, nannte dieses oder jenes Beispiel und beschrieb alle herrschaftlichen Equipagen des Landes. Sein ganzes Wesen, sein Geist, seine Art zu sprechen schienen selbst von dieser vornehmen Atmosphäre durchsetzt zu sein.

Es war ein kleiner Mann mit kurz geschorenen grauen Haaren, farbenbeschmutzten Händen und einem durchdringenden Firnisduft. Wie man sagte, hatte er früher mal eine hässliche Skandalgeschichte gehabt; aber die Achtung, mit der ihn alle vornehmen Familien des Landes schon behandelten, hatte längst diesen dunklen Fleck verwischt.

Nachdem er mit seinem Kaffee zu Ende war, führte man ihn zu der Remise, wo der Wachstuch-Überzug von der Kalesche abgezogen wurde. Bataille besichtigte sie genau, verbreitete sich mit wichtiger Miene über die Grössenverhältnisse, welche er seinem Entwurfe geben würde und begab sich schliesslich an die Arbeit, nachdem er noch dies und jenes an seinem Plane geändert hatte.

Die Baronin liess sich trotz der Kälte einen Sessel bringen, um der Arbeit zuzusehen; und nachdem man ihr eine Wärmflasche unter die Füsse gelegt hatte, begann sie gemächlich eine Plauderei mit dem Maler. Er musste ihr von Verbindungen erzählen, die sie noch nicht kannte, von Sterbefällen und Geburten, während sie hin und wieder aus ihren genealogischen Kenntnissen die notwendigen Ergänzungen dazu gab.

Julius war bei seiner Schwiegermutter geblieben. Er sass rittlings auf einem Stuhle, seine Pfeife rauchend und hin und wieder ausspuckend, während er aufmerksam zusah, wie sein Wappen gemalt wurde.

Bald machte auch Papa Simon, der sich gerade mit dem Spaten auf der Schulter zum Küchengarten begab, einen Augenblick Halt, um die Arbeit zu betrachten. Da die Nachricht von der Ankunft Batailles selbst bis zu den beiden Pachthöfen gedrungen war, so erschienen auch bald die beiden Pächtersfrauen. Sie standen ausser sich vor Entzücken zu beiden Seiten der Baronin.

»Nein, welche Kunst das erfordert, um diese zierlichen Schnörkeleien fertig zu bringen« wiederholten sie unaufhörlich.

Selbstredend dauerte es bis zum andern Morgen gegen elf Uhr, bis die Schilder auf beiden Schlägen vollendet waren. Alle Welt war schliesslich dabei zugegen, und man zog die Kalesche heraus, um sie bewundern zu können, als alles fertig war,

Man beglückwünschte Bataille, der bald darauf, seinen Kasten auf dem Rücken, wieder seines Weges zog. Der Baron und seine Frau, Julius und Johanna waren darin einig, dass der Maler ein Mann von ganz ausserordentlichen Talenten sei und es unter anderen Umständen gewiss zu einem grossen Künstler gebracht hätte.

Julius hatte aus Sparsamkeits-Rücksichten eine Menge Reformen eingeführt, welche jetzt wieder weitere Veränderungen notwendig machten.

Der alte Kutscher war Gärtner geworden, da der Vicomte selbst die Zügel zu führen pflegte. Die Kutschpferde waren verkauft, um sie nicht unnötig füttern zu müssen. Damit aber jemand die Zügel hielt, wenn die Herrschaft abgestiegen war, so hatte Julius einen kleinen Viehjungen Namens Marius zum Diener ausgebildet.

Um aber ein paar Pferde zur Hand zu haben, hatte er in den Pachtvertrag der Couillard und Martin eine besondere Klausel eingefügt, wonach die beiden Pächter verpflichtet waren, einmal im Monat an einem von ihm zu bestimmenden Tage jeder ein Pferd zu stellen, wofür sie von der Lieferung von Geflügel befreit waren.

Nachdem die Couillards eine grosse braune Stute und die Martins einen kleinen zottigen Schimmel herbeigebracht hatten, wurden die beiden Tiere zusammengespannt. Marius, den man in eine alte Livree des Papa Simon gesteckt hatte, fuhr dieses seltsame Gefährt vor die Rampe des Schlosses.

Julius hatte in seinem guten Anzug mit seiner schlanken Taille in etwas seine einstige Eleganz wiedergefunden; aber sein langer Bart verlieh ihm trotzdem ein gewöhnliches Aussehen.

Er betrachtete das Geschirr, den Wagen sowie den kleinen Diener und schien von seiner Prüfung befriedigt. Für ihn hatte vor allem nur das neue Wappen Bedeutung.

Die Baronin, welche am Arme ihres Gatten die Treppe herabgekommen war, stieg mühsam ein und nahm, eine Menge Kissen im Rücken, Platz. Johanna erschien gleichfalls. Anfangs lachte sie über die Zusammenstellung der beiden Pferde; der Schimmel, behauptete sie, sähe aus, wie das Kind der braunen Stute. Dann bemerkte sie Marius, dessen Kopf unter dem betressten Hute verschwand; nur die Nase hinderte denselben, noch tiefer zu sinken, während seine Hände von den viel zu langen Ärmeln vollständig verdeckt wurden. Seine Beine waren fast unsichtbar unter den langen Schössen der Livree, unter denen die Füsse, in enorme Stiefel gesteckt, seltsam hervorragten. Als sie sah, wie er den Kopf zurückbog, um sehen zu können, wie er beim Gehen das Knie beugte und die Füsse hob, als wollte er einen Bach überschreiten, oder wie ein Vogel, der zum Fliegen ansetzt, ganz versunken und verloren in seiner weiten Bekleidung, brach sie in ein unwiderstehliches endloses Gelächter aus.

Der Baron wandte sich um, sah sich den bestürzten kleinen Mann an und wurde derartig von Johanna's Gelächter angesteckt, dass er kaum sprechen konnte, während er seiner Frau zurief:

»Sieh, sieh nur den Ma-Ma-Marius an! Ist das komisch! Nein, sieht der komisch aus!«

Nun wurde auch die Baronin, welche sich zum Schlage herauslehnte und den Jungen betrachtete, von einem solchen Lachanfall ergriffen, dass die Kalesche auf den Federn hin- und hertanzte, als würde sie durch heftige Stösse erschüttert.

»Was habt ihr denn so zu lachen? Ihr müsst rein närrisch geworden sein,« frug Julius jetzt kreidebleich vor Ärger.

Johanna, ordentlich krank vor Lachen und unfähig, sich wieder zu beruhigen, setzte sich auf eine Treppenstufe; der Baron that desgleichen. Aus der Kalesche verkündete krampfhaftes Kichern, verbunden mit einer Art kollerndem Geräusch, dass die Baronin beinahe erstickte. Jetzt fing es plötzlich unter Marius Mantel auch an zu zucken; er hatte ohne Zweifel die Ursache des allgemeinen Gelächters begriffen und lachte in seiner Umhüllung aus Leibeskräften mit.

Julius stürzte zornig vor. Mit einer kräftigen Ohrfeige schleuderte er den betressten Hut vom Haupte des Jungen, dass er bis auf den Rasen flog.

»Mir scheint,« wandte er sich hierauf mit zornbebender Stimme an seinen Schwiegervater, »Sie hätten den wenigsten Grund zum Lachen. Es wäre nicht so weit mit uns gekommen, wenn Sie nicht Ihr Vermögen verschleudert und unsere Mitgift aufgezehrt hätten. Wer trägt denn die Schuld an diesem Vorfall?«

Alle Heiterkeit war sofort wie von einem eisigen Winde fortgeblasen; niemand sprach mehr ein Wort. Johanna, der die Thränen in den Augen standen, stieg still zu ihrer Mutter ein. Der Baron setzte sich überrascht und sprachlos den Damen gegenüber. Julius schwang sich auf den Bock und zog den heulenden Burschen zu sich herauf, dessen Backe angeschwollen war.

Der Weg war langweilig und schien sich endlos auszudehnen. Im Wagen herrschte Schweigen. Verstimmt und verlegen, wie sie alle drei waren, wollte doch keines dem anderen zugestehen, was ihre Herzen beschäftigte. Aber sie fühlten, dass es ihnen unmöglich gewesen wäre, von anderen Dingen zu sprechen; so sehr hielten ihre traurigen Gedanken sie befangen. Sie wollten daher lieber ganz schweigen, als dieses unliebsame Thema berühren.

Die Kalesche fuhr in dem unegalen Trab der beiden Gäule über die Höfe der beiden Pächterwohnungen. Hier und da stoben einige schwarze Hühner erschreckt auseinander und verschwanden in der Hecke; ein Wolfshund verfolgte bellend den Wagen, sprang dann wieder nach seiner Strohhütte zurück und wandte sich abermals um, um dem Wagen nachzubellen. Ein Bursche, der in schmutzigen Holzschuhen mit schlotterigen Knieen, die Hände tief in den Hosen, seines Weges ging, während der Wind ihm den blauen Kittel im Rücken aufblähte, sprang zur Seite, um den Wagen vorüberzulassen. Linkisch zog er seine Mütze und zeigte seine schlicht am Kopfe anliegenden Haare.

So fuhren sie an einem Pachthofe nach dem anderen vorüber, zwischen denen sich die kahlen Felder ausdehnten.

Endlich bog man in eine grosse Tannenallee ein, welche auf die Strasse mündete. Die tief ausgefahrenen Geleise verursachten eine heftige Schwankung des Wagens, und Mütterchen stiess mehrmals einen lauten Schrei aus. Ein weisses Thor am Ende der Allee war geschlossen, sodass Marius abspringen musste, um es zu öffnen. Man fuhr um einen grossen Rasenplatz herum und kam schliesslich vor einem hohen geräumigen und düster aussehenden Gebäude an, dessen Läden geschlossen waren.

Plötzlich öffnete sich die mittlere Thüre und ein alter gichtischer Diener in roter, schwarzgestreifter Weste, welche teilweise von einer Schürze bedeckt war, stieg langsam die Treppenstufen herab. Er bat um die Namen der Herrschaften und führte sie in einen geräumigen Salon, dessen herabgelassene Jalousieen er mühsam aufzog. Die Möbel waren mit Überzügen versehen, die Uhr und die Leuchter in Leinwand eingehüllt. Eine dumpfe, feuchte, eisige Luft, eine Luft wie von alter Zeit herrschte in diesem Raume und stimmte unwillkürlich zur Traurigkeit.

Man setzte sich und wartete. Auf dem Gange über dem Zimmer wurden hastige Schritte vernehmbar, die eine ungewohnte Unruhe verkündeten. Die überraschten Schlossbewohner schienen sich eiligst umzukleiden. Aber es dauerte doch lange. Mehrmals hörte man eine Glocke und dann wieder eilige Schritte treppauf und treppab.

Die Baronin wurde durch die unangenehme Kühle des Zimmers fortwährend zum Niesen gereizt. Julius ging mit grossen Schritten auf und ab. Johanna sass traurig neben ihrer Mutter. Der Baron stand am Kamin gelehnt und liess den Kopf hängen.

Endlich wurde eine der hohen Flügelthüren aufgerissen und Vicomte und die Vicomtesse de Briseville traten ein. Sie waren beide klein, von zierlicher Gestalt und hatten einen tänzelnden Gang. Ihr Alter war schwer zu bestimmen; ihr Benehmen war zeremoniell und verlegen.

Der Ehemann trug einen prächtigen Leibrock; er grüsste, indem er leicht das Knie beugte. Seine Nase, seine Augen, seine Zähne, seine pomadisirten Haare und seine ganze prächtige Kleidung hatten einen Glanz wie Sachen, die man mit grosser Sorgfalt hegt und pflegt.

Nachdem man die ersten Höflichkeitsformeln von der Freude über den Besuch der lieben Nachbarn ausgetauscht hatte, fing das Gespräch bereits zu stocken an. Dann wurde es wieder in Gang gebracht, indem man sich gegenseitig Liebenswürdigkeiten sagte, ohne recht den Grund dafür zu wissen. Man würde hoffentlich beiderseits die vortrefflichen Beziehungen zu einander fortsetzen. Es wäre doch zu schön, sich öfters zu besuchen, wo man das ganze Jahr auf dem Lande wohne.

Die eisige Luft des Salons drang allen durch Mark und Bein. Die Baronin hustete bereits, von heftigem Niesen zuweilen noch unterbrochen. Der Baron gab endlich das Zeichen zum Aufbruch. Die Brisevilles protestierten. »Wie? schon so eilig? Bleiben Sie doch noch ein wenig.« Aber Johanna hatte sich bereits erhoben trotz der Winke ihres Mannes, dem der Besuch zu kurz dünkte.

Man wollte dem Diener schellen, um den Wagen vorfahren zu lassen; aber die Schelle ging nicht. Der Hausherr stürzte selbst fort, und kam mit der Nachricht zurück, dass die Pferde noch im Stalle ständen.

Man musste also warten. Jeder suchte nach einem Wort, um die Unterhaltung nicht einschlafen zu lassen. Man sprach von dem regnerischen Winter. Johanna frug mit heimlichem Grausen, was die Beiden so allein, den ganzen Winter über machten. Die Brisevilles waren über diese Frage sehr erstaunt, denn sie beschäftigten sich fortwährend, schrieben ihren durch ganz Frankreich verstreuten vornehmen Verwandten, brachten die Tage mit mikroskopischen Untersuchungen zu, beobachteten gegen einander dieselbe steife Etikette wie gegen Fremde und unterhielten sich feierlich über die unbedeutendsten Dinge.

Diese beiden Leutchen, so klein, so sauber, so korrekt in ihrer Haltung kamen Johanna unter dem Plafond des unwohnlichen Salons, wo alles in Leinwand verpackt war, wie zwei in Vornehmheit eingemachte Wesen vor.

Endlich erschien der Wagen mit seiner ungleichen Bespannung. Aber Marius war nicht dabei. Er hatte geglaubt, bis zum Abend frei zu sein, und war zweifelsohne ein wenig in die Nachbarschaft gegangen.

Julius bat wütend, man möge ihn zu Fuss zurücksenden. Nach vielen Abschiedsgrüssen hin und her schlug man endlich den Rückweg nach Peuples ein.

Sobald sie in der Kalesche sassen, begannen Johanna und ihr Vater, trotz des Druckes, der noch von Julius' Ungezogenheit auf ihnen lastete, unter lautem Gelächter die Manieren und die Sprachweise der Brisevilles nachzumachen. Der Baron copirte den Vicomte und Johanna die Vicomtesse. Aber die Baronin fand das unpassend und sagte:

»Es ist sehr Unrecht, sich über sie lustig zu machen. Die Leute sind sehr comme il faut und von ausgezeichneter Familie.«

Man schwieg, um Mütterchen nicht zu verletzen; aber unwillkürlich verfielen beide wieder von Zeit zu Zeit auf ihre alten Witze. Er machte eine zeremonielle Verbeugung und sagte mit feierlichem Ton:

»Ihr Schloss Peuples, Madame, muss sehr kalt sein, bei den heftigen Nordwinden, die da immer wehen.«

Sie nahm eine geschraubte Miene an und indem sie sich mit einem leichten Schütteln des Kopfes wie ein badender Enterich zierte, entgegnete sie:

»Oh, mein Herr, ich habe hier das ganze Jahr meine Beschäftigung. Dann haben wir so viele Verwandte, mit denen wir in Briefwechsel stehen. Und Herr von Briseville ladet mir Alles auf. Er treibt mit dem Abbé Pelle zusammen gelehrte Forschungen. Sie schreiben gemeinschaftlich die Kirchengeschichte der Normandie.«

Die Baronin lachte nun doch, halb ärgerlich, halb ergötzt und wiederholte: »Man sollte sich doch nicht so über Standesgenossen lustig machen.«

Aber plötzlich hielt der Wagen an; man hörte Julius irgend jemanden nach rückwärts etwas zurufen. Johanna und der Baron, die sich aus dem Wagen gebeugt hatten, bemerkten ein sonderbares Wesen, das auf sie zuzurollen schien. Es war Marius, der, so schnell ihn seine Füsse trugen, dem Wagen gefolgt war. Seine Beine waren durch die fliegenden Rockschösse seiner Livree behindert, seine Augen blendete der hin und her rutschende Hut; er schwenkte die Arme wie zwei Windmühlenflügel, patschte in die grossen Wasserlachen, die er zu überspringen suchte, stolperte über alle Steine im Wege, hüpfte, schüttelte sich, und war ganz mit Schmutz bedeckt.

Sobald er den Wagen erreicht hatte, beugte Julius sich herab, fasste ihn am Kragen, zog ihn zu sich herauf und begann ihn mit Faustschlägen zu traktiren, sodass der Hut ihm bis auf die Schultern sank und es einen Ton wie eine Trommel gab. Der Bursche dadrunter heulte, suchte sich loszuwinden und vom Sitz zu springen, während sein Herr ihn mit der einen Hand festhielt und mit der anderen lustig drauflos schlug.

»Papa . . . ach! Papa!« stammelte Johanna entsetzt; und die Baronin ergriff voll Entrüstung den Arm ihres Mannes. »So halt ihn doch zurück, Jakob!« Da öffnete der Baron schnell das Fenster vorn am Wagen und fasste seinen Schwiegersohn am Arm.

»Haben Sie das Kind nun bald genug geschlagen . . .?« frug er mit zitternder Stimme.

»Sehen Sie denn nicht, wie der Tölpel seine Livree zugerichtet hat?« frug Julius ärgerlich zurück.

»Ach, was hat denn das zu sagen!« entgegnete der Baron, der den Kopf zwischen die Beiden gesteckt hatte. »Soweit kann die Rohheit doch nicht gehen.«

»Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe, das ist nicht Ihre Sache!« erhitzte sich Julius aufs Neue und hob abermals die Hand. Aber sein Schwiegervater drückte ihm dieselbe mit solcher Kraft herunter, dass er sie gegen das Holz des Sitzes stiess.

»Wenn Sie nicht aufhören,« schrie er heftig, »steige ich aus und werde Sie schon zur Ordnung bringen; das werde ich . . .« Der Vicomte beruhigte sich plötzlich und schlug achselzuckend, ohne ein Wort zu sagen, auf die Pferde ein, sodass sie in schnellem Trabe davonrannten.

Die beiden Damen, ganz aufgelöst, rührten sich kaum und man hörte deutlich im Innern des Wagens den lauten Herzschlag der Baronin.

Beim Diner war Julius liebenswürdiger wie gewöhnlich, als ob nichts vorgefallen wäre. Johanna, ihr Vater und Madame Adelaïde, die in ihrer Gutmütigkeit schnell vergassen und froh waren, ihn so liebenswürdig zu sehen, stimmten seiner heiteren Laune zu, wie bei Jemandem, der sich auf der Besserung befindet. Als Johanna wieder auf die Brisevilles zu sprechen kam, stimmte ihr Mann selbst in ihre Scherze ein; aber er fügte dann schnell hinzu: »Ganz egal, vornehme Allüren haben sie doch.«

Man machte keine weiteren Besuche, da jedes fürchtete, die Szene mit Marius könnte sich wiederholen. Man beschloss nur, zum Neujahrstage den Nachbarn Karten zu schicken und für den Besuch die ersten warmen Tage des nächsten Frühlings abzuwarten.

Weihnachten kam heran. Man hatte den Pfarrer, den Maire und dessen Frau zum Diner eingeladen und bat sie für Neujahr abermals zu demselben. Dies waren die einzigen Zerstreuungen, welche die Einförmigkeit der Tage unterbrachen.

Papa und Mütterchen wollten Peuples am 9. Januar verlassen. Johanna hätte sie gern noch zurückgehalten, aber Julius schien dafür weniger eingenommen zu sein. Der Baron, der die immer mehr zunehmende Kälte seines Schwiegersohnes bemerkte, liess einen Postwagen von Rouen kommen.

Am letzten Tage vor ihrer Abreise, als man mit dem Packen fertig war, beschlossen Johanna und ihr Vater bei dem klaren Frostwetter einen Spaziergang nach Yport zu machen, wo sie seit ihrer Rückkehr von Corsika nicht mehr gewesen waren.

Sie kamen durch das Gehölz, wo sie an ihrem Hochzeitstage mit Julius gewesen war. Damals war sie ganz aufgegangen in den, dessen Gefährtin sie fürs ganze Leben sein sollte; in diesem Holze hatte sie seine ersten Zärtlichkeiten empfangen, hatte im ersten Liebesschauer gezittert, hatte jenen Sinnesgenuss vorausgefühlt, den sie in Wirklichkeit erst in dem romantischen Ota-Thale, dort an der Quelle kosten sollte, als ihre Küsse sich unter dem Wasser vermengten.

Jetzt gab es kein Laub mehr, keine sprossenden Kräuter; man hörte nur noch das Knarren der Äste und jenen trockenen Ton, den die entlaubten Zweige im Winter von sich geben.

Sie kamen in das Dörfchen. Die öden stillen Strassen dufteten nach Meeresluft, nach Seegras und Fischen. Die grossen lohfarbenen Netze, die vor den Häusern hingen oder auf dem Boden ausgebreitet waren, trockneten noch wie sonst an der Luft. Das graue kalte Meer mit seinen ewig grollenden Schaumwogen begann zu sinken; schon lagen nach Fécamp zu die grünlichen Felsen am Fuss der Küste entblösst. Die grossen umgestülpten Kähne längs des Strandes sahen wie mächtige tote Fische aus. Der Abend brach herein. Die Fischer kamen in Gruppen heran, schwerfällig in ihren grossen Wasserstiefeln dahinschreitend, den Kopf mit einem Wolltuch verhüllt, eine Branntweinflasche in der einen Hand und in der anderen die Bootslaterne. Lange umstanden sie ihre umgestülpten Fahrzeuge, rückten sie dann zurecht und luden mit echt normännischer Langsamkeit ihre Netze, ihre Bojen, ein dickes Brot, einen Topf Butter und die Branntweinflasche ein. Dann schoben sie die Barke ans Wasser, die mit grossem Geräusch über den Kies rollte, den Schaum aufspritzen liess und auf den Wogen schwamm. Einige Augenblicke tanzte sie hin und her, dann breitete sie wie ein Vogel ihre grossen braunen Flügel aus und allmählich verschwand ihr kleines Licht an der Spitze des Mastbaumes im Dunkel der Nacht.

Die starkknochigen Fischerfrauen, deren dürre Beine unter den kurzen Röcken hervorsahen, kehrten, als der letzte Fischer abgefahren war, in das öde Dorf zurück und erfüllten mit ihren kreischenden Stimmen die stille Ruhe der Nacht.

Schweigend betrachteten der Baron und Johanna die Ausfahrt dieser Leute, welche sie jede Nacht unternahmen und bei der sie jedesmal ihr Leben aufs Spiel setzten, um nicht vor Hunger zu sterben. Und doch ging es ihnen so schlecht, dass sie niemals ein Stück Fleisch auf dem Tische sahen.

»Das ist schrecklich und schön zugleich«, sagte der Baron mit einem begeisterten Blick auf den Ocean. »Dieses Meer mit seiner Finsternis, auf dem so Mancher sein Leben lässt. Grossartig, nicht wahr, Johanna?«

»Aber doch noch nichts gegen das Mittelländische Meer«, sagte sie mit kühlem Lächeln.

»Das Mittelländische Meer?« sagte ihr Vater fast entrüstet. »Was ist das? Öl, Zuckerwasser, blaues Wasser in einem Waschbecken. Sieh nur dieses hier, wie schrecklich es ist mit seinen Schaumwellen. Und denke nur an alle diese Leute, die dadrauf hinausgefahren sind und die niemals zurückkehren.«

»Nun ja, wie Du meinst«, sagte Johanna mit einem Seufzer. Aber dieses Wort »Mittelländisches Meer«, das ihr auf die Lippen gekommen war, hatte aufs neue ihr Herz getroffen, und sie in Gedanken wieder in jene Gegenden versetzt, die alle ihre Träume erfüllten.

Vater und Tochter kehrten nicht wieder durch das Gehölz zurück, sie benutzten die Landstrasse und stiegen langsam die Küste hinan, das Herz voll Traurigkeit ob der bevorstehenden Trennung.

Zuweilen, während sie den Gräben des Pachthofes entlang gingen, schlug ihnen der Geruch von zerquetschten Äpfeln, dieser eigentümliche Dunst von frischem Cider ins Gesicht, der zu dieser Zeit über der ganzen Normandie zu lagern scheint. Dazwischen mengte sich ein kräftiger Stalldunst, jener gesunde warme Dunst, wie er aus dem Kuhstall hervordringt. Im Hintergrunde des Hofes zeigte ein kleines erleuchtetes Fenster die Stelle an, wo das Wohnhaus stand.

Johanna kam es vor, als ob ihr Herz sich erweitere und unsichtbare Dinge umfasse. Diese einzelnen Lichter, die in der Gegend ringsum verstreut waren, schienen ihr das getreue Abbild der Einsamkeit jener Wesen, die stets für sich leben, stets von Allem getrennt sind, und die alles von jenen abzieht, welche sie lieben würden.

»Das Leben ist nicht immer schön«, sagte sie hierauf in resigniertem Tone.

»Was kann man machen, Kindchen?« seufzte der Baron, »wir können es nicht ändern.«

Am andern Morgen reisten die Eltern ab. Johanna und Julius waren nun allein.

*


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