Guy de Maupassant
Der Morin – das Schwein
Guy de Maupassant

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Hör mal, lieber Freund«, sagte ich zu Labarbe, »eben hast du wieder so bedeutsam die vier Worte ausgesprochen: ›der Morin – das Schwein!‹ Ja, zum Deibel noch mal, warum höre ich nie etwas anderes über den Mann als nur immer und immer wieder diese Redensart: ›der Morin – das Schwein, der Morin – das Schwein‹?«

Labarbe – heute ist er längst unter die würdevollen Volksvertreter und Parlamentarier gegangen – starrte mich groß an aus seinen Nachtkauzaugen: »Was? Aus La Rochelle willst du sein und kennst die Geschichte vom Morin noch nicht?!«

Ich mußte zugeben, daß ich die Geschichte wirklich noch nicht kannte. Da hob er händereibend an: »Aber die Firma Morin, die ist dir wohl noch ein Begriff, was? Du erinnerst dich doch – der große Galanteriewarenladen Morin am Kai?«

»Ja, natürlich!«

»Na also, dann laß dir erzählen: Anno zwoundsechzig, es kann auch dreiundsechzig gewesen sein, da machte unser Morin mal 'nen kleinen Rutsch nach der Hauptstadt, so für vierzehn Tage – Geschäftsreise, wie er sagte, um sich mit Novitäten einzudecken und so. Na, du kannst dir ja denken, was so ein Provinzkaufmann vierzehn Tage lang in der Weltstadt alles zu ›tun‹ hat . . .! Schon der Gedanke an Paris kann einem ja das Blut in Wallung bringen. Alle Abende etwas los: Theater, Amüsements, ständig in Fühlung mit der Damenwelt – mit einem Wort: Aus dem Nervenkitzel kommt man da nicht heraus. Geradezu verrückt, Mann, kann einen das machen! Tänzerinnen im hauchdünnsten Trikot, Bühnendivas mit dem prachtvollsten Busen, die strammsten Beinchen, die rundesten, marmornsten Schultern – alles zum Greifen und dann doch nicht zu erreichen. Kaum, daß man mal hie und da naschen kann; und wenn schon mal, dann auch nicht immer so Sachen erster Güte. Tja, und dann heißt es schon wieder adieu sagen – das Herz noch voller Schwung und die Seele voller Rausch und auf den Lippen noch das prickelnde Verlangen nach Küssen . . .

In dem Zustand fühlte sich unser Morin, als er wieder auf dem Orléans-Bahnhof stand und seine Fahrkarte für die Heimreise löste. In gereizter Abschiedsstimmung, nachkostender Erregung voll, wandelte er in der großen Halle auf und ab. Es war noch etwas Zeit bis zur Abfahrt mit dem Abendschnellzug zwanzig Uhr vierzig nach La Rochelle. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen: Vor ihm, gerade vor ihm schließt eine junge Dame ihre ältere Begleiterin in die Arme und küßt sie. Sie hatte ihren Schleier hochgestreift. Morin entfuhr der leise Ruf der Bewunderung: ›Donnerwetter – ist die hübsch!‹

Als die beiden mit ihren Umarmungen fertig waren, rauschte die junge Dame dem Wartesaal zu. Unser Morin hinterher. Nach einem Weilchen trat sie auf den Bahnsteig hinaus. Unser Morin ihr nach. Schließlich stieg sie ein, in einen leeren Wagen. Unser Morin immer hinter ihr drein.

Die wenigen Mitreisenden verteilten sich in die Abteile. Die Lokomotive pfiff. Der Zug setzte sich in Bewegung. Sie waren allein . . .

Er fraß sie förmlich auf mit den Augen. Sie war schätzungsweise neunzehn oder zwanzig, blond, groß, hatte etwas Selbstbewußtes in Blick und Haltung. Sie wickelte sich ihre Reisedecke um Hüften und Beine und streckte sich auf die Polster zur Ruhe aus.

Er fragte sich:›Was für eine mag die da sein?‹ Und tausend Vermutungen, tausend Pläne kreuzten sich in seinem Hirn. Er dachte: ›Es wird immer so viel erzählt von Reiseabenteuern. Vielleicht wartet hier schon mein ganz großes auf mich? Wer weiß – manchmal kommt das Glück über Nacht. Man müßte nur richtig zufassen. Hat nicht schon Danton gesagt: Mut, Mut und nochmals Mut!? Hm, und wenn's nicht Danton gesagt hat, dann bestimmt Mirabeau! Ist ja auch schließlich egal. Aber ich trau' mich doch nicht recht, da liegt der Hase im Pfeffer! Ach, wenn man wüßte – wenn man in das Innere einer Weiberseele hineinschauen könnte! Ich möchte wetten, die fabelhaftesten Gelegenheiten läßt man tagtäglich an sich vorüberrauschen, glatt vorüberrauschen, ohne was zu ahnen. Wenn sie bloß die kleinste Andeutung machte, daß sie nicht abgeneigt wäre!‹

So überlegte er hin und her: Wie könnte man die Sache bloß am erfolgreichsten anpacken? Also – wie wird so was denn immer gedeichselt? Zunächst ritterlichen Annäherungsversuch unternehmen. Mit irgend so ein paar netten Aufmerksamkeiten kommen. Daraus müßte sich dann von selber eine lebhaftere, immer galantere Unterhaltung entwickeln. Schlußeffekt: offene Erklärung! Die würde dann ganz von selbst dazu führen, daß . . . Na, alles Weitere kannst du dir ja selbst ausmalen!

So verfloß die Nacht. Die Schöne schlummerte ruhig weiter auf ihren Polstern, und Morin überlegte hin und her, hin und her, wie ihr am besten beizukommen wäre.

Es dämmerte, es wurde heller und heller. Schon fuhr der erste Sonnenstrahl, ein langer, blitzender, kecker Strahl neckisch über das hübsche Gesicht der Schläferin.

Da erwachte sie, setzte sich auf, warf einen Blick hinaus in die Landschaft, sah dann Morin an und lächelte. Es war das Lächeln einer glücklichen Frau, bezaubernd und heiter. Morin durchrieselte es: Kein Zweifel, es war an ihn gerichtet! Dieses Lächeln galt ihm! Es war eine wortlose Aufforderung, das Zeichen, auf das er die ganze Zeit gewartet hatte! Dies vielsagende Mona-Lisa-Lächeln bedeutete: ›Sind Sie aber schwer von Begriff! Sind Sie ein keuscher Joseph! Ein Einfaltspinsel! Steif wie ein Besenstiel dazulehnen! Stundenlang! Seit gestern abend! Augen auf! Hergeschaut! Bin ich nicht bezaubernd? – Und du, du kannst mit solch einer entzückenden Frau eine ganze Nacht lang allein im Coupé sitzen und wagst nichts, du – Riesendummkopf?!‹

Sie lächelte und sah ihn fortwährend dabei an. Jetzt begann sie auch noch, laut heraus zu lachen. Da verließ ihn sein letztes bißchen Verstand: Er suchte nach irgendeinem passenden Wort, irgendeinem netten Kompliment, ganz gleich was, das er ihr sagen könnte. Aber er fand nichts, absolut nichts wollte ihm einfallen. Da überkam ihn die Tollkühnheit. Er dachte: ›Ach was, jetzt geh' ich aufs Ganze!‹, und stürzte ohne weiteres mit weit ausgereckten Armen, mit gierig gespitzten Lippen auf sie los, packte sie und küßte sie . . .

Mit einem Sprung fuhr sie hoch und schrie: ›Hi-i-ilfe!‹ Sie kreischte vor Entsetzen. Mit einem Ruck riß sie die Wagentür auf, fuchtelte mit den Armen in die Luft hinaus, halb wahnsinnig vor Schreck, und machte Miene, hinauszuspringen. Morin sah schon alles verloren, hielt sie krampfhaft fest an ihrem Rock, vor Angst, sie könne sich wirklich hinausstürzen, zerrte sie zurück und stotterte in einem fort: ›Aber Madame . . . aber Madame . . . oh . . .!‹

Der Zug bremste und hielt. Zwei Beamte liefen auf die verzweifelt aus der Wagentür winkende junge Dame zu. Sie sank ihnen in die Arme und konnte nur noch hauchen: ›Dieser Mensch wollte . . . wollte mich . . . mich . . .‹ Damit fiel sie in Ohnmacht.

Das ereignete sich auf dem Bahnhof in Mauzé. Zufällig war der Ortsgendarm auf der Station; er nahm Morin sofort fest.

Als das Opfer seines Gewaltaktes wieder zu sich kam, schritt man zur Zeugenvernehmung. Die Behörde nahm die Aussagen zu Protokoll. Der Herr Galanteriewarenhändler konnte erst abends die unterbrochene Heimreise wieder antreten. Ganz verdattert sah er aus. Jedenfalls hing eine Anklage drohend in der Luft: wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses.

Ich war damals Chefredakteur am ›Charenter Fanal‹ und traf unsern Morin Abend für Abend im ›Café du Commerce‹.

Gleich am Abend nach seinem schiefgegangenen Abenteuer kam er ratlos zu mir. Was sollte er bloß machen?! Ich hielt nicht hinter dem Berge: ›Ein Schwein bist du! So benimmt man sich nicht!‹

Da kriegte er das heulende Elend. Seine Alte mache ihm die Hölle heiß! Er sehe schon alles kommen: sein schönes Geschäft in die Binsen, sein ehrlicher Name durch die Zeitung geschmiert! Seine besten Freunde grüßten ihn nicht mehr! – Da tat er mir schließlich doch ein bißchen leid, und ich zog meinen Mitarbeiter Rivet zu Rate, ein pfiffiges Bürschchen, das immer irgendwie einen Ausweg wußte.

Er riet, sich an den befreundeten Staatsanwalt X zu wenden. Ich schickte unsern Morin denn nach Hause und suchte den Rechtskundigen auf.

Dort erfuhr ich, daß die so schwer beleidigte junge Dame Mademoiselle Henriette Bonnel heiße; sie habe gerade glücklich in Paris ihr Lehrerinnenexamen bestanden und sei zur Erholung, da sie keine Eltern mehr habe, zu Onkel und Tante gereist. Die Verwandten seien ehrsame Rentnersleute und besäßen ein Landhäuschen in Mauzé.

Was nun aber an der ganzen Geschichte so besonders erschwerend wäre, sei der Umstand, daß der Onkel inzwischen schon Klage gegen Morin eingereicht habe. Die Staatsanwaltschaft könne die Sache von sich aus noch fallenlassen, wenn der Kläger zur Zurücknahme seiner Klage zu bewegen sei.

Das mußte also erreicht werden, unter allen Umständen!

Ich suchte unsern Missetäter in seiner Wohnung auf. Er steckte im Bett; ganz krank war er vor Angst und Aufregung. Seine bärbeißige Alte, ein mächtig stachliger Drachen, schien ihm gewaltig zuzusetzen. Sie ließ mich ein und schnauzte gleich mordsmäßig los: ›Den Morin, das Schwein, wollen Sie sehn? Da, da ist er, der Saukerl!‹

Und mit eingestemmten Fäusten pflanzte sie sich auf vor seinem Bett. Ich machte ihm die Situation klar. Er flehte mich an, zu den Leuten hinzufahren, die Sache für ihn zu bereinigen! Es war eine etwas heikle Mission, aber ich übernahm sie schließlich. Der arme Teufel beteuerte mir in einem fort: ›Ich versichre dir, nicht mal richtig fest in den Armen hab' ich sie gehabt! Nicht mal richtig fest in den Armen hab' ich sie gehabt! Ehrenwort!‹

Ich sagte nur: ›Ganz egal! Ein Schwein bist du doch!‹, und steckte entschlossen die tausend Francs ein, die ich nach Gutdünken verwenden sollte.

Da ich es aber doch nicht für ganz angebracht hielt, in so einer Mission mich ohne Zeugen in das Haus der ehrsamen Leute zu begeben, schlug ich Rivet vor, mich hinzubegleiten. Er sagte zu, allerdings unter der Bedingung, daß wir sofort losführen, da er bis zum andern Nachmittag wegen wichtiger Sachen wieder in La Rochelle sein müsse.

So klingelten wir denn schon zwei Stunden später an der Tür eines netten Landhäuschens in Mauzé. Eine hübsche junge Dame empfing uns, sicherlich ›sie‹. Ich flüsterte Rivet zu: ›Donnerwetter, Mensch, jetzt kann ich Morin verstehen!‹

Monsieur Tonnelet, der Onkel, war ausgerechnet Stammabonnent unseres ›Fanals‹, also überzeugter Gesinnungsgenosse. Er nahm uns mit offenen Armen auf, hieß uns willkommen, schüttelte uns die Hände und war überglücklich, gleich zwei Redakteure seines Leib- und Magenblattes bei sich zu begrüßen. Rivet tuschelte mir ins Ohr: ›Paß auf, die Sache mit dem Schwein Morin kriegen wir schon hin!‹

Die Nichte hatte uns allein gelassen. Ich brachte gleich die heikle Angelegenheit aufs Tapet und malte sie dem Herrn Onkel in den schwärzesten Farben. Mit allem Nachdruck wies ich darauf hin, welch unangenehmen Folgen doch für die junge Dame all das Gerede, das sich immer um solch eine Geschichte erhöbe, haben könne! Kein Mensch würde doch glauben, es sei bei einem harmlosen Kuß geblieben!

Der gute Mann war sich unschlüssig: Eigentlich könne er dazu nichts Endgültiges sagen, ohne seine Frau mit zu Rate gezogen zu haben. Und sie komme erst spät am Abend heim. Plötzlich stieß er einen kleinen Triumphschrei aus: ›Halt, ich habe eine famose Idee! So schnell kommen Sie überhaupt nicht los bei mir. Sie bleiben erst mal da, essen mit uns und übernachten hier. Und wenn meine Teure eingetrudelt ist, dann werden wir miteinander schon klarkommen!‹

Rivet sagte erst, nein, es ginge nicht. Aber als ich ihm durch Zeichen klarmachte, daß wir doch auf jeden Fall unsern Morin, das Schwein, aus der Patsche ziehen wollten, da gab er schließlich nach. Und so blieben wir denn.

Der Onkel strahlte, erhob sich, rief seine Nichte, schlug uns einen Rundgang durch sein Besitztum vor und bekundete: ›Die ernstlichen Sachen wollen wir mal bis heut' abend zurückstellen.‹

Damit wandte er sich Rivet zu und erging sich mit ihm in politischen Gesprächen.

Ich wandelte an der Seite der jungen Nichte hinterher, ein paar Schritt hinter den beiden. Das Mädchen war wirklich bezaubernd!

Vorsichtig lenkte ich unsere Unterhaltung auf ihr Abenteuer, um mich zu vergewissern, wie sie darüber dächte, und sie womöglich günstig zu stimmen.

Es sah nicht aus, als wäre sie sehr verlegen; im Gegenteil, sie hörte mir zu, als amüsiere sie die Geschichte höchlichst.

Ich redete und redete: ›Bedenken Sie, Mademoiselle, was Ihnen sonst noch daraus für Unannehmlichkeiten erwachsen können! Sie müssen vor Gericht erscheinen, Sie müssen sich anstieren lassen von einer Masse schadenfroher Zuschauer und Zuhörer, in aller Öffentlichkeit Ihre Aussage wiederholen, coram publico haarklein den ganzen wenig schönen Auftritt berichten! Unter uns gesagt, sehen Sie mal, wäre es nicht doch noch klüger gewesen, Sie hätten den Fall auf sich beruhen lassen, Sie hätten den unverschämten Kerl energisch, aber ruhig in seine Schranken verwiesen, ohne erst das gesamte Bahnpersonal und die Gendarmerie zusammenzutrommeln? Wenn Sie ganz einfach das Abteil gewechselt hätten, dann . . .‹

Sie fing an zu lachen: ›Sie haben vollkommen recht! Aber was wollen Sie? Ich hatte eben Angst, und wenn man Angst hat, dann überlegt man doch nicht weiter! Hinterher, als mir klar wurde, was eigentlich los war, da dachte ich natürlich auch: Besser, du hättest nicht gleich laut geschrien und gerufen! Aber da war es eben zu spät. Stellen Sie sich doch mal vor: Mit einem Blick ist er auf mich losgestürzt, mit einem Blick, der alberne Mensch, wie ein Verrückter, ohne einen Ton zu sagen! So stur, als wollte er geradezu durch die Wand! Ich wußte ja gar nicht, was er überhaupt wollte!‹

Sie blickte mir, während sie das sagte, ohne die mindeste Verlegenheit ins Gesicht, und ich dachte: ›Deibel, muß das aber eine schlaue Katze sein! Nun ist mir klar, wieso der Morin, das Schwein, bei der an die falsche Adresse kam!‹

Nun ging ich zum Flirten über: ›Betrachten Sie, Mademoiselle, die Sache doch einmal von der anderen Seite! Dann werden Sie mir einräumen, daß so ein Vorgehen immerhin entschuldbar ist. Bei einer Schönheit wie der, die hier vor mir steht, muß man doch den sehr verständlichen Wunsch empfinden, zu küssen . . .!‹

Wieder lachte sie so hellauf, daß alle Zähne blitzten: ›Zwischen Wunsch und Tat, Monsieur, ist aber doch noch Raum für den Anstand!‹

Die Bemerkung war spritzig, wenn auch nicht ganz klar. Ich fragte rasch: ›Schön, und wenn zum Beispiel – wenn ich Sie jetzt, auf der Stelle, küßte? Was täten Sie dann?‹

Sie blieb stehen, sah mich von oben bis unten an und sagte ganz ruhig: ›Oh, Sie – das ist etwas anderes . . .!‹

Na und ob – das wußte ich natürlich, daß es mit mir etwas anderes ist! Ich hieß doch nicht umsonst in der ganzen Gegend ›der schöne Labarbe‹! Damals war ich dreißig. Ich fragte aber trotzdem: ›Wieso?‹

Sie zuckte die Achseln und sagte leichthin: ›Na ja, das liegt doch auf der Hand! Weil Sie nicht so ein langweiliger Peter sind wie der!‹ – dann mit einem Blick von unten herauf: ›Und auch nicht so ein widerlicher Kerl . . .!‹

Da, ehe sie es sich versah, hatte ich ihr auch schon einen heftigen Kuß auf die entzückende Wange gedrückt. Als sie sich blitzartig zur Seite bog, war es schon geschehen. Sie sagte: ›Na, Sie legen auch nicht gerade Zurückhaltung an den Tag! Bitte, lassen Sie jetzt das Geschäker.‹

Ich machte ein ganz ergebenes Gesicht und beteuerte innig: ›Oh, Mademoiselle! Wenn mein Herz einen Wunsch hegt, dann nur den einen – wegen derselben Anklage vor Gericht zu kommen wie Morin!‹

Nun war sie am Fragen: ›Wieso?‹

Ich sah ihr tief in die Augen: ›Weil Sie eins der schönsten Geschöpfe der Natur sind! Weil es für mich ein Ruhm und eine Ehre wäre, Ihnen zu nahe getreten zu sein! Weil jeder, der Sie sähe, Sie erblickte, sagen würde: Da habt ihr's mal wieder! Der Labarbe, der . . ! Nicht gerade einfacher Mundraub, was er begangen hat, aber Chancen, Chancen hat er . . .!‹

Da lachte sie wieder aus vollem Halse: ›Sind Sie immer so ein Spaßvo . . .?‹ Sie hatte das Wort ›Spaßvogel‹ noch nicht ganz ausgesprochen, da hielt ich sie schon in meinen Armen und drückte ihr stürmisch Kuß um Kuß auf, überallhin, wo ich konnte: auf Haar, Stirn, Augen, sogar auf den Mund, auf die Wangen – wo sie nur eine Stelle preisgab, um eine andere zu schützen.

Endlich machte sie sich los, entrüstet, dunkelrot im Gesicht:

›Das ist taktlos, Monsieur! Ich bedaure, Ihnen überhaupt Gehör geschenkt zu haben.‹

Ich zog ihre Hand an mich und stammelte etwas kleinlaut und gepreßt: ›Verzeihen Sie, verzeihen Sie mir, liebste Mademoiselle! Ich habe Sie belästigt! Ich war verwegen! Es kam über mich! Bitte seien Sie mir nicht böse! Wenn Sie wüßten . . .!‹ Ich suchte nach einer Entschuldigung.

Sie wollte mir das Wort abschneiden: ›Ich will nichts wissen, Monsieur!‹

Doch ich hatte einen Einfall: ›Aber, liebste Mademoiselle! Ich liebe Sie – schon ein ganzes Jahr . . .‹

Sie stutzte und blickte auf.

Ich war nun in Fahrt und redete rasch weiter: ›Mademoiselle, liebste, teuerste Mademoiselle! Hören Sie mich an! Ich kenne diesen Morin nicht, und es kümmert mich nicht, was aus ihm wird. Mir völlig Nebensache, ob er vor Gericht zitiert und eingesperrt wird. Aber Sie, liebste Mademoiselle, Sie kann ich nicht vergessen, seit ich Sie zum erstenmal sah – vor einem Jahr. Dort, am Torgitter, standen Sie. Wie ein Blitz durchzuckte es mein Herz . . .! Seither habe ich immer Ihr Bild vor Augen. Sie mögen es glauben oder nicht – was ändert das an der Tatsache! Ich bete Sie an! Ich sehnte mich nach Ihnen – ich mußte Sie wiedersehen! Und darum habe ich diese Geschichte mit dem blöden Morin als Vorwand benutzt – und nun stehe ich hier und kann nicht anders. Gelegenheit macht – Diebe und Liebe! Verzeihen Sie mir, ich bitte Sie auf den Knien meines Herzens, verzeihen Sie mir . . .!‹

Sie sah mich scharf von der Seite an, als suche sie in meinen Blicken zu lesen, und war nahe daran, wieder zu lächeln; dann warf sie leicht hin: ›Sie erzählen Märchen!‹

Ich hob die Hand und sagte im Brustton der Überzeugung – ich glaube, in dem Augenblick war ich wirklich ganz ehrlich –: ›Ich schwöre Ihnen, ich sage die reine Wahrheit!‹

Sie sagte einfach: ›Weiter!‹

Wir waren allein, ganz allein. Rivet war mit dem Onkel auf einem der vielgewundenen Heckenpfade verschwunden. Und da machte ich ihr eine richtige, lange, süße Liebeserklärung, nahm ihre Hände und drückte Küsse und Küsse auf ihre Fingerspitzen.

Sie hörte mich an, als vernehme sie, was ich ihr da offenbarte, nicht ungern, wie eine reizvolle Neuigkeit, ohne aber recht zu wissen, was sie davon halten sollte.

Ich geriet immer mehr in Feuer und glaubte zuletzt selber, was ich sagte. Ich fühlte, wie ich die Farbe wechselte; Schauer rieselten mir prickelnd über den Rücken; meine Stimme verschleierte sich; sacht legte ich ihr meinen Arm um die Taille.

Flüsternd sprach ich auf sie ein, den Mund dicht am krausen Gelock, das ihr kleines Ohr umwehte. Sie war wie leblos, so träumerisch stand sie da.

Dann trafen sich unsere Hände; ich preßte sie fester an mich mit einem Zittern, das stärker und stärker wurde. Sie rührte sich nicht. Mein Mund streifte ihre Wange, und plötzlich fanden sich unsere Lippen, ohne zu suchen, in einem langen, langen Kuß. Er hätte noch länger gedauert, wenn nicht auf einmal Schritte hinter uns und ein deutliches ›Hm! Hm!‹ zu hören gewesen wären.

Sie huschte durchs Gebüsch davon. Ich drehte mich um und sah Rivet auf mich zukommen.

Mitten auf dem Wege pflanzte er sich vor mich hin und sagte mißgelaunt: ›Aha, sieh mal an, so also willst du die Sache von unserm Schwein Morin ins reine bringen!‹

Ich entgegnete mit einigem Stolz: ›Man tut, was man kann, mein Lieber! – Und der Onkel? Was hast du erreicht?‹

›Hm, jedenfalls nicht ganz so viel wie du bei der holden Nichte!‹ brummte der weniger glückliche Rivet, während ich meinen Arm unter seinen schob.

Seite an Seite spazierte ich mit ihm wieder dem Hause zu.

 

Beim Diner verdrehte mir meine hübsche Nachbarin vollends den Kopf. Immer wieder berührten sich unsere Hände und Füße, immer wieder tauchten unsere Blicke tief ineinander.

Nach Tisch unternahmen wir noch einen Mondscheinbummel. Wieder hatte ich Gelegenheit, ihr alle erdenklichen Zärtlichkeiten zuzuflüstern, die mir in den Sinn kamen. Eng hielt ich sie umfangen und pflückte Kuß um Kuß von ihren Lippen, wie es immer so poetisch heißt. Vor uns diskutierten der Onkel und mein Mitarbeiter Rivet lebhaft weiter über alle möglichen Fragen der Tagespolitik, und hinter den Debattierenden gestikulierten ebenso gewichtig ihre beiden Schatten auf dem Sand des Weges. Dann gingen wir ins Haus zurück. Kaum waren wir wieder drin, da klingelte der Depeschenbote und brachte ein Telegramm. Es kam von der Tante und lautete: ›Eintreffe erst morgen früh mit Siebenuhrzug.‹

Die Nachricht veranlaßte den Onkel zu der einstweiligen Entscheidung: ›Na schön, Henriette, dann zeige den Herren ihre Zimmer!‹ Wir schüttelten unserem biederen Gastgeber die Hand, wünschten ›Gute Nacht‹ und folgten Henriette die Treppe nach oben. Erst brachte sie uns an das Zimmer, in dem Rivet schlafen sollte. Vor dem Eintreten zischelte er mir ins Ohr: ›Sonnenklar, erst mußte ich hier abgesetzt werden, eh' du sanft gebettet wirst – von ihr!‹ Dann geleitete sie mich in mein Schlafgemach. Kaum waren wir allein, da hatte ich wieder meine Arme um sie und suchte ihr den Verstand wegzuküssen und sie an mich zu ziehen. Aber als sie fühlte, daß sie schwach werden könnte, entwand sie sich mir doch und entschlüpfte.

Erregt und mißmutig schob ich mich unter die Decke; von Schlaf konnte natürlich nun nicht mehr die Rede sein. Immer wieder sann ich nach, womit ich danebengetappt haben könnte. Da hörte ich plötzlich ein leises Klopfen an der Tür.

Unterdrückt rief ich: ›Wer ist da?‹

Von draußen kam es leise: ›Ich!‹

Im Nu war ich wieder in meinen Sachen und machte auf. Sie schwebte herein: ›Ich vergaß ja ganz zu fragen, was Sie morgens am liebsten trinken: Schokolade, Tee oder Kaffee?‹

Stürmisch hatte ich sie schon an mich gerissen, überschüttete sie von neuem mit Küssen und stammelte nur: ›Ich will . . . ich will . .  ich . . .!‹ Aber sie entwand sich mir, pustete rasch das Licht aus und war im Nu wieder davon.

Wütend stand ich wieder allein im Dunkeln, tastete herum nach Zündhölzern und fand sie nicht gleich. Als ich sie endlich hatte und Licht machen konnte, tappte ich auch schon – wie ich hinausgekommen war, wußte ich nicht – mit dem Leuchter in der Hand, halb verrückt vor Verlangen, den Gang entlang.

Was hatte ich überhaupt vor? Überlegen gab es nicht mehr: Finden mußte ich sie, zu ihr mußte ich! Ohne zu denken, strebte ich geradewegs los. Nach ein paar Schritten schoß es mir jäh durch den Kopf: ›Wenn ich nun aber – zum Onkel gerate? Was soll ich da angeben?‹ Mit einem Ruck blieb ich stehen; mein Hirn versagte, nur mein Herz hämmerte wild . . . Nach ein paar Sekunden kam mir doch noch ein brauchbarer Gedanke: Ganz einfach! Da sage ich, ich hätte noch etwas Dringendes mit Rivet besprechen wollen und mich nur in der Zimmertür geirrt!

Nun sah ich mir alle Türen auf dem Flur genauer an, welche wohl zu ihr führen könnte. Aber ich fand keinen rechten Anhaltspunkt. Da faßte ich auf gut Glück einen Türgriff, das Schloß schnappte auf, und ich stand drinnen. – Vor mir fuhr Henriette auf aus ihrem Bett und starrte mich verdutzt an.

Ich schob leise den Riegel vor, ging auf Zehenspitzen näher und flüsterte: ›Liebste Mademoiselle, auch ich vergaß ja ganz, um etwas zu bitten, etwas Nettes, in dem ich blättern könnte – bis zum Einschlafen . . .!‹ Sie zog ein Mäulchen, aber ich griff gleich zu und hatte im Nu in Händen, was ich suchte, etwas ganz Köstliches – den Titel möchte ich für mich behalten! Es war wirklich zugleich der wundervollste Roman und das göttlichste Gedicht!

Nachdem ich es einmal aufgeschlagen hatte, ließ sie es mich auch zu Ende genießen. Und die herrliche Geschichte hatte so viele Kapitel, daß ich darin blätterte und schwelgte, bis unsere Kerzen heruntergebrannt waren und verglommen . . .

Dann dankte ich ihr und schlich so lautlos wie möglich wieder meinem Nachtgemach zu. Da umkrallte mich plötzlich eine rauhe Hand, hielt mich fest, und eine Stimme – Rivets Stimme – fauchte mich an: ›Du bist wohl immer noch nicht fertig mit der Geschichte von Morin dem Schwein, wie?‹

Früh um sieben erschien Henriette und kredenzte mir eigenhändig die gewünschte Tasse Schokolade . . . So eine wie die habe ich nie wieder genossen! Ein Göttertrank, bei dem man alles andere vergessen konnte, so samtweich, so duftend, so berauschend war diese Labe. Ich brachte meine Lippen nicht mehr fort von der köstlichen Schale . . .

Kaum war meine schöne Mundschenkin wieder entschwunden, da stellte sich Rivet ein. Er war höchst zapplig und gereizt wie einer, der nicht gut geschlafen hat, und raunzte mißvergnügt: ›Wenn du so weitermachst, Mensch, dann versaust du unserm Schwein, dem Morin, noch die ganze Geschichte!‹

Um acht kam die Tante angerauscht. Die Unterredung nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Die guten Leutchen zogen ihre Klage zurück, und ich stellte dafür fünfhundert Francs als Stiftung für die Armen der Gemeinde in Aussicht.

Man bot alle Überredungskunst auf, um uns wenigstens noch bis zum Abend dazubehalten. Wir sollten mindestens noch die berühmten Ruinen besichtigen! Henriette machte mir hinter dem Rücken von Onkel und Tante fortwährend Zeichen und nickte ermutigend: Ja! Und ich sagte ja, aber mein Mitarbeiter Rivet schüttelte ablehnend den Kopf und wollte unbedingt aufbrechen.

Ich nahm ihn beiseite, bat, flehte: ›Sieh doch mal, lieber Freund, bleib! Tu es mir zuliebe!‹ Er guckte mich bloß an, als wenn er mir ins Gesicht springen wollte, und fauchte: ›Das kann ich dir sagen! Ich hab' die Schnauze voll von dieser ganzen Geschichte mit dem Schwein Morin!‹

So blieb mir nichts anderes übrig, als mich ihm anzuschließen und auch adieu zu sagen. Es war einer der schwersten Augenblicke meines Lebens . . . Mein Leben lang hätte ich diese Geschichte von dem Schwein Morin ins reine bringen mögen!

Als das kräftige Händeschütteln, das stumme, weiche Fingerdrücken vorüber war und wir wieder in unserem Zuge saßen, sagte ich zu Rivet: ›Du bist wirklich ein ganz gemeines Biest!‹, und er gab zurück: ›Ha, mein Junge, du hast mich aber auch verdeibelt wild gemacht!‹

Wie wir so vor unserm ›Charenter Fanal‹ wieder anlangten, da erblickte ich durch die Redaktionstür schon eine Menge Menschen. Es sah aus, als hätten sie nur auf uns gewartet. Bei unserm Eintritt schrien sie uns entgegen: ›Na, habt ihr sie glücklich bereinigt, die Affäre mit Morin, dem Schwein?‹

Ganz La Rochelle war darüber aus dem Häuschen. Rivet, dessen miese Stimmung wie weggeblasen war, konnte sich kaum das Lachen verbeißen, als er bekanntgab: ›Klar, ist erledigt, dank unserm tüchtigen Labarbe!‹

Dann machten wir uns auf zu Morin.

Der lag im Lehnstuhl, Senfpflaster auf den Beinen, einen kalten Umschlag um den Schädel, halb tot vor Angst. Er hüstelte ununterbrochen vor sich hin mit kurzen Krächzern wie ein Friedhofsrabe; weiß Gott, wie er sich dies Geräusper und Geröchel auf den Hals gezogen hatte. Seine Lebensgefährtin lauerte sprungbereit neben ihm und glühte ihn an mit den weit aufgerissenen Augen einer Tigerin, die sich jeden Augenblick auf ihr Opfer stürzen will.

Sowie er uns eintreten sah, überlief ihn ein Zittern, daß ihm Arme und Beine nur so schlotterten. Ich rief ihm entgegen: ›Alles in Ordnung, alter Schweinehund! Aber laß ein für allemal deine Pfoten von so etwas!‹

Nach Luft schnappend, rappelte er sich hoch aus seinem Sorgensessel, packte meine Hände, küßte sie wie ein reuiger Büßer die Finger des Heiligen Vaters; es sah aus, als wollte er den Verstand verlieren. Stürmisch umarmte er dann Rivet und fiel sogar Madame Morin um den Hals, die ihn aber sofort mit einem gewaltigen Stoß in seinen Stuhl zurückbeförderte.

Ganz hat er sich nie wieder erholt von seinem Erlebnis; die Aufregung war zu gewaltig gewesen.

In der ganzen Gegend nannte man ihn nur noch ›den Morin – das Schwein‹, und es fuhr ihm jedesmal wie ein Stich durch die Seele, wenn er das Wort hörte.

Brüllte irgendein Gassenjunge auf der Straße das Wort ›Schwein!‹, dann fuhr unser Morin mit dem Kopfe herum, als sei er gemeint. Seine Stammtischbrüder stichelten ihn bei jeder Gelegenheit damit und grunzten, wenn sie beim gemeinsamen Schinkenessen saßen: ›Nanu, du, nanu, du, hast du den dir so von hintenrum . . .?!‹

Zwei Jahre später hatte er sich gänzlich totgegrämt.

Ich durfte nur folgendes von der ganzen Geschichte miterleben: Als ich Anno fünfundsiebzig bei den Deputiertenwahlen kandidierte, machte ich auch den neuen Notar von Tousserre, Monsieur Belloncle, meinen ›Staatsbesuch‹. Seine Gattin, eine schöne, üppige Erscheinung, hieß mich willkommen.

›Sie erkennen mich wohl nicht mehr?‹ fragte sie bei der Begrüßung.

Ich zögerte: ›Aber . . . nein . . . nicht daß ich wüßte, Madame . . .!‹

›Henriette Bonnel!‹

›Ah . . .!‹ Ich fühlte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich.

Sie schien ganz und gar nicht verlegen und sah mich nur lächelnd an.

Als sie mich mit ihrem Gatten allein gelassen hatte, da ergriff der Herr Rechtsanwalt meine beiden Hände und drückte sie, als wolle er mir sämtliche Finger zerquetschen: ›Wie lange schon, mein lieber Monsieur Labarbe, wie lange schon wollte ich Sie einmal näher kennenlernen und unter vier Augen sprechen! Meine Frau hat mir so viel von Ihnen erzählt. Ich weiß . . . ja, ich weiß, in welch peinlicher Situation Sie ihr beigestanden haben! Ich weiß auch, wie großartig, wie taktvoll, wie zartfühlend, wie aufopfernd Sie sich der Sache angenommen haben –‹, er machte eine Pause, dann dämpfte er die Stimme, als wollte er ein wirklich nicht herpassendes Wort nicht zu laut aussprechen – ›. . . der Sache mit Morin – dem Schwein!‹«

 


 


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