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Der Ritt des Freiwilligen Pöppelmann

Wenige Tage vor der Schlacht bei Königgrätz marschierte das zweite sächsische Reiterregiment in südöstlicher Richtung auf Dolan.

Die fünfte Eskadron, die den äußersten Flügel des Regiments und zugleich des gesamten Armeekorps bildete, hatte Befehl, Verbindung mit den Österreichern zu halten, eine Aufgabe, die um so schwieriger wurde, je mehr sich diese nach Osten wandten.

Die Preußen aber waren dem Feinde bereits hart auf den Fersen.

Immer größer wurde die Entfernung der sächsischen von den österreichischen Truppen; schließlich erreichte sie das Maß von mehreren Stunden.

Um seiner Aufgabe nach Kräften gerecht zu werden, hatte der Rittmeister der fünften Eskadron am 29. Juni früh den Premierleutnant von Schwanewede mit einer ausgedehnten Patrouillenkette in seine linke Flanke entsendet, bis zum späten Nachmittag jedoch noch keine Meldung von ihm erhalten.

Der Rittmeister entschloß sich daher, einen Reiter nachzuschicken.

Auf Befragen empfahl der Wachtmeister den Freiwilligen Pöppelmann, der sich, obwohl wegen körperlicher Schwäche anfangs zurückgewiesen, von der Universität weg zum Kriegsdienst gedrängt hatte und bei jeder Gelegenheit Zeichen eines heftigen Tatendurstes kundgab.

Pöppelmann wurde herangerufen.

Sein Aufzug mußte jeden Freund männlicher Kraft und Schönheit empören, höchst unglücklich saß dieser Reitersmann zu Pferde: unsicher, wackelig, verbogen wie ein schadhafter Bleisoldat, gleichsam nur zufällig und vorübergehend aus den Sattel dort hinausgehängt. Er hatte eine klapperdürre Figur, einen birnenförmigen Kopf, mit kurzen, blonden Ringellöckchen bedeckt, und ein blasses Gesicht, dessen weichliche Züge einen merkwürdigen Gegensatz bildeten zu der klobigen Nase und mehreren Schmissen, sogenannten Durchziehern, die dicht nebeneinander über die ganze Backe bis zum Ohr hinliefen.

Sobald er vor dem Rittmeister parierte, überzog sich sein Bleichgesicht mit mädchenhafter Röte, seine sanften Augen aber begannen unter dem Einfluß einer großen inneren Erregung hin und her zu rollen.

Der Rittmeister unterdrückte ein Lächeln und erteilte den Befehl: »Reiten Sie links ab, zunächst die Landstraße entlang, immer geradeswegs nach Osten! Wo Sie durch ein Dorf kommen oder jemandem begegnen, fragen Sie nach dem Herrn Premierleutnant und seiner Patrouille! Dringen Sie womöglich bis zu den österreichischen Kolonnen durch und suchen Sie, wenn man auch dort von ihm nichts weiß, das Gelände in südlicher Richtung ab! – Wiederholen!«

Der Freiwillige Pöppelmann wiederholte den Befehl, fließend, doch mit belegter Stimme, als wenn ihm ein Knödel im Halse säße.

Jetzt sah sich der Rittmeister seinen Meldereiter genauer an: »Mensch! Was ist denn los? Sie zittern ja am ganzen Leibe! – Haben Sie Angst? – Zum Teufel, so sagen Sie's lieber gleich! Dann ruf' ich mir einen andern!«

»Zu Befehl – nein, Herr Rittmeister! Das ist bloß so meine körperliche Gewohnheit.« Pöppelmann hatte sich mit einem Ruck steif aufgerichtet, so gut es ihm gelingen wollte, starrte seinem Vorgesetzten fest in die Augen und hörte auf zu zittern.

»Eine verdammt schlechte Angewohnheit! Nehmen Sie Ihre Knochen zusammen! Sie wollen doch die Tressen haben? – Übrigens – wenn Sie sich dem Auftrag nicht gewachsen fühlen – zwingen will ich Sie nicht. Die Sache hat ihre Schwierigkeiten. Der feindliche Vortrab ist nahe genug. Wer da vorbeischlüpfen will, braucht Vorsicht und Courage! – Können Sie's leisten? Können Sie? – Wie?«

»Herr Rittmeister, gehorsamst bitte ich darum.«

»Gut! Also reiten Sie! Abmarsch! Adieu! Galopp!«

Pöppelmann galoppierte davon. Die ganze Schwadron sandte ihm ein fröhliches Gelächter nach; denn willenlos flog er auf dem Sattel hin und her, ein dürres Blatt im Spiel der Winde.

Fast bereute der Rittmeister seine Wahl; doch suchte er schließlich eine gewisse Rechtfertigung in der höheren Intelligenz dieses studierten Soldaten.

»Was hat der Kerl für komische Manieren?« fragte er den Wachtmeister noch. »Glotzt einen an wie ein verrückter Bulldogg und knirscht dazu mit den Zähnen!«

»Zu Befehl, Herr Rittmeister! Er ist schon ein Kauz, sozusagen. Aber sehr tüchtig im Dienst, und bei den Mannschaften beliebt als gefälliger Kamerad, Hält was auf sich und gibt sich Mühe wie nur einer. Drängt sich zu allen schweren Sachen! Wenn er so wütig glotzt und vor sich hin brummelt, das – das hat nichts weiter zu sagen; das tut er nur so für sich. – Werde es ihm aber noch abgewöhnen. Zu Befehl, Herr Rittmeister!«

Pöppelmann nahm seinen vorgeschriebenen Weg. Das Pferd, ein etwas träger Wallach von älterem Jahrgang, auf den Namen »Quatember« getauft, ging gar bald von selbst aus dem lästigen Galopp in einen Zotteltrab und endlich in den behäbigsten Schritt über, ohne daß sein Reiter davon irgendwelche Notiz genommen hätte.

Viel zu angelegentlich war der Studiosus Pöppelmann mit seiner eigenen Verfassung beschäftigt. Er hielt Musterung über sich, erteilte Kritik, sprach sich ermunternd zu: »Schon recht! Vortreffliche Gelegenheit! Nun wird es sich zeigen!« so brummelte er zufrieden vor sich hin. »Landregen! Sehr gut! – Kalt! Naß! Geht durch bis auf die Knochen! Desto besser! Gerade gesund! Soll nur so bleiben! – Stimmung frisch! Spüre nichts! Alles noch, wie sich's gehört!«

Sieben Uhr war vorüber; schon brach unter dem trüben Himmel der Abend herein.

Die Wiesen zu beiden Seiten der Straße nahmen die vage Form grauer, uferloser Seen an, die jeden Augenblick zusammenzufließen und Roß und Reiter zu verschlingen drohten.

Die Landstraße bog nun scharf nach rechts. Pöppelmann zauderte, ward sich jedoch seiner Pflicht bewußt und zwang das Pferd, sehr gegen dessen Willen, geradeaus zu traben, mitten hinein in das düstere Wiesenland, in die unbestimmte Dämmerung, nach Osten zu.

Die Umrisse eines breiten Grabens tauchten auf. »Quatember« passierte ihn vorsichtig kletternd. Stracks wandte Pöppelmann zurück und ließ ihn das Hindernis in kühnem Sprunge nehmen. Ärgerlich kaute »Quatember« die Trense, Pöppelmann aber, obwohl er die Bügel und fast auch das Gleichgewicht verloren hatte, triumphierte.

Sie gerieten auf einen schmalen Feldweg, der ganz durchweicht war, ein Sumpf von Lehm, darin »Quatembers« Hufe tief bis an die Fesseln einsanken.

Keine Spur menschlicher Behausung war zu entdecken, kein Laut zu vernehmen als das eintönige Niederrauschen des Regens, sein Geplätscher in den Pfützen, sein Rieseln, sein Flüstern in Gras und Gestein.

»Quatember« benahm sich folgsam und verständig bis zu dem Moment, da ein geheimnisvolles Etwas quer über den Weg raschelte. Es konnte den Umständen nach nichts anderes gewesen sein als eine harmlose Feldmaus; aber der Schreck, der ihm davon in die Glieder fuhr, genügte, ihn von nun ab stark nervös zu stimmen. Seine Ohren begannen zu spielen; bald spitzte er sie aufmerksam, bald legte er sie angstvoll zurück. Weiße Marksteine waren in kurzen Abständen längs der Wiesen aufgestellt. Vor jedem derselben scheute »Quatember«, sprang regelmäßig ganz verstört mit einem wilden Satz beiseite, fauchte durch die Nüstern und war nur mit Mühe in weitem Bogen daran vorbeizubringen. Vor jedem Markstein immer von neuem dasselbe Spiel.

Studiosus Pöppelmann trat in gereizte Erwägungen ein über die Charaktereigenschaften der Gattung Pferd: »Wieso nennt man das Pferd ein kluges und mutiges Tier? Was kann alberner und feiger sein als dieser regelmäßige, unüberwindliche Anfall von Schrecken vor einem kleinen leblosen Block, dieser Schrecken, der jedesmal sich als unbegründet herausstellt und doch jedesmal wieder das ganze Tier beherrscht!«

Und nun – das fehlte gerade noch! – blieb der Gaul mitten im Wege stocksteif stehen, eigensinnig, widerspenstig gegen jeden Versuch, ihn vorwärts oder zurück zu bringen.

So blieb Pöppelmann weiter nichts übrig, als von seinem »Quatember« herabzuklettern und ihn unter Koseworten, die keineswegs von Herzen kamen, am Zügel sachte zu führen.

Es war doch ein eigen Ding um so eine Pferdepsyche. Man hätte meinen sollen, daß sogar ihren Marotten suggestive Kräfte innewohnten; denn Pöppelmann, der eben noch so befriedigt seine Seelenruhe konstatieren durfte, konnte nun nicht umhin, wie angesteckt von seines Gaules Nervosität, gleichfalls auf das unheimliche Schweigen rings zu horchen, Marksteine für seltsames Getier zu halten und über die öden Wiesen nur zögernd sich vorwärts zu tasten.

Er war es jetzt, der plötzlich grundlos stehenblieb, wenn auch nur, um sich selbst mit kränkendem Argwohn zu untersuchen. Die Finger seiner rechten Hand befühlten den linken Puls; dann griff er unter den Waffenrock, um auch das Herz zu prüfen, und mußte sich eingestehen, daß es ungewöhnlich stark und beschleunigt an die Rippen poche.

Wie zuvor, dem Rittmeister gegenüber, so begannen auch jetzt wieder seine gutmütigen Augen zu rollen und in die Dunkelheit hinaus zornig zu glotzen. Höchst unzufrieden knurrte und räsonierte er wider sich selbst.

»Also nun doch! Sind wir so weit? Der alte Jammer! Das niederträchtige Fleisch! Krümmt sich – sträubt sich – rebelliert! – Oh, verdammt! – Aber wart', ich komm' dir! – Diesmal gelingt dir's nicht! Diesmal krieg' ich dich unter! Und wenn ihr jämmerlichen Knochen auch klappert wie Totengebein, mein Schädel soll euch Mores lehren. Diesmal gilt es! Sollt mir schon Order parieren!« –

Entschlossen knöpfte Pöppelmann den Waffenrock zu, schwang sich mit Kühnheit auf sein Roß und trabte an.

Bei aller Jugend war Pöppelmann schon ein gelehrter Herr. Er hatte mit Scharfsinn und Ausdauer die Weltweisheit studiert, alle Begriffe des Lebens waren ihm klar; auch bezüglich seiner eigenen unvollkommenen Natur gab er sich keiner Täuschung hin.

Weitverzweigte Kenntnisse besaß er in den moralischen Dingen. Insbesondere hatte ihn da aus gewissen Gründen das Wesen der Tapferkeit beschäftigt; ja, das Problem dieser unbestimmten Eigenschaft verfolgte und peinigte ihn in jeder Lage, war auch jetzt ihm gegenwärtig.

Eine Stelle aus Plato fiel ihm ein, wo der Feldherr Laches über das bloße Verständnis einer Tugend aburteilt und schließt: »Sofern einer nicht in hervorragender Weise sich vor andern in der Tapferkeit auszeichnet, kann er unmöglich vermeiden, lächerlich zu werden, wenn er sich dafür ausgibt, diese Wissenschaft zu besitzen.«

Unerträglich, daß irgendein antiker Feldherr oder auch ein mangelhaft gebildeter Rittmeister aus der Gegenwart einem dergleichen vorhalten durfte, und gar noch mit zureichendem Grunde!

Es war nämlich dem Studiosus Pöppelmann vor etwa einem Jahre etwas passiert, davon sein ganzes Lebensfundament ins Wanken geriet, was ihm heute noch bitter zu schaffen machte. Eine Probe aufs Exempel hatte nicht gestimmt. Ein Stück Praxis hatte seinem hochgespannten Ideale nicht genügt.

Seit seiner Kindheit hatte Pöppelmann kein anderes Ziel, als vollkommen zu sein in allen Tugenden. Die meisten derselben, als da sind Gerechtigkeit, Sanftmut, Sittenstrenge und andere derart hatte er sich auf Grund seiner Natur bald angewöhnt. Sein Schmerzenskind dagegen war von jeher die Tapferkeit gewesen. Trotz aller Willensanstrengungen konnte er nicht umhin, jeden starken Menschen zu fürchten und, wenn er auch nur von ferne bedroht wurde, schleunigst die Flucht zu ergreifen.

Er hatte nicht nachgelassen, in Tapferkeit sich zu üben, für Fälle der Gefahr sich gewissermaßen zu trainieren; doch immer erfolglos. So oft die Krisis eines Streites oder die Notwendigkeit eines entschlossenen Angriffs nahe bevorstand, versagte er und machte kehrt.

Da hatte er sich denn endlich folgende Zwangsaufgabe gestellt: mit dem robustesten seiner Freunde verabredete er eine Bestimmungsmensur. Sehr bereitwillig, schmunzelnd ging der also Geforderte darauf ein. Man belegte Waffen bei zwei Landsmannschaften und trat, vorschriftsmäßig bandagiert, mit exakt geschliffenen Schlägern einander gegenüber.

Schon dieser Augenblick der Kampfbereitschaft wandelte den armen Pöppelmann in ein Bild tiefsten Jammers. Die von vertrocknetem Blut gesteiften Bandagen, in die man ihn gezwängt, die ihn umgebenden fremden Couleurstudenten mit ihren kriegerisch zerfetzten Gesichtern, der schreckliche Geruch von Bier, Blut und Karbol, der die niedrige Schenkstube erfüllte, das alles rüttelte dermaßen an Pöppelmanns dünnen Gliedern, daß er wankend, schlotternd dastand, wie ein Todeskandidat auf dem Richtplatz.

Als nun vollends das mörderische Kommando: »Fertig! Los!« erklang und sein Gegner, durchaus nicht rücksichtsvoll, die blanke Klinge ihm um die Ohren sausen ließ, war es mit dem Rest seiner Fassung vorbei. Blind vor Schrecken, nur mechanisch, schlug er selbst mit seiner Waffe um sich, wich vor jedem Hieb entsetzt zurück, bog und wand und duckte sich, quittierte jeden Treffer mit einem qualvollen Stöhnen, schäumte zwar vor Wut, aber nur über sich selbst, daß er das Gegenteil tat von dem, wozu er doch so fest entschlossen war, rollte die Augen, knirschte mit den Zähnen über seine Schwäche und haltlose Feigheit, über seine ganze namenlose Schande.

Bereits nach dem dritten Gange war er kampfunfähig, abgeführt infolge einer Tiefquart, die ihm die Backe spaltete und zwei Zähne einschlug.

All die kriegerischen Gestalten um ihn her wälzten sich vor Lachen, und der Senior seiner Landsmannschaft bedeutete ihm, daß er auch ohnedies gezwungen worden wäre, abzutreten, da er kannibalisch schlecht gestanden und gefochten hätte, wie die alten Parther, die bekanntlich fliehend kämpften.

Diese Erinnerung war es, die Pöppelmann auch jetzt als Soldat wieder in seinem Gemüte hin und her bewegte. Sie bereitete ihm arge Pein und stachelte ihn auf zu wilden Entschließungen.

Zunächst stand bei ihm fest, daß er keinesfalls unverrichteter Sache zu seiner Schwadron heimkehren dürfe.

Zwar ließ ihn der Verbleib des Herrn Premierleutnants ebenso gleichgültig wie der ganze Feldzug – nicht aus sächsischem Patriotismus, sondern zu seiner höchst persönlichen Erziehung war er Soldat geworden – aber jeden Vorwand für einen ängstlichen Rückzug wollte er sich von vornherein zerstören.

Um dem Befehl seines Rittmeister ernstlich nachzukommen, hätte er sogleich viel schärfer reiten, Gelände und Himmelsrichtung aufmerksam beobachten und seine zerstreuten Gedanken sammeln müssen. Da jedoch ganz andere Dinge ihm am Herzen lagen, so war unausbleiblich, daß er bald überhaupt nicht mehr wußte, woher er gekommen und ob er nicht vielleicht mit »Quatember« einen Zirkel beschrieb.

Stunde auf Stunde verrann ihm nutzlos. Es war völlig Nacht geworden, undurchdringliche Finsternis umgab ihn; kein Dorf, keine Menschenseele konnte er ausfindig machen, geschweige denn die Österreicher oder gar den Herrn Premierleutnant.

Sein Pferd stapfte jetzt todmüde, resigniert im Schlamme vorwärts. Nur dem Zufall hatte er es zu danken, wenn es nicht unvermutet mit ihm in einer Lehmgrube oder einem Sumpf verschwand. Er strich ein Zündholz an, um sich notdürftig zu orientieren und nach der Uhr zu sehen; aber die Flamme ward vom strömenden Regen augenblicklich gelöscht.

Unter solchen Umständen wäre wohl auch einem Beherzteren bange geworden, wie demnach Pöppelmann zumute war, läßt sich nur mit Grausen denken.

Aufrecht hielt ihn nichts als der Trotz seines sittlichen Ideals, mit dem er seine armen, angstgefolterten Lebensinstinkte beständig aufpeitschte oder auch verhöhnte. Ob ihm gleich schon gehörig gruselte, so zog er doch, nun erst recht, auf Abenteuer weiter in die Nacht hinaus, um gleich jenem Märchenhelden das Gruseln immer besser zu lernen, um es endlich mit Gewalt zu überwinden.

Er bedachte und hielt sich ausdrücklich vor, daß seine Lage keineswegs gefahrlos sei, daß es ihm an Kopf und Kragen gehen könnte. Dann wieder schweiften seine Gedanken ab zu den glücklicheren Naturen, die mühelos mutig sind, weil sie des Scharfsinns oder des Feingefühls, einer klaren Erkenntnis oder einer lebendigen Phantasie ermangeln, so daß sich in ihrem Kopfe das Bild einer drohenden Gefahr nur unvollkommen spiegelt und sie gedankenlos heiter zum Streit ausziehen, wie Krieger eines barbarischen Stammes, auch alle Schmerzen schwächer spüren, weil ihr Gehirn nur schwacher Vorstellungen fähig ist.

Der Ast eines vereinzelten Obstbaumes streifte seine Schulter. Da fiel ihm ein, daß es vielleicht gut wäre, »Quatember« daran festzubinden; denn es jammerte ihn seines braven Tieres, das unter diesem Konflikt der Pflichten ganz schuldlos mit zu leiden hatte. Pöppelmann folgte also seiner edlen Regung, forderte »Quatember«, indem er ihm die Gurte lockerte, zur Nachtruhe auf, bot ihm auch eigenhändig Gras und nasse Blätter als Futter dar. Für sich selbst fand er in der Nähe einen Stein, darauf er hungrig und fröstelnd, in fatale Betrachtungen tief versunken, den Anbruch des Tages erwartete.

Zum Glück hellte sich gegen Morgen der Himmel etwas auf. An den gelblichen Streifen einer Wolke erkannte Pöppelmann den Stand der Sonne, und alsbald kletterte er wieder in den Sattel.

Was in seiner gegenwärtigen Lage militärisch von ihm gefordert wurde, war ihm völlig unbekannt. Dagegen wußte er genau und hielt es für das einzig wesentliche, daß er seine Furcht zu überwinden habe, und zwar mit allen moralisch zulässigen Mitteln.

Seiner Pflicht als Meldereiter glaubte er zu genügen, wenn er jetzt nach Osten, auf die österreichischen Kolonnen zuritt; sich selber dagegen war er schuldig, die Mündungen der feindlichen Gewehre zu suchen. Er wählte den Mittelweg und schlug die nordöstliche Richtung ein.

Mit zunehmender Tageshelle sah er vor sich ein Gehölz. Auf schmalem Wege drang er hindurch und geriet nun an den Fuß eines Hügels, der ihm die Aussicht versperrte. Es war einer jener vulkanischen Kegelberge, wie sie in der Gegend von Gitschin häufig vorkamen.

In demselben Augenblick, da er, oben angekommen, Umschau hielt, erschien von der anderen Seite eine drei Mann starke Patrouille.

»Wie? – Schon die Österreicher?« fragte sich Pöppelmann überrascht, und ein Gefühl großer körperlicher Erleichterung ließ ihn endlich freier atmen.

Als er jedoch die Uniformen der fremden Reiter näher sich betrachtete – Pelzmützen, rote Attilas, Dolmans über die Schultern gehängt –, ward er mit Entsetzen inne, daß er Preußen vor sich hatte, preußische Ziethenhusaren, eine Patrouille des Feindes.

Sekundenlang blieb er regungslos, an allen Gliedern wie gelähmt. Dann riß er sein Pferd herum und jagte zurück, den Hügel wieder hinab, ganz besessen von dem einen Instinkte, sich zu retten.

Kaum aber fühlte er sich einigermaßen sicher, vielleicht noch nicht einmal entdeckt, als die Vernunft in ihm die Oberhand gewann und mit der Vernunft die Kraft seines trainierten Willens.

Zwar geriet sein Körper in einen jämmerlichen Zustand: der Angstschweiß brach ihm aus allen Poren, die Pulse klopften zum Zerspringen, Übelkeit würgte ihn, kaum hielt er sich im Sattel aufrecht; doch sein Schädel wurde all dessen Herr und wußte die Herrschaft grimmig zu behaupten.

Immer klarer und heller, fast sonnig wurde es in diesem überladenen Studentenschädel. Er sagte sich, daß eine große, wichtige Stunde, vielleicht die größte seines Lebens herangekommen sei, daß sie ihn reif und würdig finden solle, als einen Mann von innerlich vollendeter Kultur. Das physische Leben aber irgendeines Studiosus Pöppelmann sei keinen Pfifferling wert. Im schlimmsten Falle ginge der Welt ein mittelmäßiger Philosoph verloren. – Navigare necesse est, vivere non necesse! Nichts gilt der Leib, alles gilt unseres Geistes Vollkommenheit, wie sie sich äußert in Taten!

Pöppelmann setzte seinen »Quatember« in Galopp und riß aus der Halfter die Pistole.

Noch ehe er auf das Feld vor dem Hügel gelangt war, stürmte der führende Offizier der Patrouille auf ihn ein. Pöppelmann schoß nach ihm, sah noch, wie die Pelzmütze vom Kopf flog, und galoppierte vorüber.

Vor Aufregung verdunkelte sich ihm der Blick. Wie hinter einem Nebelschleier sah er die drei Husaren kommen. Da er die Pistole im Schreck des Feuerns hatte fallen lassen, so zog er jetzt den Säbel und schlug damit auf den vordersten los.

Ein Hieb auf die Hand des Gegners, der ihn gleichfalls mit dem Säbel bedrohte, und er gewahrte, wie dieser, noch umklammert von drei abgehauenen Fingern, zu Boden sank.

Hierdurch ermutigt, griff er sogleich den zweiten an, versetzte ihm, jetzt schon mit größerer Gewandtheit, mehrere Hiebe über Kopf und Arme, so daß auch dieser Gegner den Kampf aufgeben mußte.

Während er sich nun mit dem dritten Husaren herumschlug, traf der Offizier ein, dem er nur die Mütze vom Kopfe geschossen hatte; das Handgemenge wurde fortgesetzt.

Wie ein Wahnsinniger haute und stach Pöppelmann um sich; er sah nicht, wohin, und vergaß, warum. Alle Besonnenheit, alles menschliche Gefühl hatte ihn verlassen. Unter dem Bann einer furchtbaren inneren Notwendigkeit wütete er mechanisch weiter, keuchend, stöhnend, Schaum vor den Lippen – ein wildes, verzweifeltes Tier.

Ein paarmal schrie der Offizier ihn an: »Sachse, ergib dich! – So ergib dich doch! Du hast genug getan! – Potz Donnerwetter, er ist toll! Er hat den Verstand verloren!«

Pöppelmann hörte ihn nicht. Bald schwanden seine letzten körperlichen Kräfte. Ein Hieb über die Zügelfaust warf ihn aus dem Sattel; er kam auf die Beine zu stehen, hielt mit der verwundeten Hand sein Pferd fest und versuchte mit der rechten sich weiter zu verteidigen.

Ein tiefer Hieb quer über den Kopf raubte ihm endlich die Besinnung. Blutüberströmt, ohnmächtig sank er ins Gras.

Die Husaren hoben ihn auf und schleppten ihn mit sich fort, ins preußische Lazarett.

*

Pöppelmann erwachte wieder zum Leben.

Allenthalben feierte man ihn als einen großen Helden.

Die feindlichen Kameraden drängten sich, ihm die Hände zu schütteln; Offiziere plauderten mit ihm, voller Güte und Bewunderung. Ein berühmter preußischer General schenkte ihm sogar zwei Taler und sagte: »Wenn ich lauter solche Soldaten hätte, würde ich die Hölle erobern!«

Von seinem König erhielt Pöppelmann die Goldene Sankt-Heinrichs-Medaille für persönliche Tapferkeit.

Mit unsterblichen Lettern steht der Name Pöppelmann in der Geschichte seines ruhmreichen Regiments verzeichnet.

Er selbst aber war mit sich noch immer nicht zufrieden. Wohl empfand er Genugtuung darüber, daß es ihm endlich gelungen war, dem schwachen Fleische gegenüber seinen Willen durchzusetzen; aber er allein wußte auch, wie jammervoll ihm eigentlich dabei zumute gewesen war.

Die schwerste Aufgabe stand ihm noch bevor: stolzen und freien Herzens Kämpfe zu bestehen, alle Kämpfe des Lebens zu feiern wie ein heiteres Fest.

*


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