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Die Freundin und das Schäfchen

Nur selten noch und wählerisch nahm Fräulein Anna Böckh Einladungen der ersten Gesellschaft an. Seit sie die dreißig überschritten, kam sie sich auf den Bällen, den thés dansants, den Sommerfesten und Schlittenpartien überflüssiger denn je vor; und abgesehen davon, daß sie es endlich verschmähte, unter Qualen der Langenweile Stunden hindurch zu lächeln, wußte sie auch, daß man sie nicht einmal dekorativ verwendbar fand. Um so enger schloß sie sich jetzt den Kreisen der Studentinnen, der Künstler und der Boheme an, besuchte deren Kneipen und die Mansarden, in denen Ideen und Systeme ausgebrütet wurden, wo Geist und Dialektik hoch im Werte standen, kurz, wo sie verstanden wurde. Auch in den literarischen Salons schätzte man ihre Kenntnisse, ihren scharfen Blick und den Witz, mit dem sie alles unfreie und beschränkte Wesen verfolgte.

Gleichwohl hatte sie diesmal für das Diner der Generalin zugesagt, weil sie hörte, daß auch ihr alter Freund Frank Larisch kommen werde. – Der ließ sich schon gar nicht mehr sehen. Wenn er nicht in Kairo oder an den Lofoten spazierenging, vergrub er sich in den Bibliotheken oder gar auf seinem weltfremden Gut dort in der Pfalz. Ein paarmal wohl war sie ihm diesen Winter begegnet, bei den Premieren, im philosophischen Praktikum und zuletzt noch in einer Versammlung, wo er selbst gesprochen hatte. Aber das war stets nur flüchtig gewesen. Früher dagegen, wie oft, mit welcher Unermüdlichkeit hatten sie da ihre Gedanken und Erfahrungen ausgetauscht! Ja, es war vorgekommen, daß sie ihm nachreiste, um irgendeine Frage mit ihm zu erledigen, vor zehn Jahren hatten sie sich in der Universität kennengelernt und eine fast vollständige Übereinstimmung ihrer Ansichten konstatiert. Beide standen damals in der Periode der Opposition aus Grundsatz, der frühreife Menschen um so leidenschaftlicher sich hinzugeben pflegen, je plötzlicher und klarer das Weltbild sich vor ihnen aufrollt. Gemeinsam übten sie Grimm und Hohn an den nichtswürdigen Erscheinungen des sozialen Lebens. Gemeinsam lenkten sie später in resigniertere Bahnen ein, ohne doch je sich anders zu treffen als auf den Höhen des abstrakten Denkens. Deshalb waren sie auch, zu Anna Böckhs Bedauern, nie dazu gelangt, ihre höchst persönlichen, sozusagen ihre physiologischen Erlebnisse voreinander zu erörtern. Anna Böckh war oft nahe daran gewesen, Bekenntnisse abzulegen oder ihrem Freunde zu entlocken; indes hielt noch immer ein ihr selbst unbegreiflicher Überrest von Prüderie sie hiervon zurück.

Wie sie nun dastand in dem Empfangszimmer der Frau Generalin, eingepfercht zwischen Brokattoiletten und Uniformen, und Frank Larisch immer noch nicht erschien, kam sie sich überaus unnütz und verlassen vor. Keiner der Gäste kannte sie mehr recht; wenige hielten es der Mühe wert, sie mit einigen höflichen Phrasen anzusprechen. Sie war sich wohl bewußt, hier für nichts anderes gehalten zu werden als für eines der älteren Mädchen, die notwendig mal mit eingeladen werden müssen.

Sie dachte: wie mag unser Frank Larisch nur an diese Leute geraten sein? Er könnte doch ebenbürtigere Gesellschaft finden. Saul unter den Propheten!

Da trat er herein. Das erste, was Anna Böckh auffiel, war, daß er einen tadellos sitzenden » cut away« trug. Sie kannte ihn in allen möglichen und unmöglichen Flausröckchen. Aber im Gesellschaftsanzug, noch dazu in einem von solch bewußter Tadellosigkeit, hatte sie ihn noch nie gesehen. Das war ihr fast ärgerlich. Und nun beobachtete sie mit wachsender Verblüffung, daß er der Frau vom Hause unter tiefer Verbeugung – er, der radikalste aller Umstürzler – die dicken Finger küßte! Dann wandte er sich, ersterbend in Unterwürfigkeit, den übrigen Matronen zu, darauf den jungen Mädchen scherzend und neckisch als angenehmer Schwerenöter. Alle kannten und begrüßten ihn mit sichtlichem Vergnügen. Die jungen Offiziere schüttelten ihm die Hände, horchten auf, wenn er sprach und stimmten lächelnd zu, voll seltener Bescheidenheit. Nur ein paar alte Regierungsräte betrachteten ihn mißgünstig. Sie allein schienen an seine Harmlosigkeit nicht recht glauben zu wollen. Aber so viel ließ sich erkennen, daß er ein gern gesehener Gast war, noch dazu einer, den man als Persönlichkeit schätzte, nicht bloß als Tanzbein oder als Partie. Denn er besaß ja weder Reichtümer, weder Namen noch Stellung.

Natürlich war er, wie zu jeder Veranstaltung, als Letzter gekommen. Man hatte sogar auf ihn gewartet. Der Sohn vom Hause, der mit dem Zettel seiner Tischordnung wie ein Kammerherr vom Dienst zwischen den Herrschaften umherstrich, flüsterte ihm rasch noch den Namen seiner Dame zu. Dann setzte sich der Zug nach dem Speisezimmer in Bewegung. So konnte Larisch seine Freundin Anna Böckh nur im Vorübergehen begrüßen.

Er saß am oberen Ende der Tafel zwischen zwei alten Damen, die er sofort in eine sehr animierte Unterhaltung verwickelte. Anna Böckh war bei der Jugend untergebracht, und da man sie für etwas exzentrisch hielt, so hatte man ihr einen älteren Maler und einen musikalischen Leutnant zu Nachbarn gegeben. Beide gaben sich redliche Mühe mit ihr. Doch nachdem sie festgestellt hatte, daß der eine Professor der Düsseldorfer Historienklasse, der andere Verehrer von Operettenmelodien war, nahm sie ihre verbittertste Einsilbigkeit an. Es interessierte sie viel mehr zu horchen, was Larisch dort drüben wohl zum besten gab. Er behandelte – sie traute ihren Ohren kaum – den neuesten Hofklatsch, ließ sich die Verlobungsgeschichte der Prinzessin X. erzählen und vernahm dann unter dem Ausdruck lebhafter Teilnahme, daß es immer schwerer werde, mit den männlichen Dienstboten auszukommen. Die Generalin selbst schilderte ihm das ungebührliche Auftreten ihres Gärtners in den grellsten Farben, von den modernen Dienstboten sprang das Gespräch auf das Moderne im allgemeinen über, und Anna Böckh mußte mit anhören, daß Larisch dieses Thema keineswegs ablehnte, vielmehr freundlich lächelnd sein Urteil abgab, seine Perlen vor diese Gesellschaft warf. Auf die fürchterlichsten Banalitäten ging er ganz verbindlich ein. Als die älteste aller Stiftsdamen erklärte, daß die Kunst doch erheben und erfreuen solle, ließ er sich dazu herbei, diese Wirkung in ein paar neueren Werken nachzuweisen. Ein junges Mädchen mit niedlichem Gesichtel, das ihm schräg gegenübersaß, errötete bei jedem seiner Sätze und faßte sich endlich, mit Purpur übergossen, das Herz, von ihren eigenen Eindrücken zu sprechen: ja, auch sie habe dasselbe empfunden; wirklich ergriffen sei sie gewesen. Anna Böckh dachte: was bildet sich die Kleine denn ein? warum errötet sie so dumm? wahrscheinlich weil sie von diesen Sachen nichts versteht! Nun aber richtete Larisch das Wort direkt an diese Kleine, und zwar mit einer solchen Herzlichkeit und Güte, daß Fräulein Böckh anfing an seiner Nüchternheit zu zweifeln. Vorhin erst hatte er mit eben diesem Gänschen gescherzt, gekälbert wie ein Fähnrich, jetzt zeichnete er es aus, als ob es eine geistesverwandte Freundin wäre. In Anna Böckh befestigte sich die Überzeugung, daß selbst die freiesten und differenziertesten Männer im Grunde Barbaren bleiben, rohe Instinktmenschen mit dem unausrottbaren Zug zur Selbsterniedrigung.

Sobald die Tafel aufgehoben war, eilte Larisch mit ausgestreckten Händen auf seine Freundin zu und führte sie nach einer Ecke, in der sie ungestört plaudern konnten.

»Wie geht's? Was treiben Sie?« fragte er aufgeräumt. »Was macht die Frauenfrage? Vor allem wie kommen Sie in diese Gesellschaft?«

»Ja, das möchte ich Sie vor allem fragen, bester Larisch. Ich bin bloß hier, um Sie zu treffen.«

»Na, Sie sehen doch, ich amüsiere mich.«

»Das sehe ich. – Schlimm genug!«

»Aber warum soll ich denn nicht?«

»Ach, tun Sie doch nicht so! – Sie hecheln mit den Damen Hofklatsch durch. Sie lassen sich Dienstbotengeschichten erzählen. Zu guter Letzt ziehen Sie noch die ernstesten Fragen in den Staub, unsre Fragen, an denen wir uns das Gehirn zermartern, ohne daß eine dieser Puppen hier je dran dächte, es uns zu danken ...«

»Erlauben Sie, verehrte Freundin, das sind doch sozusagen auch Menschen ...«

»Aber was für welche!«

»Nun, meinetwegen minderwertige. Aber sie leben doch nun einmal, und selbst wenn sie nur vegetierten, ich freue mich an ihrer bloßen Erscheinung, an ihren Lebensäußerungen.«

»Die sich kläglich genug ausnehmen.«

»Wieso? Sind sie nicht frischer und charakteristischer, als sie ein Künstler je bilden könnte? Wir freuen uns, wenn unsre Naturalisten sie getreulich malen oder schildern. Nun hier ist doch mehr, hier ist Fleisch und Blut, eine ganze Kollektion lebendigster Bilder!«

»Langweilig, zum Sterben langweilig.«

»Ich weiß doch nicht,« bemerkte er lächelnd! »zum Teil – zum Teil sogar entzückend.«

Ein Diener trat heran, um den Mokka und Likör zu servieren. Larisch schlürfte mit Behagen einen Kognak und rührte dann still mit verklärtem Antlitz das goldne Löffelchen in seiner Tasse. Seine Gedanken waren offenbar noch immer bei jenen Bildern, die er entzückend fand.

»Sie gefallen sich darin,« begann Fräulein Böckh wieder, »diesen Leuten als überlegener Geist und Lehrer zu imponieren. Anders kann ich es mir nicht erklären.«

»Nein, das wahrhaftig nicht,« antwortete er lachend. »Aber wenn ich schon mit Vergnügen beobachte, wie die Sträucher und Bäume treiben – die erbärmlichste Zwergkiefer sehe ich mir an, sobald sie zum Frühjahr helle Spitzen kriegt –, um wieviel mehr die Menschen, und wären's auch nur Leutnants und alte Rätinnen, – sie reden meist verkehrt, aber sie reden doch wenigstens ihre eigene Sprache, haben einen eigenen Stil, der entwicklungsfähig ist und den man tatsächlich sich ausreifen sieht, wenn man nur ohne Verbitterung die Augen auftut. Und schließlich – schließlich findet man auch einmal ein ganz unbeschriebenes Blatt; und darauf die eigenen, meine Züge zu prägen, mit List und Gewalt es für mich und meine Welt zu gewinnen – das ist der Gipfel aller Lust!«

»Ja, als unbeschriebenes Blatt können Sie mich mit meinen fünfunddreißig Jahren freilich nicht mehr benutzen.« Anna Böckh sagte das fast gereizt.

»Oh, bitte, bitte, liebste Freundin,« erwiderte er; »je älter Sie werden, desto höher verehre ich Sie. Wir sind doch Freunde. Dazu kann man gar nicht alt genug sein. Glauben Sie mir, daß ich keiner Frau je mein intellektuelles Leben so rückhaltlos anvertrauen werde wie Ihnen.«

Diese schmeichelhafte Versicherung besänftigte sie wieder. Und nun besprachen sie, vertraut wie sonst, mit klarem Blick und manch gutem Einfall die Kultur der letzten und der nächsten Jahre.

Man war hier bei der Generalin so halb und halb auf dem Lande. Deshalb galt es für gemütlich, nach dem Diner noch beisammen zu bleiben bis gegen Abend. Die Väter zogen sich ins Rauchzimmer zurück, um die neusten Anekdoten auszutauschen, die junge Welt zerstreute sich im Garten, und Fräulein Böckh mußte sich wohl oder übel zu den alten Damen halten, die auf der Veranda beim Kaffee blieben.

Diesmal gab sie sich redliche Mühe, an deren Gesprächen teilzunehmen, wie sie es von Larisch vernommen. Diese Wesen als Objekte psychologischer Untersuchung zu benutzen, das war schließlich ein Gesichtspunkt. Die Damen erörterten Vorzüge und Fehler ihrer Schneiderinnen, kamen dadurch auf die Toiletten Abwesender zu sprechen und von den Toiletten auf die Eigentümlichkeiten bekannter Familien im allgemeinen. Anna Böckh lernte nichts Neues aus dieser Unterhaltung. Die Charakterzüge, die sich darin aussprachen, waren längst bekannt und klassifiziert, vielleicht hätte sie selbst ein anderes Thema anschlagen sollen, doch sie fürchtete, damit nicht durchzudringen.

Bald erhob sie sich wieder und suchte die Jugend auf. Die war hinter dem Hause auf dem Tennisplatz versammelt und improvisierte kleine Partien. Schon von weitem bemerkte Fräulein Böckh ihren Freund mitten unter den Spielenden. Er schwang sein Racket mit großer Geschicklichkeit. Kein Ball entging seinen Augen. Der hohe, geschmeidige Körper wand und reckte sich in leichtem Wechsel der Linien wie bei den Diskuswerfern der Antike. – Wie? sollte dies auch nur ein Mittel zum Studium sein? Anna Böckh sah sich befremdet die Szene aus der Ferne mit an. Es dünkte sie unwürdig. Gleichwohl konnte sie sich dem Eindruck nicht entziehen, daß es in gewissem Sinne ein fesselndes Bild war. – Ein Mann, der sich im Spiel bewegt. – Was weiter! – Und doch kamen ihr dabei ein paar ungewohnte Empfindungen, rudimentäre Äußerungen ihrer weiblichen Natur, die ihr wohltuend und zugleich peinlich waren. Anna Böckh erinnerte sich solcher Empfindungen aus ihren frühen Mädchenjahren. Sie hatte wenig Freude und viel Enttäuschungen damit erlebt und war deshalb schlecht darauf zu sprechen. Am allerwenigsten wünschte sie in ihrem gegenwärtigen Alter und gar noch ihrem geistesverwandten Freunde gegenüber damit belästigt zu werden.

Larisch bemerkte sie und rief ihr fröhlich zu: »Immer heran, Fräulein Böckh! Der Sport ist gesund!« Einige der Umstehenden lächelten verstohlen, obgleich es Larisch ferne lag zu spotten.

Mit kühlem Dank lehnte sie ab.

Larisch ließ sich ablösen und übergab das Racket seinem Ersatzmann. Dann trat er zu dem jungen Mädchen, das er bei Tisch schon ausgezeichnet hatte und redete, wie es schien, mit allen möglichen Scherzen auf sie ein. Das niedliche Gesichtel hing an seinen Lippen, wurde abwechselnd rot und blaß und leuchtete wie ein Spiegel großer Seligkeiten. Schließlich ergriff Larisch die Hand der kleinen Dame und begann daraus zu weissagen. Das war deutlich zu erkennen; denn er zog mit seinem Finger die Linien der schmalen, schimmernden Fläche nach.

Welch ein Unsinn! dache Anna Böckh. Sie wußte, daß er sich niemals mit Chiromantie beschäftigt hatte. Nein, es war geradezu ärgerlich, seinen Torheiten länger zuzusehen, mochte er sie nun erklären, wie er wollte.

Als es schließlich dämmerte, beschlossen die jungen Leute, »begegnen« zu spielen, ein etwas läppischer Zeitvertreib, welcher darin bestand, daß Herren und Damen paarweise sich auf den Wegen des Parkes ergingen, sich Blumennamen zulegten und diese bei der Begegnung einander zum Raten aufgaben, wonach die Paare wechselten.

Fräulein Böckh fand mit einem wahren Heroismus den Willen zur Geselligkeit und erklärte, teilnehmen zu wollen. Sofort hatten alle Paare sich gefunden. Dem überzählig allein gebliebenen Fräulein Böckh fiel die Aufgabe zu, mit Raten einen Partner sich zu suchen. Sie dachte: mich gelüstet wahrhaftig nicht danach, wenn's aber denn durchaus meine Aufgabe ist, so will ich wenigstens Frank Larisch haben.

Ihr Freund ging neben seiner kleinen Dame recht eilig vor ihr her. Und während Anna Böckh noch überlegte, wie sie den beiden wohl am sichersten begegnen möchte, waren die auch schon im Dunkel der entlegensten Bäume verschwunden.

Sie hatte lange zu suchen und suchte endlich, voll instinktiven Argwohns, leise, mit schleichenden Schritten.

Auf einer Bank, ganz versteckt unter den Zweigen einer Linde bemerkte Anna Böckh ihren Freund und sah, starr vor Erstaunen und Empörung, daß er das niedliche Gesichtel zwischen seinen Händen hielt und hörte, wie er mit der Stimme eines törichten, übermütigen Knaben zu ihr sprach: »Du Schäfchen, ich hab' dich lieb.«

»Wie kannst du mich denn liebhaben, wenn ich ein Schäfchen bin?« antwortete die Kleine, ängstlich und doch überglücklich. Er lachte nur und küßte sie auf den Mund.

»Ach, ich weiß wohl, daß du viel zu klug für mich bist,« sagte die Kleine.

Da sprach er: »Von dir verlang' ich mehr als Klugheit, Liebste!« und lachte wieder und küßte sie wieder auf den Mund.

Fräulein Böckh aber ging davon, verstohlen, wie sie gekommen war und dachte, halb in Entrüstung, halb in Resignation: Das verstehe ich einfach nicht!


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