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Am Abend.


 

Coleworthy, den 2. September 1856.

Seit langer Zeit habe ich kein regelmäßiges Tagebuch geführt. Die während der letzten Jahre in Wrentham niedergeschriebenen Notizen verdienen den Namen nicht.

Aber hier, in meiner neuen lieblichen Heimat, wo die Sehnsucht meines Herzens nach dem Anblick und den Leuten des Landlebens Befriedigung gefunden und der Traum vieler Jahre zur Wirklichkeit geworden, beginne ich mit der neuen Schilderung meines ruhigen Lebens.

Wie könnte ich auch anders? Unter meinen Geburtstagsgeschenken fand ich gestern dieses schöne Buch, und auf der ersten Seite stand von Gottfrieds Hand geschrieben:

»Der lieben Mutter Heimatskunde. Von Viola und Suschen.«

So fange ich denn wieder an, und aus dem Fenster blickend, sehe ich, wie die tief im Westen stehende Sonne ihre Schatten über unsern kleinen Rasen wirft, und sage mir, daß die Abendzeit süß ist; denn wenn Gott Ruhe schenkt, woher sollte uns dann Unruhe drohen?

Es hat ihm, von dem alles Gute kommt, gefallen, unsere abnehmenden Jahre durch Gelingen zu krönen.

Mit jener zarten Rücksicht auf meinen Geschmack, und meine Neigungen, welche Gottfried mir die langen Jahre hindurch stetig bewiesen, nahm er den Vorschlag Sir Lanzelots an, daß wir die sogenannte Meierei – ein Haus an der Grenze des Parks von Ladyshall belegen – beziehen möchten.

So befinde ich mich denn nach Ablauf vieler Jahre wieder in der Nachbarschaft meiner sämmtlichen alten Erinnerungsstätten, und Hugo hat den Arbeitstheil des Geschäfts seines Vaters in Wrentham übernommen; dasselbe ist groß und blühend; die Leute sagen, Wrentham habe, seit Gottfried dort hingekommen, erkannt, was es heiße, einen treuen Rechtsanwalt zu besitzen; und so ist denn seine Praxis dort, mit der Registratorstelle zusammenhängend, eine sehr ausgebreitete geworden. Wir sind also durch Gottes Güte in den glücklichen Zustand versetzt, wo die leidige Geldfrage keine Rolle mehr spielt, wie sie's früher gethan. Aber doch brachte damals, ehe der große Schmerz über mich kam und der Verlust meines Matrosenknaben mich fast erdrückte, die Anstrengung, für meine Kinder sorgen zu müssen, mir Kraft und Lust. Arbeit und Mühe machten mir Freude, und ich blicke auf jene geschäftigen Tage wie auf besonders glückliche zurück. Aber nach Jack's Hinscheiden, dem so bald der Tod meiner theuren, bewährten Freunde in Castleborough folgte, wurde ich recht hinfällig; Gesundheit und Lebensmuth wichen, ich siechte in den lärmenden, geschäftigen Straßen Wrenthams dahin und empfand eine brennende Sehnsucht nach dem Säuseln des Windes in einem – nur einem einzigen – Baum und dem Gesang der Vögel, die den jungen Tag begrüßen.

Aber gerade als die Ebbe am tiefsten, kam auch die Hilfe, und mehrere Reisen, die ich mit meinem geliebten Mann und meinen Kindern machte, stärkten und erfrischten mich sehr und ließen mich schöne Erinnerungen für den Abend meines Lebens einsammeln. Schneeberge, die sich in klaren Seen spiegeln und beim Scheidegruß der Sonne im schönsten Purpur glühen; öde und finstere Bergsteige, auf welchen der Schritt des Menschen selten zu hören; alte und stattliche Kirchen, Zeugen der Glaubenskraft vergangener Jahrhunderte; Schätze der Kunst, gemalte Heilige und Märtyrer, – besonders jene vergeistigten Angesichter Fra Angelico's, der solche Bilder auf seinen Knieen gemalt, – das alles habe ich gesehen und danke Gott dafür, obgleich ich lächeln mußte, als Therese ihr Buch: »Wanderungen in Italien« herausgab, und dazu bemerkte, wie wenig ich doch von meinen Fahrten nach Hause gebracht.

Es scheint mir unnöthig zu wiederholen, was in allen Handbüchern zu lesen ist, und deshalb erwähne ich hier meiner Reisen nur als eines Theils der vielen Erquickungen, welche Gott mir hienieden beschert.

Es waren ihrer in der That viele, und mich freut, wenn ich meine Kinder die Genüsse würdigen sehe, welche den Wenigsten so leicht erreichbar sind.

Selbst in Wrentham hatte ich doch den Anblick des Himmels und beobachtete gern die weißen, segelnden Wolken, wenn sie über die Dächer und Schornsteine der Häuser dahinzogen. Oft begrüßte ich auch den Mond, dessen klares Antlitz zwischen den Gebäuden hindurchblickend mir vom großen Meer und von den breiten Strömen, von Bächen und Felsen erzählte, die er beschien, obgleich ich sie nicht sehen konnte.

Viola meinte heute, ich müsse die zerstückelten Glieder meiner Heimatsberichte sammeln und im Zusammenhang wiedergeben, ehe ich mit der Gegenwart beginne; aber der Versuch mißlang, und ich kann nur die Ereignisse schildern, wie sie sich einzeln begeben.

Greta's Verheiratung mit Frank Folliott, dem jüngsten Sohne Sir Williams, im vorigen Jahr, war mir eine große Freude. Er ist Vikar von Coleworthy und voll von Eifer und Thatkraft in seiner Gemeinde. Frank hat Greta schon seit Jahren geliebt, mußte aber erst auf Anstellung warten, und wir konnten nicht ahnen, daß er eine solche hier in Coleworthy finden würde.

Die Abreise Ralphs nach Indien verursachte mir bitteren Schmerz, obgleich er unter den günstigsten Bedingungen durch Sir Lanzelots Einfluß eine Stelle in Delhi gefunden. Wir waren alle so stolz auf Ralph, – sind so stolz auf ihn, – und ich hätte ihn gern hier im Lande behalten, konnte aber Andere nicht zu meiner Ansicht bekehren, und mußte ihn also ziehen lassen, will mich auch, wenn's zu seinem Besten gereicht, nicht beklagen. Er ist dort bereits aufgerückt, aber es gährt stark in Indien, und Lanzelot fürchtet, daß diese Unzufriedenheit der Sepoys sich weiter ausbreiten werde. Wir sehen jeder Post ängstlich entgegen, und ich muß jener Zeiten gedenken, wo Indien uns noch wie eine andere Welt erschien und der Verkehr ein so langsamer war.

 

Den 18. September.

Lanz ist in letzterer Zeit viel gereist und seit achtzehn Monaten im Orient. Ich allein kenne die Ursache seiner häufigen Abwesenheit, und das steht wie eine Wolke am Himmel meiner Zufriedenheit.

 

Den 20. September.

Meine liebe Isabella ist mit ihren Kindern zum erstenmale hier. Der kleine Stephan ist ein sehr anziehender Junge, und ich behielte ihn am liebsten ganz bei mir.

Heute sagte er: »Großmama, Papa sagt, du könntest mir von damals erzählen, wo er noch ein kleiner Junge war; ist er denn immer artig gewesen?«

»Nicht immer, Stephan. Niemand kann immer artig sein hier auf Erden; aber dein lieber Vater war immer lieb gegen mich.«

»Er ist so klug,« sagte der Junge stolz, warf seine Locken zurück und rief mir den kleinen mutterlosen Stephan der alten Zeiten ins Gedächtniß. »Und weißt du, Großmama, er schreibt ein dickes Buch über allerlei Sprachen, wie die Leute sie verschieden sprechen, und das verstehe ich nicht, denn die Bibel sagt, daß sie angefangen haben, verschiedene Sprachen zu sprechen, als sie den Thurm von Babel erbauten, und das ist natürlich wahr.«

O dieser gesegnete Kinderglaube, wie schön ist er doch! Jetzt, wo die Schatten auf meinem Lebenspfade länger werden, sehe ich beständig, – ja, beständig darf ich wohl sagen – die gerade deutliche Linie wie einen Silberfaden vor mir herlaufen, die mich leitet und immer heller leuchtet, je mehr die irdische Sehkraft schwächer wird.

Meine Isabella ist das schöne Bild einer Frau und Mutter, obgleich mitunter in ihren Kornblumenaugen ein sehnsüchtig fragender Blick auftaucht, der nicht von erfüllten Hoffnungen zeugt. Es gibt ja nur Eine Hoffnung, die nicht trügt.

 

Den 1. Oktober.

Heute, als wir uns gerade zum frühen Mittagessen niedersetzten, öffnete sich die Thüre und Lanz trat herein. Alles sprang empor, ihn stürmisch zu begrüßen; nur eine hielt sich zurück, – mein kleines Suschen; endlich erhob sie sich langsam und sagte: »Wie bist du braun gebrannt!« trat dann erröthend zur Seite und begann, dem kleinen Stephan das Fleisch zu zerschneiden.

»Ja, du bist braun wie eine Bohne von den Strahlen der orientalischen Sonne, nicht wahr, Blanchie?« sagte Viola zu einem der kleinen Mädchen Isabellas.

»So viele Bemerkungen, meine Erscheinung betreffend, überwältigen mich ganz,« sagte Lanz. Und dann sah ich, wie seine Augen an dem gesenkten Kopf voll kastanienbraunen Haares hingen, in der vergeblichen Hoffnung, Suschen aufblicken zu sehen.

»Was wirst du uns alles zu erzählen haben, Lanz,« sagte Viola, welcher die leichten Worte immer zu Gebote stehen, die so nöthig und nützlich sind, um die Leute in Gang zu setzen. Aber ihre Bemühungen waren vergeblich; es lag auf uns wie ein Bann der Befangenheit.

Bis vor zwei Jahren war Suschen Lanzens stete Gefährtin gewesen; sie schrieb ihm, wenn er verreiste, und bei seinen häufigen Besuchen in Wrentham nannte er sie immer »seine kleine rechte Hand.« Sie nannte ihn »ihren liebsten Bruder« und bediente ihn in ihrer holden, zärtlichen Weise, als könne er ohne sie nicht leben. Die Zeit verstrich so rasch und Lanz war durch so viele Jahre von Suschen geschieden, daß ich nicht sehen wollte, wie die Liebe seiner Jünglingsjahre für die ältere Schwester sich nun in gereifter Mannheit mit der ganzen Kraft seines Wesens auf die jüngere gerichtet hatte.

Endlich kam die Zeit der Erkenntniß, und mein Suschen, die so lange an dem Punkte gestanden, wo Bach und Fluß sich begegnen, erkannte plötzlich, daß sie hinüber müsse und aus dem Traumleben ihrer Jugend erwachen. Dieses Erwachen war peinlich, denn so wenig hatte sie die Wahrheit geahnt, daß, als diese sie durch die unbedachten und rücksichtslosen Reden derer erreichte, die sich nicht scheuen, mit so heiligen Dingen Scherz zu treiben, die Erregung eine gewaltsame schien. Ihr Kummer war so groß, daß meine Worte ihn nicht zu dämpfen vermochten, und zum zweitenmal mußte ich die Hoffnungen meines geliebten Lanz niederschlagen.

Und zwar war das jetzt noch schmerzlicher als damals, denn bei aller Tapferkeit ist er sehr reizbar in Betreff seines Arms, und schien zu glauben, es sei vermessen von ihm gewesen, nur von dem Besitz eines so holden jungen Weibes zu träumen; während ich, die ich ihn kenne, sie ihm viel lieber gäbe, als einem gutmüthigen, faden, jungen Baron der Nachbarschaft, der sich, seit wir hieher gekommen, um sie bemüht.

Ich zog meinen lieben alten Schwager zu Rathe, der in sehr verständiger und wohlthuender Weise darauf einging und diese orientalische Reise für Lanz in Begleitung eines Freundes zu Stande brachte. Er bewies damit viel Selbstverleugnung, denn die Monate schlichen ihm ohne seinen Sohn träge dahin; er wird jetzt alt und manche Freunde aus früherer Zeit sind vor ihm geschieden.

Nach dem Essen las ich den Wunsch in Lanzens Augen, mich allein zu sprechen, und forderte ihn auf, mit mir nach dem Park zu gehen. Anfänglich redeten wir von allen möglichen andern Dingen, – von Ralphs letztem Briefe, von den indischen Nachrichten, von Harry in Oxford, von den Verbesserungen im Dorfe Coleworthy, von der beabsichtigten Wiederherstellung der Kirche und allem Guten, was wir hier für die Leute zu thun gedächten.

»Ich wünschte dich immer hierher in die Meierei,« sagte er, als wir nach dem lieben alten Hause zurückblickten, »und nun ist mein Wunsch erfüllt; diese Erfüllung bringt indeß, wie jede irdische, nicht gerade die erwartete volle Befriedigung mit sich.«

Ich drückte den Arm, auf welchen ich mich stützte, zum Zeichen, daß ich ihn verstand, und dann fragte er:

»Es ist wohl nichts für mich zu hoffen, Mutter?«

»Das möchte ich doch nicht behaupten. Ich glaube, Suschens Herz ist noch frei, und da kann man ja immer nicht wissen -«

»Nun,« sagte er, mit den schönen Augen auf mich niederblickend, die jetzt einen wunderbaren Ausdruck tragen, der von innigem Verkehr mit Gott zu reden scheint, »ich habe längst erkannt, daß Gottes Wille für mich der beste sein muß, ja durch seine Gnade gelang es mir, ihn zu dem meinigen zu machen. Er war bei mir auf allen meinen Fahrten. O wie würde es dich beglücken, den Boden zu betreten, den ich betrat, die heiligen Stätten! Und doch empfand ich sogar auf dem Oelberge klarer als je zuvor, daß er in dem demüthigsten Herzen Wohnung macht, welches zu ihm spricht: Herr, ich bin dein; bleibe bei mir!«

 

Den 2. Oktober.

Heute kam Gottfried mit einem offenen Briefe und den Worten zu mir: »Eine neue Liebesgeschichte für dein Buch.«

Es war zu meiner Bestürzung ein Heirathsantrag des Sir Eduard Spencer für Suschen.

»Nun,« sagte Gottfried, »du scheinst wenig erbaut, Letty. Was, ist sogar ein schmucker junger Baron mit sechstausend Pfund jährlich dir für deine Tochter nicht gut genug? Du wirst ja in deinem Alter ganz unbillig.«

»Ich weiß, daß du auch nicht jubelst,« sagte ich; »aber Suschen muß es ja wohl erfahren.«

»Das sollt' ich meinen; es ist eine glänzende Parthie für sie.«

»O Gottfried,« bat ich, »scherze nicht. Du weißt, daß du dir keinen solchen Flachkopf zum Schwiegersohn wünschest; du weißt -«

»Ich weiß,« sprach er zärtlich, »wo dein Herz dich hinzieht; aber Geliebte, wir dürfen nicht versuchen, unsern Einfluß bei Suschen geltend zu machen; das Kind muß für sich selber urtheilen, – sie ist zwanzig Jahre alt, und in der That nichts gegen Sir Eduard zu erinnern. Er ist ein guter Sohn und in jeder Beziehung achtungswerth. Ich will Suschen rufen, und du mußt es ihr gleich mittheilen.«

»Nein, warte Gottfried – einen Augenblick!« rief ich; »sage du es ihr erst und schicke sie dann zu mir.«

»Ich sehe,« sprach er, »du fürchtest, deine Erschütterung würde zu groß sein, wenn das Kind sich bereit erklärte, den armen Jungen zu nehmen.«

Dann verließ er mich, und ich wartete gespannt wohl eine halbe Stunde. Ich hörte Suschens Stimme dem Ruf ihres Vaters antworten und ihren leichten Schritt die Treppe nach seinem Zimmer hinabeilen.

Ich gedachte des treuen und edlen Herzens, welches sich zum zweitenmale an eins meiner Kinder gehängt. Wie seltsam, daß er, dieser anziehende und gewinnende Mensch, dem die ganze Welt zur Wahl einer Lebensgefährtin offen steht, Niemanden als Suschen für sich passend hält. Sie ist die Blume meiner Heerde, so hold und zärtlich und dabei so freudig; so zart und lieblich, und doch so kräftig und gesund. Sie hat weder die Gaben Isabellas noch deren Gedankentiefe, aber für den allgemeinen Beobachter ist sie viel anziehender. Meine Isabella weiß, daß, obgleich jedes einzelne meiner Kinder mir persönlich gleich theuer ist, doch die Erstgeborene ihren eigenen unverlierbaren Platz behauptet.

Nun, ich saß nachdenkend da, und dann bat ich Gott, mir zu zeigen, daß, wie Suschen auch entscheiden möge, sein Wille für Lanz der beste sei, wie dieser ja auch nach seinem eigenen Ausspruch gelernt, ihn zu dem seinigen zu machen.

Endlich hörte ich meines Kindes Schritt, und sie öffnete die Thüre. Des armen Sir Eduards Antrag war rechtzeitig gekommen. Einen Augenblick blieb sie unschlüssig stehen und flüsterte dann, ihre Arme um mich schlingend, mit erröthenden Wangen und thränenden Augen, aus welchen ein Licht brach, wie die Sonne durch den Regen: »Liebste Mutter, es war alles nur Mißverständniß!«

»Was war nur Mißverständniß, Suschen?«

Ihre Stimme wurde noch leiser. »In Betreff Lanzens, Mutter. Ich fühle, daß ich ihn liebe, und nie, nie einen Andern lieben könnte.«

»Der arme Sir Eduard!« rief ich; aber der Ton klang so wenig traurig, daß Suschen aufblickte.

»Ach, du liebste Mutter, du möchtest mich nicht als Lady Spencer sehen, das weißst du recht gut!«

Dann lachten und weinten wir mit einander und ich schrieb ein paar Zeilen an Lanz, die ihn sogleich herbeizogen; und hat es wohl je ein glücklicheres Haus gegeben, als das unsrige an diesem Abend gewesen? Niemand aber war froher, als Isabella.

 

Den 8. Dezember.

Mein erster Winter auf dem Lande und statt denselben öde zu finden, wie manche mir vorhergesagt, kommt er mir viel erfreulicher vor, als ein Winter in der Stadt.

Die Schönheiten des Landlebens hat Cowper in jenen ruhigen gemessenen Versen, die jetzt so selten mehr gebraucht werden, besungen; aber ich finde diese Schönheiten zahllos. Die Gestalt der gegen den Himmel sich abhebenden Bäume bietet einen Reiz, den der Sommer nicht kennt; und ich weiß nicht, weshalb mir die kahlen Bäume mehr wie Freunde vorkommen, als wenn sie im vollsten Schmucke prangen. Dann das Geschrei der Raben beim Sonnenuntergang und das Zwitschern der Rothkehlchen! Die Natur hat selbst im Winterschlaf ihre Musik, der nichts sonst unter dem Himmel gleicht!

Gewiß stimmt das Herz alle umgebenden Dinge nach seinem eigenen höheren oder tieferen Ton, und mein Herz ist voll Dank und sogar voll Freude in diesem ersten Winter unserer ländlichen Heimat.

Die Vorbereitungen zu Suschens Hochzeit schreiten fort. Jeder Aufschub wäre unnöthig, sagt Sir Lanzelot und so ist der Hochzeitstag auf den ersten Januar festgesetzt.

Unser lieber Jüngster, Harry, soll Weihnachten in Minster ordinirt werden, und dann bei Suschens Trauung in der Kirche von Coleworthy mitwirken.

 

Minster, den 23. Dezember.

Ich bin hier auf zwei Tage bei den Randalls zum Besuch. Dr. Randall baut sich ein Landhaus und übergibt seine Praxis einem jungen Manne, der hier wohnen wird. Therese ist sehr gealtert, sie hat manchen Kummer mit Barry zu dulden gehabt und die getäuschte Erwartung hinsichtlich seiner war äußerst schmerzlich für sie.

Dr. Randall ist sehr gütig gegen mich, – so sanft und beinahe zärtlich, daß ich glaube, seine Gedanken weilen oft bei dem kurzen Jahr seiner ersten Ehe.

Ein Bildniß der armen lieben Isabella hängt über dem Kamin in dem Zimmer, das ich bewohne; es ist schlecht gemalt und als Bild ohne Werth; aber es ruft sie mir so lebendig zurück und fast meine ich sie sprechen zu hören. Nichts dringt durch die Strömung der Jahre so deutlich zu mir herüber, als die Stimmen der Entschlafenen. Oft vernehme ich des Nachts, wenn ringsumher Stille herrscht, die Stimme meines kleinen Lieblings Letty, meines armen Jack schallendes Gelächter, auch den Wohlklang des Tones, mit dem Susanna in der weichen italienischen Sprache jenes wunderbare Gedicht Dante's hersagte, – damals mir ein versiegeltes Buch, dessen Sinn und Schönheit ich aber später in der Uebersetzung kennen und würdigen gelernt.

In der Stimme meines Suschens erinnert mich etwas an die ihrer Tante Susanna, besonders wenn sie Lanzelots Namen ausspricht. Mitunter meine ich, den Schlüssel zu dem geheimnißvollen Einfluß, welchen die verschiedenen Stimmen der Menschen auf uns üben, in der folgenden Stelle eines der prosaischen Werke Longfellows zu finden, wenn er sagt: »Der Geist des Menschen thront sichtlich auf seiner Stirne und in seinen Augen und das Herz des Menschen steht in seinem Antlitz geschrieben. Aber die Seele offenbart sich immer in der Stimme, wie Gott sich den alten Propheten im stillen sanften Säuseln und in der Stimme aus dem brennenden Busch geoffenbart. Die Seele des Menschen ist hörbar, nicht sichtbar. Nur ein Ton verräth die Strömung des für Menschenaugen unsichtbaren ewigen Stromes.«

Daher kommt es vielleicht, daß, wenn die äußere sterbliche Hülle der Geliebten unsern Blicken längst entzogen, im Gedächtniß erblaßt und verlischt, doch dasjenige bleibt, was von der unsterblichen Seele Zeugniß abgelegt hat. Und um noch höher zu greifen, kann ich mir denken, daß die Stimme sowohl als die Worte dessen, der da redete wie kein Mensch je geredet, die Ohren und die Seelen der Hörer durchbebt, wenn sie im vollen melodischen Klang über die Berge Judäas dahintönend, den Beruf des Redenden verkündigte, zu suchen und selig zu machen, was verloren war. Ach, diese Stimme, unendlicher Wehmuth und doch unendlicher Hoffnung voll, wie sie bis in die Tiefen des Herzens der trauernden Schwester drang: »Dein Bruder wird aus dem Grabe hervorgehen; Ich bin die Auferstehung und das Leben!«

 

Den 31. Dezember.

Ich habe in Minster nicht weiter geschrieben, sondern auf die Stille meines friedlichen Zimmers gewartet, um von dem hellen Wintermorgen zu erzählen, wo ich meines Gatten Arm nahm und mit ihm in den Münster ging. Wir wanderten alleine voran; die lieben Kinder blieben etwas zurück. Es war frühe und der Chor noch leer, als wir neben einander niederknieten, wie wir's so oft im Anfang unserer Ehe gethan, um zu beten und zu danken. Endlich störte uns der Klang nahender Schritte und aufblickend sah ich, daß die Kirche sich fülle; als nun die Orgel zu tönen begann, kam die Schaar der jungen Männer im weißen Ueberwurf herangezogen und nahm die ihnen an dem Altar bestimmten Plätze ein. Mein Herz zitterte, als Harry vorüberschritt und seine Augen den meinigen begegneten. Weiß er doch, daß mit seiner Ordination einer der innigsten Wünsche seiner Mutter in Erfüllung gegangen. Aber es ist ein feierlicher Augenblick und bleibt nur Raum für das brünstige Gebet, daß er leben möge, wie er zu leben gelobt, und sich mühen und verzehren im Dienst seines Herrn.

Wir kehrten nicht zum Mittagessen bei den Randalls zurück, sondern fuhren geradeswegs nach Coleworthy, wo der liebe Harry seine erste öffentliche Predigt in der kleinen Kirche hielt. Dann gab er mir seinen Arm und wir wanderten zusammen nach Hause. Er folgte mir in mein Zimmer und wir, sprachen mit einander wie in alter Zeit, wo die Kinder sich noch alle um mich sammelten

Und nun höre ich fröhliche Stimmen und weiß, sie sind aus der Kirche zurück, welche sie zur Hochzeitsfeier geschmückt und verlangen nach mir; ich muß also meinen Zufluchtsort verlassen und sehen wie's unten steht.

 

Den 24. Januar 1857.

Viola sagte mir heute, sie hoffe, daß ich nicht verfehlt habe, die Hochzeit in der Familienchronik zu verzeichnen und fügte hinzu: »Du wirst nie Gelegenheit haben, von der Hochzeit einer andern Tochter zu berichten, deßhalb mache aus dieser so viel du kannst!«

Viola ist übrigens in der allgemeinen Heirathsbewegung keineswegs übergangen worden, denn dreimal mußte ihr Vater allzu dringliche Freier in ihrem Namen zurückweisen! Ich bemerke das hier, ob sie's nun möge oder nicht, denn wie das Veilchen will sie sich immer den Blicken entziehen; aus den Gedanken kann sie nie verschwinden, weil sie die Seele der Haushaltung ist, immer thätig, hilfreich und nützlich, aber nie aufdringlich oder sich mit ihren Leistungen breit zu machen geneigt.

Das neue Jahr brach hell und schön, fast frühlingsartig an. Ladyshall war von Gästen überfüllt und die Meierei und das Pfarrhaus mußten auch ihre Räume hergeben.

Wir bedauerten fast, Wagen bestellt zu haben, denn es war so warm und schön, daß wir hätten zu Fuß zur Kirche gehen können.

Unsre liebe Braut sah hold und ruhig aus, und unser Bräutigam sehr glücklich; er ist immer so natürlich und unbefangen, daß man nie an seinen Verlust erinnert wird. Selbst als er Suschen den Ring an den Finger steckte, geschah es ohne Zögern oder Anstrengung. Einmal glaubte ich eine Wolke auf seiner lieben Stirne zu bemerken, als sie sich die Hände geben sollten, und er die ihrige nicht mit seiner Rechten fassen konnte; aber das verschwand sofort, und der Druck von Suschens kleinen Fingern rief, wie ich merkte, ein Lächeln seines schönen festen Mundes hervor. Und wenn Lanz ein Bild der Männlichkeit in ihrer vollen Blüte darbot, so Sir Lanzelot ein Bild des schönen Alters. Seine hohe Gestalt ist nur wenig gebeugt und sein graues Haar noch voll, während der ganze Ausdruck seines Gesichts verändert und gemildert erscheint.

»Gott segne unsre Kinder, Letty,« sagte er nach vollendeter Feierlichkeit und küßte mich.

Ja, unsre Kinder! Ich fühlte, daß meiner Schwester Geist uns in der kleinen Kirche umschwebte, und daß die goldene Brücke, welche uns mit den Vorangegangenen verbindet, hell aufleuchtete, als die Sonne durch Frau Bertha's Fenster fiel.

Alle unsre Kinder waren zugegen mit Ausnahme Ralphs, und die Sorge um ihn dämpfte den Glanz des Tages.

Das Frühstück wurde in Ladyshall eingenommen, und gegen drei Uhr fuhren Lanz und Suschen nach Minster auf ihrem Wege nach Paris; sie werden drei bis vier Monate fortbleiben.

 

Den 3. März.

Nun da wir wieder ins gewöhnliche Leben zurückgekehrt sind, suche ich mich nach Kräften in unsrer Gemeinde nützlich zu machen. Ich habe immer gewünscht, die Armen so zu sagen in das Bündel meines Lebens mit hineinzuschnüren, und mich ihren Sorgen und Schmerzen, ihren Freuden und Leiden innig anzuschließen. Greta wird oft durch Krankheit von thätiger Wirksamkeit abgehalten, und so arbeite ich mit Viola unter Franks Leitung. Neue Schulen werden erbaut, und die Restauration der Kirche schreitet langsam vorwärts.

Frau Smith – die arme Maude Folliot – ist vor vierzehn Tagen gestorben, und Frank hat ihre Tochter in sein Haus aufgenommen.

 

Januar 1858.

Die schönen Aussichten, mit welchen das vorige Jahr abschloß, sind sehr getrübt worden. Gerade als ich fühlte, daß Gott mir die lang ersehnte Ruhe geschenkt und alle meine Wünsche für Mann und Kinder erfüllt habe, kam eine neue Prüfung.

Die Nachrichten aus Indien lauteten immer beunruhigender, bis endlich der furchtbare Sturm über die Brittischen Einwohner losbrach, der so vielen Herzen bitteren Kummer gebracht. Gleich den wiederholten immer heftigeren Stößen eines Erdbebens, traf uns die Kunde von den gegen die Tapfern und Starken, wie gegen die Schwachen und Hilflosen verübten Scheußlichkeiten. Mirut und Delhi waren die Zeugen von entsetzlichen Dingen; in Cawnpore erreichte der Schrecken den Gipfel, und Lucknow mußte allen Jammer einer in neueren Zeiten unerhörten Belagerung erleiden.

Keine Worte vermögen die Angst zu schildern, mit welcher ich, in steter Erwartung fernerer Nachrichten, neben Lanzelot auf der Terrasse von Ladyshall auf und niederging und seinen freundlichen Tröstungen lauschte. Denn obgleich mein Ralph ganz fröhliche Briefe schrieb, und jedermann mir von Hoffnung sprach, sank mir das Herz immer mehr in der Brust.

Ungewißheit ist mir von jeher am schwersten zu tragen gewesen, und hätte ich nicht immer die tröstliche Nähe meines lieben Herrn gefühlt, so wäre ich gewiß ganz erlegen.

Endlich kam die Nachricht vom Siege über die Rebellen, und nun wird die ganze Verfassung Brittisch Indiens umgestaltet.

Unser lieber Ralph ist unversehrt aus allen ihn umgebenden Gefahren und Schrecken hervorgegangen, und mit dankerfüllten Herzen sehen wir seiner Rückkehr entgegen.

 

Den 30. Juni 1860.

Ein neues inniges Band des Verständnisses ist zwischen mir und meiner Isabella geknüpft. Es hat Gott gefallen, derselben ihren einzigen Sohn, den kleinen Stephan zu nehmen.

Er war ein sehr hoffnungsvolles Kind und gehörte zu denen, von welchen man wohl nach ihrem Tode sagt, daß sie zu gut für diese Welt gewesen. In der That war er ein Schatz für uns alle, und der Verlust ist sehr groß. Er starb am Scharlachfieber und seine fünf kleinen Schwestern machten dieselbe Krankheit durch, sind aber ihren Eltern erhalten.

Des lieben Stephan Brief, in welchem er uns den Tod seines Lieblings anzeigte, hat großen Werth für mich. Er sagt, während das Kind noch lebte, habe er gefastet und geweint, aber nun es gestorben sei, müsse er mit dem König David sprechen: »Kann ich es auch wiederum holen? Ich werde wohl zu ihm fahren, es kommt aber nicht wieder zu mir.«

 

Den 4. September.

Die liebe Isabella ist bei uns. Sie spricht so gern von ihrem Knaben, und es rührt mich, sie sagen zu hören: »Ach Mutter, du weißt, was das heißt! Ich kann mit Niemand von meinem Schmerz reden, der's nicht weiß. Eine große Welle ist über mich hingegangen, und ich werde nie wieder ganz dieselbe sein wie vorher. Aber, ob auch all seine Wogen über mein Haupt gegangen, meine Füße stehen doch auf dem Felsen, – und Stephans Füße auch,« setzte sie hinzu. »Er sagt, seines Sohnes Tod lehre ihn immer eifriger beten: Gib mir den Glauben eines kleinen Kindes, damit ich auch dahin komme, wo er ist.«

 

Den 31. Dezember 1865.

Die Jahre fliegen vorüber und das Alter nahet mit Macht. Gott sei gepriesen! Ich kann bezeugen, daß Er, den ich liebe, trotz aller meiner Sünden und Uebertretungen mit mir ist.

Ich habe die Berichte der Vergangenheit wieder durchgesehen. Mein erstes Tagebuch scheint mir jetzt so alt; und ich vermag es kaum zu fassen, daß die vor sechsundvierzig Jahren junge Frau nun die »Großmama« ist, welche ihrer Kinder Kinder gesehen, und über welcher die Stille des höheren Alters ausgebreitet liegt.

Aus eigener Erfahrung und durch Beobachtung Anderer möchte ich bezeugen, daß die Fehler und Schwächen der Jugend und der reiferen Jahre nicht etwa von selbst im Alter verschwinden. Im Gegentheil, wenn der Kampf nicht ein andauernder und die Wachsamkeit auf unsere Herzen nicht eine unaufhörliche ist, so können die Fehler, welche unsern Frieden und den Frieden unserer Umgebung im dreißigsten Jahre gestört, es noch mehr im sechzigsten thun.

Ich lese die Worte des lieben Dechanten von Castleborough im alten Tagebuch, während ich hier schreibe und vom Jahr 1865 Abschied nehme. Wohl kann ich mir noch den Ausdruck seines Gesichts vergegenwärtigen, als er uns so feierlich die Frage vorlegte, was in dem abschließenden Jahr, das er mit dem Blatt eines Buches verglich, geschrieben stände, und ob die durchgrabene Hand dieses Blatt berührt und die darauf verzeichneten Sünden getilgt habe. Und ich glaube wirklich, daß wir nur Frieden finden, wenn wir ihm das Blatt unseres täglichen Lebens immer aufs neue bringen und zur Tilgung vorlegen. Er liebt uns so sehr und kennt uns so gründlich, und seine Güte bleibt unwandelbar dieselbe.

Mein geliebter Gottfried, mein bester irdischer Halt, gewährt mir immer Stütze und Trost. Das Alter hat ihn bisher nur mit sanfter Hand berührt. Ich glaube, die Stetigkeit und Festigkeit seiner Natur, welche ihn immer so ruhig und gelassen erhält, ist ein besonderer Vorzug. Ich kenne keinen Vierundsiebzigjährigen, der ihm gleicht. Sir Lanzelot zählt einige Jahre mehr, und ist in letzterer Zeit sehr zusammengebrochen.

Was mich selber betrifft, so fühle ich die Hand der Zeit am meisten in meinem Bedürfniß nach Stille. Die geringste Unruhe und Aufregung wird mir zu viel. Und wie meine liebe Viola mich in allen Stücken schont und behütet! Aber wenn gleich der Körper nicht mehr den früheren Anstrengungen gewachsen ist, so muß ich doch dankbar erkennen, daß der Quell der Freude in mir nicht vertrocknet. Der Sonnenuntergang, das Gezwitscher der Vögel, Bücher, Freunde und der Briefwechsel mit den Abwesenden sind Genüsse für mich, die ich eben so lebhaft empfinde wie ehedem. Und darin, daß Gott mir noch am Abend meines Lebens vergönnt, den Traurigen und Kranken in Dorf und Umgegend etwas Trost zu bringen, besteht eine der großen Segnungen meines Alters.

 

Den 31. Dezember 1866.

Wieder ein Jahresschluß! Ich blieb den ganzen Winter eingeschlossen, und durfte am Allerheiligentag nicht ausgehen.

Viola und ihr Vater sind mit zwei kleinen Mädchen meiner Isabella, die hier zum Besuch sind, in der Kirche.

Die Zukunft des höheren Alters scheint ungewiß und dämmerig, und vor einigen Wochen glaubte ich nicht, daß ein neues Jahr für mich anbrechen würde. Aber durch Gottes große Gnade fühle ich mich wieder viel kräftiger, und mein Husten ist fast gewichen. Ich las neulich folgende Verse in dem Buch einer Freundin aus Minster, welche meine Empfindungen am Schluß dieses Jahres vollkommen wiedergeben.

Was dann? – Ein erneuter Pilgergesang,
Und dann erquickende Stille,
Dann wieder ein lang anhaltender Durst,
Dann frischester Trunk nach der Schwüle.
Was dann? Das Ruhen im Abendzelt,
Wohl auf rauhem, dornigem Kissen,
Dann vielleicht eine Botschaft zärtlich und süß,
Den Müden zu trösten beflissen!
Was dann? Das Aechzen des Windes bei Nacht,
Und Fieberträume voll Grauen,
Dann ein Krüglein mit Wasser ans Lager gestellt,
Beim Erwachen tröstlich zu schauen!
Was dann? Ach, fehlt es an Thränen doch nicht,
Wie gewiß nicht an Schmerzen und Sorgen,
Doch immer näher der Heiland rückt
Und spricht: Ich steh' dir für morgen!
Was dann? Seine Gnade vergibt mir die Schuld,
Seine Liebe begreift meine Klagen,
Sein göttliches Licht die Schatten zerstreut,
Sein Arm will die Strauchelnden tragen.
Was dann? Ein Thal gar einsam und still,
Und ein Strom so tief und so trübe;
Dann ein Lichtmeer und seliger Engel Gesang,
Dann ein ewiges Leben der Liebe!

*

Mit Ausnahme einiger unzusammenhängender Bruchstücke endigt das Tagebuch der Frau Waring hier; aber der Brief aus der Feder eines ihrer Kinder an deren Bruder in Indien möge als passender Schluß dieser Aufzeichnungen dienen.

Er gibt uns ein Bild der abendlichen Klarheit, wo, obwohl die Schatten länger werden und die Nacht herannaht, doch das Licht der untergehenden Sonne in zarter, eigenthümlicher Farbenschönheit strahlt.

Den treuen Herzen kommt die Erbschaft des Friedens, wenn sie das Ende ihrer Lebensreise erreichen, als Antwort auf die Bitte: »Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget.«

Schön ist das Alter, wenn der Herr naht, und durch seine Gegenwart den Vorschmack der vollkommenen Freude im ewigen Reiche mit sich bringt. Wir reden viel von den Reizen der Jugend und der reiferen Anmuth späterer Jahre, aber kann es etwas Lieblicheres und Liebenswertheres geben, als ein hohes Alter, welches stets an die Worte erinnert: »Es ist noch eine Ruhe vorhanden?«

 

Coleworthy bei Minster, den 3. Sept. 1869.

»Liebster Ralph!

Der große Tag ist vorüber, und wir sind in die Stille des täglichen Lebens zurückgekehrt. Mutter sagt mir beständig: »Erzähle doch Ralph alles von Dienstag,« und ich freue mich, das thun zu können.

Die Familie strömte in der vorigen Woche herbei, und am Sonntag waren wir fast alle beisammen. Der Erste des Monats war ein vollkommener Herbsttag, und als ich um acht Uhr in Mama's Zimmer trat, saß sie am Fenster in ihrem grauseidenen Kleide und der hübschen Spitzenhaube, die Bibel und ihre lieben alten Bücher neben ihr, welche wir seit so vielen Jahren kennen.

Es ist schwer zu glauben, daß sie ihre goldene Hochzeit feiern sollte, so jung erscheint sie noch immer an Geist; und als Papa mit ausgestreckten Armen hereinkam und sie ihm entgegeneilte und ihn küßte, meinte ich, sie habe damals, wo sie vor fünfzig Jahren als Braut neben Tante Susanna in der Kirche zu Kensington stand, nicht lieblicher aussehen können, wie jetzt. Papa, ist, seit du ihn vor fünf Jahren gesehen, älter geworden, aber noch immer, wenigstens in unsern Augen, ein schöner alter Mann.

Die Glocken begannen zum Gottesdienst zu läuten, und dann hörte man das Stampfen kleiner Füße die Treppe hinunter, und Mutter, Papa und ich gingen in die Halle; welch ein Haufen Kinder war hier versammelt! Und die liebe Anna im schwarzen Seidenkleid, machte wie immer den Eindruck einer Adeligen von Gottes Gnaden! Die sechs kleinen Randall's Mädchen, alle in weiß, mit ihnen Stephan und Isabella; draußen der liebe Lanz und Suschen nebst ihren Kindern; und Greta mit ihrem einen Knaben aus dem Pfarrhause kommend, um mit uns zur Kirche zu gehen. Hugo, der Junggeselle, trat zur Mutter; sie nahm seinen Arm und schritt mit ihm über den Rasen, Papa und Isabella hinter ihnen. So groß war unser Zug, und wir alle fühlten uns zu glücklich, um zu sprechen, alle bis auf Harry, den Unüberwindlichen, der nicht weit kommen konnte, ohne die kleine Maude Randall zu necken und sie wegen ihrer rothen Haare »Rubinchen« zu nennen.

Sobald wir jedoch in der Kirche anlangten, schien alles sich aufzulösen in einen Ström des Danks. Frank Folliott las die Gebete und der liebe alte Harry den Text; dann schritten wir zum Altar, knieten mit unsern lieben Eltern nieder und empfingen das h. Abendmahl, welches uns Alle so eng verbindet. Wie Mutter richtig sagte, waren wir dort Alle zugegen, – Letty, Jack, Tante Susanna und Isabellas lieber Knabe, um den wir sämmtlich trauern; auch du, liebster Ralph, wie sie dir mit der nächsten Post selbst schreiben wird.

Nach der Kirche kehrten wir heim und frühstückten, und dann mußten die Eltern sich etwas hinlegen, um sich auf die Festlichkeiten des Tages vorzubereiten. Mutter hatte gewünscht, alle Schulkinder und Dorfbewohner hier zu versammeln; sie kamen also um ein Uhr, und sie gab jedem ein kleines Geschenk, wie sie es selbst mit Vergnügen bereitet, hat dabei auch keinen vergessen.

Frank Folliott und Greta besorgten diesen Theil des Tages, und du weißt, solche Einrichtungen sind Gretas Stärke. Die Leute bekamen ihren Thee auf dem Rasen; dann ruhten wir, zogen uns an und gingen nach Ladyshall zum Essen.

Die lieben Eltern saßen zusammen am obern Ende des langen Tisches, Onkel Lanzelot am untern Ende, Lanz neben Mutter zur Rechten, und Hugo bei Vater zur Linken. Das Essen brauche ich dir nicht zu beschreiben; du weißt ja, wie es in Ladyshall zugeht. Aber Suschen und Lanz übertrafen sich selbst, und es blieb nichts zu wünschen übrig Nachdem die Dienstboten gegangen, wurden unsre Geschenke hereingebracht, – ein schönes Photographie-Album mit den Bildern der Kinder und Enkel, und dann von allen Randalls und Trevors kleine Gaben für die liebe Großmama.

Lanz hielt eine Rede, die Niemand vergessen wird. Er sagte, wie er unsrer Mutter seine theuersten Güter verdanke – seine Frau und seinen Glauben; wie keine Worte die Verehrung und Liebe ausdrücken könnten für sie, die ihn in gesunden und kranken Tagen verpflegt, ihm in den schwersten Stunden beigestanden, und vor allem ihn durch ihre Sanftmuth und ihren Wandel dahin geleitet, das Kreuz Jesu zu ergreifen und den Glauben, welcher den Heiligen gepredigt worden, als unfehlbar im Leben und Sterben zu erkennen.

Die arme liebe Mutter brach fast zusammen; aber ich kann dir nicht sagen, wie rührend es war, als der alte Onkel Lanz mit schwacher, zitternder Stimme erklärte, auch er trage eine Schuld tiefster Dankbarkeit für sie auf dem Herzen. Dann sie anredend fuhr er fort: »Letty, vor allen uns so theuren Kindern laß mich dir heute sagen, daß deine Gebete Erhörung gefunden, und daß ich, ein alter Mann am Rande des Grabes, sprechen darf: »Gott sei gepriesen, – wo ich einst zweifelte, glaube ich jetzt.«

Mein Wunsch war nun, Stephan möchte auch reden, aber er schwieg, obgleich ich nicht glaube, daß Jemand Mutter mehr lieben kann als er.

Dann redete Hugo unsern Vater an, und rühmte wie alle seine Söhne ihm das Beispiel strenger Rechtlichkeit in Wort und That und der unwandelbaren Pflichttreue in seinem Beruf, das er ihnen gegeben, verdanken. Darauf wurden die Gesundheiten aller Söhne und Töchter getrunken, und dabei auch »die unsers großen Mannes in Indien« mit lautem Beifallsrufen ausgebracht.

Harry hielt eine seiner witzigsten Ansprachen, hauptsächlich dem demüthigen Veilchen (Violet) der Familie gewidmet, die sich begnüge, in bescheidenem Gewande einsam fortzublühen. Da er selbst unverheirathet ist, wurde das als guter Spaß aufgefaßt, und der gute alte Hugo bekam dabei auch sein Theil.

Den Rest des Abends verbrachten die Jungen sehr lustig und fröhlich, und die Aelteren sehr friedlich und vergnügt. Um neun Uhr wurde Mutter müde und redete davon, nach Hause zu gehen. Da erklärte Lanz, er würde sie begleiten, und in den Mondenschein hinaustretend, fanden wir ein allerliebstes niedriges Wägelchen mit einem kleinen grauen Pony vor der Thüre stehen.

»Das ist mein Geschenk,« sagte Lanz, sie hineinhebend, »meins und Suschens, zur Erinnerung an den goldenen Hochzeitstag.«

War das nicht reizend und recht eigentlich was sie brauchte? Denn die alte hohe Kutsche, die Papa kaufte, als wir zuerst nach der Meierei zogen, ist so unbequem fürs Aus- und Hinsteigen, und in diesem hübschen kleinen Wagen kann sie sich selber fahren.

Lanz fuhr langsam durch den Park, und wir folgten in Haufen, denn die Nacht war so warm und schön. Isabella bat mich, sie mit Mutter hinaufgehen zu lassen, als wir zu Hause angekommen, und ich entsagte diesmal meinem Vorrecht. Die liebe Isabella! In ihren schönen Augen liegt ein Ausdruck von Wehmuth, den ich lieber nicht da sähe. Suschen gleicht ihr wunderbar, aber deren Kornblumenaugen, wie Mutter sie nennt, springen vor Lust. Sie ist noch immer ein Kind, obgleich die kleine Bertha gestern zehn Jahre alt geworden. Wie die Zeit läuft!

Hugo ist heute nach Wrentham und Harry in seine Pfarrei zurückgekehrt. Die Randalls blieben noch in Ladyshall.

Die arme Tante Therese war zu krank, um am Ersten zum Essen zu kommen. Sie wird den Verlust Barry's nie verwinden. Wie verschieden ist ihr Alter von dem unserer Mutter! Sie sucht noch immer mit der Welt Schritt zu halten, alte Moden zu meiden und neue einzuführen; während unsere Mutter in der Vergangenheit lebt, was sie aber nicht einseitig und unzufrieden macht, wie es bei einigen alten Damen der Fall; sie folgt der neuen Mode nie, weil sie neu ist, obgleich sie sich dem Geschmack und den Gewohnheiten der Gegenwart zwanglos anpaßt.

Ja gewiß, den Mittelpunkt des goldenen Hochzeitsfestes bildete unsre Mutter, und die Erinnerung wird ihren Kindern bis an ihr Lebensende eine gesegnete sein: ihre lieben Augen leuchtend unter der graden klaren Stirn, alle Umrisse durch das silberne Haar gemildert, dem die weiße Haube mit lilla Band so hübsch stand. Ich wunderte mich nicht, daß Papa ausrief, als sie angezogen hereintrat: »Letty, du hast nie besser ausgesehen!« Und o, mit welchem Stolz und welcher Zärtlichkeit faßte er ihre Hand während Lanzens Rede bei Tische!

Es schmerzt mich, liebster Ralph, daß du's nicht mit erlebt; deine Abwesenheit war der einzige Dämpfer dieses sonst vollkommenen Tages. Mein Brief kann dir nur einen schwachen Begriff von unserm Glück und allem Vorgefallenen geben.

Ich ging zu unsrer Mutter, als alle fort waren, und sie sprach von, ihren Kindern, den beiden im Himmel, und den sieben auf Erden, mit großer Liebe. Sie kennt uns ja alle so gründlich, und unsere verschiedenen Interessen und Freuden, Neigungen und Schmerzen sind ihr noch eben so wichtig, wie in den Tagen unsrer Kindheit.

Heute Morgen, ehe ich diesen Brief zu schreiben begann, fand ich sie bei ihren alten Tagebüchern in die Erinnerungen ihrer Jugend vertieft. Sie sagte, oft erlaube sie sich das nicht, aber gerade jetzt habe sie gewünscht, sich alle Einzelheiten, Letty und Jack betreffend, ins Gedächtniß zurückzurufen, der beiden Kinder, deren Geschichte, wie sie richtig bemerkte, abgeschlossen sei. Kann sie doch nicht wissen, was Gott noch auf den Blättern unsres Lebens zu verzeichnen haben wird; aber bei ihnen ist das anders; da ist alles vollendet, und für sie bleibt uns nur ein Gefühl, das Gefühl der Freude, – »einer Freude,« setzte sie hinzu, »in welche einzugehen mich mitunter verlangt.«

»Und uns zu verlassen, Mutter? Das darfst du nicht, wir können dich noch nicht entbehren.«

»Ich bins auch so zufrieden,« war ihre Antwort

»Gottes Wille ist der meinige, in diesem wie in andern Stücken. Gern möchte ich unsern lieben Ralph wiedersehen: sag ihm das, wenn du schreibst.«

Und ich hoffe, du wirst sie wiedersehen, lieber alter Ralph, denn deine Urlaubszeit ist ja nicht mehr fern.

Das Fenster der Coleworthy-Kirche, welches Lanz zum Andenken seiner Mutter gestiftet, ist fertig. Die Gestalten sind schön und die Farben rein und lieblich. Nun will er auch Frau Bertha's Fenster zu Ehren von Jack und Letty erneuern. Die Entwürfe sind sehr passend: für Letty der gute Hirte und das Lamm nach Ary Scheffer, und für unserer Mutter Matrosenknaben der auf dem Meere wandelnde Christus.

Die alte Kirche ist jetzt so hübsch, und Frank Folliott der eifrigste und treueste Vicar, – wären seine Predigten nur etwas lebendiger!

Lanz hat den Allerheiligentag zur Grundsteinlegung des Kinderhospitals durch Suschen bestimmt. Die Liste der Beitraggeber wächst mit jedem Tage, und Lanz arbeitet rüstig wie immer. Was er vollbringt und durchsetzt, ist wahrhaft erstaunlich. Wie herzerhebend war es, ihn und Stephan am goldnen Hochzeitstage zu sehen, – unserer Mutter Adoptivkinder!

Suschen sagt, das einzigemal, wo sie am ersten fast geweint hätte, sei gewesen, als Lanz sie »seine liebe kleine rechte Hand« genannt. »Gerade, als bedürfe er meiner, während ich umgekehrt seiner bedarf und nichts ohne ihn vermag!« Sieht das nicht unserem kleinen Suschen ähnlich?

Wir schicken dir alle die herzlichsten Grüße; und da ich meine, die Beschreibung des goldenen Hochzeitstages sei für einen Brief hinreichend, lege ich nur unserer Mutter halben Bogen ein, und sage dir Lebewohl.

Wie immer deine treue Schwester

Viola Waring

 


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