Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Im Morgenglanz.


 

Minster, den 1. Okt. 1819.

Wir sind nun in unserer Häuslichkeit eingerichtet; ich habe die Sachen sämmtlich an Ort und Stelle gebracht, den beiden Mädchen ihre Arbeit zugetheilt, und fühle mich nun meine eigene Herrin. Gottfried ist von neun bis ein Uhr und dann wieder von zwei bis sechs Uhr auf seinem Bureau; ich werde also viel allein sein, und möchte gern die Vorfälle meines täglichen Lebens niederschreiben. Gottfried lachte mich aus, als ich dieses Buch kaufte, und meinte, es werde in Minster nicht viel zu erzählen geben. Ich aber denke es mir so hübsch, wenn Susanna einst diese Aufzeichnungen liest. Natürlich schreib ich ihr auch, aber Trevor wird gewiß meine Briefe lesen und seine satyrischen Bemerkungen dazu machen.

Seit Susanna und ich heiratheten, ist erst ein Monat verstrichen, denn wir wurden beide zugleich an unserm neunzehnten Geburtstag getraut. Susanna ist nach Indien gereist, und ich bin nach unserm alten Minster gekommen und habe das wunderliche Haus bezogen, welches mit dem Geschäftslokal der Registratur zusammenhängt.

Welcher Unterschied zwischen Susannas Leben und dem meinigen! Sie wird einen wahren Palast in Agra beziehen, unzählige Dienstboten haben, auch, wie man sagt, dereinst Lady Trevor heißen. Ich meinerseits habe nur den Rechtsanwalt eines kleinen Landstädtchens geheirathet. Tante Bella erzählte das einst einer Freundin, fügte aber hinzu: »Das Kind hat einmal sein Herz daran gehängt, und nach der Abreise ihrer Schwester wäre dies Haus auch traurig für sie gewesen!« Ja traurig in der That! Susanna war sein Licht und seine Freude! Wir beiden haben seit dem Tode unserer Eltern bei unsern Tanten in Kensington gelebt. Wir kamen aus Indien als wir drei Jahre alt waren, unsre Mutter starb unterwegs und wurde im Meer begraben, der Vater folgte ihr nach wenigen Monaten; er starb an der Cholera und ließ unser kleines Vermögen in den Händen seines jungen Freundes Lanzelot Trevor.

Lanzelot ist seitdem im Civildienst höher und höher gestiegen, und bekleidet jetzt eine Richterstelle an einem Gerichtshof in Agra. Er kam vor sechs Monaten nach England, verliebte sich in Susanna und hat sie nun in ihr Geburtsland zurückgeführt. Mein Gottfried war sein Freund, und er übertrug ihm ein Geschäft, welches diesen häufig in das Haus unsrer Tanten brachte; dort lernte er mich kennen, und als er nun diese Stelle in Minster erhielt, bewarb er sich um meine Hand. Es glich alles einem Traum; aber ich war ihm dankbar, daß er mich von dort entfernte, wo ich Susanna jede Stunde und jede Minute vermißt hätte. Wir sind Zwillingsschwestern, aber sie hat die Schönheit und alle glänzenden Gaben vor mir voraus; ich bin weder hübsch noch talentvoll. In der Musik kam ich nicht weiter, und die Lehrerin, welche Susanna unterrichtete, gab mich auf. Mit dem Zeichnen wollte es auch nicht gehen; mir widerstand es, Striche hinzukratzen, die für Bäume gelten sollten, und ihnen doch nicht entfernt glichen. Das Französische konnte ich nicht lernen und das Italienische schien mir recht schwer; und ein langes Gedicht: il Paradiso, welches nach Signor Nardinis Urtheil Susanna wie eine geborene Toskanerin hersagte, hatte für mich weder Kopf noch Schwanz. Aber ich lese gern, und Gottfried will mich lateinisch und deutsch lehren. Er weiß alles und ist sehr klug – um so mehr zu verwundern, daß er mich liebt! Ich fuhr am Dienstag Abend in der Postkutsche nach Bristol, und mit mir saßen zwei Damen darin, die genau über Gottfried Bescheid wußten. Sie besprachen seine Heirat mit einem neunzehnjährigen Mädchen, und sagten, jedermann wundere sich darüber; er sei ein so ernster, ruhiger Mann und habe, seit er nach Minster gekommen, keinem Frauenzimmer je Aufmerksamkeiten bewiesen. Es war schon dunkel, aber ich fühlte mein Gesicht erglühen, und freute mich, als die Damen von andern Dingen zu reden begannen. Gestern Abend machte ich mit Gottfried einen Spaziergang, und die Münsterkirche schien mir sehr großartig und schön. Sie steht auf einem freien Platz von Rasen umgeben und die Häuser liegen in ehrerbietiger Entfernung, das unsrige zunächst, fast im Schatten desselben; die Glocken schlagen jede Viertelstunde und spielen dreimal in vierundzwanzig Stunden eine ganz eigenthümliche Melodie. Der Ort enthält ein paar Straßen und einige gute Läden; die umgebende Landschaft ist sehr schön; aus meinem Fenster sehe ich die denselben einschließenden Hügel, welche diesen Morgen in der Sonne erglänzten, über den Ulmen des Münsterhofes, deren Blätter schon abfallen. Unser Haus ist alt, mit breiten Treppen von Eichenholz und langem Gang; oben befindet sich ein niedriges Wohnzimmer mit drei schmalen Fenstern und einem Balken unter der Decke. Ich sitze viel in dem Eßzimmer, welches durch den davor aufsteigenden Münster etwas verdunkelt wird.

Im Viereck umgibt uns der Garten, dessen drei Seiten das Haus umschließen, die vierte aber eine alte niedrige epheubewachsene Mauer, auf welcher in langer Reihe die vom Münster herabfliegenden Krähen sitzen; ich warf ihnen heute Morgen einige Brocken hin, und sie flatterten schwer darauf nieder.

Gottfried würde mich auslachen, wenn er dies läse, und darin, daß ich nur von der Freßlust der Krähen zu berichten weiß, eine Erfüllung seiner Prophezeiung finden; deßhalb will ich lieber mein Buch schließen und das deutsche Gedicht vornehmen, welches er mir gestern Abend vorgelesen.

 

Den 1. November.

Wir verleben so frohe friedliche Abende! Mitunter gehen wir zum Thee aus und haben zweimal bei dem Kanzler gespeist, dessen Haus dicht vor dem Städtchen liegt und auch schon bei dem Rektor. Mir ist noch recht fremd und blöde zu Muthe, und ich glaube, es mißfällt den Leuten, daß ich weder Klavier spielen noch singen kann. Ein sehr hübsches Mädchen hat eben den ersten Arzt von Minster geheirathet; sie singt italienische Lieder und macht viel Aufsehen, kleidet sich schön und trägt jeden Sonntag einen neuen Hut.

 

Den 10. November.

Ich wurde neulich durch einen Besuch der Frau Randall unterbrochen. Sonnabends lasse ich das Wohnzimmer nicht heizen, um Anna am Sonntag Morgen die Arbeit zu ersparen. Aber ich wollte doch, Frau Randall wäre nicht grade am Sonnabend gekommen. Sie schien mir in unserm niedrigen Zimmer so groß, und sah so vornehm aus; sie meinte, wir beiden befänden uns als eben verheirathete junge, hier noch fremde Frauen in derselben Lage, und wollte offenbar sehr freundlich und entgegenkommend sein. Aber ich konnte nicht viel sagen, und wunderte mich, daß sie mir, die ich ihr noch so fremd, ihre ganze Geschichte erzählte: wie sie den Dr. Randall gleich geheirathet, obwohl sie ihn erst sechs Wochen gekannt, und wie ihr Vater und ihre Stiefmutter darüber entzückt gewesen; einige Leute hätten freilich gemeint, es sei schade, daß sie sich hier an diesem stillen Ort vergrübe. »Ich war aber der Kinderwirthschaft zu Hause müde,« fügte sie hinzu; »die kleinen, verzogenen, unruhigen Dinger brachten mich zur Verzweiflung; ich hasse Kinder; Sie nicht auch?«

»Ich habe nie etwas mit Kindern zu thun gehabt,« antwortete ich, »kann mir aber denken, daß sie zuweilen lästig werden.«

»Das sollt' ich meinen! sie werfen alles um, zerren an den Kleidern und verderben sie mit ihren schmutzigen Händen! Kommen Sie ja bald zu mir,« schloß sie im Weggehen; ich bin indeß noch nicht wieder dort gewesen; Frau Randall gefällt mir nicht.

 

Den 4. Dezember.

Gottfrieds Mutter und Schwester kommen morgen; ich bereite alles zu ihrem Empfang.

Wir haben viele Noth mit dem Kamin im Fremdenzimmer gehabt; er raucht entsetzlich, und Therese ist zart und bedarf der Wärme. Die Mädchen behaupten, man könne da nicht heizen; aber ich weiß, daß Therese nicht in einem kalten Zimmer schlafen würde. So schickte ich denn zum Schmid, und der half durch ein Stück Blech; das Feuer brennt heute ganz munter.

Ich habe meine Schwiegermutter erst einmal bei unserer Hochzeit gesehen, und Therese noch nie. So ängstige ich mich etwas, und hoffe nur um Gottfrieds willen, daß sie mich werden leiden mögen.

 

Den 9. Dezember.

Frau Waring und Therese kamen neulich spät Abends an. Ich bin meiner Schwiegermutter gegenüber nicht ganz unbefangen, und das thut mir leid. Sie sagt aber auch so wunderliche Dinge: »Liebe Letty, lasse doch das Stück Blech von dem Kamin in unserem Zimmer abnehmen: es wird so viel Feuerung durch den Zug verschwendet!« Und ich war so stolz auf diese Veranstaltung zu Gunsten Theresens gewesen!

Dann fragt sie mich nach den Preisen von Butter und Eiern, macht Bemerkungen über meinen Anzug und äußert, es sei doch schade, ein so gutes Kleid des Morgens zu tragen. Immer wird mir Theresens Beispiel vorgehalten: »Dafür interessirt Therese sich nun! Therese hat so viel praktischen Verstand, und ist so frei von thörichter Sentimentalität!«

Das mag alles sehr richtig sein, aber ich kann mich des Gedankens nicht entschlagen, daß diese Reden dazu dienen sollen, den Unterschied zwischen mir und Therese hervorzuheben.

 

Den 10. Dezember.

Ich habe eine schreckliche Erfahrung gemacht, und gäbe viel darum, wenn sie nicht gerade in die Zeit dieses Besuchs gefallen wäre! Ich hielt meine Köchin für ehrlich und brav, und doch hat sie mich die ganze Zeit über betrogen, allerlei aus der Küche verkauft und Lebensmittel heimlich fortgeschleppt.

Gottfried erfuhr durch einen seiner Schreiber, die Sachen würden aus der Hinterthüre weggeschafft, und fragte mich, was ich davon dächte; ich wollte es aber nicht glauben.

Da begegnete meine Schwiegermutter, als sie Mittwoch Abend aus der Kirche kam, einem Knaben, der einen Korb trug, und hielt ihn an, worauf denn die Entdeckung folgte. Frau Waring brachte den Korb zurück und rief Gottfried herunter. Er kam dann zu mir und sah recht ärgerlich aus. Auf dem Küchentisch lagen die Sachen ausgebreitet, – Lichter, Kartoffeln, Brod, Fleisch, und noch vieles sonst.

»Sieh nur her, liebe Letty,« sagte meine Schwiegermutter; »du bist noch sehr unerfahren, und nimmst doch nicht gerne Rath an.«

»Ich wüßte nicht, daß mein Mangel an Erfahrung etwas mit dieser Sache zu schaffen hätte,« erwiderte ich gereizt; »wenn Leute unehrlich sind, so betrügen sie Jedermann.«

»Wir müssen dem Dinge ein Ende machen, Letty,« sprach mein Mann ernst; »solche Verschwendung würde uns zu Grunde richten. Hören wir, was Marie dazu sagt.«

Das Hausmädchen war aus und die Köchin oben. Auf meines Mannes Geheiß zog ich die Glocke, und wir hörten sie herunterkommen.

»Bitte, Gottfried,« sagte ich, »laß mich allein mit Marie reden.«

Frau Waring zögerte noch, aber Gottfried sprach freundlich: »Letty möchte gern ohne Zeugen mit Marie sprechen; gehen wir denn.« Sie verließen die Küche, als Marie durch die andere Thüre eintrat. Sie ist ein blondes, hübsches Mädchen von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren. Ich zitterte, als sie sich dem Tische näherte, auf welchem alle die Sachen lagen, und nie werde ich ihr Gesicht beim Anblick derselben vergessen! Jede Spur von Farbe entwich aus Wangen und Lippen; sie griff nach der Lehne des Stuhles, um sich aufrecht zu halten, und ich glaubte, sie würde ohnmächtig.

»O, Marie,« begann ich, »wie hab ich mich in dir getäuscht! Ich bin jung und unerfahren, und das hast du benutzt.«

Sie murmelte ein paar Worte, brach in Thränen aus, bat mich, nicht hart gegen sie zu sein, und wiederholte immer: »Wenn Sie mich der Polizei angeben, ist mein Ruf dahin!«

Ich merkte wohl, daß die arme Marie nur die Folgen ihrer Sünde fürchtete, aber keine Reue empfand.

»Wer war denn der Knabe, dem Frau Waring begegnete?« fragte ich; und sie antwortete, er sei der Sohn einer kranken Freundin, die vor Hunger und Kummer umkäme; da hatte die Versuchung gelegen. Ich fragte ferner, wie oft sie schon eine solche Korbladung weggeschickt, und sie erwiderte: »Erst einmal!« Ich wußte, daß sie nicht die Wahrheit sprach, und als sie mir dann zu Füßen fiel und um Vergebung bat und flehte, fing ich auch an zu weinen. Ich ging hinauf, in der Hoffnung, Niemand zu begegnen; aber meine Schwiegermutter erwartete mich oben an der Treppe; ich stürzte an ihr vorbei, lief in mein Zimmer und verschloß die Thüre. Bald darauf klopfte es; ich wußte, das war Gottfried, und öffnete.

»Meine arme, kleine Letty,« sagte er, »du wirst dich krank machen! Weine doch nicht so!« Er setzte sich in den Lehnstuhl und redete mir freundlich zu, wie einem Kinde.

»Das war ein böser Anfang,« schluchzte ich; »ich habe mich unfähig gezeigt, einem Hause vorzustehen!«

»Je nun, Letty,« tröstete er, »Rom ist auch nicht in einem Tage erbaut; du wirst durch Erfahrung lernen. Jetzt bezahle ich der Person ihren Lohn, und morgen verläßt sie das Haus.«

»Du willst sie doch nicht verklagen, Gottfried?« bat ich.

»Nein, ich denke nicht; aber man begreift nun, daß unsere Licht- und Krämerrechnungen sich so hoch beliefen.«

»Ja,« gab ich demüthig zu, »und doch ward ich neulich, als du das erwähntest, so ärgerlich. Bitte, verzeih' mir!« Ich wusch mir die Augen und ging ins Wohnzimmer, wo Frau Waring und Therese sich lebhaft unterhielten; sie schwiegen bei meinem Eintritt, und ich wußte, daß sie von mir geredet; all meine Demuth und Reue schwand, als Frau Waring sagte: »Wir sprachen eben von Katharine, Letty; (ihre verheirathete Tochter) sie würde dir gewiß gern einige Winke über das Haushalten geben, denn sie versteht's aus dem Grunde; nicht wahr, Therese?«

»Ja, Katie ist praktisch, Mama, aber wir gleichen einander nicht alle. Lassen wir jetzt die Köchin und ihre Missethat ruhen; ich finde den Gegenstand sehr langweilig.«

Therese nimmt leicht einen spöttischen Ton an und hat etwas Abweisendes, das ich nicht gerade angenehm finde; doch gewinnt sie vielleicht bei näherer Bekanntschaft, wenn man sie erst versteht.

Marie ist abgelohnt und fortgeschickt, und ich habe eine Scheuerfrau nehmen müssen, bis es mir gelingt, eine Köchin zu finden. Recht schwer wird es mir, jetzt, wo meine Schwiegermutter im Hause, der ordentlichen Bedienung zu entbehren, und thörichterweise versuchte ich heute selbst eine Pastete zu machen. Sie war herzlich schlecht gerathen und die Kruste schwer wie Blei. Scheuerfrauen verstünden dergleichen nicht, bemerkte Frau Waring, und ohne zu lügen konnte ich sie doch nicht bei dieser Voraussetzung lassen, sagte also kurz: »Ich habe die Pastete gemacht und bedaure, daß sie so schlecht gerathen.«

Wieder eine Demüthigung für mich, und das darauf folgende Schweigen war noch schlimmer. Gottfried brach dasselbe durch seine Bemerkung, daß die indische Post angekommen sei und mir hoffentlich einen Brief mitgebracht habe.

Susannens erster Brief! Wie verlangt mich nach ihm!

 

Den 18. Dezember.

Dies war ein glücklicher Tag! Gottfried und ich sind wieder allein mit einander, und ich habe eine Köchin gefunden, die für uns zu passen scheint. Ich führe jetzt die Schlüssel und sehe selbst nach allem. Aus dringendes Bitten durfte ich Anna, das Hausmädchen, behalten, von deren Ehrlichkeit ich überzeugt bin. Frau Waring meinte, ich solle lieber reines Haus machen und die erhaltene Lehre beherzigen, daß mein Urtheil kein unfehlbares sei. Aber nie werde ich Anna's Worte vergessen, mit denen sie nach Mariens Entfernung in mein Zimmer trat: »Ich danke Ihnen, daß Sie mir geglaubt und mir Vertrauen geschenkt,« noch hinzufügend: »gewiß will ich Ihnen nun eifriger dienen, als je zuvor.«

Susannens Brief ist gekommen und war entzückend, obgleich er mir einige Thränen entlockt. Wie weit sind wir doch auseinandergerückt! und wird sie mich auch ferner so lieb behalten, wie ich sie liebe? Ihre Berichte vom indischen Leben gleichen dem Märchen der »Tausend und eine Nacht,« und sie ist schon befreundet mit keiner geringeren Persönlichkeit als der Schwester des General-Gouverneurs, welche Susanna viel Aufmerksamkeit erwiesen. Vor Jahren hat sie Tante Bella gekannt und behauptet, Susanna gleiche ihr.

 

Den 2. Jan. 1820.

Ein neues Jahr ist angebrochen. Gottfried hat mir ein paar hübsche Ohrringe dazu geschenkt. Am letzten Abend des Jahres saß ich ganz allein, als Anna mir Frau Randall meldete. Ich war sehr erstaunt, trat auf den Vorplatz und bat sie, hereinzukommen. Sie sagte: »Erschrecken Sie auch und meinen etwa, ich sei toll, daß ich am späten Abend in Nässe und Kälte hergelaufen? Aber Sie müssen mir einen Gefallen erzeigen und mich in die St. Lucaskirche begleiten; ein fremder Prediger wird da reden, den ich einmal zu Hause gehört und wieder hören möchte. Stephan ist viele Meilen weit fortgereist und kehrt nicht vor morgen zurück. Ich fühle mich sehr einsam, und möchte gern etwas unternehmen. Sonst tanzte ich gewöhnlich ins neue Jahr hinein, aber dazu ist hier keine Gelegenheit, und da kann ich mich ja eben so gut hineinpredigen lassen.«

Sie sprach in leichtem scherzendem Ton, sah aber dabei nicht fröhlich aus. Ich nöthigte sie indeß, einzutreten, ihren großen Mantel abzuwerfen und sich ans Feuer zu setzen. »Erst muß ich Gottfried um Erlaubniß bitten,« sagte ich. »Er arbeitet heute angestrengt im Büreau, denn einer der Schreiber ist krank und der Jahresschluß bringt viele Geschäfte mit sich. Möchten Sie einen Augenblick warten, so will ich ihn fragen.«

»Gut,« erwiderte sie; »aber beeilen Sie sich, denn der Gottesdienst beginnt um acht Uhr.«

Ich durchschritt den Vorplatz und öffnete die mit rothem Tuch beschlagene Thüre, welche die Geschäftsräume vom Hause trennt.

»Was gibt's, Liebchen?« fragte Gottfried, von einem Haufen Briefe aufblickend. »Ich bin sehr beschäftigt.«

»Frau Randall ist hier,« sagte ich, »und wünscht, daß ich sie in die Kirche begleite.«

»In die Kirche!« rief er aus. »Ja, wenn du dich gut einhüllen und vor Erkältung hüten willst! Aber wie kommt die Frau nur an einem solchen Abend dazu? Wär es noch das Theater!«

»Dr. Randall ist abwesend und sie ist ganz einsam. Darf ich sie zum Abendessen mit nach Hause bringen?«

»Gewiß, Liebchen, wenn du es wünschest; aber ich meinte, Frau Randall sage dir nicht recht zu.«

»Je nun, Gottfried, ich glaubte das auch; doch hat sie mitunter etwas sehr Anziehendes!«

»Ohne Zweifel, Letty; nun muß ich arbeiten, werde aber um zehn Uhr zum Abendessen erscheinen, und dann müssen wir das alte Jahr mit einander beschließen; dazu brauchen wir indeß Frau Randall nicht!«

»Nein, wir wollen sie vorher fortschicken,« sagte ich scherzend, und gieng dann hinauf, um mich anzukleiden. Anna hörte das und fragte, ob ich etwas bedürfe.

»Ich muß den großen Mantel haben und meinen Sammthut, Anna,« erwiderte ich, »denn ich will in die Kirche.«

»Es ist kalt und naß,« sagte sie, und fügte hinzu: »Wenn Sie's erlaubten, möchte ich auch gern hingehen, und würde vorher den Tisch decken. Ich glaube, Pastor Wentworth predigt, und den wollte ich gerne hören.«

»Natürlich darfst du gehen, Anna,« sagte ich, »und kannst ja Frau Randall und mich begleiten.«

Wir waren bald fertig, und Frau Randall legte ihren Arm in den meinigen. Ihr Wesen fiel mir auf; es war anders wie sonst; aber sie sagte nichts, bis wir vor der Kirchthüre ankamen; dann blieb sie stehen, mit den Worten:

»Ich habe Pastor Wentworth schon einmal gehört. Gehen Sie je in die St. Lucas-Kirche?«

»Nein,« antwortete ich; »sonst begleite ich Gottfried immer in den Münster.«

»Ach, die trockenen Predigten dort sind ja tödtlich langweilig! Hier hören wir etwas ganz anderes!«

Es war auch ganz anders, und ich kann's niemals vergessen. Früher pflegte ich meine Tante zweimal am Sonntag zur Kirche zu begleiten, freute mich aber immer, wieder fortzukommen. Susanna nahm gewöhnlich eine italienische Bibel mit, folgte darin dem Text und war sehr aufmerksam; aber ich saß da, zählte die Reihen der Bänke, betrachtete die bekannten Damenhüte und überlegte, wenn neue erschienen, wer die Trägerinnen wohl sein möchten. Wir sprachen nie über Religion; meine Tanten wollten nach ihrer eigenen Aeußerung nicht besser scheinen als ihre Nachbarn, und verdachten es einer ihrer Bekannten sehr, daß sie sich zu der sogenannten »evangelischen Partei« hielt. Susanna und ich pflegten uns wenig über ernste Dinge zu unterhalten, aber sie war viel besser als ich; sie las jeden Abend vor dem Schlafengehen einige Verse aus unserer Mutter Bibel, was ich nur selten that, und wie ich leider hinzufügen muß, selten thue; aber ich denke, es soll nun anders werden

Wie dankbar erinnere ich mich jenes Abends!

Pastor Wentworth ist nicht mehr jung, denn er hat schon viele graue Haare; auch schien er mich genau zu kennen, und mein kurzes Leben mit seinem Leichtsinn und seiner Gottvergessenheit lag vor meines Geistes Augen aufgedeckt da.

Er verglich das nun ablaufende Jahr mit den Blättern eines Buches, und fragte so feierlich, was darin geschrieben stehe, und ob die durchgrabene Hand unseres Herrn die Seiten berührt und alle dort verzeichneten Sünden getilgt habe! Dieses Verzeichniß kenne jedes von uns, die Engel kennten es und ebenso Gott.

Dann redete er von der Liebe, die uns alle einzusammeln begehre und alle zu sich locke, von dem neuen Jahr, das in unbestimmten schattenhaften Umrissen vor uns liege. Welches Leid, welche Prüfungen warteten wohl unser darin? Vielleicht der Tod – jener dunkle, schweigende Strom, den jedes von uns allen durchschiffen muß! Er bat, wir möchten uns doch klar machen, wohin unser Weg führe, und ob wir hoffen dürften, durch Jesu Liebe in die Pforten der ewigen Stadt einzugehen.

Frau Randall verhielt sich, als wir aus der Kirche traten, sehr still, und fieng dann zu meiner Verwunderung an zu lachen und in der gewöhnlichen leichten Weise zu schwatzen. Doch als wir die Thüre ihrer Wohnung erreicht, hielt sie inne und sagte: »Ich muß nun nach Hause; wie fanden Sie es denn? Ich will Ihnen sagen, was ich gedacht: lieber hätte ich doch das alte Jahr zu Ende getanzt, als zu Ende predigen gehört, denn der Mann machte mich so traurig; ich könnte alles thun, um mich selbst zu vergessen. Gute Nacht – Sie sind gewiß viel besser als ich, Sie ruhige kleine Person!«

Zu meiner Ueberraschung wandte Frau Randall sich darauf um und küßte mich. Ich fühle, daß ich sie nicht verstehe, aber unmöglich scheints mir, sie nicht zu lieben.

Gottfried und ich verbrachten den Schluß des Jahres vor unserm Kaminfeuer im Wohnzimmer. Ich erzählte ihm von meiner Vergangenheit, aus jener Zeit, wo Susanna und ich uns über unsre neuen schwarzen Kleider freuten, bis zu der späteren, wo wir so glücklich zusammen lebten und kaum einen getrennten Wunsch oder Gedanken hatten.

»Arme kleine Letty,« sagte Gottfried, »ich gewähre dir, fürcht' ich, nur einen traurigen Ersatz!«

»Nein,« erwiderte ich, »es ist nur ganz anders, und denke dir, was Waterloo Villa Nro. 15 ohne Susanna, nur mit Tante Bella und Tante Fanny allein gewesen wäre.«

»Ich sehe,« lächelte er, »ich bin noch ein besseres Auskunftsmittel als die Tanten. Schönen Dank für das Compliment, kleine Letty.«

So saßen wir und schwatzten; dann läuteten die Glocken, und das erste Kapitel meines ehelichen Lebens war geschlossen. Aber ich konnte Gottfried nicht von dem reden, was mich doch vor allem erfüllte, der Predigt Pastor Wentworths.

 

Den 16. Januar.

Pastor Wentworth kommt nach Minster; er hat mit Pastor Ward die Stellen getauscht, wir sollen ihn also hier besitzen. Mich verlangt zu wissen, ob alle seine Predigten so ernst sein werden, wie jene in der Neujahrsnacht war.

 

Den 10. Februar.

Seit meiner letzten Aufzeichnung ist mein Leben ein anderes geworden durch die Freundschaft mit der Frau Randall. Ich sehe sie fast täglich, und wir haben viele gemeinsame Interessen. Wir heiratheten ja in derselben Woche und kamen zur selben Zeit hierher. Unbegreiflich, daß ich je niedergeschrieben: Frau Randall gefällt mir nicht. Nun ist sie Isabella für mich und ich bin Letty für sie. Freundschaft ist süß und da ich Susanna verloren, gewährt es mir einigen Trost, Isabella als Freundin zu besitzen. Sie hat mir allerlei von sich erzählt und unser Leben bietet eine große Verschiedenheit. Sie hatte viele Bewunderer und Werber, und ich nie einen andern als Gottfried. Dann war sie zweimal mit einer Tante, einer Schwester ihrer eigenen Mutter, in London, und besuchte dort große Gesellschaften. Ich muß oft denken, wie nahe Susanna und ich diesem von Isabella geschilderten Treiben gewesen, ohne davon in unserm alten ruhigen Kensington Gore nur eine Ahnung zu haben. Aber ein ruhiges Leben ist doch am Ende das sicherste!

Ich glaube, Isabella bedrückt etwas und macht sie zuweilen traurig; auch sehen Dr. Randall und sie nur wenig von einander. Er ist entschieden stolz auf sie; und als Isabella neulich Abends in einer Gesellschaft sang und jedermann sie bewunderte und ihre Stimme pries, bemerkte ich, wie seine Augen beifällig auf ihr ruhten. Zärtlich verkehren sie aber nicht mit einander, und Isabella läuft ihm nie entgegen, wenn er nach Hause kommt, wie ich Gottfried entgegenlaufe. In meinem Herzen fühle ich die Liebe zu diesem täglich wachsen. Wie aber steht es mit jener andern Liebe, welche vor den Worten Pastor Wentworths damals in mir zu erwachen schien? Ich kann nur sagen, daß ich wünsche, Ihn zu lieben, der mich so sehr geliebt, ja, der mich noch liebt.

 

Den 14. März.

Der Frühling kündigt sich aller Orten an. Ich machte heute einen langen Spaziergang mit Gottfried, und brachte Schlüsselblumen, Primeln und schönes Moos mit. Gottfried meinte, ich sei in meiner Freude über das Landleben wie ein Kind, und es beglücke ihn, mich so froh zu sehen. Auf dem Heimwege begegneten wir dem Pastor Wentworth. Er wohnt jetzt im St. Lucas-Pfarrhause und hat eine kränkliche Frau, aber keine Kinder. Mir war, als müsse ich ihn anreden, und als sei er ein alter Freund. »Wollen wir die Wentworths nicht morgen besuchen?« hatte ich grade zu Gottfried gesagt, als der Pastor sich umwandte und auf uns zutretend fragte, welches der nächste Weg nach Minster sei, hinzufügend: »Ich bin ja noch fremd hier.«

»Wir gehen über den Hügel und kommen dann durch die Felder zurück,« antwortete Gottfried; »möchten Sie uns begleiten? Ich rede doch mit dem neuen Prediger von St. Lucas, nicht wahr? Darf ich Ihnen hier meine Frau vorstellen?«

Nichts konnte erwünschter kommen; der Pastor sprach so angenehm und war so heiter und unterhaltend. Er gefiel Gottfried außerordentlich, mehr als irgend Jemand sonst in Minster. Der Blick auf den Ort von der Höhe, Torhügel genannt, ist sehr schön. Der Münster steigt grau und stattlich empor, und die Felder, Wiesen und Büsche scheinen sich fast bis an die Thürme zu erstrecken. Jenseits zieht sich wieder eine Höhenkette hin, die ich aus meinem Fenster erblicke, und hinter ihnen versteckt liegt die See, zu welcher der Strom in Schlangenwindungen durch das dämmernde Abendlicht floß. Denn die Sonne war hinter den Wäldern versunken, ehe wir die Felder erreichten und der Himmel glänzte farbig wie die Primeln in meiner Hand, die der Pastor »Osterlilien« nannte.

»Meine Frau liebt die Blumen so sehr,« sagte er, »und kann sie doch selber nicht pflücken, denn sie verläßt ihren Sopha nie.«

»Wollen Sie ihr nicht einige von diesen mitbringen?« fragte ich, als wir uns vor der seltsamen alten Pforte trennten, die nach unserem Hause führt. Er nahm sie mit dankbarem Lächeln und sagte: »Sie würde sich Ihrer Bekanntschaft freuen, Frau Waring; vielleicht führt Sie Ihr Weg bald einmal nach unserm Pfarrhause?«

 

Den 18. März.

Es bedurfte für mich keiner Erinnerung an den Weg ins Pfarrhaus. Gottfried und ich machten dort am Tage nach unserer Begegnung einen Besuch in aller Form. Ich erwartete eine Frau in mittleren Jahren, oder gar eine alte Frau zu finden, aber die Pastorin ist fast noch jung. Sie hat ein Rückenmarkleiden, welches sie an den Sopha fesselt, aber niemand kann fröhlicher, strahlender aussehen. Ihr Gesicht glänzt so hell, als leuchtete die Seele hindurch. Gottfried sprach mit dem Pastor und ich mit seiner Frau. Sie dankte mir für die Blumen, bat mich, ihr deren mehr zu bringen, und zeigte mir ihre schönen Arbeiten, die, wie sie sagte, ihre Erholung ausmachten. Eigentlich schätzte ich bisher alle Handarbeiten ziemlich gering, und der Anblick Tante Bella's, wenn sie bei ihren groben Straminstichen saß, hatte mir die Sache verleidet. Aber die Pastorin verfolgt bei ihrer Thätigkeit einen bestimmten Zweck: sie näht für die Armen und für die Kinder ihrer Schwester, die in Schottland lebt. »Es gehört sich, daß ich ihr bei ihren sieben helfe,« sagte sie,« da Gott mir keine eigenen Kinder geschenkt.«

Frau Wentworth scheint mir das grade Gegentheil von Isabella, denn diese ist zunehmend ruhelos, und ich weiß nie vorher, wie ich sie finden werde: – entweder ganz Scherz und Gelächter, schwatzt sie so hastig, daß ich ihren Worten kaum folgen kann, oder sie ist bedrückt und traurig und ihre schönen Augen fließen beinahe über von Thränen. Ich besuche den Gottesdienst in St. Lucas am Mittwoch Abend, seit Pastor Wentworth ihn hält, und lerne viel durch seine Predigten und durch ihn. Früher hätte ich nie geglaubt, daß die Religion zur Freude meines Lebens werden könne, und jetzt verstehe ich sehr wohl, daß ein wahrer, lebendiger Glaube die einzige wirkliche Freude sein muß, denn er deutet auf unsichtbare, ewige Dinge hin, während der Schatten der Vergänglichkeit alle irdischen Freuden überzieht. Ein Moment und sie sind dahin!

 

Den 4. April.

Herrliches Frühlingswetter! Ich habe einen langen Brief von meiner lieben Susanna gehabt. Ich nahm ihn mit in das kleine Holz unter dem Torhügel, und setzte mich dort auf einen Baumstamm, um ihn zum zweitenmale zu lesen. Die Vögel sangen über mir in den Zweigen und zu meinen Füßen wuchsen Schlüsselblumen und kleine Häufchen der zarten Waldanemonen. Eine große braune Biene summte in der Luft und ließ sich einen Augenblick auf die nächsten Schlüsselblumen nieder. Ich habe dem Lande noch nie so nahe gewohnt, und es macht mein ganzes Entzücken aus. Ob etwa die neugeborne Liebe zu meinem theuern Herrn und Erlöser meine Liebe zu seiner schönen und fröhlichen Schöpfung erhöht? Denn ich liebe ihn in Wahrheit und kann ihm meine Zukunft anvertrauen. Bisweilen schreckt mich diese Zukunft, denn es könnte ja sein Wille sein, mich von dieser Erde abzurufen, wenn sie mir grade am theuersten geworden.

Susannas Brief ist ernst, fast traurig. Sie ist unwohl gewesen, und die Aufgaben ihrer Stellung ermüden sie, wie sie sagt. Der erste Rath hatte Urlaub genommen, und so mußte Lanz statt seiner ein Haus machen. Susanna meint, sie könne mich fast um mein friedliches Heim beneiden; sie sei oft müde, sehr müde. Zuweilen befalle sie eine beinahe unbezwingliche Sehnsucht, Arm in Arm mit mir, wie wir's so oft gethan, das kleine viereckige Gärtchen hinter den Waterloo Villas zu durchwandern. Ach, Susanna, nie, nie wieder! Wir redeten wohl, wie Mädchen zu thun pflegen, von der Zeit, wo wir verheirathet sein und uns trennen müßten; aber eine solche Trennung kam uns nie in den Sinn!

Die Pastorin Wentworth hört mich gern von Susanna erzählen, geht auf meine Gefühle ein, und theilt sie mit mir. Isabella Randall hingegen versteht meine Liebe zur Schwester nicht; sie kennt nichts Aehnliches, denn – ihre kleinen Geschwister waren nur Qualgeister für sie, und um ihnen zu entgehen, hat sie sich verheirathet. Wenn ich an Isabella, wie sie oft ist, denke, nimmt mich meine Liebe, für sie fast Wunder, und dennoch besitzt sie eine unbegreifliche Anziehungskraft.

Als ich aus dem Wäldchen nach Hause gieng, holte Dr. Randall mich ein. Man trifft ihn selten zu Fuße, denn er fährt gewöhnlich in einem schönen Wagen. Heute war er indeß bei einer armen kranken Frau gewesen; sie hatte sich schlimm verbrannt, und den Armenarzt Dr. Randall gebeten, nach ihr zu sehen. Mich überraschte der sanfte mitleidige Ton, in dem er von der Kranken sprach, mich fragte, ob ich von ihr gehört, und erzählte, daß sie bei dem Versuch, ein Nachbarkind, dessen Schürze Feuer gefangen, zu retten, verunglückt und schrecklich zugerichtet sei. Dr. Randall hatte mir noch nie so gut gefallen. Als wir uns trennten, sagte er: »Sie sind zwei Tage nicht bei meiner Frau gewesen; sie ist etwas unwohl; möchten Sie nicht diesen Nachmittag kommen?«

Ich hatte bisher nicht geglaubt, daß Dr. Randall an meiner Freundschaft für seine Frau gelegen sei, aber er sagte ganz ernsthaft: »Isabella's Stimmung ist in den letzten Tagen eine recht gedrückte, und ich bin um sie besorgt. Je öfter Sie bei ihr vorsprechen möchten, desto lieber wäre es mir; ja, ich würde es Ihnen sehr danken, Frau Waring.«

Natürlich gieng ich hiernach sofort zu Isabella, obgleich wirklich seit meinem letzten Besuch nur kurze Zeit verstrichen war. Sie lag auf dem Sopha und wandte kaum den Kopf, als ich eintrat.

»Also endlich kommen Sie,« war der Empfang. »Ich glaubte schon, Sie hätten mich für die Pastorin Wentworth aufgegeben.«

»Das konnten Sie unmöglich glauben,« erwiderte ich. »Warum sagten Sie mir nicht, daß Sie krank wären?«

»Ich bin nicht krank, das heißt nicht körperlich, nur gründlich elend! wär ich erst todt! Meine einzige Hoffnung ist, daß ich im Juni sterben soll«

Ich war tief erschüttert, und ein schwarzer Schatten schien über den lieblichen Apriltag herabzufallen. Isabella fuhr in derselben Weise fort; ich mag es, selbst in diesem Buch, nicht alles niederschreiben. Sie kann freilich unmöglich glücklich sein, denn ihr eheliches Leben hat ganz verkehrt begonnen. O, mit welchem Dank gegen Gott muß ich mein Loos mit dem ihrigen vergleichen, und doch, als ich erst nach Minster kam, habe ich Isabella wegen ihrer leichten Umgangsformen, ihrer Talente, ihres schönen Anzugs, ja selbst ihres stattlichen Hauses und des Ponywagens, der zu ihren Diensten bereit stand, beneidet. Nun würde ich nicht um die ganze Welt mit ihr tauschen! Sie erzählte mir ihre ganze traurige Geschichte: wie sie mit einem jungen Prediger, den sie Frank nannte, und der sie seit Jahren liebte, verlobt gewesen; er war sehr gut und treu, und sie liebte ihn auch. Dann begegnete sie dem Dr. Randall auf einer Besuchsreise, hörte von seinen Gaben und dem hübschen Vermögen, das er außer seiner großen Praxis besaß; sie verlobte sich mit ihm und brach ihr Wort dem Prediger, welcher ihr einen Brief schrieb, der sie, wie sie sagte, fast getödtet hätte. Er verließ seine Pfarre und ist als Missionar nach Südafrika gegangen. Sie nannte mir seinen Namen nicht, und am Schlimmsten ist, daß Dr. Randall nichts von der Sache weiß. Gewiß müßte sie's ihm sagen, und mit jedem Tage, wo sie die Mittheilung hinausschiebt, wächst das Unrecht. Ihre Stiefmutter, erzählte sie, sei nur zu froh gewesen, sie los zu werden, und ihr Vater hätte immer gemeint, sie tauge nicht zur Frau eines armen Mannes, und Frank würde seinen Irrthum erkannt haben, deshalb sei es so besser. Aber einige alte Tanten Franks wären sehr aufgebracht gewesen und man habe harte Dinge von ihr gesagt. »Nicht zu hart,« fügte sie hinzu; »man kann nicht schlimm genug von mir reden. Nun wissen Sie, Letty, was nur Eine in Minster außer Ihnen weiß. Ich hab's ihr nicht gesagt; es bedurfte dessen nicht, denn die Frau Wentworth ist Frank's Schwester.«

»Die Pastorin!« rief ich; »o, Isabella!«

»Ja, und natürlich weiß sie, wer ich bin, und daß ich das beste, edelste Herz, welches jemals schlug, gebrochen. Er hat mir bei all meiner Eitelkeit und Flatterhaftigkeit immer die Wahrheit gesagt; ich kehrte in Gedanken stets zu ihm zurück und fühlte mich da geborgen. Aber ich paßte doch nicht für ihn und hätte ihn elend gemacht, das weiß ich. Ich, die Frau eines armen Pastors, von Brod und Käse lebend, welcher Unsinn!«

»Weiß Pastor Wentworth alles?« fragte ich.

»Gewiß; seine alte Tante wird mich ihm in den schwärzesten Farben geschildert haben, darauf können Sie sich verlassen.«

Ich saß lange bei der armen Isabella, und es schien ihr Erleichterung zu gewähren, all ihren Kummer auszuschütten. Endlich wagte ich zu äußern, was ich für recht hielt: »Sie müßten Ihrem Manne alles sagen!«

»Ach nein, er kümmert sich nicht genug um mich,« sprach sie seufzend. »Hoffentlich bin ich ihm sticht lange mehr zur Last.«

»O Isabella,« sagte ich, »es ist leicht zu sehen, daß Dr. Randall sich sehr um Sie kümmert, und ich glaube, Ihr Zustand betrübt ihn gründlich.«

Jetzt hörte man Wagengerassel, die Thürglocke erscholl, Isabella sprang auf und war, ehe ich ein Wort hervorbringen konnte, verschwunden. Ich blieb allein zurück und erschrack nicht wenig, als das Mädchen, die Thüre öffnend, meldete: »Lady Folliott und Tochter!« Sie gehören zu den vornehmen Leuten der Nachbarschaft, und da sie mir keinen Besuch gemacht, war das Zusammentreffen nicht angenehm. Aber zu meiner Verwunderung rauschte Lady Folliott mir mit ausgestreckter Hand entgegen, bedauerte, mich noch nicht aufgesucht zu haben, doch sei so manches dazwischen gekommen; jetzt eben habe sie indeß ihre Karte bei mir abgegeben. Vor einigen Tagen sei ihr zu Ohren gekommen, daß ein Vetter von ihr meine Schwester geheirathet, – »das heißt,« fügte sie hinzu, »Lanz Trevor's Mutter war meine Cousine, eine De Lacy, wissen Sie.«

Ich wußte das nicht, war blöde und befangen, und sehnte Isabella herbei, um so mehr, da Lady Folliott mich anstarrte, nichts weiter sagte und wenig geneigt schien, die Verwandtschaft mit Lanz gelten zu lassen, wenigstens nicht wünschte, daß ich die Kluft zwischen uns dadurch überbrückt glauben möchte. Endlich trat Isabella ein, strahlend und lächelnd, neu frisirt, ein blaues Band im Haar, ihre ganze Erscheinung frisch und lieblich. Es war fast unmöglich, in ihr dieselbe zu erkennen, welche zehn Minuten vorher auf dem Sopha, den jetzt Lady Folliott einnahm, schwer bedrückt und, wie sie selbst sagte, »elend« dagelegen. Ich entfernte mich baldmöglichst. Isabella schwatzte in ihrer gewöhnlichen Weise fort, und ich konnte nicht umhin zu denken, wie gut es sei, daß wir den wahren Zustand der uns umgebenden Menschen nicht kennen. Wenn Räume zu sprechen vermöchten, welche Geschichten würden wir von dem hören, was zwischen den vier Wänden vorgegangen! Wie entzückt mich der Gedanke, daß die Zimmer unseres alten geliebten Heims bis jetzt nur von ruhigem Glück und Frieden zu erzählen wußten. Das Leben erscheint mir recht hell und froh; und es wäre vollkommen, wenn Susanna sich in erreichbarer Nähe befände und uns besuchen könnte, wie meine beiden Tanten es in künftiger Woche thun werden.

 

Den 28. April.

Ich bin während der Tanten Anwesenheit recht beschäftigt gewesen. Sie haben uns heute verlassen, weil man, wie sie sagten, auch des Guten nicht zu viel thun dürfe. Tante Bella findet mich sehr geeignet für dies ländliche Leben und meinte ganz richtig, Susanna hätte ihre Rechnung nicht dabei gefunden, wie ich.

Tante Bella hält die Würde der Familie aufrecht und war sehr herablassend gegen alle Besuchenden von hier. Zwei bis drei erschienen vor der Mittagsstunde, was sie äußerst unpassend fand; aber sie gehören dem alten Minsterschen Typus an, und wollten sich damit nur freundlich erzeigen. Tante-Fanny stimmt Tante Bella beständig bei; eine eigene Meinung hatte sie nie und wird sie auch nie haben. Tante Bella war entzückt von Isabella, ihrem Gesang, ihrem Benehmen und ihrem Styl. Diese nahm an einer kleinen Abendgesellschaft bei uns Theil und schien sehr aufgeräumt. Ich wünschte den Thee an einem Tischchen in der Ecke des Wohnzimmers zu machen, aber Tante Bella verwarf das und behauptete, es sei jetzt Mode, die Tassen auf Theebrettern herum zu präsentiren. Während ich die Vorbereitungen zu meiner Gesellschaft traf, mußte ich unwillkürlich bei dem Gedanken an eine solche lächeln, welche Susanna zu Agra in der Residenz des Präsidenten gegeben. Jedenfalls kostete die meinige mir indeß persönlich mehr Mühe, denn Susanna braucht nur ihren Zauberstab zu schwingen, während ich nach allem sehen und den Rahm selbst zu Schaum schlagen mußte. Anna wird immer brauchbarer; Tante Bella rühmte sie, pries alle meine kleinen Einrichtungen und war sehr gütig, ganz verschieden von meiner Schwiegermutter!

 

Den 10. Mai.

Ich habe einen kleinen Kummer erlebt, einen ganz kleinen, der aber wie ein Wölkchen den Horizont meines Glücks überschattet. Frau Waring hat sich erboten, Gottfried die Wirtschaft zu führen, wenn ich im künftigen Monat liegen muß, und ach, mich verlangt keineswegs nach ihr! Ich sagte das Gottfried, und es verstimmte ihn; es sei ja nothwendig, daß Jemand zur Hilfe eintrete, äußerte er, und da meine Tanten den Vorschlag nicht gemacht, sich auch wohl nicht sonderlich um mich kümmern würden, müßte ich ja froh und dankbar sein. Es war die erste Meinungsverschiedenheit zwischen Gottfried und mir, und ich beharrte auf meiner Ansicht und versicherte, daß ich Frau Waring nicht brauche, bis er erklärte, wenn ich so kindisch sei, nicht zu wissen, was mir noth thue, müßte ich mich seinem besseren Urtheil fügen, und er werde den Vorschlag seiner Mutter mit Freuden annehmen. Jetzt ist alles vorüber, und ich suche mich darein zu finden, fürchte aber die vielen Fragen und das Kritisiren und Bemängeln aller meiner kleinen Einrichtungen.

Die Pastorin Wentworth gieng völlig in meine Empfindungen ein, erklärte aber bei aller Theilnahme, mir bliebe nur eins zu thun übrig. »Und das wäre?« fragte ich. »Einzig was Ihr Mann wünscht, liebes Kind.« Ich kehre stets besser und glücklicher von meinen Besuchen im Pfarrhause zurück. Ich wollte, Isabella suchte die Pastorin mitunter auf, aber sie erklärt, das nie thun zu wollen. Eines Tages fragte mich die Pastorin, ob ich sie viel sähe, und äußerte, sie bedaure sie sehr; ihre Häuslichkeit sei eine höchst unglückliche gewesen, und sie in dem Glauben erzogen, daß es nur auf ein glückliches Leben in der Welt ankäme. Ein Mensch habe einen günstigen Einfluß auf sie geübt, nur ein einziger, und die Pastorin seufzte. »Ich wußte etwas von der Frau Randall,« fügte sie hinzu, »aber sie hat mich nie besucht. Dr. Randall ist ein geschickter Arzt und seine Vorschriften thun mir gut.« Ich erzählte ihr, wie es Frau Randall gewesen, die mich bewogen, sie am Neujahrsabend in die St. Lucaskirche zu begleiten, und daß wir seitdem Freundinnen geworden. Die Pastorin streichelte mir das Haar (welches ich nie aufgebunden, sondern gelockt in den Nacken fallend trage), und sagte: »Freundschaft ist ein sehr ernstes Wort. Freunde müssen sich gegenseitig helfen, und die Liebe muß auf festem Grunde ruhen. Ich habe manche scheinbar aufrichtige Freundschaften gekannt, die wie eine Luftspiegelung in nichts zerronnen sind.«

Ich habe nie eine Freundin außer Susanna besessen,« sagte ich. »Ich brauchte sonst keine; wir waren einander alles in allem. Frau Randall und ich sind uns durch die Gleichheit äußerer Verhältnisse nahe gekommen; ich liebe und bewundere sie wirklich, und trotz ihrer Schönheit und Begabung halte ich sie nicht für glücklich.«

»Sie kann nicht glücklich sein, liebe Letty,« sprach die Pastorin ernst; »aber ich kenne Jemanden, der sie einst sehr geliebt, der noch immer für sie betet und Andere bittet, es auch zu thun. Das ist am Ende auch das einzige, was wir für einander zu thun vermögen, was uns alle verbindet und in Ihm zusammenführt, der uns stetig liebt.«

Nach diesem Gespräch kehrte ich mit dem Entschluß zurück, der kleinen Kümmerniß wegen meiner Schwiegermutter die beste Seite abzugewinnen.

Es ist bestimmt, daß sie am 25. eintrifft; ich habe alle Vorbereitungen getroffen und muß nun streben, mich so angenehm wie möglich zu machen.

 

Den 28. Juni.

Wir kommen ganz gut mit einander fort, und Frau Waring ist so stolz auf Gottfried, daß ich sie eigentlich lieben müßte; nur hat sie die Weise, mich als eine Art von »Mißgriff« aufzufassen, d. h. ich fühle ihr die Meinung an, ich sei für Gottfried nicht die passende Frau, von einer Seite nicht praktisch und umsichtig, von der andern nicht talentvoll genug. Ich muß viel über Katharinens treffliche Wirthschaftsführung und über Theresens große Begabung hören; und doch empfinde ich mit einer Art Jubel, daß ich keiner von beiden gleiche.

 

Den 30. Juni.

Die Hitze ist sehr groß, und ich bin den ganzen Tag recht unwohl gewesen. Da ich nicht im Stande, einer Einladung zum Mittagessen bei Folliotts Folge zu leisten, schlug Gottfried vor, Frau Waring solle ihn statt meiner begleiten. Sie that das auch, wie ich merkte, sehr gern; aber nun fühle ich mich recht einsam, habe ruhelos das Haus durchwandert, bin sogar in den kleinen Garten gegangen, wo ich vergebens gestrebt, rothe Geranien zu ziehen; sie wollen aus Mangel an Luft nicht blühen. Ich selbst schmachte nach Luft und denke, wie entzückend es sein müßte, den lieblichen Garten der Folliotts zu haben, wo man Tags über sitzen kann und von den schönsten Blumen umgeben ist.

So weit hatte ich geschrieben, als zu meiner Ueberraschung Anna die Thüre öffnete und den Pastor Wentworth anmeldete. Er trat mit einem Korbe voll der schönsten Treibhausblumen ein. Sie waren der Pastorin von einer Freundin aus Devonshire zugeschickt worden, und der Pastor sagte, sie habe gewünscht, ihre Schätze mit mir zu theilen, und lasse mich grüßen. Ich war so froh, und doch zitterten mir die Lippen, begann mein Herz stürmisch zu klopfen und brach ich in Thränen aus. Erst schämte ich mich sehr, aber nun ist mir lieb, daß es so kam, denn ich konnte dem Pastor mein Herz ausschütten und er verstand mich völlig, begriff auch, wie schrecklich das Gefühl, nicht bereit zu sein, falls Gott mich abrufen sollte, wie daß mir das Leben so süß, und ich fürchtete, Gott nicht über alles zu lieben. Er antwortete, wenn nur ein ernstliches Verlangen nach Gott vorhanden sei, so werde er's stillen. Habe er doch gesagt: »Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.« Dann betete er mit mir, beginnend mit dem schönen Gebet der heiligen Woche, daß wir möchten nachfolgen dem Beispiel seiner Geduld und theilhaftig werden seiner Auferstehung. Ich habe nun, seit er gegangen, im Dämmerlicht des Sommerabends gesessen, und eben hat Anna mir Licht und Theezeug gebracht, kühlere Luft weht durch das offene Fenster herein und ich bin wieder ruhig.

 

Den 1. Juli.

Frau Waring sprach heute nur von der Mittagsgesellschaft bei Folliotts. Sie erinnert sich genau, was Jeder getragen, rechnet die Zahl der Gerichte und aufwartenden Diener nach, etc. »Du solltest den Umgang mit diesen Leuten pflegen, Letty,« ermahnte sie; »er würde dir Nutzen bringen. Lady Folliott würde dir, wenn du ihr gefielst, sicherlich Früchte und Gemüse aus ihren Gärten schicken.«

»Ich mag die Gunst der Leute nicht um ihrer Geschenke willen suchen,« antwortete ich. Gerade in solchen Dingen ist meine Schwiegermutter mir so sehr unsympathisch.

 

Den 2. Juli.

Heute in der Frühe ist Isabella Randall von einem Kindchen entbunden. Sie war noch gestern hier, und jetzt – jetzt scheint wenig Hoffnung, sie am Leben zu erhalten. Niemand wagt mir das zu sagen, aber ich weiß, daß man ihren Zustand für sehr gefährlich hält.

Ich hielt diesen Nachmittag mit Schreiben inne; nun ist es Abend, und ich sitze in meinem Zimmer allein. Ich flüchtete mich hieher, weil ich's nicht ertrug, Frau Waring über gleichgiltige Dinge reden zu hören, während meine ganze Seele voll ist des Gedankens an Mutter und Kind in meiner Nähe, von denen sie mich nicht sprechen lassen. Aber ich habe Anna hingeschickt, denn es ist mißverstandene Schonung, mich in Ungewißheit zu halten, und ich muß erfahren, wie es um Isabella steht. Anna traf ihre Jungfer, welche ihr sagte, das Fieber sei noch immer sehr hoch, und Dr. Randall habe nach Bristol zu einem andern Arzt geschickt. Das Kind sei gesund und kräftig, erzählte die Jungfer, aber Niemand scheine sich viel um dasselbe zu kümmern. O könnte ich's sehen, könnte ich Isabella pflegen helfen!

 

Den 5. Juli.

Traurige Tage habe ich seit Montag durchlebt, und muß hier Isabellas Tod verzeichnen. Wie hart erscheint mir das Wort, wie hart der Gedanke, daß sie, die so viel Schönheit, Leben und Anziehungskraft besaß, nun gestorben ist! Gottfried theilte mir die Nachricht heute vor dem Aufstehen mit, und war den ganzen Tag so zärtlich, gütig und liebevoll! Ich weiß, was er denkt.

Und wenn ich fort muß, wäre ich bereit? Mir fällt mein kurzer aber doch häufiger Verkehr mit der Entschlafenen ein. Ich erinnere mich des Gesprächs, das wir unter dem dunkeln Himmel jener Winternacht miteinander geführt, erinnere Pastor Wentworths Aeußerungen, seine Bitte, uns zu vergewissern, daß die durchgrabene Hand die Seiten berührt, auf welchen die Sünden und Schmerzen, die Freuden und Kümmernisse des nun für immer scheidenden Jahres verzeichnet gestanden. Ich fühle, daß Isabella jene große Liebe gefunden, ich will, ich darf nicht daran zweifeln. Aber ach! es ist schwer zu sterben, ohne je etwas gethan zu haben, welches unsere Liebe zu dem beweist, der uns so sehr geliebt! Wenn er mich leben läßt, so will ich ihn bitten, mich dieses Leben für ihn und zu seinem Preise anwenden zu lassen!

 

Den 11. Juli.

Heute ist Isabella Randall begraben. Ich kann's nicht fassen, kann's nicht glauben. Immer sehe ich sie strahlend vor mir, schön gekleidet und anmuthig, und ihre Stimme! Ich höre sie noch, höre die vollen Töne, welche nun auf immer verstummt sind! Zum erstenmal hat der Tod Jemanden hinweggerafft, der mir nahe stand, und die Erschütterung ist groß. Sie sagen, ich sähe elend aus, halten mich ganz ruhig, und Frau Waring redet beständig von andern Dingen, – das quält mich so! Ach ich bin verdrießlich und abweisend, aber Gottfried scheint mich zu verstehen. Er ist so besorgt um mich, und seinetwegen riß ich mich heute heraus und schlug ihm vor, mich etwas ins Grüne zu begleiten. Aber grade als wir über den Münsterplatz schritten, begegnete uns eine Trauerkutsche; sie hatte nichts mit Isabellens Begräbniß zu schaffen, denn sie kam vom Lande; aber ich begann dermaßen zu zittern, daß ich kaum stehen konnte, und zu Hause in ein krampfhaftes Schluchzen ausbrach. Frau Waring schalt Gottfried, daß er mich ohne ihre Erlaubniß hinausgeführt, gab mir ein Glas Wein zu trinken, und verlangte, ich solle mich über einen Korb voll Blumen und Früchte freuen, den Lady Folliott geschickt; als steigere es ihren Werth, daß sie in Hillscourt gewachsen sind!

 

Den 12. Juli.

Heute bekam ich Besuch, und zwar einen sehr lieben und tröstlichen. Pastor Wentworth scheint immer grade zu wissen, was mir noth thut. Anstatt gezwungenerweise von andern Dingen zu reden, fing er sogleich von Isabella an, und sagte, er begreife wohl, wie sehr mich ihr Tod erschüttert; auch wünschte ich gewiß, Genaueres darüber zu hören, und das sei auch viel besser für mich.

Er hatte Isabella am Vorabend ihres Todes das heilige Abendmahl gereicht; sie war ganz bewußt, ganz ruhig, ließ sich ihr Kindchen bringen, küßte dasselbe und sagte ihm lebewohl; gegen ihren Mann äußerte sie: »Lehre ihn die Welt nicht zu werth halten; laß ihn Jesus kennen und lieben lernen, sag' ihm, ich erwarte ihn im Himmel.« Dann sprach sie von der durchgrabenen Hand des Herrn, welche ihr die Pforten öffne, erklärte, sie sähe ihn und sie sei glücklich. Mir schickte sie durch den Pastor einen Liebesgruß und fügte hinzu: »Ich habe Stephan gebeten, daß er Letty meinen Knaben oft zuschicke, und weiß, sie wird gut gegen ihn sein, und wird ihn lieben.«

Ja gewiß, theure Isabella, deinetwegen will ich ihn immerdar lieben!

 

Den 29. August.

Mehrere Wochen verstrichen, seit ich zuletzt in dies Buch geschrieben, und jetzt meine ich kaum mehr dieselbe Letty Waring zu sein, die ich an jenem Juliabend war. Damals so traurig und bedrückt und schwach und verzagt, jetzt so getrost, kräftig und freudig! Konnte ich mir doch nicht vorstellen, was es heißt, ein Kindchen, ein eignes Kindchen zu besitzen! Wohl habe ich von jungen Frauen gelesen, welche ihrem ersten Kinde als der Krönung ihres Glücks entgegensahen und sich nach einem solchen gesehnt, – aber das war durchaus nicht mein Fall.

Deshalb ist wohl die Mutterfreude plötzlich über mich gekommen; und sie ist so wunderbar mächtig! Auch scheint mir mein kleines süßes Mädchen niedlicher als alle andern. Meine Schwiegermutter ist fort, die Wärterin gleichfalls, und ich bin also im vollen Besitz meines Schatzes geblieben. Frau Waring behauptete, die Kleine sei nicht halb so groß, wie Katharinens Kinder; diese würden mehr zum Schlafen angehalten, und wären viel hübscher. Als ob mich das kümmerte! in meinen Augen ist sie vollkommen. Ihre Augen sind so blau und haben so dunkle Wimpern, und ihr Haar ist lang und dick und läßt sich schon über die Stirne legen. Fran Waring sagt, es falle wieder aus, und Kinder mit anfänglich kahlem Kopf, wie Katharinens, bekämen später besseres Haar. Ich glaube das nicht; jedenfalls ist mein Schatz viel hübscher so.

Die goldene Sonne dieser letzten Augusttage verklärt alles, und aus allem blickt mich mein Kind an, dieses reizende Gottesgeschenk! Ich glaube, damals als Gottfried es mir in seinen Armen brachte, wurde der Quell der Mutterliebe eröffnet, und seitdem meine ich ihn immer rauschen zu hören und er klingt in meinen Ohren wie Musik.

Sie wurde gestern durch Pastor Wentworth getauft und heißt nun Susanna Isabella. Der Name verursachte viel Berathung: Frau Waring hatte eine Abneigung gegen ›Susanna‹ und meinte, alle Dienstmädchen hießen so. Nun freilich, ist mein Kind nicht auch zum Dienst, zu einer Dienerin und Streiterin Jesu Christi geweiht? O, möchte ihr künftiges Leben dem gestrigen Anfang entsprechen! Ich muß streben, ihr dazu zu helfen, und will das so gerne!

Eben höre ich Gottfrieds Stimme; ich versprach, mit ihm spazieren zu gehen, muß aber noch ins Kinderzimmer laufen und sehen, ob die Kleine schläft.

 

Den 31. August.

Wir machten dann gestern Abend einen köstlichen Spaziergang, und auf dem Rückweg begegnete uns Dr. Randall. Es war das erste Zusammentreffen mit ihm, und ergriff mich sehr. Er sah ernst und strenge aus, nicht als ob ihn der Schmerz erweicht hätte, und doch soll dieser Schmerz ein tiefer sein. Er bat mich, einmal nach seinem Jungen – so nannte er das Kind – zu sehen, äußerte seine Freude über mein Wohlbefinden, und ging weiter. Heute habe ich denn Isabella's Kindchen besucht. Als ich das große öde Haus betrat, fiel mir ein, wie oft ich sie mir mit ihrem Säugling und ich mit dem meinigen in fröhlichem Verkehr stehend ausgemalt! Ein Mädchen kam die breite Treppe herab und führte mich nach der obersten Etage, klopfte an das Kinderzimmer und sagte: »Hier ist eine Dame, die das Kind sehen will, Frau Kurz.«

Frau Kurz entspricht ihrem Namen, sie ist kurz und dick und sehr stattlich gekleidet. Sie war Isabellas Wärterin und bleibt nun bei dem Kinde, bis die Zeit des Zahnens vorüber.

Dieses lag auf ihren Knieen, und als ichs erblickte, sprang mein Herz ihm entgegen; ich hob den Knaben in meine Arme.

»Behutsam, liebe Dame, behutsam!« rief Frau Kurz: »er hat eben getrunken und ist sehr verdrießlich. Du meine Güte, Sie weinen? Lassen Sie nur keine Thräne auf das Kind fallen, das brächte ihm Unglück. Das arme Lämmchen ist sehr unruhig, voller Launen, und gönnt mir wenig Schlaf, 's ist ein harter Fall, das ist er, und das Herz möchte einem brechen, wenn der Doktor dreimal täglich herauf kommt und das Kind so steif und stumm betrachtet, als wäre er von Stein.«

Ich hielt den Kleinen wie ich meinen eigenen Liebling halte, seine Wange gegen die meinige gepreßt. Er schien das zu mögen, und die Thränen, welche sein Gesichtchen benetzten, kümmerten mich nicht. Ich ging auf und nieder mit ihm und hörte kaum, was Frau Kurz mir weitläufig von jenen traurigen Tagen erzählte, wo des kleinen Stephan Mutter sterbend gelegen, dann auf andere ähnliche Fälle übergehend und sich selbst in ihren Leistungen hervorhebend.

Es wurde mir schwer, das Kind zu verlassen und dennoch zitterte mein Herz vor Freude, als ich mein eignes Mägdlein wiedersah. Sie war gerade erwacht und lag mit großen offnen Augen in der Wiege. Ich behaupte, diese Augen gleichen an Farbe der Kornblume, aber Gottfried lacht mich aus und sagt, sie seien gerade wie die Augen anderer kleiner Kinder. Und dennoch ist er so stolz auf sie, und weiß so gut mit ihr umzugehen! Frau Kurz erzählte mir, Dr. Randall habe Stephan nur einmal in die Arme genommen und dabei ausgesehen, als gelte es eine Bußübung.

Ach ja, hätte ich mein Kindchen Gottfried zurückgelassen, würde er's vielleicht auch gewissermaßen als die Ursache seines Verlustes betrachten; und doch, dem Dr. Randall könnte er niemals gleichen!

Ich schreibe im Kinderzimmer, denn Gottfried speist heute bei dem Kanzler und Anna plättet unten.

Dieses Fenster blickt auf den grünen Münsterplatz. Die Septembersonne bescheint noch die westlichen Thürme, und über dem Gras liegen die Schatten. Die hie und da erglänzenden Goldtinten der Ulmen mahnen an das ablaufende Jahr, aber sonst scheint alles so frisch und lieblich bei diesem strahlenden Wetter, daß man kaum an Abnahme glaubt. Ich weiß, daß Susanna heute Abend ihren Tagesbericht schreibt, denn sie hält sich dafür ein Buch wie ich, und wenn beide voll sind, wollen wir sie austauschen. Sie behauptet, lange nicht so viel zu schreiben wie ich, aber heute thut sie's gewiß, denn morgen ist unser Hochzeittag. O, du glücklicher Tag, der mir meinen Gottfried gegeben! Und doch, wie viel, viel glücklicher bin ich jetzt! Gott ist sehr gut gegen mich, das Leben sehr süß, und niemals kann ich ihm genug danken. Aber bei aller irdischen Liebe darf ich nicht jener Liebe vergessen, die da ewiglich bleibt. Ich muß sie mir immer vergegenwärtigen und des guten Hirten gedenken, der da verheißen hat, mein Lämmlein zu hüten, und es zärtlich und sanft in seinem Busen zu tragen; muß ich ihn nicht stets im Herzen bewahren und ihn über alles lieben?

 

Den 1. September.

Ich studire fleißig, meiner Kleinen wegen. Im Deutschen mache ich schnelle Fortschritte, und Gottfried sagt, ich hätte viel Sprachtalent. Ich, Talente! Gewiß nur, weil er ein so guter Lehrmeister ist. Hübsch wird es sein, wenn ich mein Kind unterrichte, wie er mich. Ich habe ihr mit Anna's Hülfe selbst kurze Kleider gemacht, und meine Tanten wollen ihr einen weißen Castorhut und einen blauen Pelz schenken. Wir müssen uns schön herausputzen, denn wir sollen Frau Waring in Cheltenham besuchen, sobald Gottfried einen freien Tag bekommt.

 

Den 21. Oktober.

Heute kamen Isabellchens Hut und Pelz von London. Die gütigen Tanten haben sie geschickt, und ich mußte lachen bei dem Gedanken an das winzige Ding, welches sie jetzt schon tragen soll. Natürlich muß sie noch lange in Mantel und Capuze gehen, sagt Anna; Frau Waring würde sich wundern, wenn wir der Kleinen den Hut aufsetzten. Die Feder scheint mir auch zu groß selbst für ein sechs Monat altes Kind, und der Pelz ist entsetzlich schwer. Einerlei! es war so gut von den Tanten gemeint, und was wissen sie von so kleinen Kindern!

 

Den 21. November.

Jetzt ist es völlig Winter und die Tage sind kurz und kalt. Der kleine Stephan Randall war recht krank an einer Lungenentzündung. Ich besuche ihn oft und glaube gewiß, daß Frau Kurz die Stube zu stark heizt, weßhalb sich der Knabe dann draußen erkältet. Aber ich mag nichts sagen, und Dr. Randall muß wohl mit der Frau zufrieden sein, sonst würde er sie ja nicht behalten. Ach wie traurig ists doch um ein mutterloses Kind! Der kleine Stephan sieht so alt aus! Er hat große dunkle Augen und sein Gesichtchen ist lang, seine Stirne hoch; dann sind seine Arme so dünn; mein winziges Isabellchen gleicht einer Kugel neben ihm! Ich brachte sie eines Tages auf sein Zimmer, und es war so wunderlich, sie beisammen zu sehen; beide sind für ihre vier Monate schon recht klug; Isabella girrte und schnurrte wie ein Kätzchen, und der arme Stephan zog sie am Kleide und machte einen schwachen Versuch, zu lächeln.

Frau Kurz und ich lieben uns nicht besonders; sie hält mich für unerfahren im Punkt der Säuglinge, und gab mir ein paarmal zu verstehen, »man thue besser, sich nicht in andrer Leute Sachen zu mischen.« Aber wie unangenehm sie auch sei, selbst zwanzig Frau Kurz würden mich nicht von Isabellas Kind fern halten.

 

Den 1. Januar 1821.

Ein neues Jahr ist angebrochen, und ich nehme wieder mein Buch zur Hand, das ich in Cheltenham kein einziges Mal geöffnet. Wir gingen dorthin am 1. Dezember und verlebten die Weihnachtszeit mit Frau Waring und Therese. Katharine Taylor kam auch mit ihren drei Kindern und wir bildeten eine große Familiengruppe. Zum erstenmal seit meiner Heirath fühlte ich mich einsam, und mir war, als seien weder ich noch die Kleine hier im Hause daheim. Es drückte und verletzte mich, die beständigen Vergleiche zwischen meiner Isabella und deren Base, einem feisten, sehr gewöhnlich aussehenden Kinde von zehn Monaten, anhören zu müssen, und ich konnte das Kritisiren meiner Kleinen nicht ertragen. Dann behaupteten sie, das Kind sei zu ruhig, es müsse unwohl sein; Anna verstehe sie nicht zu behandeln, ich schicke sie bei unsicherem Wetter ins Freie, setze sie der Gefahr der Bräune aus und viel dergleichen. Da fühlte ich im Grunde meines Herzens eine bittre Wurzel aufwachsen, fühlte, wie ich diese meine neue Liebe durch die große Liebe Gottes müsse reinigen und heiligen lassen. Ich sehe ein, daß ich eifersüchtig auf Katharinens Kinder gewesen, und daß meine Eitelkeit sich verletzt gefühlt, weil sie nicht alle mein Kind gepriesen und es so hoch gehalten wie ich! Aber welche Wonne, nun wieder nach Hause zu kommen! nicht um die Welt möchte ich in jenem modischen Orte leben, wo alle nur an ihre Toilette, an Besuche und Gesellschaften denken! Cheltenham wird bald mit Bath rivalisiren, ja es noch übertreffen, meint man, weil jetzt so viele Leute hingehen. Eine gute Folge hat doch mein Aufenthalt dort gehabt: die eines besseren Verständnisses zwischen Therese und mir. Sie ist wirklich sehr gebildet, und wie Gottfried sagte, den meisten Leuten überlegen. Es ist eine schwere Aufgabe, Schwägerinnen zu haben, die so viel älter und klüger sind, als man selber, aber ich begreife jetzt, weßhalb es hier voriges Jahr zwischen Therese und mir keinen guten Klang gegeben. Sie hatte sich eingebildet, daß Gottfried ein Kind geheirathet, und war nun angenehm überrascht, doch am Ende in mir auch etwas von einer Frau zu finden. Schade, daß Therese viele Leute so ablaufen läßt, aber es ist einmal ihre Weise und ihre Mutter scheint mir stolz darauf zu sein.

Wir haben die Nachricht erhalten, daß Susanna am zehnten Dezember ein Knäbchen geboren. Lanz Trevors Brief war sehr kurz, sagte aber, alles sei gut gegangen, und Susanna würde mit der nächsten Post selber schreiben. Wie lange scheints bis dahin! Ich kann mir der geliebten Schwester Empfindungen denken, den Stolz und die Freude über ihren Erstgebornen!

 

Den 10. April.

Wieder und wieder hab ich Susanna's Brief gelesen: was berührt mich nur wie Enttäuschung darin? Ach, du liebste Schwester, unsre Trennung ist hart! Ich fühle, daß sie mehr und mehr zur großen Dame wird und mich hinter sich zurückläßt. Ich verlangte so danach, von ihrem Kinde zu hören, und sie sagt nur, es gleiche allen armen indischen Kindern, sei bleich, gelb und häßlich. Sie erzählt von einem großen Fest und dem Anzug der indischen Prinzen, und von der lächerlichen Sitte, an Einem Tage die köstlichsten Geschenke zu schicken, um sie am folgenden wieder zurück zu erhalten; von ihrer eigenen Toilette an einem Empfangabende beim Gouverneur und von dem kostbaren Halsband, welches Lanz ihr verehrt. Das Knäbchen soll uns zu Ehren Lanzelot Waring getauft werden, denn Gottfried und ich sind die Pathen, außerdem noch der englische Prediger in Agra und dessen Frau.

 

Den 20. April.

Ich besuchte heut die Pastorin Wentworth, und nahm auf ihren Wunsch mein Isabellchen und den kleinen Stephan mit. Die beiden Kinder entzückten sie. Seltsam ists, wie der Knabe mein Töchterchen mit seinen großen dunklen Augen, die für einen Säugling zu traurig und träumerisch sind, betrachtet. Ich fühle immer, daß dem Jungen die Mutter fehlt. Kein freudiges Lallen begrüßt mich, wenn ich ihn in die Arme nehme, kein Gegendruck der kindlichen Wange; ganz still und passiv liegt er da.

Auf dem Heimwege begegnete uns Dr. Randall. Er blieb stehen und schüttelte mir die Hand, schien aber die Kinder kaum zu beachten, als die Wärterin sie forttrug. Dann sagte er plötzlich: »Sie sind sehr gütig gegen meinen Knaben, Frau Waring. Finden Sie, daß er gedeiht?«

»Ich glaube, mit der Zeit würde ihm eine jüngere Wärterin als die Frau Kurz nützlich sein,« wagte ich hinzuweisen.

»Möglich,« war die Antwort, in kurzem, trockenen Ton gegeben; dann fügte er hinzu: »Sehen Sie die Wentworths viel? Es sind gute, würdige Menschen, aber voll jenes religiösen Fanatismus, der jetzt so viele Köpfe verdreht. Ich kann ihn nicht gutheißen, Frau Waring, denn ich sehe, wie er manches Leben zerrüttet. Wird es doch Sitte, daß junge Mädchen gegen den Willen ihrer Eltern in die Versammlungen sogenannter religiöser Vereine laufen, und alle Menschen Sünder schelten, welche Theater und Bälle besuchen.«

Ich fühlte mein Herz schneller schlagen, während Dr. Randall sprach; offenbar wollten seine Bemerkungen darthun, daß er keinen näheren Umgang mit den Wentworths wünsche, und daß er vielleicht bei seinen ärztlichen Besuchen dort Dinge gehört, die ihm mißfielen. Ich war zu feige, ihm zu antworten, diese Dinge, deren er erwähnt, seien gewissermaßen nur die Außenseite eines großen innern Lebensprinzips, und wir dürften ihretwegen niemand zu hart beurtheilen. Wohl fühle ich jetzt, wie mein Stillschweigen die Meinung erwecken könnte, daß ich mich meiner Ueberzeugung schäme, und das beunruhigt mich.

 

Den 28. Mai.

Die lieblichen Tage des anbrechenden Sommers gehen friedlich und fröhlich dahin und ich bin voller Dankbarkeit. Alles Glück des Lebens, welches Gott mir so verschönt, ist gleichsam auf Einen Punkt zusammengedrängt – concentrirt muß es wohl heißen – wenn ich Isabellchen in ihren kleinen Wagen lege und sie früh Morgens durch die hinter dem Münster gelegenen Felder fahre. Dann nehme ich sie auf und setze sie ins Gras. Ich mache Maßliebketten und hänge sie ihr um, die Vögel singen, der Kuckuk ruft und der Wind durchsäuselt die langen Gräser und neigt sie auf und nieder wie Meereswellen, die purpurnen Schatten wandern über die fernen Höhen und die weißen Wolken am Himmel scheinen mir Engeln zu gleichen, wenn sie über die großen Münsterthürme hinwegsegeln. Dann die stillen Abendspaziergänge mit meinem Mann, wenn wir in sanfter Dämmerung heimkehrend zögern und schwatzen, oder zu glücklich für Worte schweigen – Gottfried und ich. Alle kleinen Nöthe und Aergernisse schwinden, wenn ich mit ihm bin, und der Verkehr mit ihm muß nothwendig meinen Geist erheben. Ich begreife nicht, wie ich je ohne ihn leben konnte. Er geht auf alle meine religiösen Betrachtungen ein, und ist doch so groß gesinnt, daß ers nicht erträgt, da eine Grenze ziehen zu lassen, wo Gottes unendliche Barmherzigkeit keine gezogen. Es ist sehr natürlich, daß Pastor Wentworths Predigten und Lehren einen spürbaren Eindruck in Minster hervorgebracht haben. Der Gottesdienst der andern Kirchen ist so fade und öde: nur steife förmliche Reden und kaum eine Liturgie. Ohne die Abendandachten von St. Lucas wüßte ich kaum fertig zu werden. Ich besuche sie einen Sonntag um den andern und auch die Bibelstunden am Mittwoch, in denen ich viel gelernt; denn die Bibel war mir, ehe ich Pastor Wentworth gehört, ein verschlossenes Buch.

 

Den 1. Juli.

Dieser Monat bringt viele Erinnerungen des verflossenen Jahres mit sich. Gott hat meines kleinen Stephans Mutter abgerufen und mich verschont. Möchte ich etwas zu seiner Ehre thun und mein Isabellchen schon früh zu des guten Hirten Füßen hinführen können!

 

Den 1. September.

Wieder unser Hochzeitstag und mein Geburtstag! Zwei Jahre sind wir nun verheirathet und ich kann aus vollem Herzen Gott für diese beiden glücklichen Jahre danken! Therese wird einige Wochen bei uns zubringen. Frau Waring hat ihr Haus in Cheltenham vermiethet und ist auf mehrere Monate fortgereist. Sie wird erst Katharina Taylor und dann eine alte Tante in Yorkshire besuchen. Therese hat Geschmack an Minster gewonnen und zieht es vor, hierher zu kommen.

 

Den 16. September.

Ich bin etwas verstimmt; denn sobald ich mit Therese oder ihrer Mutter in Berührung trete, geht alles verkehrt. Ich ärgere mich über die dümmsten Kleinigkeiten und zeige das nicht durch Worte, denn ich sage nicht viel, doch überkommt mich ein abscheuliches steifes Gefühl und mein Wesen drückt das aus, was ich verschweige. Lauter Eitelkeit und Selbstsucht! Therese ist mir in vielen Dingen überlegen; mich verletzt nur ihre Art, das zu zeigen. Neulich Abend kam Dr. Randall zum Essen. Wir speisten um sechs – für uns ein ganz besondrer Fall; denn Therese erklärte, es sei unmöglich, ihn zum Thee zu laden, vielleicht, ihren Sitten und Gebräuchen nach, mit Recht. Wir hatten nun ein sehr hübsches kleines Mittagessen und Dr. Randall zeigte sich liebenswürdiger, als ichs je für möglich gehalten. Therese und er sprachen viel mit einander, und Gottfried regte den lebhaften Verkehr noch durch einzelne Zwischenbemerkungen an.

Die Gabe der Unterhaltung ist sicherlich eine große, und Therese wie Dr. Randall besitzen sie. Der Lärm und das Treiben der Welt liegen Minster so ferne, und es ist gewiß richtig, was Therese etwas geringschätzig von meiner lieben Heimat behauptet, daß sie einer Tasse Thee gleiche und jeden kleinen sie bewegenden Hauch für wichtiger halte, als die mächtigen Stürme, welche das große Meer des Lebens außerhalb ihrer Grenzen erschüttern. Mir kam plötzlich zum Bewußtsein, wie meine kleine Welt der Liebe und des Glücks mich so sehr hingenommen, daß ich die großen Begebenheiten dieses Jahrs, die Krönung des Königs und die schreckliche Geschichte der Königin, seiner Gemahlin, kaum beachtet; aber hier ist nicht der Ort, von diesen Dingen zu reden, die anderswo verzeichnet stehen.

 

Den 24. September.

Wir speisten gestern bei Sir William Folliott, an dem großen Jahresfest der Minster'schen Welt. Aber alles dort – die Toiletten und Speisen und Gäste – ist vor der Neuigkeit zerronnen, welche Therese, diesen Morgen in mein Zimmer tretend, mir mit den Worten verkündigte: »Ich werde Dr. Randall heirathen!« Man redet viel von dem Scharfblick der Frauen; ich muß wohl besonders blind sein, denn Gottfried sagt, er habe die Sache kommen sehen, und mich überrascht sie so unglaublich! Nur Ein Gedanke herrscht in mir vor, – wie bald schließen sich doch die Wasser über den Todten und wie bald sind sie vergessen! Theresens Stimmung ist eine höchlich befriedigte; aber eisig drang mirs ans Herz, als sie, da ich die Arme um sie legend, sagte: »Nun wirst du Isabellas kleinem Stephan die Mutter ersetzen!« sich kalt zurückzog mit den Worten: »Welch seltsame Bemerkung! Du bist doch ein wunderliches kleines Ding, Letty!« So soll denn die ruhige, selbstbewußte, rücksichtslose Therese die Stelle jenes glänzenden leuchtenden Wesens einnehmen, das noch vor zwei Jahren die bewunderte Braut Dr. Randalls war! Ich wurde ganz müde vom Nachdenken und freute mich, daß Anna die Reihe traf, Pastor Wentworths Bibelstunde zu besuchen und ich deßhalb guten Grund hatte, viel im Kinderzimmer zu bleiben. Isabellchen leidet an den Zähnen und den erprobten Autoritäten zum Trotz trag ich sie auf und nieder und singe sie in Schlaf. Von meinem Kindchen kommen mir Ruhe, Erquickung, Freude und Frieden.

 

Den 28. September.

Theresens Verbindung mit Dr. Randall befriedigt Frau Waring durchaus, und in der That scheint alle Welt sich derselben zu freuen. Stephans Großvater und Isabella's Stiefmutter sind äußerst glücklich; sie fühlen sich dadurch jeder Verantwortung für des Kindes Zukunft überhoben, glaube ich. Es ist immer angenehm, eine Bürde los zu werden, die wir nicht tragen mögen, aber daneben doch gern den Schein wahrten, als trügen wir sie willig und freudig.

 

Den 1. Oktober.

Als wir in voriger Woche bei Folliotts speisten, zog mich die eine Tochter, Maude, sehr an. Ihr Wesen und ihre Stimme sind lieblich und sanft, so verschieden von denen ihrer älteren Schwester, die mich damals in Isabella Randalls Wohnzimmer überfiel. Sonntag Abend überraschte es mich, sie mit einer alten Dienerin des Hauses in der St. Lucaskirche zu sehen. Beim Hinausgehen redete sie mich an. Die Nacht war feucht und dunkel, und als ich sie fragte, ob ihr Wagen sie draußen erwarte, antworte sie: »Nein, ich gehe zu Fuß!«

»Wie? zu Fuß nach Hillscourt, in dieser Finsterniß?« fragte ich.

»Ja,« sagte sie. »Fragen Sie jetzt nicht weiter. Ich möchte gern morgen zu Ihnen kommen!« Damit war sie verschwunden. Aber diesen Morgen früh, als ich mit Therese im Eßzimmer saß, wurde Maude Folliott von Marie gemeldet. Therese verließ uns bald, weil Dr. Randalls Wagen, wie jetzt so oft, vor unsrer Thüre stille hielt. Nun, da wir allein waren, begann Maude zu reden; sie war aber sehr blöde und nervös, und offenbar erleichtert, als Anna mir Isabellchen hereinbrachte. Mit dem Kinde spielend kam denn nach und nach hervor, was sie bedrückte. Voriges Jahr in London hatten die Predigten eines gewissen Pastor Simeons großen Eindruck auf sie gemacht und ihr ganz plötzlich wie durch einen Blitzstrahl die Leerheit und Thorheit der sie umgebenden Welt gezeigt und die Sünde ihrer Gottvergessenheit offenbart. Nun ist sie entschlossen, mit diesem Leben zu brechen, und hat dadurch den Unwillen ihrer Eltern und Schwester erregt, welche ihr strenge verboten, die hiesige Kirche aufzusuchen; es war dies also am Sonntag Abend entschieden gegen den Willen von Lady Folliott geschehen. Hinterher erzählte sie ihrer Mutter davon, und diese war natürlich sehr ungehalten. Ich konnte sie nur ermahnen, die Sache Pastor Wentworth vorzulegen und diesen um Rath zu fragen. Mir scheint es sehr klar, daß Gehorsam und Rücksicht auf die Wünsche der Mutter die erste Pflicht eines achtzehnjährigen Mädchens sind und daß nichts ihr Unternehmen von gestern rechtfertigen kann. Sie nannte dagegen eine Menge Schriftstellen, welche Gottes Gebote voranstellen etc., aber soll nicht vor allem der Wille gebrochen werden, und kann eine That des Eigenwillens Seinen Augen wohlgefallen? Viel mehr stimme ich ihr hinsichtlich des leeren Treibens des gesellschaftlichen Lebens und der vielen Vergnügungen, denen sich die Leute vom Rang der Folliotts hingeben, bei; aber unmöglich kann die Mutter solche Dinge plötzlich mit Maude's Augen ansehen, sie würde viel eher zur richtigen Erkenntniß kommen, wenn diese sanft und leise aufträte. Wie schwer ist jedoch die Lage für ein Mädchen von Maude's Alter! Trotz ihrer sanften Stimme und Weise bemerkte ich heute, welche Entschlossenheit sich hinter diesem milden Aeußern verbirgt, und kann mir denken, daß sie der Mutter durch ihr hartnäckiges Festhalten viel zu schaffen machen wird. Maude sagte, sie möchte gern öfter zu mir kommen und fragte, ob sie mich Mittwoch Abends in die Bibelstunde begleiten dürfe? Ich erwiderte, wenn ihre Mutter das erlaube, würde es mich sehr freuen, aber sie erklärte, darauf nicht warten zu wollen; das Heil ihrer Seele sei ihr wichtiger, als der Zorn irdischer Eltern; den könne sie ertragen und werde auch. Diese Auffassung scheint mir nun nicht ganz richtig. Als Maude gegangen, nahm ich mein Isabellchen in die Arme und führte eins meiner langen Gespräche mit ihr (das Sprechen geschieht nur von meiner Seite), die Hoffnung ausdrückend, daß niemals, niemals eine trennende Mauer zwischen mir und meinem Liebling sich aufthürmen werde; und ihre Kornblumenaugen antworteten: Niemals! Aber wer weiß? Ach, es liegt eine Zukunft jenseits dieses deines süßen seligen Kinderlebens, meine Isabella! Welche Dornen und welche Prüfungen dich und mich dort erwarten, das weiß Gott allein. Möge Er nur deinen zarten Füßen den Weg bahnen und nie zugeben, daß dieser Weg dich von mir trenne!

 

Den 3. Oktober.

Gestern begab sich vieles. Zuerst kam der Brief aus Indien, der von Susannas leidender Gesundheit handelt und mich sehr besorgt macht. Lanz Trevor will sie mit dem Knaben herüberschicken, wenn sie in den nächsten Wochen nicht kräftiger wird. Der Brief war von ihm und enthielt nur kurze Zeilen von Susanna an mich. Sie fordert mein Buch, dieses Buch und sagt: »Wenn ich nicht bald nach England komme, so schick es mir, Letty. Ich hungere nach Kunde von dir und schmachte darnach, alles zu wissen, was du denkst und thust.« Dann fährt sie fort: »Mein Buch enthält nur hin und wieder einige Bemerkungen; was würde es dich kümmern, von meinem täglichen Leben zu hören? Das heißt, ich habe nicht den Muth, darüber zu schreiben; käme es doch ewig auf dasselbe: Ich bin so müde! zurück!« – O, Susanna, meine einzige Freundin und Schwester, der Schatten einer großen Wolke hängt, während ich dies schreibe, über mir; aber, Geliebte, es gibt noch eine Ruhe für die Müden! Möchtest du sie finden! Bis jetzt hat Gott mich durch Glück, durch großes Glück, zu sich gezogen. Sollten Leiden kommen, so hoffe ich an ihm festzuhalten, fürchte aber, dessen zu sicher zu sein – ehe das Leid wirklich vorhanden! Ich weiß es nicht, – wie könnte ich es auch wissen?

Kaum hatte ich Lanz Trevors Brief zu Ende gelesen, als Therese ins Kinderzimmer trat, um mich zu Lady Folliott herunterzurufen.

»Was mag die schon so früh herführen?« fragte Therese.

Ich wußte wohl, daß sie gekommen, um über Maude mit mir zu sprechen, aber ich war auf das nun Folgende nicht vorbereitet. Lady Folliott versuchte nicht, ihre Entrüstung über das zu verhehlen, was sie ihrer Tochter absonderliches und unsinniges Benehmen nannte. Sie gab zu verstehen, ich ermuthige Maude in ihrem Widerstand gegen die Wünsche der Eltern, und sie müsse mich bitten, ihre Besuche in meinem Hause nicht zu gestatten, wenn dieselben meine Begleitung in die St. Lucaskirche bezweckten. Ihre Familie gehe jeden Sonntag in die Betworthkirche, sagte sie, und es sei unerhört, wenn ein Mädchen von Maude's Rang ihre Vorliebe für eine andre Kirche als die von ihren Eltern gewählte, geltend machen wolle. Was die Engherzigkeit und Bigotterie solcher Leute wie Pastor Wentworth beträfe, so fehlten ihr die Worte, um ihre Abneigung gegen Lehren auszudrücken, welche die Kinder gegen die Eltern aufwiegelten und endlose Plackereien und Aergernisse im Gefolge hätten. Sie sagte noch viel mehr, was ich hier nicht wiederholen mag, aber es bekümmerte mich sehr, daß Pastor Wentworths Name in die Sache hineingezogen, und die Schuld von Maude's Ungehorsam ihm zugeschrieben wurde. Ich sprach sehr ernstlich darüber, und bat Lady Folliott, ihn selbst aufzusuchen und zu ergründen, ob ein Mann wie er im Stande wäre, den Ungehorsam oder Mangel an Respekt vor Vater und Mutter gutzuheißen. Lady Folliott sagte, sie habe Pastor Wentworth nie besucht, und verlange nicht ihn dem Kreise ihrer Bekannten zuzuzählen. »Er ist leider nicht der einzige,« fügte sie hinzu, »der heutigen Tags jungen Leuten solche Lächerlichkeiten in den Kopf setzt. Nichts kann unglücklicher sein, als dieses Bestreben, die Ordnungen der Kirche umzustoßen, und man sieht mit Trauer, welche Fortschritte es bereits gemacht. Hier muß Stillstand geboten werden.« Lady Folliott sprach sehr stolz und zornig, aber ich merkte, daß Maude's Weigerung, einen Ball zu besuchen, den Lord Stansfield am 30. gibt, ihr das Aergerlichste war, da es »so viele Erkundigungen und Klatschereien verursacht,« wie sie sich ausdrückte.

Natürlich gab ich ihr die gewünschte Versicherung, daß ich ihre Tochter in keiner Weise bei Schritten gegen den Willen der Mutter unterstützen würde, sagte, daß ich Maude nur wenig kenne, und daß ich ihr, als sie gestern zu mir gekommen, erklärt, die Pflicht gegen ihre irdischen Eltern gehe allem andern vor. Lady Folliott ließ sich gütig herab, mir ihre Freude über meine verständigen Ansichten, wie den Wunsch, daß ihre Tochter dieselben theilen möchte, auszudrücken. Ihr Ton empörte etwas meinen Stolz, und ich war froh, als die Thüre sich hinter ihr schloß.

Gottfried, dem ich alles erzählte, ärgerte sich sehr darüber; in der That habe ich ihn nie so verstimmt wegen einer Kleinigkeit gesehen. Ich überlegte mir die Frage von allen Seiten, und halte das Leben und die Wahrheit, welche die evangelische Partei der Kirche eingehaucht, für einen unvermischten Segen. Aber traurig ist's, wenn ein junges Mädchen wie Maude Folliott sich zur Autorität und zur Richterin aufwirft und dieses ihr Unrecht nicht einsehen will. Dennoch wäre es ganz unmöglich, diese große Bewegung zu hemmen, oder die Zungen derjenigen zu fesseln, deren Herzen in der Liebe Gottes brennen. Selbst in unsrem Städtchen macht sich der Umschwung geltend; die Sonntagsschule von St. Lucas wird fleißig besucht, und die Töchter unsrer ersten Kaufleute unterrichten in ihr; die Stadt ist in Distrikte zur Armenpflege getheilt, um die Leute wieder in nähere Verbindung mit den Geistlichen, Pastor Wentworth und seinem Adjunkten zu bringen. Ich habe keine Klasse in der Sonntagsschule übernommen, weil meine Pflichten mich Sonntags zu Hause fesseln, wo ich das Kind mit Anna Morgens und Abends abwechselnd warte; aber einen kleinen Distrikt besorge ich auch, und freue mich, die Armen kennen zu lernen; sie zeigen sich empfänglich für Theilnahme an ihren Kindern und ihren täglichen Kümmernissen, und wenn sie krank oder bedrückt sind, erzählt man ihnen so gerne von dem Einen, der helfen kann. Therese war sehr begierig, Näheres über Lady Folliotts Besuch zu hören, fand, sie habe durchaus Recht, und äußerte in ihrem gewöhnlichen entschiedenen Ton, man müsse den Mädchen solche Schrullen aus dem Kopf treiben. Therese ist viel gesünder als früher, und wird, wenn sie mit Dr. Randall spricht, so lebendig, daß sie fast hübsch erscheint. Die Hochzeit ist auf den 1. Dezember angesetzt, und soll, da meine Schwiegermutter Frau Waring ihr Haus bis zum März vermiethet, in London stattfinden. Therese reist nach einigen Tagen dahin ab, um ihre Mutter im Hause einer Verwandten zu treffen. Sie schläft eine Nacht unterwegs und fährt dann mit der Tagespost bis London, – eine lange, ermüdende Reise! Ich habe Minster dieses Jahr nicht verlassen, und werde das auch wahrscheinlich nicht. Die Versuchung dazu scheint auch nur gering, denn was ich am meisten liebe, ist hier, und meine Heimat mir sehr theuer. Therese spricht viel von begränzten Ideen und engen Ansichten, und der Gefahr, in einem solchen Ort hinter dem Jahrhundert zurückzubleiben. Ich fürchte, sie wird sich den Patienten Dr. Randalls nicht angenehm machen, wenn sie auf den niedrigen Standpunkt derselben von ihrer Höhe herabblickt. Die Harrisons z.B. und die Hunters und Sampsons und Bonds sind gute würdige Leute wenn auch beschränkt, und obgleich sie, wie Therese sich ausdrückt, um neun Uhr schwer zu Abend essen, ihr Minster für die Welt halten, das Wochenblatt lesen, und nichts glauben, was nicht darin gestanden hat.

 

Den 29. November.

Gottfried verließ mich heute, um zu Theresens Hochzeit zu reisen. Es war ein kalter, trüber, öder Tag und ich zu traurig, um zu lesen, zu arbeiten, oder auszugehen.

Isabellchen schien meine Stimmung zu begreifen; sie schlang die Arme um meinen Nacken, streichelte mein Gesicht, und suchte mich in ihrer kindlichen Weise zu trösten. Wie süß ist die Gegenwart eines kleinen Kindes, wie entzückend seine schweigende Gesellschaft, wenn es noch keine Worte hat und seine Liebe nur durch Zeichen kundgibt!

Ich verstehe ganz die Sehnsucht, welche es der Pastorin Wentworth so schwer fällt, zu unterdrücken, die Sehnsucht nach dem Besitz eines eigenen Kindes, welches Gott ihr versagt. Ich durchlief heute die Seiten dieses Buchs und fand ihren Namen darin so selten, – und dennoch glaube ich, daß ihr Einfluß auf mich ein größerer als jeder andre gewesen, – ein ruhiger sanfter Einfluß, denn sie spricht selten viel von Religion; nur fühle ich, wenn ich bei ihr bin, daß sie Gott nahe steht, und das ist auch mein Wunsch, mein Verlangen!

 

Den 30. November.

So weit hatte ich gestern geschrieben, als man mich hinausrief, um Dr. Randall zu empfangen. Er wolle, sagte er, gerade nach London abreisen, und möge das nicht, ohne vorher von mir Abschied zu nehmen. Mich rührte die Art, wie er mir für die seinem Kinde bewiesene Güte dankte, sehr; und dann sprach er die Hoffnung aus, das schon vorhandene Band zwischen uns werde durch seine Heirath mit Therese noch befestigt werden. Der Vergangenheit erwähnte er nicht, aber ich wußte, daß die Erinnerung an seine verstorbene Frau ihm vorschwebte, wie mir. Seltsam ist's in der That, wie schnell eine solche Lücke ausgefüllt wird, und der Gedanke an die Möglichkeit, daß es mir ähnlich gehen könne, beschäftigte mich heute Abend auch. Und dennoch, könnte ich wünschen, daß Gottfried nach meinem Heimgang einsam und hülflos zurückbliebe? Wäre es nicht auch für Isabellchen besser, wieder eine Mutter zu haben, als der Sorge einer noch so treuen Dienerin überlassen zu bleiben?

 

Den 1. Februar 1822.

Wieder muß ich von Gottes großer Gnade gegen mich berichten. Mein Söhnlein wurde am Weihnachtsabend geboren, und als die Glocken des Münsters das große Fest des Friedens und Wohlgefallens einläuteten, hörte ich seinen ersten Schrei. Nie zuvor war die Geschichte der Geburt Jesu mir so an's Herz gedrungen, und diese Weihnachtsfeier soll uns beiden unvergeßlich bleiben. Gottfried ist so froh und stolz über seinen Jungen!

Er wurde gestern getauft und wird Hugo Gottfried – nach seinem Vater, nur umgekehrt – heißen. Er ist ein großes schönes starkes Kind, sehr verschieden von seiner kleinen Schwester. Einen Sohn zu haben, scheint wirklich die vollkommene Krönung der Mutterfreude. Ich muß dabei stets der Mutter gedenken, die ihren Erstgeborenen in die Krippe zu Bethlehem gelegt, und seine ganze heilige, gesegnete Kindheit bewacht, – wer weiß mit welcher Vorahnung dessen, was jenseits der Kinder- und Jünglingsjahre lag?

 

Den 4. März.

Die Randalls geben viele Gesellschaften zur Erwiederung der ihnen seit ihrer Heirath bewiesenen Aufmerksamkeiten, und die Art und Weise, wie Therese dabei ihre Einrichtungen trifft, ist wirklich bewunderungswerth. Sie bringt ein Stückchen Cheltenham in unser altmodisches Minster, und alles muß sich nach den Gesetzen und Gebräuchen der dortigen Welt richten. Frau Waring ist jetzt bei ihr auf Besuch, will aber ihr Haus in Cheltenham behalten, und sobald die Miether ausziehen, dahin zurückkehren. Es ist wirklich scherzhaft zu hören, wie sie und Therese von den dortigen Verkehrsregeln als den allein gültigen reden, und ihre Gesellschaften in allen Stücken nach diesem Muster einrichten.

Ich habe seit meiner Heirath keinen neuen Abendanzug bekommen, und mein silbergraues Poplin – wie mein indisches Mousselinkleid allerdings häufig getragen, muß auch zugeben, daß ich neben Therese einen sehr altmodischen Eindruck mache. Ich glaube, das fiel Gottfried neulich Abends auf, denn er sagte, ich könnte mir, wenn ich wollte, ein neues Kleid anschaffen. Ich habe nun Tante Bella beauftragt, mir einen weißen Anzug zu besorgen, und ihr ein von der hiesigen Schneiderin gemachtes Kleid als Muster geschickt, werde also den 20., wo Therese eine Tanzparthie gibt, würdig erscheinen können.

Nichts nimmt mich so Wunder, als Theresens Gleichgültigkeit gegen den kleinen Stephan. Er und mein Isabellchen stehen jetzt in dem gewinnendsten Alter, und dem armen kleinen Jungen fehlt nur mehr Beachtung, um das hervortreten zu lassen. Er wird aber blos zu gewissen Zeiten heruntergebracht, und Therese liegt lesend im Lehnstuhl, während das Kind mit einem Kasten voll Spielzeug an der Erde sitzt, und schlaff und gleichgültig damit spielt. Ich habe sie gebeten, ihn mir oft zu schicken, und dann verkehren er und meine Kleine in ruhiger Weise mit einander.

 

Den 18. März.

Susanna's Brief brachte große Ueberraschung und Freude; sie kommt herüber, ich werde sie sehen, und dieses bald vollgeschriebene Buch wird nicht nach Agra reisen. Die Aerzte hatten erklärt, für den armen kleinen Lanz sei sonst keine Hoffnung, und sie müsse ihn auch, wenn sie zurückkehre, in England lassen.

Mir ist ganz schwindelig, und jedes andre Interesse tritt zurück hinter der Freude, Susanna und ihr Kind zu sehen, und über unser eheliches Leben zu sprechen, wie wir's thun werden, denn ihre Briefe ermangelten aller der kleinen Mittheilungen aus dem täglichen Leben, nach denen ich Verlangen trug. Das kommt erst mündlich zur Geltung. Möglicherweise gehe ich nach Kensington, um Susanna dort in Empfang zu nehmen; sie soll die Aja für Lanz und ihre eigene Jungfer, die ihr schon hinübergefolgt ist, mitbringen. Susanna schreibt, wenn sie ihren Sohn zurückließe, könne es nur bei uns sein, und sie würde es dann für uns der Mühe werth machen, ihn zu nehmen und wie unsern eignen zu halten.

 

Den 4. April.

Ich saß heute bei der Pastorin Wentworth, als der Pastor mit ernstem, traurigem Gesicht eintrat. Seine Frau und ich merkten sogleich, daß ihn etwas bekümmert habe, und mochten ihn doch, weil er anfänglich schwieg, nicht fragen. Endlich erzählte er uns, Maude Folliott habe sich in London gegen den Willen ihrer Eltern verheirathet. Diese haben sich ganz von ihr losgesagt und erklärt, sie nie wieder sehen und sprechen zu wollen. Der Mann steht an Rang tief unter ihr, und ist ein Dissenterprediger in Süd-Kensington.

Maude hatte, während sie in London war, jene Kapelle besucht, und mit einigen andern Besuchern derselben Bekanntschaft gemacht. Ihr Betragen ist ein durchaus verkehrtes und eigenwilliges gewesen, und man muß sehr beklagen, daß die Religion, von der sie so viel Wesens macht, als Veranlassung ihres Ungehorsams und ihrer Pflichtvergessenheit gilt, während diese nur aus einem ungebrochenen Willen, und einem mit sich selbst statt mit Gott erfüllten Herzen hervorgegangen.

Pastor Wentworth hat einen sehr verletzenden Brief der Lady Folliott erhalten, in welchem sie ihn auffordert, die traurige Geschichte ihrer Tochter zu beherzigen, ehe er fortfahre, Lehren zu predigen, die solche Ergebnisse herbeiführen und so viel Unglück schaffen. Das alles beschäftigt mich heute sehr, und ich bin ganz traurig und bedrückt.

Von den Wentworths heimkehrend, ging ich bei Therese vor. Sie war in einer ihrer gereizten Stimmungen, und widersprach allem was ich sagte; sie erklärte, jenes Ereigniß von Maude Folliott wundre sie durchaus nicht, aber die Demüthigung könne der Mutter nicht schaden, und schloß mit der Aeußerung: »Als Anhängerin des Pastor Wentworth berührt dich die Geschichte natürlich sehr peinlich, Letty; und ich bemerke bei dieser Gelegenheit, daß es Dr. Randall gewiß nicht recht wäre, wenn man den kleinen Stephan zu kindischen Frömmigkeitsbezeugungen anhielte. Dergleichen geht oft unter der Dienerschaft im Schwange, und Stephans Wärterin erzählt mir, daß Anna deine Isabella die Hände falten und ein kleines Tischgebet sprechen lehrt. In der That eine Lächerlichkeit für ein kaum zweijähriges Kind, um so mehr, da sie noch kaum drei verständliche Worte sagen kann! Bitte, lasse Stephan nichts Aehnliches beibringen.«

Ich wollte eben fortgehen, als sie diese Worte sprach, und war thöricht genug umzukehren, und schärfer als ich gesollt, zu erklären: wenn Therese und Dr. Randall für Stephan Besorgnisse hegten, so müsse er lieber nicht so oft zu mir kommen; ein Kind könne nicht früh genug Gott kennen lernen, von dem alle gute Gabe herrühre.

Therese lächelte nur, und äußerte, da seien die Meinungen verschieden, und wenn auch Pastor Wentworth mir beistimmte, so thäten doch viele das nicht. »Rege dich indeß nicht auf, Letty,« fuhr sie fort. »Ich weiß, du hältst mich für weltlich und schlecht, und ich versichere dich, daß ich in unsrer Gesellschaft am 20. Jemanden sagen hörte: ›Jene kleine Frau Waring sähe wie eine Quäkerin im Ballsaal aus, und als hielte sie sich für viel zu gut, daran Theil zu nehmen.‹«

Ein heftiger Sturm des Zorns und der Empörung stieg in mir auf, wie ich ihn noch nie gefühlt. Theresens Worte hatten mich an der empfindlichsten Stelle berührt; denn es widersteht mir, zu hören was man von mir sagt, und verletzt meinen Stolz. Ich antwortete zornig, die Aeußerungen ihrer Freunde kümmerten mich nicht, – und das ist unwahr, denn sie kümmern mich sehr, – und ich bäte sie, den kleinen Stephan mir nie wieder zu schicken, wenn sie fürchtete, er könne durch mich Schaden nehmen.

Dann verließ ich hastig das Zimmer, und mußte leider auf dem Vorplatz mit Frau Waring zusammentreffen. Mein Gesicht glühte und meine Augen standen voll heißer zorniger Thränen. »Ei, Letty, wohin so eilig, liebes Kind?« dann, mich von oben bis unten betrachtend, setzte sie hinzu: »Dieser Hut steht dir schlecht! er ist ja wohl hier in Minster gemacht?« Ich vermochte wirklich nicht zu antworten, sondern ging schnell zur Hausthür hinaus.

Die große Pforte der Münsterkirche stand offen, und die Frühlingssonne sandte ihre Strahlen durch das westliche Fenster. Ich trat hinein; drinnen war's so ruhig, kühl und friedlich, und die schönsten Farben, roth, violett und gelb, fielen durch die bunten Scheiben auf den Boden des Schiffes. Ich stand an eine Säule gelehnt da, und bald legten sich die wilden Wogen des Zorns und der Empörung, und in mir sprach es vorwurfsvoll: »Ist das deine Liebe zu Gott?« Plötzlich erklang die Orgel und des Chorführers Stimme sang: »Nach dem der euch berufen hat und heilig ist, seid auch ihr heilig in allem eurem Wandel!« Zorn und Stolz und Eitelkeit, wie wurzeln sie doch so tief! wenig beachtet und gefürchtet in meinem ruhigen, glücklichen Leben, rufen doch solche Kleinigkeiten sie hervor! Ich fühle wie es ist, – daß ich zu viel an Andre gedacht und sie gerichtet, weshalb die verborgene Arbeit in meiner eignen Seele keine Fortschritte gemacht. Ach, sollte ich jemals Hugo und Isabella durch meine Heftigkeit ein böses Beispiel geben?

Aber Gott ist sehr geduldig, und er weiß, daß in meinem tiefsten Herzen die zuweilen ausgesprochne, doch öfter nicht laut gewordene Bitte lebt, Gott nahe bleiben und ihn über alles und vor allem lieben zu dürfen!

Während einiger Augenblicke ganz in Sinnen vertieft, hatte ich nicht bemerkt, daß Anna und die kleine Kindsmagd, von der Orgel und dem Gesang angelockt, durch die Vorderthüre eingetreten waren. So erblickte ich denn ganz plötzlich meine Isabella in dem Lichtstreifen, der über den Altar auf den Boden der Kirche fiel, während Hugo in seinem langen weißen Kleide dahinter in Anna's Armen saß, und der kleine Stephan, deren Hand haltend, mehr im Schatten sich zeigte. Isabellchen blieb gebannt von den Tönen stehen, schlug ihre Augen, die mehr als je den Kornblumen glichen, wie verzückt empor, und schien durch eine kleine Bewegung der Hand Stephans Aufmerksamkeit fesseln zu wollen. Nie werde ich das Bild der drei Kinder vergessen, die gleichsam beim Antritt der Lebensreise den himmlischen Melodieen lauschten, welche aus ungesehener und für sie geheimnißvoller Höhe niederrauschten. Ueber ihnen stiegen die gewölbten Bogen zwischen tiefen Schatten zum Himmel empor, von edeln Säulen mit ihren bekränzten Kapitälern getragen, und hie und da blickte ein seltsames in Stein gehauenes Menschenantlitz herab.

Isabella sah mich zuerst, und kam mit ihren raschen unsichern Schrittchen herbei, hinter ihr her der kleine schwankende Stephan. Ich nahm meinen Kleinen von Anna's Arm, und während die andern mich am Kleide hielten, erhob sich meine ganze Seele zu Gott, wie wohl tausend und aber tausend Mutterherzen in diesen Räumen vor mir gethan, flehend, daß er meine Kinder behüten und sie endlich in das Land ewigen Friedens führen wolle.

Dann traten wir hinaus in den Frühlingssonnenschein, der auf den rothen Dächern um den Münsterplatz lag, die dunkeln Winkel hie und da erleuchtete und das weiße Gefieder einer Taubenschaar bestrahlte, welche ihre Heimat auf dem Dach eines alten Kornbodens gefunden, der neben den Ruinen eines früheren Klosters auf einem Felde hinter dem Platze stand. Wie all mein Aerger vor den holden mich umgebenden Einflüssen zerrann und verrauchte! Den kleinen Stephan, welchen seine Mutter mir auf dem Todbett empfohlen, kann ich nicht aufgeben, muß also mit Therese reden und sie bitten, mir meine raschen zornigen Worte zu verzeihen.

 

Den 3. Juni.

Wieder steht der Sommer in voller Blüthe, die langen Tage sind so hell und ich bin so froh! Die Zimmer sind für Susanna, ihren Knaben, die indische Aja und die Jungfer in Bereitschaft gesetzt. Ich durchwandere sie zwanzigmal am Tage, Isabella trabt hintendrein und ruft: »Tantchen, Tantchen!« wie ich sie gelehrt. Jede Stunde kann jetzt die Nachricht von Susanna's Ankunft in London bringen. Die lieben Tanten sind in großer Aufregung; Tante Bella hielt immer so große Stücke und war so stolz auf Susanna, und der Gedanke, sie wieder in der alten Heimat zu besitzen, entzückt sie. Ich habe die Reise nach London aufgegeben; es ist so weit und Gottfried sieht es lieber, daß ich Susanna ruhig hier erwarte. Gottfried steckt jetzt tief in Geschäften; es bilden sich in London viele Aktiengesellschaften, bei denen man hofft, durch hohe Zinsen Geld zu verdienen. Gottfried ist als Rechtsanwalt dabei für Andere thätig und hat, wie ich glaube, auch selbst einige Aktien, – nicht viele, denn mein kleines Vermögen reicht nicht weit. Er fragte mich, ob ich dasselbe durch die Perlenfischereien in Columbia vergrößern wolle, und wenn er das für richtig hält, muß es ja richtig sein.

 

Den 30. Juni.

Die Tage verrinnen, und noch immer keine Kunde von Susanna! Ists wohl, weil getäuschte Hoffnung die Herzen beklemmt, daß ich nicht länger mit Freude unserem Wiedersehen entgegenblicken kann? Ein Schatten liegt über ihm, wie der kalte, feuchte Nebel zuweilen die lachendste Landschaft bedeckt und sie, als wäre sie wirklich verschwunden, dem Auge entzieht. Wird der Nebelvorhang sich heben und soll Susanna wieder vor meinen Blicken im Sonnenlicht strahlen, oder soll die köstliche Erwartung sich niemals erfüllen?

 

Den 3. Juli.

Ich werde allmählich sehr besorgt, und mag kaum davon schreiben. Das Schiff, die Princeß Charlotte, müßte längst hier sein. Gottfried ist auch ängstlich, merk' ich wohl, obgleich er mir Muth einzureden sucht. Die vielen Erkundigungen der Leute quälen mich sehr und sind doch so gut gemeint.

 

Den 1. September.

Nun ist alles vorüber, Erwartung und Sehnsucht, Hoffnung und Furcht. Susanna ist hier, noch dazu an unserem Geburts- und Hochzeitstag, hier in meiner Heimat mit ihrem Knaben und seiner Wärterin, (die Aja wurde von London zurückgeschickt), und der Traum so vieler Monate ist für mich zur Wirklichkeit geworden. Dennoch, wenn ich die hohe, anmuthige, elegant und modisch gekleidete Frau und dann mich selber ansehe, könnte ich fast zweifeln, ob wir noch dieselben Schwestern sind, welche einst die geraden Wege des Vierecks vor den Wellington-Villas auf- und nieder trabten und keinen getrennten Gedanken hatten. Eine große Veränderung ist mit Susanna vorgegangen; sie aber erklärt mir: »Letty, du siehst grade eben so aus, wie früher, keinen Tag älter, nicht breiter oder umfangreicher.« Zuweilen, wenn sie auf dem Sopha im Wohnzimmer liegt, sagt sie: »Sprich mit mir, Letty, erzähle mir alles!« Und dann, während Hugo in meinen Armen schläft, erfülle ich ihren Wunsch und schwatze ein Langes und Breites; fordere ich sie aber auf, nun ihrerseits zu erzählen, so antwortet sie gewöhnlich mit einem Seufzer und sagt: »Da drüben sind sich alle Tage gleich; wir leben nach der Regel, schlafen, machen Toilette, tanzen und essen zu bestimmten Stunden; es ist ermüdender, als ich ausdrücken kann.« Heute lächelte sie traurig und sagte: »du mußt mir eines Tages dein Buch zeigen; meines enthält nur ein Dutzend Zeilen, das Datum von Lanzies Geburt und dergleichen.«

Der kleine Lanz ist ein mageres, kränkliches Kind; sogar Stephan erscheint kräftig neben ihm. Die beiden kleinen Jungen haben eine seltsame Abneigung gegen einander; sobald Stephan unser Kinderzimmer betritt, fängt Lanz an zu schreien bis zur Erschöpfung seiner schwachen Kräfte. Einmal als Isabella sagte: »Küsse Stephie,« und diesen zu Lanz hinführte, gab er ihm mit seiner langen, magern Hand einen derben Schlag, und Anna erklärte, es sei erschreckend gewesen, diesen Ausdruck von Haß in dem Gesicht eines noch nicht zweijährigen Kindes zu sehen. Isabella steht zwischen beiden wie ein kleiner Friedensengel, und als sie neulich ihr Abendgebet sprach und Lanz unter denen nannte, für welche sie Gottes Segen erbat, fügte sie hinzu: »Armer, armer Lanz!«

Ganz Minster strömt herbei, um Susanna zu begrüßen, und zwar nicht blos die Stadt, sondern auch die Umgegend, was viel mehr sagen will. Die Folliotts waren natürlich unter den ersten, die auf Grund der Verwandtschaft kamen, und es stimmt mich halb stolz, halb traurig, zu sehen, mit welcher ruhigen Würde Susanna das alles entgegennimmt. Dr. Randall besucht sie und den Knaben fast täglich, und Therese kommt und geht sehr häufig. Diese ist trefflich gelaunt und scheint ihrer früheren Kränklichkeit nicht mehr zu gedenken, macht auch, mit Susanna verglichen, einen durchaus gesunden, kräftigen Eindruck.

 

Den 29. September.

Dr. Randall kam heute Morgen schon früh, denn er wünschte mit mir über Susanna zu sprechen. Er findet sie sehr zart und meint, sie dürfe diesen Winter nicht hier bleiben, sondern müsse nach dem Süden, etwa nach Nizza gehen. Ich merke wohl, daß er den Zustand meiner geliebten Schwester recht ernst ansieht; derselbe sei ein neuer Beweis von der Schädlichkeit des indischen Klimas für die Europäer, bemerkte Dr. Randall. Er schlug mir vor, Susanna nach Hastings zu begleiten, meinen Gottfried und die Kinder zurücklassend; da aber fand ich, daß die ehelichen Bande die stärksten sind, denn so innig ich Susanna auch liebe, könnte ich selbst ihretwegen mich nicht dazu entschließen. Ich habe alles mit Gottfried überlegt, und er war sehr verständig und gütig; doch ging mir aus seinen Aeußerungen hervor, daß er nicht gerne ohne mich leben möchte. Gottfried ist so ruhig und wenig hervortretend mit seinen Gefühlen, und ich begreife es, wenn die Leute – selbst Susanna – ihn deshalb verkehrt beurtheilen. Vielleicht kann Tante Bella Susanna nach Nizza begleiten; aber die Frage bleibt noch, ob sie sich überhaupt entschließt, Minster zu verlassen, wo sie so gerne mit mir zusammenlebt.

 

Den 7. Oktober.

Die kalte Herbstluft macht Susanna schwächer und kränker; auch hustet sie viel und ist sehr niedergeschlagen. Wir sprechen jetzt nicht mehr vom Reisen, denn sie wäre nicht im Stande dazu. Gottfried hat einen Brief von Lanz Trevor mit der Anweisung auf eine Geldsumme, die mir sehr beträchtlich scheint, erhalten. Er schreibt, seine Frau und sein Kind dürften unsere geringe Einnahme nicht schmälern. Er hat ja recht, denn wir sind arm; aber meinem Herzen widersteht die Berechnung von Pfunden, Schillingen und Pfennigen, wo es Susanna betrifft.

Der kleine Lanz ist von sehr heftiger Gemüthsart, und ich muß jetzt manchen Sturm im Kinderzimmer beschwichtigen. Er und seine Wärterin schlafen in Susannas Ankleidezimmer, sind aber Tags über bei unsern Kindern. Susanna vermeidet jede Anstrengung; alles wird ihr schwer, und sie redet mit Niemanden als mit mir. Zuweilen gelingt es mir, sie zum Lachen zu bringen, wenn wir der früheren Zeiten gedenken, unsres alten italienischen Lehrers mit seinem kahlen Kopf, von einem schwarzen borstigen Haarkranz umgeben, der kindischen Streiche, die wir der alten Magd unserer Tante gespielt, und der elastischen Fröhlichkeit unserer Mädchenjahre. Aber Susanna fällt bald wieder in ihre vorige Stimmung zurück und sitzt dann ganz still, ihre schönen Augen träumerisch auf die Hausgiebel draußen gerichtet, mit einem Blick wie in weite Fernen, den ich zu verstehen beginne.

 

Den 1. November.

Mich überkam kein plötzlicher Schreck der Ueberraschung, als Susanna diesen Nachmittag äußerte, sie glaube, daß sie uns bald verlassen müsse. »Ich fühle mich sterbend, mein Liebling,« sagte sie, »und Lanzelot wird mich nicht wiedersehen. Wir haben von einander den letzten Abschied genommen. Ich schrieb diese Woche an ihn und bat ihn, Lanz bei euch zu lassen, damit er hier im Hause seine Heimat finde.«

Sie bat mich, nicht zu weinen, sondern zuzuhören, denn ihre Zeit sei kurz; dann, in der zunehmenden Dämmerung, während Schatten die Winkel des Zimmers füllten und das Licht des Feuers an den Wänden spielte, öffnete mir Susanna ihr Herz. »Ich trieb rasch abwärts in dem Strudel jenes indischen Lebens,« sagte sie, »und wurde eine kalte, eitle Frau; selbst die Geburt meines Knaben erweichte mich nicht. Oft nahm ich das kleine Buch zur Hand, in welchem ich dir zu schreiben versprochen, und schloß es dann doch wieder. Was konnte ich darin sagen, dich glücklich zu machen? Deine Briefe mit all ihren Zügen häuslichen Glücks und allen unbedeutenden Kleinigkeiten verursachten mir stechenden Schmerz. Ich wußte nichts von einem solchen Dasein. Mir gehörte nur die Außenseite der Dinge, dir die innerliche, voll jener Liebe, welche die Kraft des Lebens ausmacht. Lanzelot und ich waren verschieden, sehr verschieden; und doch weiß ich, er liebt mich nur zu sehr. Ganz von den Pflichten seiner Stellung hingenommen, sah er es doch gern, daß ich meinen Platz in der hohlen Gesellschaft Agra's behauptete, und ich freute mich seiner Billigung. Aber ein solches Leben konnte uns einander nicht näher bringen. Ich möchte meinen kleinen Lanz gern erzogen sehen, wie du deine Kinder erziehst. Habe Geduld mit ihm um meinetwillen.«

Sie sagte noch viel mehr, und ich versprach ihr alles was sie wünschte, vermochte mich aber kaum länger zu beherrschen, und als Therese eintrat, ließ ich sie bei Susanna zurück.

Auf der Treppe begegnete mir Gottfried, der aus seinem Büreau kam.

»Willst du mich etwas ins Freie begleiten?« fragte er, und ich that es nur zu gern.

Die Luft war ruhig und mild. Ohne die Seufzer des Windes in den Bäumen und das Niederflattern der gelben Blätter zur feuchten Erde hätte man glauben können, es sei ein Augustabend.

Als wir den Münsterplatz betraten, hing der Mond wie ein Silberbogen über einem der Thürme und ein heller Stern stand ihm ganz nahe. Gottfried, der meine Traurigkeit begriff, gab mir schweigend seine Theilnahme kund und schlug den Weg nach dem St. Lucas-Pfarrhause ein. Er wußte, daß ein tröstliches Wort der Pastorin Wentworth mir wohlthun würde, und erklärte, mich dort lassen und nach einer halben Stunde abholen zu wollen.

Ich fand die Pastorin allein und erzählte ihr, wie ich alle Hoffnung für Susanna aufgegeben, wie diese ihren Wunsch, Lanz bei mir zu lassen, geäußert, und wie seltsam es doch sei, daß zwei Mütter mir, die ich erst zweiundzwanzig Jahre zähle, ihre Söhne vermacht hätten. Die Sorgen wüchsen mir reichlich zu, sagte ich, und sie antwortete, es sei ja recht heilsam, daran erinnert zu werden, daß wir hier nicht daheim, daß die Welt vergienge und wir einer andern, besseren Heimat zustreben müßten.

Ich bat sie, dem Pastor Susanna's Worte mitzutheilen, und ihn aufzufordern, sie oft zu besuchen.

 

Den 26. Dezember.

Wir verlebten ein ruhiges Weihnachtsfest. Die Tanten hielten die Entfernung nicht länger aus, unternahmen die weite Reise von London und haben sich hier am Münsterplatz eingemiethet, um Susanna nahe zu sein. Briefe aus Indien regten diese heute sehr auf, und sie war den ganzen Tag über recht schwach und krank.

Lanzelot Trevor hat um Urlaub nachgesucht und ist auf der Herreise begriffen. Er schreibt jedoch in gezwungen leichtem Ton, ermahnt Susanna, ihre nervöse Stimmung zu beherrschen, dann werde sie bald wieder hergestellt sein. Er wolle sie schon aufheitern und sie selbst nach dem südlichen Frankreich oder nach Nizza bringen.

»Er kommt zu spät,« sagte sie, und gab mir den Brief. »Du mußt ihm meinen innigsten Liebesgruß bestellen, Letty, und ihn versichern, daß alles so am besten sei.«

 

Den 10. Jan. 1823.

Den hellen Punkt in dieser traurigen Zeit gewähren mir meine Kinder. Isabella ist zu meiner großen Freude ihrer Tante sehr ergeben. Am liebsten sitzt sie still neben ihr und schwatzt in ihrer kindisch gebrochenen Weise, was Susanna unterhält. Lanz ist immer artig, wenn er mit Isabella zusammen ist; das Kind besitzt eine gewisse Gewalt über ihn, und der kleine Stephy blickt mich dann wohl traurig an, als fühle er sich zurückgesetzt. Mein eigener Junge mit seinen großen blauen Augen und goldenen Haaren bietet einen großen Contrast zu den andern Kindern, er ist so kräftig, freudig und lieblich, und gleicht Isabella nicht im mindesten.

 

Den 20. Januar.

Pastor Wentworth sagte mir heute, er fände Susanna weit schwächer, und ich sehe das auch selbst; es kostet Mühe, sie ins Wohnzimmer zu bringen. Sie erklärt, es mache sie so glücklich, hier bei mir sterben zu können. »Denke nur, wie schrecklich es gewesen wäre, draußen in Agra zu sterben,« fügte sie hinzu. Sie hört gerne von Isabella Randall, und bittet mich oft, ihr von dieser zu erzählen. Ich mußte ihr den ersten Theil meines Tagebuchs vorlesen, und der Bericht über jenen Besuch der St. Lucaskirche in der Neujahrsnacht machte ihr Freude.

 

Den 25. Januar.

Die Zeit verstreicht und Lanz Trevor kommt nicht. Die Tanten bringen den größten Theil des Tages hier zu, und ich verlasse Susanna nur selten. Frau Waring ist bei Therese; sie hat Gottfried erklärt, ich strenge mich über meine Kräfte an, und sie erregt wie gewöhnlich, widerstrebende Gefühle in mir; es ist eine wahre Geduldsprobe, wie sie sich immer in Dinge mischt, die sie nichts angehen.

Susanna spricht viel von unserer Mutter, und sagt mir, sie habe schon in alten Zeiten deren Gegenwart gefühlt, ohne es sogar mir sagen zu mögen. Und jetzt sei sie gewiß, daß sie ihrer am jenseitigen Ufer warte.

Es ist seltsam, wie wenig sie Lanzelots erwähnt. Ich mag nicht fragen, aber sie drückt die Hoffnung aus, daß ich stets für ihn wie für einen Bruder beten würde. Ich fühlte mich nie sonderlich zu ihm hingezogen, und glaube, daß aus irgend einem Grunde eine große Kluft zwischen ihm und meiner geliebten Schwester liegt.

 

Den 28. Januar.

Eine tiefe Ohnmacht Susannas erschreckte uns heute sehr. Dr. Randall sagt, das Ende sei nicht fern.

 

Den 18. Februar.

Heute um drei Uhr ist meine geliebte Schwester im Herrn entschlafen. Die Münsterglocken läuteten gerade zum Gebet. Sie hörte das und sprach leise: »Die Glocken! Ich komme!« Ich war bei ihr mit Tante Bella. Wir glaubten, sie phantasire, und antworteten: »Ja, Geliebte, es ist Kirchzeit.« Aber bald sah ich den Blick ihrer Augen, jenen seltsamen überirdischen Blick, welchen Tante Bella sogleich verstand. Wir konnten Niemanden mehr rufen, denn nachdem sie wieder mit klarer Stimme gesprochen: »Er ruft mich, ich komme!« starb sie, ein Lächeln auf den Lippen!

So lang erwartet, so schwer zu tragen! O Susanna, mein Liebling! Ich kann nur Gott danken, daß ich sie bis zuletzt bei mir gehabt, daß kein Schatten unsre Liebe verdunkelt, und daß der Strom des Lebens unsre Herzen nicht getrennt, obgleich wir uns drei Jahre nicht gesehen, und daß wir zuletzt Eine Hoffnung, Einen Glauben getheilt, und uns in demselben Herrn ewig zusammengefunden.

 

Den 19. Februar.

Gestern Abend, als ich meine Kinder in ihren Bettchen zur Gutenacht küßte, hörte ich das Geräusch von Wagenrädern und wußte gleich, was es bedeutete: mein Herz sagte mir, es sei Lanzelot Trevor. Ich ging auf den Vorplatz hinab, und sah Gottfried an der Thüre stehen. Kein Wort wurde gesprochen, aber aus dem Dunkel der Straße trat eine hohe Gestalt in das Licht der inneren Halle. Draußen hielten die dampfenden Postpferde und ihre ermüdeten Reiter. Sie waren in voller Hast von Bristol gekommen, da sie gehört, es handle sich um Leben und Tod.

Lanz Trevor warf seinen großen Reisemantel ab, und stand mit verschränkten Armen da. Unser Schweigen sagte ihm wohl alles. Er drückte die Hände zusammen und fragte leise: »Komm ich zu spät?« Noch immer keine Antwort, und dann wurde die Stille durch den Schrei eines Kindes unterbrochen; der kleine Lanz schrie im Schlaf, wie er öfters thut. Ich legte meine Hand auf den Arm seines Vaters und sagte: »Komm, und sieh deinen Knaben!«

Er ließ mich ihn hinaufführen und blieb dann stehen. »Wann?« fragte er.

»Heute um drei Uhr.«

»Wo ist sie?«

Wir waren dicht bei der Thüre des stillen schweigenden Gemachs, und ich zeigte darauf; sprechen konnte ich nicht, hörte ihn aber sagen: »Ich muß allein hineingehen,« und fühlte, daß er mich zurückschob. Weiter erinnere ich mich nichts, denn ich fiel schwer zu Boden, und Gottfried trug die Bewußtlose in ihr Zimmer.

 

Den 18. März.

Heute vor einem Monat ist meine geliebte Schwester gestorben und ich bin zum gewohnten Lauf des täglichen Lebens zurückgekehrt, der eine Zeitlang unterbrochen worden. Die Tanten sind nach Hause gereist, Lanzelot ist fort, und mir blieb nur eine süße Erinnerung. Ja, da ist ihr Kind, welches immer das meinige sein soll, dieses dunkle, ruhelose, lebhafte kleine Wesen, das gleichsam ein neues Element in mein Kinderzimmer gebracht hat.

Ehe Lanzelot abreiste, sagte er mir, daß er mit Gottfried alles für das Verbleiben seines Knaben bei uns beredet habe, aber erst nach seinem Scheiden erfuhr ich, wie großherzig er dabei verfahren. Unsre kleine Einnahme ist dadurch sehr vergrößert worden. Sara, Lanzy's Wärterin soll bleiben und beide schlafen wie bisher im Ankleidezimmer, theilen jedoch am Tage unser Kinderzimmer.

Selbst während Lanzelots kurzer Anwesenheit bis zu Susannas Beerdigung, meine ich einen Blick in den Kummer geworfen zu haben, der meiner Schwester, wie ich weiß, das innerste Herz beschwerte. Seitdem hat ein Brief von ihm diesen Eindruck verstärkt. Er sagt darin, wie er mir Lanzys Erziehung ganz überlasse, und obwohl ihm selbst das, was man »religiösen Glauben« nenne, abgehe, sei er's doch wohl zufrieden, wenn ich dabei nach dem Wunsch der Mutter mich richte, und würde sich nicht einmischen. Er persönlich zöge ein ehrliches offenes Bekenntniß des Zweifels an einer Religion vor, die nur in Worten bestände, und oft die Stelle der Liebe und Nachsicht gegen Andre vertreten müsse.

Wie [betrübend] ist es doch, einen Trauernden ohne Hoffnung zu wissen, und jetzt verstehe ich auch, was Susanna mir nie gesagt, daß schon von ihrer ersten Abreise nach Indien her diese trennende Mauer sich zwischen ihr und Lanzelot aufgerichtet. Ich begreife nun, weßhalb sie mich so ernstlich anflehte, für ihn zu beten.

 

Den 20. April.

Der Frühling ist da in seiner ganzen Lieblichkeit. Ich denke daran, wie oft sie mir in den dunkeln Tagen des letzten Herbstes gesagt: »Wie schön wird es doch sein, wieder einen englischen Frühling zu erleben!« Nun schaut sie die Herrlichkeit des ewigen Frühlings dort oben!

 

Den 1. Mai.

Ich träume viel von Susanna, – nicht wie sie war, als sie zuerst nach Hause kam, wo jeder ihre Schönheit, und Therese ihre Kleider und Juwelen pries, noch auch, wie sie so still und traurig auf dem Sopha lag, und ihre schönen Augen so träumerisch in die Ferne blickten, noch wie die Hand des Todes sie berührt und sie in friedlicher Schöne hingestreckt den letzten Schlaf schlief, aus dem kein Erwachen ist; sondern sie kommt des Nachts zu mir wie damals, wo wir als junge Mädchen mit einander im Gärtchen der Wellington-Villa wanderten, kindische Hoffnungen und Befürchtungen austauschten, und die Welt da draußen mit dem Traumland unserer Einbildungen verwechselten.

 

Den 18. Mai.

Wie hart muß es sein, jeder Hoffnung auf ein jenseitiges Wiedersehen zu ermangeln! Ich bekam heute einen Brief von Lanzelot, in dem ich vergebens nach einem Wort suchte, das ein christliches Vertrauen in die Zukunft verrathen hätte! Er schreibt: »Es war ein grausames Geschick, welches sie mir in ihrer Jugend und Schönheit geraubt und mich im finstern Schatten des Grabes zurückgelassen!« Aber ich weiß, daß die vollkommene Liebe keine Grausamkeit kennt, und daß Susanna auf demselben heiligen Lager schläft, wo Jesus vor ihr geruht, hinweggenommen aus einer Welt, die ihr vielleicht viele Leiden und Kämpfe gebracht, um dort, wo kein Schmerz mehr wohnt, ewig zu leben. Ich kann nicht um sie trauern, wie Lanz es thut. Oft meine ich im Traum ihre Stimme aus der obern Heimat zu vernehmen, wie sie mir aus der indischen Heimat herübergetönt, und ich bin ihres Glückes so sicher.

 

Den 24. Mai.

Es war hart, gestern aus meinen Betrachtungen über Susanna durch einen Besuch meiner Schwiegermutter Frau Waring abgerufen zu werden. Sie verlangte so dringlich, genau zu wissen, wie viel Kostgeld Lanzelot uns für seinen Knaben bewilligt, hoffte, daß es genug sein und das Kind uns nicht zur Last fallen möge. Sie fragte, ob meine Trauer für die Schwester nicht eine zu tiefe sei, und berichtete, Therese sei natürlich in ihrem hellgrauen Kleide zu Salisbury's gegangen, da ja keine eigentliche Verwandtschaft vorläge, und mehr dergleichen ärgerliche Nichtigkeiten. Weshalb erwähne ich ihrer? – sind sie dessen doch nicht werth! Ob wohl andere Leute durch solche Reden auch so gereizt und verstimmt werden wie ich?

In diesem Augenblick sehe ich etwas das allen Aerger und alle Unzufriedenheit austreibt, nämlich meine kleine Isabella zur Seite ihres Vaters über den Münsterplatz gehen. Die beiden sind jetzt schon so vertraute Freunde und Kameraden, und Isabella ist ihrem Vater so völlig ergeben! Nichts auf der Welt däucht mich so entzückend, als diese im Herzen eines Vaters erwachende Liebe für sein erstgeborenes Kind zu beobachten; denn sie kommt nicht, wie bei der Mutter, während der ersten Zeit des noch ganz hilflosen Alters, auch ist er nicht blind gegen alle Mängel wie sie, wenigstens Gottfried ist das nicht. Er sagte mir gestern: »Isabella ist keine Schönheit, mein Herz, trotz der Kornblumenaugen, von denen du so viel redest; aber sie ist ein liebes kleines Persönchen, obgleich mit starkem Eigenwillen begabt.«

Lanzy bessert sich zusehends; die furchtbaren Zornesausbrüche kommen seltener, und fast nur Stephan gegenüber zum Vorschein. Isabella gibt er sein Spielzeug sogleich, während er mit Hughie oder Stephan darum kämpft, bis er purpurroth vor Leidenschaft wird. Mich liebt er, und bleibt oft ganz ruhig auf meinem Schoß oder zu meinen Füßen sitzen, während die andern Kinder spazieren gehen; und Sara hält ihn gern zu Hause, entweder weil er erkältet, oder weil die Luft zu feucht ist.

 

Den 1. August 1824.

Greta, mein drittes Kind, wurde am 28. Mai geboren. Sie ist ein süßes, holdes Mägdlein, stark und gesund, und ähnelt mehr Hugo als Isabella. Ich bin recht unwohl gewesen und muß noch immer ruhig liegen. Dr. Randall hat mir verboten, mich anzustrengen, was ich gerne thäte; doch ist diese ruhige Zeit heilsam für mich. Gottfried verschafft mir hübsche Bücher, und ich lese wiederholt meine Lieblingsgedichte von Scott. Ich meine, die frischen Hochlandslüfte zu fühlen, die stillen Seen, in welchen die starren Felsen sich spiegeln, zu sehen. Dann scheint das Echo der alten Ritterzeit und die Musik der Minstrels in den Gränzlanden mich der Gegenwart zu entrücken.

 

Den 1. September.

Wieder der mir nun doppelt theure Jahrestag! Ich muß oft denken, ob Susanna wohl dieses kleine Stückchen Zeit so ansieht wie ich, – diesen Tag der Geburt und Vereinigung, der Trennung und der neuen Bande. Ich fühle mich jetzt kräftiger, und kann jeden Morgen Isabella und Stephan unterrichten; denn Therese schickt mir den Jungen sehr gerne dazu. Isabella ist merkwürdig weit für ihr Alter und setzt die Karte von England, welche Tante Fanny ihr geschenkt, ganz richtig zusammen.

Ich erzähle den Kindern biblische Geschichten, lehre sie Lieder und bin glücklicher dabei, als Worte auszudrücken vermögen.

Sobald Stephan kam, verlangte Lanz, mit unterrichtet zu werden; aber er ist noch ein kleiner Sausewind, sehr verschieden von dem ruhigen sinnigen Stephie. Die lieben kleinen mutterlosen Jungen! Ich möchte ihnen gern in allem gerecht werden, aber die Verantwortung ist groß.

Mein Kleinstes gedeiht, desgleichen Hughie, ein süßes dreifaches Band, das mich an die Erde fesselt; nein, lieber will ich sagen an Gott, mit einer Fülle der Liebe und Dankbarkeit, die ich durch mein Leben, – und nicht blos mit den Lippen – kundzuthun hoffen möchte.

 

Den 18. September.

Ein paar sehr kluge Frauenzimmer, die Fräulein Pershore, sind bei Therese zum Besuch. Die älteste hat mehrere Bücher über Erziehung geschrieben, und die jüngere eine deutsche Erzählung übersetzt. Wir waren gestern Abend sämmtlich bei Randalls und ich hörte da Unterhaltungen, die sehr von der gewöhnlichen Gesprächsweise Minsters abwichen. Therese befand sich in ihrem Element, und viele der Gäste sahen mit Verwunderung, wie lebhaft und angenehm sie sein kann, wenn sie will. Jene Schwestern Pershore gehören einem litterarischen Kreise Londons an und Therese war im vorigen Frühling bei ihnen. Sie haben Walter Scott, Lord Byron und andere gesehen und gesprochen, die für uns Landleute bloße Namen sind. Ein hübsches, niedliches Mädchen, das neben mir saß, äußerte mir im Vertrauen, sie fürchte sich entsetzlich vor der Frau Randall, und finde die beiden Fräulein Pershore sehr beängstigend. Als sie mit ihrem komischen kleinen Vater, einem früheren Marinekapitän, fortging, sagte sie in einfacher Weise zu Therese: »Vielen Dank für den angenehmen Abend!«

Fräulein Pershore drückte ihr Glas ins Auge und blickte sie an. Therese lächelte obenhin, und sagte als sie kaum außer Hörweite war: »Das arme kleine Ding ist ein Milch- und Wasser-Typus von jungem Mädchen, hält gewiß ein Tagebuch und besitzt eine beste Freundin, der sie über ihre Gefühle und Stimmungen schreibt.«

Dann sprach das zweite Fräulein in ihrer kurzen scharfen Weise: »Es ist wirklich sehr schade, daß junge Mädchen in Landstädtchen so wenig Gelegenheit finden, ihre Gaben zu entwickeln.«

»Bei der großen Mehrheit derselben wird es, fürcht' ich, keine Gaben zu entwickeln geben, liebe Sophie.«

»Nein,« bestätigte Fräulein Sophie seufzend. »Das weibliche Geschlecht ist traurig heruntergekommen, wenn wir vergangener Tage gedenken, wo Griechisch und Latein einen wesentlichen Theil der Erziehung junger Königinnen ausmachten.«

»Hm,« bemerkte Dr. Randall, »die arme kleine Milly Leslie erhebt aber keine Ansprüche auf königlichen Rang, selbst wenn er, wie bei der unglücklichen Jane Grey, nur zehn Tage alt werden sollte.«

Therese blickte ihren Mann vorwurfsvoll an und er schwieg.

Als wir unter dem Sternenhimmel nach Hause gingen, sagte Gottfried: »Du hältst ein Tagebuch, Letty, nicht wahr? Ich fürchte, Du gehörst also in Therese's Milch- und Wassergattung.« Dabei lachte er leise, wie ichs so sehr an ihm liebe und fuhr fort: »Einerlei, Letty; mir sind diese eingebildeten klugen Frauenzimmer, die ihre Gaben und Vorzüge zur Schau tragen, um bewundert und angestaunt zu werden, gründlich zuwider. Bilde dir nicht ein, ich hörte dich gerne griechisch radebrechen, wie Fräulein Sophie Pershore, deren Leistungen gewiß hinter denen der untersten Schüler zurückbleiben.«

»Aber du weißt,« erwiderte ich, »daß ich die lateinische Grammatik studire, um die Knaben unterrichten zu können, und du meintest, ich hätte das kleine Stückchen Cäsar gestern Abend recht gut vorgetragen. Vielleicht wird vor dem fünfzigsten Jahr ein vollkommenes Fräulein Sophie Pershore aus mir.«

Gottfried schauderte und sagte, dann möchte er nicht mehr mit mir unter einem Dache leben.

 

Den 24. Dezember.

Weihnachtsabend und Hughie's zweiter Geburtstag. Wir versammelten alle Kinder zum Thee um einen großen Kuchen, der Hugos Namen trug, und einer schottischen Pastete voller Geschenke, Anna's Erfindung, spielten allerlei Spiele und beglückten das kleine Volk gründlich. Mein Isabellchen glich einer Königin zwischen den Knaben, und ich bemerkte, wie sie einigemale Lanzy bevorzugte, damit keine zornigen Ausbrüche die Freude des Abends stören möchten.

Therese kam, und Milly Leslie, die ich seit jenem Abend bei Randalls viel gesehen. Sie ist ein so gutes, selbstloses kleines Ding, und hat zu Hause viel von ihrem griesgrämigen Vater zu leiden.

Das Herz that mir bei allem mütterlichen Stolz weh, als Stephan mit seinen kleinen Geschenken zu Therese laufend rief: »Sieh, sieh Mama!« und diese kalt antwortete: »Ja, ich sehe aber auch den Flecken, welchen du auf deinem Kleide gemacht hast. Ein so großer Junge sollte doch reinlich essen können!«

Stephan wandte sich ab, die Freude erlosch in seinem Blick, und langsam kam er auf mich zu, welche Lanzy und Hughie in wilden Sprüngen umtanzten, während Greta in meinen Armen krähte, eine Rassel in dem kleinen dicken Händchen.

Isabella lief zu Stephan und sagte: »Komm und sieh, wie meine Puppe in ihrem eigenen Bettchen liegt!« Aber Stephan zog sich zurück und kroch hinter meinen Rücken.

»Der Junge ist eine rechte Schlafmütze!« bemerkte Therese. »Hätte er doch nur halb so viel Leben wie deine Kinder, Letty!«

Ach, das Gemüth eines Kindes ist viel verwundbarer als wir gewöhnlich meinen, und der Stich, den wir kaum beachten, kann sehr tief eindringen. Stephan ist kein anziehender Knabe, mit seinem langsamen altbackenen Wesen und Gebahren; aber ich werde nie vergessen, daß seine Mutter ihn mir anbefohlen, und ich glaube, das arme Kind liebt mich, und hängt mir an, wie Niemanden sonst.


Der letzte Abend des alten Jahres, und die letzte Seite meines lieben alten Buchs. Meine Seele ist voll der Erinnerungen vergangener Zeit und der beiden Namen, die so oft auf seinen Blättern verzeichnet stehen, und deren Trägerinnen dahin gegangen, wo man nicht mehr nach Tagen, Monaten und Jahren rechnet. Isabella Randalls Bild steigt heute Abend vor mir auf, und ich gehe gleich mit Gottfried in Pastor Wentworths Kirche, wo der Gottesdienst jetzt um elf Uhr beginnt, und von vielen hiesigen Einwohnern besucht wird. Wir sind uns der Wendepunkte des Lebens nicht bewußt, wenn wir vor ihnen stehen, erkennen sie aber beim Rückblick. Ich glaube, jener Neujahrsabend von 1820 ist für mich ein Wendepunkt gewesen, und ich danke Gott, der damals die Liebe zu ihm in mir geweckt, und nun in Leid wie in Freude mein tieferes Glück und meinen einzigen Trost ausmacht.

Ich träume beständig von meiner geliebten Schwester, – so lebhaft, daß ich sie immer in unwandelbarer Frische und Schönheit vor mir sehe. Es ist, als käme sie wirklich und wahrhaftig zu mir. Mit ihrem theuren Namen schließe ich dieses Buch, wie ich es an jenem vergangenen strahlenden Herbsttag begann, wo ich mir vorstellte, wie begierig sie die Geschichte meines täglichen Lebens in ihrer indischen Heimat lesen würde. Lange, ehe das Buch vollgeschrieben, kam der ernste Bote, und rief sie in die andere, bessere Heimat ab. Theure Susanna! Aber

Sie kommt zu mir in der Nacht.
Mit dem Ausdruck, den einst sie getragen,
In der Locken schimmernder Pracht,
Mit dem Lächeln aus früheren Tagen,
Ganz wie ich sie damals gekannt und geseh'n,
So sanft und zärtlich, so jung und schön.
Wir durchwandern die friedlichen Räume
Zusammen, von Garten und Haus;
Die Zeit entfliegt uns wie Träume,
Drum kaufen wir eifrig sie aus.
So geh'n wir eng umarmt und umschlungen
Wie zwei Blumen, Einer Pflanze entsprungen.
Sie fragt mich nach allen hienieden,
Welche einst ihre Seele geliebt,
Wüßte gern sie dort oben in Frieden,
Wo nichts mehr die Freude trübt.
Gott wird Die ja rufen spät oder früh
Und während dessen rastet sie.
Doch wenn nun die Zeit gekommen,
Wo wieder die Trennung naht,
Und wenn sie Abschied genommen,
Mich geküßt und verlassen hat,
Dann bleibt mir vom letzten Druck und Blick
Noch lange die Wärme im Herzen zurück.
Aus dem dunkeln schweigenden Flusse,
Den Jeder so einsam durchmißt,
Oft der Ton ihrer Stimme im Gruße
Noch zu mir gedrungen ist,
Und die Schatten, durch welche ihr Weg sie geführt,
Hat ein Strahl des Lichts aus der Höhe berührt!

Die Jahre im Fluge vergehen,
Und winkt mir die göttliche Hand,
Dann wird sie, mein wartend, stehen
An des trennenden Stromes Rand,
Mich aufwärts ziehend mit Blick und Worten
Wohl bis an die Schwelle der goldenen Pforten!

Dez 1824
L. W.


 << zurück weiter >>