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Erster Teil

I.

Der Faktor Gibal, der bei den Arbeitern »der Bulle« hieß, kam durch den Setzersaal. »Herr Florent,« brachte er leise vor, »eben hat der Chef telephoniert. Um halb zwölf erwartet er Sie.« Dann ging er nicht gleich weg, als habe er noch etwas auf dem Herzen. Er war ein vierschrötiger, alter Mann mit blutrotem Gesicht, der bejahrteste unter sämtlichen Angestellten der Fabrecé-Werke. Ihre ganze Entwicklung hatte er miterlebt, ihren Beginn als kleine Druckerei – damals, als Herr Pierre den schwarzen Kittel des Typographen trug – ihr Gedeihen und ihr Wachstum bis zur Industriestadt, die sie heute waren, mit ihrer Schriftgießerei, ihren zahllosen Maschinen, Rotationspressen und Linotypes, ihren Dunkelkammern und den neuen Werkstätten für den kinematographischen Betrieb. Ein riesiges Unternehmen stellten sie nun dar, das die graphischen Techniken umschuf und Berge von Papier, von geschwärztem, buntem, redendem, lebendigem Papier auf den Markt stürzte, Kilometer hautdünner photographischer Streifen, denen zuckend das moderne Leben entstieg. Vier Jahrzehnte, während deren der alte Gibal mit den dicken Augen eines Zugstiers die Familie des Begründers, Pierre Fabrecé, des ruhmvollen Gelehrten, des Institutmitglieds und Senators, sich hatte vergrößern und verzweigen sehen. Neun schöne Kinder waren gekommen, die durch den Tod des Fräuleins Thérèse auf acht verringert wurden; und Gibal erinnerte sich an aller Geburt, von Jean-Marc, dem gegenwärtigen Chef, bis zu Florent, dessen unruhige zwanzig Jahre und erstaunliche Begabung für das Fach er liebte.

Väterlich raunte er ihm zu: »Und bocken Sie nicht, Jungchen! Mir scheint, Ihr Bruder ist heut mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden.« Florent hatte sich in die Lippen gebissen. So war es schon: wie einen Bediensteten, dem man einen Verweis gibt, würde Jean-Marc, wenn er mit dem Posteinlauf fertig wäre, ihn empfangen, statt ihm nach dem Frühstück einen vertraulichen Rippenstoß zu erteilen. Mit dem Groll des jüngeren Bruders, den der ältere niederhält, hob Florent sein erregtes, fahles Antlitz, das unter einer mächtigen Träumerstirn feine Lippen zeigte, ein kurzes Kinn und Augen wie glühende Kohle, Augen, die manchmal, wie gerade jetzt, böse flackerten. Der Rasse nach schien er, trotz seines kleinen Wuchses und eines geringfügigen Hinkens, das ihn sehr quälte, unter der Arbeitsbluse ein verkappter junger Aristokrat.

»Schon gut, ich gehe hin,« ließ er verdrossen fallen. Um so mehr widersetzte er sich der zu erwartenden Predigt, als er mit sich selbst unzufrieden war. Verdammtes Pech, entschieden! Daß er das Auto in Trümmer gefahren hatte, mochte noch hingehn. Man kannte ja sein Geschick im Steuern, und wenn er unglücklich gedreht hatte, so war der blöde Straßenbettler daran schuld, dem er hatte ausweichen wollen. Bumm! war er gegen die Mauer gerannt, und das Vorderteil des Wagens lag zerschellt; ein Wunder, daß er sich nicht den Hals gebrochen hatte. Aber was da sonst noch passiert war! Vorgestern abend die besoffene Skandalgeschichte in Fontainebleau, im Hotel »Zum großen König«, der Bummel mit den Dragonerunteroffizieren, der mit einer Hauerei in einem Tingeltangel geendigt hatte. Und er war ein gebildeter Mensch, stolz auf sein Wissen, für philosophische Lektüre ebenso begeistert wie für schöne Verse, mit künstlerischen Neigungen, in Malerei und Musik heillos verliebt. Nein, diesmal lohnte es sich nicht, großspurig aufzubegehren. Am lästigsten war ihm die stete Erinnerung an ein geschwollenes, rosig überschminktes Weibergesicht mit falschem Haar und unter dem Auge einem Fleck von einem Faustschlag, den er im blinden Kampf geführt hatte. Er, ein reicher Bürgersohn, ein Mitglied der ersten Gesellschaft, ein Fabrecé, tierisch und sinnlos! Woher hatte er diese gewalttätigen Instinkte, die ihn wie ein stürmisches Leiden übermannten? Und weshalb unterschied er sich so sehr von den Seinen?

Nachsichtig hatte der »Bulle« sich entfernt. Der »Kleine« hatte wohl ein Recht auf seine Flegeljahre. Aber Herr Jean-Marc, verwünscht! ließ nicht mit sich spaßen. Und ältester Bruder und Chef war er ja nun einmal. Durch die Reihen ging ein verstohlenes Grinsen; ein wollhaariger, schwarzer Kerl rieb sich mit der Hand den Rücken. Das war eine bildliche Voraussage der Familienszene. Doch Florent maß den Witzbold aus solcher Nähe, daß er sich feig zusammenzog. Mehrere Kameraden zuckten die Schultern. Die Ansichten über Florent waren geteilt. Ein guter, hochgesinnter Bursche, behaupteten die einen; und man achtete ihn, seit er mit einem Ausfall nach der Methode des Jiu-jitsu den großen Jules stracks zu Boden geworfen hatte. Launisch war er, widersprachen die andern, unausstehlich, wenn es ihn juckte, und zuletzt doch von der Sippe des Chefs. Und wer ihn recht beobachtete, wie er in allen Ateliers nacheinander in hitziger Ungeduld herumschoß und dann wieder träg zusammenklappte, wo er es doch zu Hause so bequem haben konnte, der mußte fürwahr merken, daß er einen kleinen Stich hatte.

Mißmutig ließ er die Arbeit stehen. Im Hof gab der »Bulle« ihm von weitem einen freundschaftlich drohenden Wink. Der kleine, nur für die Werkbeamten bestimmte Wagen, der die Fabrik mit dem Wohnterrain verband, lief rasch seine Bahn. Florent sprang so leichtsinnig auf die Stufe, daß er von dem aus entgegengesetzter Richtung kommenden Wagen beinahe zerquetscht worden wäre. »Ein famoses Mittel, junger Herr, sich den Schädel einzurennen,« sagte der Ingenieur Virquot, der, einen Stoß Akten auf den Knien, im Stuhl saß. »Ich kenne mich schon aus,« erwiderte der andere geringschätzig. Er verachtete den plumpen, duckmäuserischen Virquot, der früher einmal die Hand seiner zweiten Schwester Isabelle, der jetzigen Frau Cyrille Jacquemer, begehrt hatte. Und da er in der Nähe ihm unsympathischer Menschen es nicht aushalten konnte, stieg er ab, bevor der Wagen noch stillstand. So sehr schnellten dabei seine Ferse und sein Körper zurück, daß Virquot sich emporrichtete und schon glaubte, er falle sich zu Tode. Doch zur rechten Zeit hatte Florent sein Gleichgewicht wieder, und er verschwand durch das kleine Gartentor.

Hier war das Bild ganz anders als draußen. Auf die hohen Fabrikschornsteine, die gleichgelagerten Dächer, die niederen Mauern, die baumlosen Rasenflächen, auf die eintönigen Arbeiterhäuser im Hintergrund, auf die kahle, geometrisch abgezirkelte, nackte Stadt aus Eisen, Glas, Ziegeln und Zement folgte die wohlige Frische des Frühlingswaldes. Sechs Hektar gehörten zu Val-Montoir, einem ehemaligen Jagdpavillon der Könige; und in sanften Hängen und talartigen Einbuchtungen reichte das Gelände bis zur Seine hin. In halber Höhe lag das Haus. Ein ältliches Hauptgebäude, die Wohnung der Eltern, mit zwei neuen Flügeln, die den Kindern eingeräumt waren, mit einem französischen Garten und einer von Balustraden umfaßten Terrasse, von der man eine Fläche mit Teichen, Feld und Wald übersah. Um den Weg abzukürzen, war zwischen zwei grasbewachsenen Gräben ein Aufzug angebracht, der schräg hin- und herging.

Florent zog den steilen Fußpfad vor. Als er bei der großen, der Sage nach von Sully gepflanzten Esche war, schlug ihm jemand mit der Hand auf die Schulter. »Schau her!« Sein Bruder Antoine, ein starker Bursche in Hemdsärmeln, zeigte ihm seinen kurzen, zu einem Bündel zusammengedrückten Rock, aus dem ein buschiger, rotgelber Schwanz und ein Köpfchen mit lebendigen Augen hervorlugten. »Ein Eichhörnchen, das uns auf den Kopf gefallen ist und Miche so erschreckt hat, daß sie durchgegangen ist.« »Was willst du damit anfangen?« »Das wirst du gleich sehn. So, kleines Ding, lauf zurück in den Sonnenschein!« Behutsam legte er seinen Rock auf den Boden; und das Eichhörnchen, das einen Moment verdutzt war, blickte zierlich rechts und links, dann, in drei Sprüngen, fft! Mit offenem Mund sah Antoine es verschwinden. Leise lachte er. Er hatte derbe Züge und verschwommene Augen von mattem Blau. Seine Füße und seine Hände waren breit, sein Gang war bäurisch. Er roch nach frischer Erde und glich erstaunlich dem Großvater Marie-Joseph Fabrecé, einem schweren Reiter Karls des Zehnten, der wieder zum einfachen Bauer geworden und in seinem Kornblumenhäuschen, zwischen seinen Feldern und mitten unter seinen Tieren, gestorben war. Bald nach ihm starb auch Großmutter Anne; und man verehrte in diesen beiden schlichten, wackeren Menschen den reinen Ursprung der Familie.

»Dann war also Michette hier?« fragte Florent. »Ja, sie hatte der Oberverwalterin Blumen gebracht.« So pflegten sie nämlich ihres Amtes wegen Sophie, ihre älteste Schwester, zu nennen. Florent lächelte. Mit dem Herzen war er für die Liebe Antoines zu seiner Milchschwester, der hübschen Jenny-Rose oder, mit ihrem Kindernamen, Miche oder Michette. So hieß sie, weil sie so hell und duftend wie weißes Brot war. Ihre Mutter, die Amme Noëmie, hatte beide zugleich gesäugt. Sie wohnte in Val-Changis, in einer Altersehe mit einem biederen, halb tauben Baumschul- und Gemüsegärtner. »Und liebt Michette dich noch immer?« Antoine erwiderte nicht sofort. Er war langsam und von gröberem Stoff als seine Brüder. Während seiner Militärzeit war er, so schien es, nur in der körperlichen Entwicklung vorangekommen; mit dreißig Jahren mußte er ein Bärenkerl sein. Aber Florent liebte ihn um seiner Einfalt und Güte willen. »Ja,« sagte Antoine, »wir lieben uns sehr.« Florent betrachtete ihn mit leuchtendem, zärtlichem Blick: »Sag mal, du machst doch keine Dummheiten?« »Was für Dummheiten?« »Du wirst doch nicht ... Es wäre schade! Das Kind ist sehr nett!« Antoine wurde hochrot im Gesicht. Dann entgegnete er, über einen solchen Argwohn empört: »Ich achte Miche, und wenn ich es nicht täte, würde sie sich schon Achtung erzwingen. Was suchst du denn hier?« »Sei nur nicht böse, ich weiß schon. Du bist eine gute Seele. Ich freue mich über dich!« »Wo gehst du hin?« fragte Antoine. »Der Gouverneur hat mich rufen lassen.« Diesen Namen hatten die Brüder Jean-Mare gegeben, spotteshalber, doch mit einer gewissen Ehrfurcht. War er nicht nach dem Pater und der Mutter der erste aller Fabrecé, ihr Lenker und Rückhalt? Er verkörperte das Ansehen und die soziale Bedeutung der großen Familie, deren Adelsbrief kaum fünfundzwanzig Jahre alt war, und die wie eine uradlige Sippe auf ihre Macht und ihre Einigkeit pochte. »Mich erwartet er auch,« sagte Antoine. »Was will er denn von mir?« Florent lächelte weiter, und dieses Lächeln verlieh ihm eine überraschende, erwärmende Anmut. »Da fragst du erst? Er wird dich zausen, weil du mit Miche zusammensteckst.« »Ach,« seufzte Antoine, »die Oberverwalterin treibt sich immer dort herum, wo man sie nicht braucht. Sicher hat sie geklatscht.« Und Schlechtes ahnend, fügte er hinzu: »Dabei hütet Jean-Marc das Zimmer, mit der Gicht in der Zehe. Das wird eine Pauke werden.« »Bah!« versetzte Florent. Beruhigt pfeifend, ging er ins Haus. Die Nähe Antoines wirkte stets wohltätig auf ihn ein.

In seiner Stube herrschte eine phantastische Unordnung, an die er nicht rühren ließ. Verstreute Entwürfe und Manuskripte bedeckten ein von einem Bock getragenes Tischbrett; dazwischen, abgegriffen und mit Anmerkungen bekritzelt, die Werke Nietzsches und Spinozas Ethik. In einem Wasserbassin auf einem Gestell hing eine Leiter; die grünen Frösche, die daran klebten, dienten als Barometer. Hier und da sah man, was Florent selbst gearbeitet hatte: eine vererzte Eidechse, die schon nach der Apotheke roch; aufgeschlagen auf dem Piano die in unentzifferbaren Hieroglyphen niedergeschriebene Partitur seines »Regens im Frühling«; an der Wand ungerahmte kleine Malereien in seltsamen Farben. Das auffälligste war ein Bild der »Gräfin«, der Frau Polotzeff, seiner dritten Schwester, ein Versuch in so kühnem Impressionismus, daß die mit violetten Augen, bläulichen Lippen und gelben Wangen beschenkte Simone geängstigt diese Geburt des Grauens abgelehnt hatte.

Jemand klopfte sacht an. »Darf ich zu dir hinein?« Es war Isabelle mit ihrem stillen, klösterlich bleichen Antlitz und ihrem ruhigen Ausdruck inneren Lebens. Eng lag ihr kastanienbraunes Haar an, und das Band von schwarzem Sammet, das es umflocht, war ihre einzige Zierde. Ihre schwarzen Kleider hatten keinen Schmuck als einen weißen Kragen und weiße Armstulpen. Diese Tracht einer weltlichen Nonne bewahrte sie seit dem großen Unglück: ihr Gatte, den sie innig liebte, war durch einen Bluterguß in die Netzhaut in wenigen Stunden erblindet. Noch tags zuvor war Cyrille Jacquemer Professor an der Sorbonne gewesen, ein Historiker von Ruf. Eine edle Natur, doch so unsagbar verletzlich, daß Isabelle anfangs gefürchtet hatte, er werde Selbstmord begehen. Als Vorleserin, Sekretärin, Maschineschreiberin hatte sie sich seinen Arbeiten gewidmet, damit er das geistige Leben fortsetzen könne, das er nicht zu entbehren vermochte. Sie hatte das ernste Lächeln derer, die entsagt haben, und strahlte von sittlicher Schönheit. Ihre Vollkommenheit machte Florent mutlos, der sie verehrte und sich ihrer unwert fühlte.

Er erriet, daß sie alles wußte. »O, Isabelle, wie wirst du mich verachten!« Sie blickte auf ihn mit zärtlicher Neigung, angezogen von diesem dem ihren so gegensätzlichen Charakter, der ganz aus jähen Kontrasten zu erklären und seltsam reizvoll war. »Armer Florent, warst du denn bei Vernunft?« Der Ton dieser Stimme durchdrang ihm, köstlich und schmerzhaft, das Innerste. Er hätte schluchzen oder außer sich den Kleidsaum seiner Schwester küssen mögen. Die Schmach seiner Verirrungen zeigte sich ihm in qualvoll scharfem Licht; und da er seiner Anlage nach alles übertrieb, hatte er vor sich selbst Abscheu. »Hat Mutter etwas erfahren?« »Nein, Lieber, sie ist krank; wir werden ihr die Sache verhehlen.« »Krank?« rief er erregt. »Was hat sie denn?« Er empfand für Frau Fabrecé die gleiche, leidenschaftliche Ergebenheit, die seine Brüder und Schwestern sämtlich der bewunderungswürdigen Frau, der edlen Gefährtin des großen Fabrecé, bezeigten. »Erschrick nicht! Aber sie bedarf der Schonung. Unser Freund Le Jas hat sie eben untersucht. Sie hat gelitten, ohne zu klagen. Ihr Herz ist müde.«

Florent hatte sich abgewandt, und sie sah, wie dicke Tränen ihm von den Lidern herabrannen. »Wenn du wüßtest,« verteidigte er sich klanglos. »Es ist nicht meine Schuld allein. Wochenlang kämpfe ich mit mir, und dann ...« »Schuld ist, daß deine Existenz zwecklos und zuchtlos ist. Du träumst zu viel und zu hoch. So anspruchsvoll ist das Leben gar nicht, wenn es schön sein soll. Eine einzige Pflicht – und sie genügt!« »Du hast recht, du hast recht! Du aber bist vollkommen.« »Ach, Florent,« erwiderte sie mit sich aufheiternder Schwermut, »wie sehr bin ich von dem, was du mir nachrühmst, entfernt! Ein armes Weib, geh! Und so unverständig. So bin ich jetzt über Simones Ankunft entzückt. Und willst du glauben, daß ich unter dem Gedanken, sie mit ihren schönen Kindern zu sehen, leide – ich, die ich so sehr gewünscht hatte, Mutter zu sein?« »Liebste Isabelle, liebste!« Sie fuhr fort: »Ich bin gekommen, um dir mit dem, was ich weiß, ein wenig Sicherheit zu geben.« Und mit gedämpfter Stimme: »Ich war bei der Frau ...« »Die ich gemein mißhandelt habe! Es war ein Zufallshieb; und dennoch habe ich mich wie ein Fuhrknecht aufgeführt. Du warst bei ihr, du?« »Ja! Jean-Marc besorgte Skandal, Angriffe in den Zeitungen, gerichtliche Verfolgung. Ich war bei dem armen Weib; es wird auf meine Bitte nicht klagen.« »Warum habe ich sie nicht schon aufgesucht«, flüsterte er, »und sie um Verzeihung gebeten?« »Sie ist fort ... Geld hat sie nicht nehmen wollen.« »O!« Florent wurde rot vor Scham. »Was wird sie von mir denken?« »Nichts! Vergiß den traurigen Vorfall!« Er schlug die Augen nieder. Sein Stolz litt unter der straflosen Unbill, die er begangen hatte, und der noch allzu nachsichtigen Strenge seiner Schwester. »Isabelle, glaubst du, mir die Hand geben zu können?« Sie ging auf ihn zu und hauchte ihm auf die Stirn einen Friedenskuß. Er wandte sich übervollen Herzens ab und preßte die Stirn ans Fenster.

Als er sich umdrehte, war sie nicht mehr da.

II.

Fräulein Sophie war übelgelaunt und zankte um jede Kleinigkeit. Sie hatte die Köchin ausgescholten, den Gärtner getadelt, eine Kammerfrau zum Weinen gebracht und Gervais, dem alten Oberkoch, befohlen, ohne ihre Anweisung keinen Bordeaux aus dem zweiten Keller mehr auf den Tisch zu setzen. Eine alte Jungfer mit stattlicher, doch bei ihren sechsunddreißig Jahren schon spröder Erscheinung, trug sie in ihren harten Zügen, in ihren eckigen Bewegungen das Gefühl der Ueberlegenheit zur Schau, das der Titel »Oberverwalterin« ihr verlieh. Ohne zu lächeln, nahm sie ihn an, und sie rechtfertigte ihn durch unermüdliche Genauigkeit. Sie war des Hauses Schutzgeist, dessen Empfindlichkeit man schonen mußte, und leicht kam es zu kleinen Zusammenstößen mit ihr. Jeder konnte davon ein Lied singen. Doch wie sie war, und trotz ihrer Fehler, liebte man sie wegen ihrer guten Eigenschaften, ihrer Aufrichtigkeit und ihrer Willenskraft. Dann war sie ja auch nach Jean-Marc die älteste der Geschwister. Sie hatte an seiner Herrschaft Teil. Eng eingezwängt in eine lila Seidenbluse und einen pflaumenfarbenen, seidenen Schoßrock, eine graue Locke zwischen ihrem gewellten Haar, nestelte sie an dem goldenen Kettchen ihrer Lorgnette oder an der silbernen Tasche, die von ihrem kupfernen Gürtel herabhing. Man lächelte ein wenig über diese Zeichen später Gefallsucht. Denn man wußte, daß sie für Huldigungen noch empfänglich war, wenn sie auch, nach der grausamen Enttäuschung ihrer sechsundzwanzig Jahre, der in letzter Stunde zurückgezogenen Bewerbung eines hochbetitelten, millionenreichen Freiers, der Liebe mißtraute. Seitdem hatte sie von oben herab zwei oder drei Partien ausgeschlagen. Sie sei glücklich so, beteuerte sie, ohne ihre Umgebung davon überzeugen zu können, oder selbst dessen gewiß zu sein.

Sie war auf ihrem gewohnten Rundgang. Von der Veranda ging sie in den großen Salon und strich mit den Fingern über Spiegel und Möbel, um festzustellen, ob nicht noch ein Stäubchen darauf läge. Ein verlegenes Hüsteln ließ sie auffahren. Sie errötete, als sie Herrn Virquot erkannte, der sie mit tiefer Verbeugung begrüßte. Herr Virquot, ei! Dreimal in dieser Woche war sie ihm begegnet. Sollte sie einen Zufall oder ein ursächliches Zusammentreffen darin erblicken? War nicht auch er rot geworden? Sollte? ... Eine wahre Huldigung schmeichelt stets. Plötzlich hatte sie sich eines kleinen Pickels am Kinn erinnert und sich beeilt, ihn zu überpudern. Herr Virquot? Garstig war er ja nicht, und man lobte seine Tüchtigkeit. Nur eines Selbsttrugs bedurfte es, um weiterzugehen und ihn für einen taktvollen, hoffnungslos liebenden Verehrer zu halten. Fräulein Sophie überschritt die Grenze. Sogleich gelobte sie ihrer in Aufruhr gebrachten Scham, den dicken Mann zu meiden; doch seine Unterwürfigkeit hatte sie beleidigt. Herr Virquot seinerseits war maßlos verblüfft. Welch ein Esel war er gewesen, daß er nicht früher daran gedacht hatte. Die erste Jugend freilich ... Aber die Mitgift! Und Herr Virquot bewunderte im Spiegel sein fahles Gesicht, seinen Umlegekragen und seine Krawatte, eine in der Fabrik genähte Schleife mit einer Similiperle daran.

Als Sophie im ersten Stock war, sah sie die Wohnung der Polotzeff durch. Es fehlten mehrere Gegenstände: die Kissen in den Betten der Kinder. Ohne zu fragen, hatte man sie für Mimi und Nénette, die Kinder der armen Claudie, weggeholt. Wohl war das nichts von Belang, aber es verriet die geizige Lieblosigkeit Armandes, Jean-Marcs zweiter Frau, gegen ihre Stieftöchter, während sie für ihre eigenen schönen Zwillingskinder, Pierre-Jean und Jean-Pierre, nicht auf den Preis von Daunen und Spitzen sah. Und doch nahm Sophie des Grundsatzes wegen sich vor, die Kissen zurückzuverlangen. Auch die Möbel im Ankleideraum mußten ausgewechselt werden; aber die Polotzeffs wurden ja erst für nächste Woche erwartet. Simone wiederzusehen machte sie froh. Ohne sonst im Geschmack einig zu sein, verstanden sie sich ziemlich gut. Aber Sergius, der Mann, war ihr zuwider. Er verdarb ihr die Freude; in seine ewige Ironie, seinen beißenden Hohn konnte sie sich nicht finden. Woher kamen sie denn diesmal? Aus Florenz? Was für unstete Reisende waren das! Ein russischer Graf und naturalisierter amerikanischer Bürger (der auch diesen Widerspruch in sich trug wie sehr viele andere), zog Sergius mit seiner Frau in sehr vielen Ländern umher. Einen Winter lebte er in Rom, einen Sommer in Schottland; ein verwöhntes, müßiges, dilettantisches, je nachdem allbegabtes oder auch nichtsnutziges Kind. Arme Simone! Dabei wäre sie fast Kummers gestorben, weil man sich dieser Ehe zwei Jahre lang widersetzte. In einer Krise dunkler Neurasthenie hatte sie sich eines Tages in das Bassin des großen Springbrunnens gestürzt. Der junge Antoine war ihr mutig nachgetaucht und hatte sie gerettet. War sie nun wenigstens glücklich? Wenn Geld Glück ist, vielleicht. Aber Simone war erst fünfundzwanzig Jahre alt, sie war zärtlich, gut, empfindsam. Wie mußte sie durch einen selbstsüchtigen, unter seinem galanten, verführerischen Aeußeren krankhaft heftigen Gatten leiden! Bei ihrem letzten Aufenthalt war sie wie umgewandelt gewesen, leeren Blicks; man hatte den Eindruck, daß sie sogar gegen Iwan und Betty fühllos war, die – zumal Iwan, das leibhaftige Abbild seines Vaters – der Ueberwachung sehr bedurften.

Sophie kniff die Lippen zusammen; ihre Gedanken ließ sie sich nun einmal nicht ausreden. Sie ging über einen Flur in das Zimmer Jacques', des Konsuls in China, den man nur alle drei bis vier Jahre zu Gesicht bekam, und dessen Ankunft für die ganze Familie ein Fest war: »Der Chinese kommt, der Chinese fährt nach Europa! Am Fünfzehnten platzt der Chinese uns ins Haus!« Und dann war er im Ernst binnen acht Tagen hier und blieb mindestens ein halbes Jahr. Wie gut war das für alle, so in großer, erneuerter, zärtlicher Liebe beisammen zu sein, und just in dem bedeutsamen Augenblick, wo es galt, den Tag der vierzigjährigen Ehe von Vater und Mutter zu feiern!

Doch Sophie entsann sich, daß sie, indem sie so der Abwesenden gedachte, einen Anwesenden vergaß, ihren Bruder, den Offizier, den verwundeten Krieger. Er war ja daheim, ihr »Ritter ohne Furcht und Tadel« – das war ihr zu lang, sie nannte ihn meist bündiger: Olivier. Mit Urlaub aus Nadaï zurückgekehrt, war er bereit, nach Dakar abzureisen, sobald seine Wunde, ein Schuß in den Oberarm, die nach seiner Heilung in Val-de-Grâce sich wieder geöffnet hatte, ganz geschlossen sein würde. Olivier war nächst Jean-Marc ihr Liebling. Dem ältesten Bruder weihte sie eine abgöttische Verehrung, einen besonderen Kult, der ihren Familienstolz umfaßte, ihre Achtung vor dem Häuptling des Stammes und ihre ehrgeizigen Hoffnungen für die Zukunft der Fabrecé. Olivier genoß eine andere Verehrung; die, die man hohen, fernen Menschen erweist. Seine Ueberlegenheit erkannte sie an, ohne ihm ihre ganze verschüchterte Zuneigung kundtun zu können; denn oft wirkte er durch die Askese seines Lebens und durch die düstere Richtung seines Geistes auf sie wie ein Priester oder ein Apostel.

Er las gerade in den Denkwürdigkeiten des Blaise de Montluc. Diese rauhe, gedrängte Prosa sagte ihm zu. Mit seinen tiefbraunen Augen, die in seinem bleichen Gesicht fiebrig glänzten, blickte er auf sie. Von seinem Arm, der in einer Binde stak, hing eine feine Hand mit einem vernarbten Schnitt herab, einem Mal von einem afrikanischen Speer.

»Wie geht es dir heute?« fragte sie, die sonst klar und schrill sprach, mit leiser Stimme. Er lächelte; sein gewohnter Ernst milderte sich ein wenig. »Zusehends besser; ich hoffe, schon bald nach Paris fahren zu können.« »Wenn der Doktor es erlaubt.« »Wenn er es erlaubt, selbstverständlich.« »Du willst Freunde wiedersehen, du hast etwas vor.« »Ja.« Wahrscheinlich zog es ihn zu den Damen Sarnel. Er hatte den Verkehr mit ihnen nicht aufgegeben, seit er ihnen die letzten Grüße, den Ring und die Uhr seines Kameraden André überbracht hatte, der im Lazarett seinen Wunden erlegen war. »Fühlst du dich denn hier nicht wohl?« Ausweichend antwortete er: »Ich komme schon wieder.«

Mißtrauisch wagte sie nicht mehr, in ihn zu drängen. Jedoch ein eifersüchtiger Argwohn hellte sich in ihr auf, die jede Liebesmöglichkeit wie eine Gefahr fürchtete, wie einen Fall. Und gegen die Damen Sarnel hatte sie ein Vorurteil. Warum nur? Vielleicht wegen der absichtlichen Freundlichkeit der Mutter und der mittleren der drei Töchter; denn von den beiden anderen war die eine verkrüppelt und die zweite so krank ... Trotzdem wußte sie, daß Olivier keine Heiratspläne hatte. Er sprach niemals darüber, und nie hatte man gehört, daß er zu einem Mädchen Beziehungen habe. Sie sah darin einen Beweis von Reinheit, die allzu sehr ihrem eigenen Ideal gemäß war, als daß sie ihn hätte tadeln können. Und hätte man ihr vorgehalten, daß sie zuweilen, wie vorhin, gegen Anfechtungen nicht unbedingt gewappnet sei, so hätte sie sich erbost, doch nicht versucht, diese weibliche Schwäche abzulegen.

Eine verblaßte Photographie, eine von denen, die Jahre alt und oft in den Händen von Betrachtern gewesen sind, lehnte auf dem Kamin und erweckte ihre Neugier. Die Tropenuniform und die beiden Tressen waren dieselben wie die Oliviers. Aber das Gesicht war ihr unbekannt, ein sanftes, abgemagertes Gesicht, das ein langer Bart noch schmäler machte. Sie ging auf das Bild zu. »Du gestattest doch?« »André Sarnel.« Er betonte den Namen, als ob er seinen Kameraden vorstellte. »Er hat dir die Photographie geschenkt?« »Nein, seine Familie, nachher, zum Gedächtnis.« »Ah! Du hast ihn sehr lieb gehabt?« »Ein ungewöhnlicher Mensch! Der echte Typus des Soldaten, voll stoischen Opfermuts. Seine Verwundung war furchtbar. Er wollte nicht narkotisiert werden. Nur meine Hand hat er umfaßt, als sie in seinem Fleisch herumwühlten.« Sophie wurde bleich. »Wenn ich denke, daß so auch dein Schicksal sein könnte!« »Das ist unser Beruf. Groß ist er nur wegen seiner Gefahren.« »Du sprichst vergebens. Er ist entsetzlich.« »Das ist er.« Und versonnen fuhr Olivier fort: »Das Schönste an Sarnel war das Lächeln der Seele, die innere Freude.« »Besitzest du sie nicht mehr?« »Ich suche sie.« »Aber die Bestimmung dafür hast du?« »Dort unten, ja, dort bin ich ein wahrhafter Soldat.« »Und hier?« »Bleibe ich ein Mensch.« Sophie, die nicht weichen Gemüts war, hatte Tränen in den Augen. »Olivier, unglücklich bist du nicht!« »Und glücklich auch nicht, Sophie. Was liegt daran? Glück!« Mit seiner geringschätzigen Handbewegung schob er den ewigen Trug fort, von dem die Menschen leben, und in dem sie sterben. »Ich möchte dich so gern verstehen. Hast du zu mir kein Vertrauen?« Er lächelte: »Laß nur! Wollen wir nicht zur Mutter?« »Sie schläft jetzt.« Und Sophie teilte ihm mit, was der Doktor gesagt hatte.

Gerade trat Henri Le Jas ein. Ein Mann mit gebräunter Haut, mit kräftigem Wuchs und angenehmem, freiem Gebaren. Er war der Berater der Familie. »Das reine Spital,« rief er heiter aus. »Der Arm des Herrn Leutnants, die Gicht des Chefs, Pierre-Jeans Stockschnupfen und die Kolik seines Brüderchens!« »Und Nénette?« fragte Sophie. »Haben Sie sie gesehen? Sie hustete.« »Es hat mir sie niemand gezeigt.« Sophie blickte ihren Bruder an, um auf die geheime Ungerechtigkeit hinzudeuten, die ihr zu schaffen machte: die Gleichgültigkeit oder, mehr noch, Feindseligkeit Armandes gegen die Kinder der Toten. Aber Olivier dachte nur an seine Mutter. Le Jas mußte ihn beschwichtigen; und da er anfing, den Wundverband nachzusehen, ging sie hinaus, hinüber zum anderen Flügel, in dem Jean-Marc und seine Frau wohnten. In ihrem Befremden sagte sie laut vor sich hin: »Das ist nicht recht.«

Sie erinnerte sich der Zeit vor fünf Jahren, sie erinnerte sich an Claudie. Eine arme Seele war sie gewesen, völlig ein Kind, ein verworrener Kopf, mit hastigen Trieben und kränkelnder Nervosität! Wie zitterte sie vor Jean-Marc, der oft hart gegen sie war! Gewiß, sie war unpraktisch gewesen, außerstande, den Haushalt zu leiten, voll ohnmächtigen guten Willens, schnell bereit zu Tränen, zur Verzweiflung, zu Szenen, dazu noch eifersüchtig, und (um der Wahrheit die Ehre zu geben) nicht immer ohne Grund. Oft hatte sie ihn zum Jähzorn gereizt. Eine Lungenentzündung, die zu einer bösen Grippe sich gesellte, hatte die Zarte hinweggerafft. Mimi war damals zwei, Nénette elf Jahre alt. Ein Jahr darauf verheiratete Jean-Marc sich wieder. Daß er mit vierunddreißig Jahren die Einsamkeit nicht ertragen konnte, was war daran erstaunlich? Er hatte Claudie aufrichtig beweint, mit Gram und vielleicht sogar mit erwachender Reue. Aber dieser Bund so unvereinbarer Temperamente hatte ihm nicht Glücks genug gegeben, daß er Sklave der Vergangenheit hätte sein wollen. Und schließlich war gegen Armande, seine Wahl, nichts einzuwenden. Sie war aus guter Familie, war haushälterisch, liebenswürdig und sah vortrefflich aus. Eine solche Frau paßte zu Jean-Marc. Ihr Geschenk für ihn waren diese prächtigen Kinder, die mit drei Jahren mollige Herkulesse mit rosigen Grübchen waren. Wie stolz war er auf sie! Indes Nénette und Mimi so gebrechlich aufwuchsen wie ihre Mutter. Aber hätte nicht eben deshalb die Neue ihnen zärtliche Sorge angedeihen lassen sollen? Ach, die Frauen, und sogar die besten ... Und war Armande eine von den besten? Sophie zweifelte fast daran: »Nein, es ist nicht recht.« Zwanzigmal hätte sie eine freundschaftliche Mahnung vorbringen mögen. Doch außer daß die Frage heikel war, war ihr Verhältnis zu Armande ganz korrekt und beinahe unumschränkte Eintracht. Sollte sie diese aufs Spiel setzen? Verstimmungen entstehen so schnell und können sich so leicht vertiefen; und wie würde Jean-Marc in seinem argwöhnischen, zugunsten seiner Frau parteiischen Hoheitsbewußtsein die Sache aufnehmen?

»Ich muß mit Großmutter darüber reden,« sagte sich Sophie. Das war eine geschickte Taktik; ein wenig Diplomatie schadet nicht, wo so viele Interessen und Konflikte aufgeboten sind. Eine große Familie ähnelt einem Kloster; unter der Gleichförmigkeit der Regeln gehen die Charaktere auseinander und kreuzen sich die Einflüsse.

Sophie kehrte um, Frau Siglet-du-Salt zu besuchen. Die alte, hinfällige, doch für ihre siebenundachtzig Jahre noch geistig klare Frau vergötterte Nénette und Mimi, und in der Ungerechtigkeit der Greise, deren geschwächte Vernunft vom Instinkt abgelöst wird, liebte sie sie allein, gleichgültig gegen die Kinder Simones und auch gegen Armandes Zwillinge. Das Ansehen ihres Alters und ihr Rang als Urgroßmutter befähigten sie einzuschreiten; und nötigenfalls kam wohl die Mutter, obschon sie sich große Zurückhaltung auferlegte, zu Hilfe.

Ein Schatten verkroch sich, als Sophie vor der verglasten Tür einer Wäschekammer vorbeiging. In einer Sekunde war sie eingetreten. Sie sah niemanden. Da entdeckte sie hinter einem hohen Wäschekorb ein junges Mädchen in Matrosenkostüm, mit kurzem Rock, unter dem Arm eine Schulmappe. »Du bist's, Nénette?« rief Sophie erstaunt. »Warum verkriechst du dich?« Das Kind hatte geweint, und seine Backe war gerötet. »Wegen gar nichts, Tante.« Sehr schmal, blond, fein, mit dünnem Köpfchen und großen, scheuen, blauen Augen war Antoinette hübsch, so wenig auch sie schon erblüht war. Sie glich den verfrorenen Knospen, die den Frühling nicht erwarten können. Wie ein in der Falle gefangenes Tier duckte sie den Kopf nieder. »Wie, wegen nichts und wieder nichts fürchtest du dich vor mir?« »Ja. O, nein, Tante.« »Ja, nein?« Sophie erhob ihre Stimme: »Was gibt es also? Jetzt willst du lügen!« Diese rauhe Sprache nahm dem jungen Mädchen die Fassung. Schon fünfzehn Jahre! Wer sollte das für möglich halten! Wiederum erschrak Fräulein Fabrecé vor ihrem verstörten, unbotmäßigen Gesichtsausdruck. »Sie sind bockig und falsch,« sagte Armande immer. Sollte das wahr sein?

»Ich will wissen, was du da machtest!« »Sage nur der Stiefmutter nichts, ich bitte dich von Herzen.« Und Nénette, die aus Liebe zu der Toten sich nicht dazu verstehen konnte, Mama zu sagen, zerfloß in Tränen. Sophie war bewegt: »Arme Kleine, ich meine es ja gut mit dir. Weshalb behandelst du mich wie eine Fremde?« Ihr selbst unklare Empfindungen waren in ihr. Sie bedauerte die Töchter Claudies, wie sie ihre Schwägerin bedauert hatte, doch nur, weil sie sich an ihre Unverträglichkeit erinnerte, und ohne diese einander gleichen, zuckenden und mit dem Gefühl auf den leichtesten Stoß reagierenden Wesen zu verstehen. »Du bist für mich keine Fremde, Tante. Ich hatte vor Schelten Angst, weil ich ... weil ich jetzt trotz dem Verbot der Stiefmutter zur Großmutter gehen wollte.« »Komm' mit mir,« entgegnete Fräulein Fabrecé. »Bist du denn noch ein Kind, daß du so weinst?« »O doch, Tantchen, ich bin ein Kind, denn eben hat mich die Stief ...,« Schluchzen schnürte ihr die Kehle, »... die Stiefmutter geohrfeigt.« Sophie fuhr in die Höhe: »Geohrfeigt? Warum?« »Weil sie nervös ist. Sie hat gesagt, ich hätte ihr unhöflich geantwortet, und das ist nicht wahr.« Das Kind war zweifellos aufrichtig. Sophie erwiderte nichts, sondern zog Nénette an ihre Brust und drückte sie. »Komm' und sprich dich bei deiner Großmutter aus, aber ordentlich, vernünftig; sie ist eine alte Frau.« »O gewiß! wie selbstsüchtig bin ich!« »Da, trockne dir die Augen! Gut. Ich habe es gern, wenn man tapfer ist.« Ernst setzte sie hinzu: »Und ein andermal, Antoinette, verstecke dich nicht vor mir!«

III.

Im großen Arbeitszimmer waren Armande und Jean-Marc in lebhaftem Wortstreit begriffen: sie schonungslos, mit zerrütteten Nerven, er gespannt, mit unter dichten Augenbrauen lauerndem Blick, die Lippen von erkünsteltem Lächeln zusammengezogen. Er wahrte kalte Besonnenheit, während sie sie verlor, wie vorhin, als sie ihren Zorn an Nénette ausließ.

Die Schläfen Jean-Marcs waren angegraut; das von der Sonne verbrannte Gesicht unter der breiten, weißen Stirn, die starke Kinnlade bekundeten eine Willensnatur. Befehlshaberisch und schroff, war er im Grunde schwach und hehlte die Leidenschaften, die ihn verzehrten: Ehrgeiz, Geldgier und Vergnügungssucht. Sie zwang er in die großen Linien, die die Selbstachtung fordert; und trotz seiner unleugbaren Gewaltsamkeit war er im gewöhnlichen Sinne des Wortes vornehm und ehrliebend. Armande, die für außerordentlich hübsch galt, schien in dieser Minute fast häßlich. Unter dem reichen Haar, das an ihren Schläfen sich ringelte, entflammte sich ihre blumenzarte Haut. Mit trockenen Augen und verzerrtem Mund überließ sie sich zum erstenmal dem übermächtigen Dämon der Wut, die sie bis dahin weise gezügelt hatte; aber dieser Verrat hatte sie zu unvorbereitet getroffen. An die Treue ihres Mannes, an ein wolkenloses Glück zu glauben, und dadurch, daß man eine Rechnung über ein von ihr nie empfangenes Schmuckstück vorwies, eine Rechnung, die sich in ein Kuvert mit ihrer Adresse verirrt hatte, zu erfahren, daß Jean-Marc ... Ah, das war gemein, das war feig, das war ... Ihr fehlte es an Worten.

Dreist leugnete er alles ab; und das entrüstete sie noch mehr, so wenig sie ihm ein Geständnis verziehen hätte. Denn Beweise hatte sie nicht. Der Juwelier – unerhört! einer der feinsten in der Rue de la Paix – hatte am Telephon zerknirschte Entschuldigungen gestammelt; die Nachlässigkeit eines Kommis ... Nein, nein, keine Rede! Herr Fabrecé habe überhaupt kein Schmuckstück für Fräulein Hycler von den Bouffes gekauft. Vielmehr habe Herr Fabrecé gestern abend ein Brustkreuz von Perlen bestellt, und der eigene Sohn des Juweliers wollte sich die Ehre machen, es unverzüglich mit vielen Bitten um Nachsicht per Auto abzuliefern. Was sollte sie sich denken? Gewiß das Schlimmste. Und Armande glaubte es: »Wer sagt mir denn, daß du nicht, als du mich ersuchtest, dich mit Virquot reden zu lassen, die Gelegenheit benutzt hast, um dich mit dem Juwelier zu verständigen? Das Telephon ist ja nicht für die Hunde da.« Sie legte die Niedrigkeit ihres Charakters bloß, da sie sich nicht mehr überwachte. Er schlug ihr vor: »Soll ich Virquot zurückrufen lassen? Willst du ihn lieber allein ausfragen?« »Nein, keine Zeugen! Unsre schmutzige Wäsche waschen wir besser unter uns!« »Höre, Liebe, bis jetzt bin ich geduldig gewesen, aber ich versichere dir, du gehst zu weit.«

Sie sah ihn in ihrer Not an, von Hoffnung erschüttert, ins Dunkel zurückgeschleudert. Der unbestimmte Schein, das flüchtige Zusammentreffen von Umständen, alles, was einen streift und was man wegschiebt, nahm Gestalt an: mancher Abend, wo er sich entfernt hatte, dieser und jener Vorwand ... »Ich glaube dir nicht!« »Wie du magst! Aber etwas stark ist es doch. Weil ich dir ein Vergnügen machen und dir Perlen schenken will, die du dir schon lange wünschtest, glaubst du eher einem verirrten Fetzen Papiers als mir, der ich dich liebe! Du weißt doch, wie sehr!« Sie dachte an die Perlen, in die sie vernarrt war. Ja, ein Beweisgrund waren sie schon. Und war es nicht besser, wenn sie sich gläubig zeigte? Aber der Gedanke, betrogen zu werden, verletzte sie in ihrer so empfindlichen Eitelkeit nicht minder als in ihrer Zärtlichkeit, und um ihn zu entlarven, rief sie: »Ich will mit diesem Weib reden, ich will die Wahrheit wissen!« »Geh' doch hin! Du wirst dich lächerlich machen.«

Sie sah nun wirklich verzweifelt aus: »Schwöre mir, schwöre mir, daß du sie nicht liebst!« »Ich? Ich kümmere mich so viel um sie wie um den Mann im Mond. Warum soll ich denn durchaus diese leichte Person, die übrigens schon mehr als fünfzig Jahre hinter sich hat, lieben?« »Das ist nicht wahr, sie ist viel jünger!« In einer solchen Lage macht ein Mann sich nicht viel aus einer Taktlosigkeit: »Bei künstlicher Beleuchtung, ja. Dann hat sie ja schon zwei Verehrer.« »Das ist kein Grund; woher weißt du denn das?« »Im Klub wird es erzählt. Ich kann Schauspielerinnen nicht ausstehen. Glaubst du mir jetzt?« »Nein!«

Aber ihr Blick glänzte jetzt schon weniger unerbittlich. Der beseligende Trug, auf den sie doch nicht ganz hereinfiel, schloß ihr für eine Weile die Augen unter der Wirkung der Küsse, die ihr Jean-Marc, der sie mit Gewalt auf seine Knie gezogen hatte, erfahren und rasch auf die Lider und in die Winkel des abgewandten Mundes versetzte. Zitternd und schamhaft barg sie, als weine sie, ihr Gesicht an seinem Hals, während die Spuren seines Bartes sie stachen. »Angebetetes Dummchen!« Und er lachte nun erleichtert auf. »Ich will nicht, daß du lachst!« Nun küßte er sie von neuem, und sie hatte nicht mehr den Mut, ihm ihre Lippen zu entziehen. Indem sie ihre Geistesgegenwart wiederfand, sagte sie, nach beruhigtem Schweigen: »Du wirst mich wohl auszanken. Ich bin mit Nénette zu barsch gewesen. Ich habe ihr eine Ohrfeige gegeben.« »Oh!« rief er sehr befremdet. »Du weißt, daß ich das nicht gern ...« »Sie war unverschämt.« »Nun denn,« gab er zu.

Dieser Freispruch jedoch kam ihm nicht von Herzen. Armande maßte sich mehr Rechte an, als ihr gebührten. Es waren doch noch seine Kinder. Er litt unter diesem wachsenden Mißverständnis zwischen seiner Frau und seinen Töchtern. Und da er nicht hellsichtig genug war, die Ursachen zu erkennen und sich der Verantwortlichkeit gewiß zu werden, hatte er für alles nur einen gelangweilten Tadel, wobei er der Ordnung halber Armande unterstützte. Und doch schien es ihm, als ob er dadurch, daß er nicht Einspruch erhob, den Verrat an seiner Frau mit einer Feigheit gegen seine Töchter bezahlte. Eine große Sorge für ihn waren diese Kinder, die nun mit einer anderen Mutter und anderen Brüdern heranwachsen sollten. Das ist die schicksalsvolle Unzuträglichkeit zweiter Ehen. Eine unfaßbare und von Mitleid bekämpfte Verstimmung gegen die Töchter Claudies erhob sich in ihm. Ihre Nervosität, die Unbeständigkeit ihrer Temperamente ärgerte ihn, und ohne daß er sich darüber Rechenschaft ablegte, ließ er sich von dem Vorurteil, das Armande ihm einflüsterte, gefangen nehmen: es seien schwer zu behandelnde, unfreundliche Geschöpfe. Denn sie wußte aus kleinen Zwischenfällen, aus zufälligen Verwicklungen Nutzen zu ziehen. Zwar konnte er an ihrer Wahrhaftigkeit nicht zweifeln. Der Gedanke, daß sie allmählich, mehr und mehr, einer unbewußten Eifersucht, dem Widerwillen der Stiefmutter gehorchte, wäre ihm nie gekommen. Daß Armande seine Frau war, genügte für ihn, sie nach Ehemannspflicht mit den von ihm gewünschten Eigenschaften edelmütig zu bereichern.

Sie fürchtete, daß er nachsinnen könnte; und um ihn abzulenken hing sie, katzenhaft nachgiebig, sich an seine Schulter: »Ungeheuer!« Sanft machte er sich los, ein stechender Schmerz erinnerte ihn an seine Zehe: »Nun aber, Liebste, zu ernsten Geschäften. Ich habe noch zwanzig Briefe zu diktieren.« Sie schmollte noch. Doch sie war nun wieder anmutig geworden. Das Gewitter hatte ihr Antlitz aufgehellt, und es lag in ihrem Gebaren der trügerische Reiz der Einfalt, der mit der Holdheit ihrer milchweißen Haut sie so verführerisch machte. »Du weißt doch,« sagte sie, »daß du unbedingt meine Schwester mit deinem Bruder verheiraten mußt.« »Mit welchem Bruder, Olivier?« »Du bist blöd, mit dem Konsul.« »Mit dem Chinesen? Ein trefflicher Einfall, er ist in der Tat heiratslustig. Doch wird Liane ihn wollen? China liegt nicht ganz nahe bei Paris.« »Wenn sie sich nun lieben?« »Nun, Liebe ist etwas Schönes.« Mit einem Kuß erstickte sie seinen Spott: »Ich lasse dich. Arbeite!«

Jean-Marc zog den Telephonapparat an sich, der ihn mit den Werken verband, läutete seinem Sekretär und seiner Stenographin, schichtete Papiere, nahm mit siegreicher Emsigkeit seine Arbeit wieder auf, erteilte Befehle, empfing die Ressortchefs, hörte den einen und rief den anderen zurück. Sein Gesicht drückte nun wieder seine ganze Energie aus. Als wolle er sich dafür schadlos halten, daß er sich von seiner Frau hatte umschmeicheln und gegen seine Töchter hatte einnehmen lassen, genoß er nun die Furcht und die Achtung, die seine harte Stimme und sein gewaltsamer Blick erweckten. Befehlen zu können war ihm ein Rausch. Das Vergnügen zählte für ihn nichts im Vergleich zu dem Herrscherinstinkt, durch den er, an Napoleon sich begeisternd, in seinem Hirn alle Räder dieses Riesenunternehmens zusammenhielt. Gegen alle Hindernisse war er gerüstet, und auf der Stelle entschied er, fruchtbar an Eingebungen und vermöge eines umfassenden Gedächtnisses, das ihm die Bewunderung seiner nach ihm geschulten Direktoren erzwang. Stolz aus Ueberlieferung erhöhte dieses Bewußtsein noch. Er setzte das Lebenswerk seines Vaters fort, der jetzt in das Reich des reinen Gedankens, zu Arbeiten im Laboratorium und in der gesetzgebenden Körperschaft, sich zurückgezogen hatte. Er war der lebende Träger des erfinderischen, aus sich selbst tätigen und wirkenden Geistes, durch den Pierre Fabrecé der erste Meister, diese sich bewegende Welt erschaffen hatte, diese Stadt der Arbeit, mit der ihn dank dem kleinen Handapparat ein Stimmfaden verband. Dort grollte die Fabrik von dem ununterbrochenen Brausen der Kessel, vom Gleiten der Karren, vom Rhythmus der Maschinen, vom Poltern der Güterwagen. Er, Jean-Marc, der zweite seines Namens, war jetzt das Herz, und nachher, sobald als möglich, sollten hier seine Söhne, die Erben seiner Rasse, in denen sein Schicksal weiterlebte, gebieten.

Antoine und Florent warteten geduldig seit dreiviertel Stunden, als er die Weisung gab, sie einzulassen. Die Gereiztheit Florents hatte den sanftmütigen Antoine angesteckt. Er dachte daran, daß er während dieser Zeit Miche durch den Wald hätte zurückgeleiten können. Er sah sie barhaupts mit ihrem von Natur gewellten Haar. Denn als eine richtige kleine Bäuerin fürchtete sie weder Wind noch Sonne. Ein Kleid aus blauer Serge schmiegte sich um ihre zierliche Gestalt, und ihre Füße liefen in Schuhen von gelbem Leder lustig über das Moos dahin. Wenn Florents Erregung fiel, so war er schwach. Ein Optimist nach der Mahlzeit, die ihn von neuem in Gang brachte, war er wie alle nervösen Menschen vorher pessimistisch gestimmt. Schon lange hatte man das erste Zeichen zum Frühstück gegeben. Sein Gesicht zuckte peinvoll. Trieb Jean-Marc Possen mit ihm? Die Blicke der beiden Brüder, ihre halben Worte des Mißvergnügens stellten einen Bund zwischen ihnen her und stärkten, da sie voreinander gedemütigt werden sollten, ihre Tapferkeit. Aber in Gegenwart des Gouverneurs verging ihnen diese. Er hielt sie nicht nur durch sein Ansehen nieder, auch durch die suggestive Macht, die von Starken ausgeht.

Florent, den er herausfordernd maß, sah zuerst zu Boden; Antoine blickte weg. »Ich will euch keine schönen Redensarten machen,« sagte Jean-Marc gradeheraus. »Ihr zwingt mich, euch, wo ihr schon so alte Kerle seid, zu sagen, daß ihr euch wie Gassenjungen benehmt.« »Du übertreibst,« wagte Florent zu erwidern. »Laß mich nur reden, du kommst nachher an die Reihe. Zuerst du, Antoine! Ich habe von deinem Umgang mit Jenny-Rose gehört; das gefällt mir nicht. Ihr seid oft miteinander gesehen worden. Wenn du nicht mit ihr in der Baumallee herumvagabundierst – oh, ich weiß Bescheid! –, steckst du immer in Val-Changis bei ihrer Mutter.« »Ich habe ...« »Warte nur! Worauf willst du hinaus? Ist es eine Liebschaft, dann hast du dir sie schlecht ausgewählt. Du bringst dich selbst ins Gerede und schadest der Kleinen. Ein Fabrecé muß Haltung haben. Wenn du deine Milchschwester verführen willst, deren Eltern zwar nicht sehr kluge, aber wackere Leute sind, dann ist das noch gemeiner; denn du kannst nichts wieder gut machen.« »Aber niemals ...« »Ich bin noch nicht fertig. Möglich wäre dann noch, und es ist auch viel wahrscheinlicher, daß Jenny-Rose, gefallsüchtig wie alle Mädchen, dich zum Narren hält. Daß du sie umwirbst, schmeichelt ihr. Sie gibt sich deswegen selbstischen und lächerlich ehrgeizigen Hoffnungen hin, und du, Dummkopf, wirst eines Tages als der Hanswurst die Zeche bezahlen.« Er winkte seinem Bruder, der protestieren wollte, ab: »Jedenfalls, die Sache muß aufhören.« Und indem er deutlich erkennen ließ, daß er aus der Einfalt Antoines sich nichts machte und an seinem Gehorsam nicht zweifelte, kritzelte er ein paar Worte auf seine Schreibtafel. Dann hob er mit ein wenig spöttischer Miene den Kopf: »Nun?« Antoine drehte die Zunge im Munde, als kaue er eine Gummikugel. Schließlich antwortete er: »Nun, was man dir da erzählt hat, und es gibt ja nun mal Leute, die nichts Besseres zu tun haben, und das macht ihnen Spaß, das stimmt schon. Jenny-Rose und ich treffen uns, wenn wir Lust dazu haben, und wir tun nichts Böses. Was wir tun, und was wir uns denken, dafür können wir schon einstehen.« »Du glaubst, mir genügt das?« Langsam wurde Antoine hitzig: »Ich habe dir geantwortet, weil du mein Bruder bist, und weil ich dich trotz allem achte ...« »Trotz wessen?« fiel Jean-Marc, unangenehm berührt, ein. »Trotzdem du zu mir sprichst, als säße ich noch auf der Schulbank und wäre nicht meine zweiundzwanzig Jahre alt. Nämlich – erlaube, daß ich es dir sage, Jean-Marc – die Geschichte geht mich allein an, das ist meine Sache.« »Du irrst dich. Sobald dein Name, unser Name in Mitleidenschaft gezogen ist, geht, was dich angeht, auch mich an.« »Ich schulde niemandem Rechenschaft,« murrte Antoine, durch das still drohende Einverständnis Florents erregt, »und es wäre noch schöner von dir, wenn du uns, Rose und mich, nicht mehr durch einen solchen Verdacht beschmutzen wolltest. Sie ist wie ich. Da gibt es nichts zu kritteln. Wir beide sind freie, ehrliche Menschen.« »Dann bist du also in die Tagediebin ganz vernarrt?« »Jean-Marc, wenn du übel von ihr reden willst, dann gehe ich lieber weg. Mißbrauche nicht deine Stellung als Gouverneur!« »Na na, du willst mir doch nicht sagen, daß du eine ernste Liebe zu ihr hast?« Unter dem Hieb des kränkenden Zweifels bäumte Antoine sich auf. Und breit auf seine Beine hingepflanzt, erwiderte er voll Entrüstung: »So, wenn ich sie nicht liebte, würde ich dann so mit ihr herumlaufen? Denkst du denn, ich bin ein niederträchtiger Geselle? Ich bin ein Fabrecé. Sehe ich so aus, als ob ich ein Kind beschmutzen würde? Wenn du das glaubst, dann hast du von mir eine sehr schlechte Meinung und von ihr auch, wenn du denkst, sie sei abgefeimt und wolle mich angeln. Nein, guter Junge, das geht so nicht, suche nicht weiter! Es ist nicht dies oder das, es ist einfach Liebe, und damit Schluß.« »Und wohin soll euch das führen? Das zu wissen bin ich neugierig.« »Aufs Standesamt,« sagte Antoine, »wohin soll es uns denn sonst führen?«

Jean-Marc sprang in die Höhe, und Florent spürte einen kleinen Schauer, den Schauer des Anarchisten. »Bravo, Bursche,« hätte er gerne geschrien. So hatte er nur seine Unterhaltung; ach, wie betroffen und zornig der Große war! »Bist du verrückt?« »Ich denke, nein,« entgegnete der andere gelassen. »Eine Bauernmagd willst du heiraten?« »Bauernmagd? Nicht mehr und nicht weniger als unsere teure Großmutter, da Großvater Fabrecé sie zur Frau nahm.« »Gut gegeben,« dachte Florent. »Niemand kennt meinen Antoine, und ihn haben sie für dumm verkauft.« Jean-Marc runzelte die Brauen: »Das ist doch nicht dein Ernst?« Und plötzlich packte ihn die Wut: »Das ist ein Idiotenstreich!« »Warum denn?« fragte Antoine starrköpfig. »Jenny-Rose unsere Schwägerin? Ich könnte mich kugeln; guter, armer Kerl!« Er sah sie schon in den Salons der Familie, geschmacklos aufgeputzt gegenüber der dekolletierten Armande oder, unwissend und bäuerisch, in täglichem Umgang mit Sophie, Isabelle und ihm selbst. Der Zorn nahm ihm die Besinnung: »Antoine, der Vater ist nicht da, ich vertrete ihn. Du wirst mir gleich versprechen, daß du mit diesen Spaziergängen aufhören wirst.« »Das kann ich nicht.« »Sage lieber, du willst nicht! Sieh mal, ich will mit dir als Freund reden. Nimm einen guten Rat! Reise eine Zeitlang! Du wirst über dich selbst nachdenken und wieder zu dir kommen.« »Ich will doch nicht jetzt fortgehen, wo die Gräfin und der Chinese eintreffen und das vierzigjährige Ehejubiläum der Eltern gefeiert werden soll.« Jean-Marc sagte mit unerwarteter Ruhe, denn solche plötzliche Uebergänge gab es bei ihm: »Eben daran dachte ich. Ich hätte in einem solchen Augenblick ihnen gern allen Verdruß erspart. Es wäre schön von dir, wolltest du unsere leidende Mutter schonen; und der Vater ist mit seinen Arbeiten genug beschäftigt, ohne daß du ihm solchen Aerger zu machen brauchst.« Fest erwiderte Antoine: »Ich will dir etwas vorschlagen. Der Vater soll richten.« Herr Fabrecé der sich beim Vorsitz in zwei wichtigen Senatskommissionen ein wenig übernommen hatte, wurde für morgen oder übermorgen zurückerwartet. »Nun, wenn du glaubst, daß er dir beistimmen wird?« »Er ist der Vater, er soll Richter sein.« Diese Worte sprach Antoine voll glühenden Glaubens, wie alle es getan hätten. Der Vater, das war für sie alles.

Jean-Marc biß sich auf die Lippen: »Sei's denn!« Aber seine Miene ließ nichts Gutes erwarten. Da er sich damit abfinden mußte, nicht das letzte Wort zu haben, hatte er einen brutalen Entschluß gefaßt, den er mit reiflicher Erwägung verhehlte.

Nun sah Florent, wie der strenge Blick sich ihm zuwandte; und ein Unbehagen, das er sich als Schwäche vorwarf, ergriff ihn. Er hatte keine Entschuldigungen vorzubringen wie Antoine. Mit auffälliger Freundlichkeit sagte Jean-Marc: »Was geschehen ist, will ich nicht mehr erörtern. Ich nehme an, du bedauerst es?« Florent blickte auf die Diele. »Eine Buße ist unerläßlich, nicht vor dir selbst nur, auch vor denen, die von deinem Abenteuer wissen. Ein großer Skandal ist verhütet worden. Heute abend wirst du nach London abreisen. Ich gebe dir Aufträge an die großen Verlagshäuser mit.« »Und auf wie lange Zeit?« »Ich werde es dich wissen lassen.« »Und wenn ich mich weigere?« »Du wirst dich nicht weigern. Ohne mein Einschreiten, und noch mehr ohne das Isabelles, kämst du vor die Strafkammer. Ein Fabrecé, das wäre ein Staat.«

Jean-Marc war aufgestanden (immer schmerzte ihn seine Zehe), und in weniger gestrengem Ton fuhr er fort: »Die Strafe, die ich über dich verhänge, ist in deinem und in unser aller Interesse, und sie auszusprechen kostet mich Ueberwindung. Ich werde deine Abwesenheit bei den Eltern, bei Jacques und Simone so rechtfertigen, daß deine Eigenliebe geschont wird.« Florent, der mit eingezogenem Rücken dasaß, zögerte noch. Gutes und Böses stritten in ihm, Groll, Entwürdigung und jene Gefühle, die in solcher Jähheit nur zwischen Blutsverwandten möglich sind. Das Bild Isabelles und das Bewußtsein seines Vergehens stiegen vor ihm auf. Aber so in die Ferne verbannt, wie ein Kind gedemütigt werden zu sollen, gerade in der Zeit des großen Familienfestes, wenn alle Herzen vereint schlugen, das war grausam. Dumpf murmelte er: »Ich werde reisen.« Jean-Marc legte ihm die Hand auf die Schulter: »Nun wollen wir zum Frühstück.«

IV.

Man trank auf der Veranda Kaffee, als Gervais eine Depesche brachte. Jean-Marc las sie, während Armande in einem Rest von Mißtrauen ihm über die Schulter hinwegsah und ausrief: »Jacques ist in Marseille; er ist mit einem Dampfer, der früher ging, abgefahren. Morgen schon ist er bei uns zu Tisch.«

Diese Nachricht veranlaßte Freudenausbrüche. Welche Ueberraschung für den Vater! Sophie ging eilends fort, die Neuigkeit der Mutter zu melden. Die Stimmen schwirrten durcheinander, und Glück verbreitete sich. Die Neigungen innerhalb der Familie werden von dunklen Gesetzen beherrscht. Jacques erfreute sich um seiner häufigen Abwesenheit und seines jovialen Charakters willen bei allen einer wahren Schwärmerei, in die Stolz sich einmengte. Er allein außer Jean-Marc hatte mit seinen dreißig Jahren das Band der Ehrenlegion empfangen, und zwar wegen seines ausgezeichneten Verhaltens bei den Boxerunruhen. Sechs Tage lang hatte er sein von den Horden angegriffenes Konsulat verteidigt und dreißig Menschen das Leben gerettet. Neben ihm hatte die Frau des englischen Konsuls mit dem Revolver hantiert, sicher zielend und bei jedem Schuß einen Chinesen tötend.

Eine Minute vorher hatten unter scheinbar einträchtigem Gespräch alle das, was ihnen Sorgen machte, verborgen, Jean-Marc seine List, Armande ihre Eifersucht, Isabelle und ihr Gatte ihre ungetröstete Liebe, Olivier eine Zweifelskrise, wie sie die Seelen der besten Priester zerstört, Antoine seine Neigung und Florent seine baldige Abfahrt. Doch nun leuchtete von aller Gesichtern derselbe Jubel: »Der Chinese! Der Chinese kommt!« Als Gervais die Nachricht in der Gesindestube bekanntgab, wurde sie dort ebenso froh aufgenommen, und Florent konnte sich nicht enthalten, leise zu bemerken, daß Jacques ein Glückspilz war. Der Gute verdiente wohl diesen Ueberschwang: aber warum wurde er keinem anderen zuteil, nicht Simone und auch Olivier nicht?

Frau Siglet-du-Salt, die durch den Lärm angelockt wurde – seit Jahren trank sie in ihrem Zimmer zum Frühstück eine Tasse Milch – wurde stürmisch begrüßt. Hager, schmal, das noch lebendige Gesicht von weißem Haar umrahmt, auf einen Stock mit silbernem Schnabel und Kautschukgriff gestützt, stand sie nun blinzelnd inmitten des Kreises, aus dem man ihr unablässig zurief: »Der Chinese, der Chinese! Großmutter!« Die Freude, die sie zur Schau trug, war mäßig. In den Zwischenzeiten pflegte sie ihren Enkel zu vergessen. Sie saß im großen Lehnstuhl und hörte die scherzhaften Pläne: der Konsul sollte heiraten. Alle dachten daran, mit dem Wunsch und beinahe der Gewißheit, sein Glück zu sichern. Sophie hatte eine ihrer Freundinnen, Isabelle eine Cousine ihres Mannes im Sinne. Doch Armande nahm wieder von Jacques Besitz: »Mir gehört er, ich nehme ihn für Liane!« Sophie stellte sich taub. Ein Fräulein Charnot in der Familie war schon genug. Isabelle lächelte verbindlich. Sie saß neben ihrem Mann, der, sehr gepflegt, mit etwas langem Haar und glänzendem Bart, ein verinnerlichtes, dem Christus ähnliches Antlitz hatte. Mit der Gebärde einer Führerin und einer Liebenden hielt sie ihm die Hand. Dieses Lebensband einte sie mit besonders zarter Empfindlichkeit, und der leiseste Druck hatte Bedeutung.

»Nicht möglich!« rief Jean-Marc, der, seine Zigarre rauchend, durch eine der weiten Lichtungen über den Park hinwegsah. Armande lief zu ihrem Mann, andere hinter ihr her, und alle schrien zugleich: »Wie? Ohne sich anzumelden? Simone! Da ist Simone!« Durch die Ehrenallee, die bis zur großen Freitreppe sich hinzog, kam vom Bahnhof her ein Viktoriawagen angerollt. Im Rücksitz saßen, aneinander gepreßt, Frau Polotzeff und ihre beiden Kinder, die sie gegen ihren Leib hielt. Sie hob die Augen auf und schwenkte ihren Sonnenschirm. Ihre ungewisse Miene war verstört, ihre Wangen waren bleich. Mit Ausnahme Isabelles, die bei Cyrille und der Großmutter blieb (Jean-Marc wurde durch seine Gicht und seine Würde zurückgehalten), war die ganze Familie den Ankömmlingen entgegengewogt und überfiel sie mit unruhigen Fragen: »Es ist doch nichts Schlimmes? Und Sergius? Warum bist du allein? Du bist doch nicht krank, weshalb hast du nicht telegraphiert?« Man fühlte, daß Simone sich krampfhaft zur Heiterkeit zwang, während sie Küsse austeilte und Antwort gab. »Was hat sie nur?« fragte sich jeder. Sie war sehr reizvoll. Von ihrem Nomadenleben hatte sie einen exotischen Zauber, und ihr Teint glich einer blassen, zerblätterten Rose. Sie legte, als drücke sie ihre Stirn, ihre Kopfbedeckung ab, die wie eine Bischofsmütze aussah. »Ich habe furchtbare Migräne,« sagte sie. So glaubhaft dies auch war, und so oft sie mit der Hand sich über die Schläfen strich, an denen schwer ihr herrliches, rotgoldenes (vielleicht ein wenig gefärbtes) Haar hing, ließ keiner sich recht täuschen.

Armande bemächtigte sich der Schwägerin: »Komm, die Mutter zu begrüßen,« sagte sie ihr in entschiedenem Ton. »Nachher werden wir dich ruhen lassen.« Sophie ergriff ihren anderen Arm: »Habt ihr gefrühstückt? Willst du etwas nehmen? Oder deine Kinder?« »Nein, nein, danke.« Man rief Jean-Marc zum Telephon. Diskret hielten Antoine und Florent Iwan und Betty zurück, auf die liebkosend Mimi zustürzte. Ihr folgte, weniger erfreut, Nénette; denn Iwans Frechheit und sein Gebaren eines wilden, jungen Wolfes flößten ihr Widerwillen ein.

Isabelle war Simone entgegengeeilt, der Frau Siglet-du-Salt mit mechanischer und wie abgenutzter Zärtlichkeit die Arme öffnete. Schon zogen Sophie und Armande Frau Polotzeff zu Frau Fabrecé. Auf einer Chaiselongue ausgestreckt, richtete diese, als sie die Tür gehen hörte, sich empor, und ihr schönes Gesicht strahlte: »Liebes Kind!« Sie umarmte sie mit ahnungsvoller Erregung, indem sie mit ihren schönen, sammetartig glänzenden, dunkelbraunen Augen sie prüfte. Doch Simone, die unterrichtet war, wahrte Selbstbeherrschung genug, um den Argwohn zu entkräften. Sergius, so erfand sie mit einer Geläufigkeit, die sie natürlich klingen zu lassen sich mühte, sei in Florenz und durch einen mathematischen Kongreß zurückgehalten worden, für den er sich besonders interessiere. Sie sei ihm nach Val-Montoir vorausgefahren. Habe er denn ihre Ankunft nicht gemeldet? Er hatte es tun wollen. Ein Mißverständnis. Die Kinder? Völlig gesund; sie würden heraufkommen, ihre Großmutter zu umarmen.

Mit halboffenen Lippen und hastigem Atem – ein Aetherfläschchen lag immer neben ihr, denn lauernde Atemnot quälte sie – betrachtete Frau Fabrecé gierig ihre Tochter, die sie bei der Hand hielt. Noch zögerte ihre ängstliche Liebe, sich zu beschwichtigen: »Ist es auch wahr? Dein Gesicht sieht ganz matt aus.« »Sie ist von der Reise erschöpft,« versicherte Armande voll Ungeduld, Simone beiseite zu führen, während Sophie eine Bewegung des Aufbruchs versuchte. Aber die Mutter, die ihrer so lange beraubt gewesen war, ließ sie nur ungern von sich: »Versprich mir, daß du dich hinlegen und ein wenig schlafen wirst.« Simone sah sie gefoltert an, in fassungsloser Liebe, besorgt, sie nicht in Furcht zu versetzen, und beinahe ohnmächtig vom Drange, ihr an die Brust zu fliegen und dort ihre ganze Not auszuweinen. Seit sechsunddreißig Stunden keuchte sie wie ein gereiztes Wild dieser Zuflucht und dieser Erlösung entgegen. Wer hätte sie besser verstehen und beklagen können?

In ihrer Stube packte sie, zwischen Sophie und Armande, die eifernd sich zu zweit sahen, nervös ihr Reise-Necessaire aus. »Aber nein, ich versichere dir, Armande, und dir, liebe Sophie, es ist gar nichts Schreckliches vorgefallen. Ich habe eben Verdruß, wie jeder auf der Welt.« Und ihr Gesicht, dessen Lächeln noch trauriger war als Tränen, schien ein verschlossenes Tor. Zum Glück rief man Armande; der Juwelier. Das lenkte sie ab und zwang sie, hinauszugehen. Jedoch auch vor Sophie wollte Simone nicht reden. Sie nahm aus ihrem Koffer ein Kimono. Sophie wollte ihr das Korsett aufhaken. Vor dieser unschuldigen Bewegung wich Simone zurück, und heftig rief sie: »Nein, laß, ich ziehe mich allein aus.« Verletzt und befremdet gab die Schwester in einer Anwandlung von Güte nach. Wohl mußte sie als ältere sich überwinden. Ein einziges Wesen im Haus neben der Mutter konnte, das wußte sie, der Schwester ein wenig Frieden bringen; sie, die immer bescheiden im Hintergrund blieb, die beste von allen. »Soll ich dir Isabelle holen?« Der fast harte Leidensausdruck Simones schien zu schmelzen. Sie sagte: »Ja,« und indem sie sich Sophie an den Hals warf, rief sie: »Sei mir nicht böse, nachher wirst du alles erfahren.« »Schon gut,« entgegnete Sophie mit liebevoller Herbheit, »schon gut.«

Jacquemer und seine Frau hatten ihren vertrauten Arbeitsraum aufgesucht, eine Galerie, die ein Bogenfenster in hellem Tageslicht badete. Es war, als empfingen die toten Augen Cyrilles von ihm einen unbestimmten Glanz, als liebkose und wärme die Sonne dort wohliger sein Antlitz. »Da kommt jemand, der zu dir will,« sprach er mit der feinen Intuition für Dinge und Menschen, die ihn niemals täuschte. An der Stimme Jean-Marcs und Armandes hatte er, so sehr sie sich beherrschten, ihren Zwist erraten. Und als Simone ihm nur die Hand gedrückt hatte, wußte er: »Ein Unglück liegt in der Luft. Sie ist ihrem Mann entflohen ...« Leise klopfte es. »Es ist Sophie,« erriet er. »Gehe, Liebe!« Seine durchsichtigen Finger haschten nach seiner Frau. Ein Kuß senkte sich auf seine Stirn, die Tür schloß sich. Die Schönheit, die, solange sie beisammen waren, ihn belebte, entschwand. Sein Gesicht wurde fahl, und erschaudernd stöhnte er: »Oh, Elend! Finsternis! Und Polotzeff darf sehen, das Tier mit den Schakalaugen.« Er verwünschte Sergius, dem er bis auf den Wesensgrund gedrungen war. Abneigung und Freundschaft hingen bei ihm von unwägbaren, unmittelbaren Nuancen ab.

Noch immer ordnete Simone ihr Reisegepäck. Sie drehte sich nicht sogleich um. Dann wandte sie sich schroff Isabelle zu und flüsterte ihr entgegen: »Nur du kannst mich retten. Ich bin verloren, wenn man mich nicht seinen Klauen entreißt. Ich muß schnell, schnell geschieden werden.« Wie im Wahn sprach sie. »Beruhige dich, beruhige dich!« Isabelle streichelte sie, wie man ein Kind tröstet. Simone rang die Hände: »Mein Leben, mein armes Leben ist dahin. Was hat er aus mir gemacht; aus meinem Glauben an ihn, allen meinen Illusionen! Ah der Erbärmliche!« Isabelle umfaßte ihre Hüften und ließ die kauernde und zagende Schwester neben sich niedersitzen. »Er wird mich töten, er hat's gesagt, er will mich töten. Da bin ich auf und davon. Schütze mich! Er ist verrückt, und wenn er nicht verrückt ist, so ist er ein Scheusal.«

In abgehackten Sätzen, mit Lücken, die manchen Vorgang unerklärt ließen, mit anklagenden Bildern dazwischen und vielen Wiederholungen, die den Kreis dieser Ehehölle umringelten, legte Simone ihr Geständnis ab. Im Hintergrund des Jammers wurde ein Polotzeff von sonderbarer Art sichtbar, wie Cyrille ihn geahnt hatte. Doch so sehr wuchs er über alle Glaubwürdigkeit hinaus, daß Isabelle zuerst zweifelte, ob Simone ihre fünf Sinne beieinander habe, und ob sie nicht im Banne einer jener Nervenkrankheiten spräche, die das Urteil fälschen, ohne es zu zerstören, die sogar es verschärfen und den eingebildeten Leiden der Hysterie den aufrichtigen Ton des innersten Schmerzes verleihen. Als errate Simone die Gedanken der Schwester, sagte sie traurig: »Ich bin nicht verrückt; und doch hätte ich es werden können.« Sie erzählte nun die sieben Jahre ihrer Ehe. Zwei davon waren in unbeständigem Glück vergangen, das launisch war wie Sergius selbst. Doch in Liebe hatten sie sie durchgemacht, und durch Iwans Geburt war sie gestärkt worden. Nicht lange. Schon betrog Sergius sie, und sie erlangte dafür jene Beweise, die sich verflüchtigen, wenn man sie festzuhalten wähnt, die aber von ihren Instinkten und sicheren Anzeichen bezeugt wurden. Denn betrogen hatte er sie, nicht einmal, sondern zehnmal, hundertmal, mit außerordentlicher Geschicklichkeit und Dreistigkeit, immer mit einem Alibi zur Hand, mit unwahrscheinlichem Glück. Er konnte entrüstet leugnen, er erheuchelte und empfand sogar eine perverse Zärtlichkeit und scheute sich nicht, sie ihr zu erkennen zu geben. Denn sie konnte nicht behaupten, daß er nicht nach seiner Weise sie liebte, daß sie ihm nicht unentbehrlich sei, eine lebendige Beute, ein Herz und ein Fleisch, das er foltern konnte, an dem sein geistiger Sadismus sich ausließ. Und auch das war nur der Anfang. Von Jahr zu Jahr mehr enthüllte Sergius ungestraft seine erschreckende Bizarrerie. Unter der verfeinerten Maske des vom Amerikanismus umgezüchteten Slawen erschien ein reißendes Tier. Sie hatte schmachvolle Szenen erduldet, ungerechtfertigte Eifersuchtsanfälle, die Tyrannei eines Henkers, die Rasereien eines Irren, und – ärger noch – Schläge. Ein ungläubiger Ausruf entfuhr Isabelle. Simone streifte ihre Hemdärmel empor. Unter dem Ellbogen sah man bläuliche, geschwollene Hautflecke. »Oh! Er hat es gewagt?« »Ja, vor drei Tagen. Mit einem Seil hat er mich festgebunden, um mich an der Flucht zu verhindern. Denn nur um den Preis dieser letzten Demütigung habe ich mich retten können. Ich mußte seinen Argwohn entwaffnen, eine Aussöhnung vorspiegeln, das Schreckliche ertragen.« Nun schilderte sie ihre tolle Flucht zum Bahnhof, während einer kurzen Abwesenheit ihres Peinigers. Wie sie in einen Zug gesprungen sei; wie sie sich gefürchtet habe, eingeholt zu werden; ihre Angst vor seiner Rache. »Das ist abscheulich,« wiederholte Isabelle, »aber warum denn?« »Warum? Weiß ich es? Mir ist es unfaßbar. Fast scheint es, als hätte er Gift getrunken. Sähest du nur in solchen Augenblicken sein Gesicht, sein Gesicht, das niemand kennt ...« Ein Zittern schüttelte sie. »Er ist doch nicht morphiumsüchtig?« »Ich glaube, nein. Wie soll man das wissen? Er ist so argwöhnisch. Er ist so auf seiner Hut. Das kam allmählich. Zuerst unter dem Vorwand natürlicher Beeinflussung, einer Erziehung, die er nachholen müsse. Denn mit süßem Lächeln pflegte er zu sagen: Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es! Er wollte mir seinen Geschmack aufzwingen, alles, wofür er Vorliebe hatte, seine absonderlichen Neigungen. Du weißt, daß er sich viel mit Literatur befaßt und ein hervorragender Musiker ist. Er forderte, ich sollte ihm stundenlang vorlesen oder ganze Nächte hindurch für ihn Klavier spielen. Einer Betonung wegen, die ihm mißfiel, eines langsamen oder zu kurzen Tempos halber gab es Nasenstüber, oder er kniff mich in den Arm, und man sah, daß es ihm Spaß machte, weh zu tun. Dann genügte ihm das nicht mehr. Er nahm sich eine Peitsche als Waffe. Zwischen uns lag sie hingestreckt wie eine Schlange, bereit zu zischen und zu beißen.« »O, Simone! Und das hast du geschehen lassen, du hast ein zweites Kind von ihm bekommen!« Daß so etwas passieren könne, vermochte Isabelle sich nicht zu denken; aber daß die Schwester nicht schon vor fünf Jahren ihr Joch zerbrochen hatte, das bestürzte sie.

Simone gab verworrene Erklärungen. Sie hatte zu viel zu sagen, und die Schwierigkeit, sich verständlich zu machen, lähmte sie. Denn von unsagbarer Scham verfolgt, begriff sie jetzt nicht mehr, daß sie so lange, so nutzlos sich gebeugt hatte. Er mußte sie fasziniert haben, ja, fasziniert durch seinen unbarmherzigen Willen, durch seine immer neuen Liebessüchte, seine leidenschaftlichen Gelöbnisse, durch das Flehen seiner Reue, durch die Geständnisse eines Kranken, der um Nachsicht bettelt, den man nicht verläßt, und der sofort nach seiner Genesung der vorigen Wildheit anheimfällt. »Betty! Denke dir: es war während einer Zeit der Beruhigung, einer Zeit von sechs Monaten, wo ich einen neuen, ganz um mich bemühten, dienstwilligen Sergius sah, einen Sergius wie vor unserer Hochzeit, als ob er von sich selbst befreit wäre. Das Mitleid hat mich schwach gemacht. Etwas Zuneigung war noch in mir, etwas, das stärker war als meine Empörung und meine Klagen. Ich glaubte, die Mühsal, die Not meiner Mutterschaft würde ihn rühren. In Wahrheit fürchtete er, ich könnte ihm entrinnen, und durch neue Pflichten wollte er mich wieder anketten. Er hat die Qual über mich verhängt, unaufhörlich wieder zu hoffen und unaufhörlich verraten zu werden. Ich sah das Trugbild eines Wesens, dem ich vielleicht verziehen hätte, hätte es sich wirklich umgewandelt, und das sich nur schmiegte, um dann desto gehässiger sich zu zeigen. Denn nach Bettys Geburt, ah! Da kam der Todeskampf. Ich stöhnte, stöhnte, stöhnte monate- und jahrelang. Und wenn ich mich nicht aufraffte, so hat mir nicht der Mut, hat mir nur in meiner Erschöpfung die körperliche Kraft gefehlt. Du ahnst nicht, nein, du kannst nicht ahnen, welches Grauen ich durchgemacht habe. Noch in den letzten Tagen in Florenz, wo er die Bonne der Kinder verführt hat, eine hübsche Engländerin. Und eines Abends hat er mich vor dem Mädchen, das dazu lachte, geohrfeigt. Das war zu viel. Alles in mir ist gesprungen. Ich bin geflohen, habe wie ein sinnloses Tier meine Kleinen mit mir davongetragen, du begreifst doch nun? Sage mir, um Gottes willen, sage mir, daß du begreifst.«

Nein: trotz ihrer Hellsichtigkeit konnte Isabelle ein solches Geheimnis nicht enträtseln. Die beklagenswerte Feigheit ihrer Schwester verblüffte sie. Gehorsam schuldet eine Frau, doch so weit! Eine Fabrecé, willensfest und ihrer selbst bewußt, wie sie alle! Simone, die sie gekannt hatte, als sie von Lebenslust strotzte, ein hochherziges, tapferes, stolzes Geschöpf! Daß sie sich so mit Füßen hatte treten lassen, bis sie seine erniedrigte Sklavin geworden war, der Schatten eines Weibes! Reichte eine unermüdliche Güte als Rechtfertigung dieses Zusammenbruchs hin, für dieses Versagen des Widerstandes in einer wohlgearteten Seele? Doch Simone hatte selbst keine Antwort. Die gegensätzlichsten Gefühle, die edelsten und solche, die man nur errötend gesteht; die Wehrlosigkeit der Seele und der Sinne in der Hand des despotischsten Bezauberers; das ohnmächtige, der ewigen Nachsicht der Frau entquellende Mitleid; das Widerstreben, den Angehörigen ein Unglück zu beichten, das man befürchtet hat, ohne es in solcher Größe vorauszusehen; ein Unglück, das sie in ihrer Unwissenheit und Unvernunft gewollt, mit inständigem Bitten und mit allem Trotz begehrt hatte; die hartnäckige Hoffnung auf eine bessere Zeit; ihre Kinder, für die sie mit einem ihren Irrtum büßenden Stoizismus sich opferte; andere heimliche Gedanken noch, die sie in den verborgensten Falten ihres Herzens zurückhielt und verschwieg – alles das hatte dazu beigetragen, das Netz der bösen Behexung über ihr dicht zusammenzuziehen, ihre Entschlüsse zu erwürgen, ihre Lippen zu versiegeln, ihr Grab zu verriegeln.

Die Hände Simones, ihre Stirn, ihre Wangen, ihr Leib brannten. Isabelle mußte ihr, da die Ueberredung nichts fruchtete, fast Gewalt antun, bis sie einwilligte, sich hinzulegen. Ein unsägliches Gefühl von Teilnahme war in der Schwester, und damit verschloß sie dieses Leid, von dem sie eine Erlösung doch nicht sah. Ueber die unbewegliche Gestalt gebeugt, murmelte sie sanfte, tröstende Worte, die einzigen, die hier paßten; Worte, die die Gebote des Schreckens verjagten. Hier hatte Simone nichts mehr zu befürchten. Wie würden alle, wenn sie es hörten, gegen Sergius erbittert sein! Die große Familie würde mit schützenden Armen sie umfassen; die Schwestern, um sie aufrecht zu halten; die Männer, um sie zu verteidigen. Sie war in Val-Montoir, zu Hause, im Heim ihrer alten Kindheit. Sie solle sich bemühen, nicht mehr zu denken und ein wenig zu schlafen; morgen werde man weiter sehen. Aber Simone ließ sich nicht einlullen. Anfangs durch ihr Geständnis entspannt, wurde sie durch das, was noch zu sagen war, erstickt, und ihre überreizten Nerven konnten weder den erregenden Glanz des Tages noch, bei zugezogenen Gardinen, das künstliche Dunkel ertragen. Die Schwester mußte wieder aufziehen.

»Höre,« sagte zärtlich Isabelle, die es jetzt mit der Angst bekam, »ich werde den Doktor hertelephonieren. Er wird dir etwas zu trinken geben oder beschwichtigende Pulver.« »Nein, keinen Arzt!« »Und auch einen uns so ergebnen Freund nicht wie Henri Le Jas?« Simone stieß einen leisen Schrei aus, und plötzlich sagte sie regungslos, wie angesichts einer neuen Gefahr: »Ihn nicht, ich will ihn nicht sehen! Versprich es mir!« Betroffen – wie war eine solche Ablehnung eines so erprobten Freundes zu verstehen? – fragte Isabelle: »Hast du Grund zur Klage über ihn?« »Nein,« antwortete Simone mit seltsamem Lächeln, »o nein ...« Und mit einem Seufzer wiederholte sie nur: »Ich will ihn nicht sehen.«

Was lag da an dunklen Wirrnissen noch vor? Isabelle drängte Simone: »Vertraue dich mir an, Liebe, bekenne deiner großen Schwester alles! Ist es etwas, das ich nicht weitersagen darf? Gewiß.« Die Hand Simones zitterte unter dem Druck der ihrigen. »Schone mich! Wenn du wüßtest ... Ich kann nicht ... Henri, ach, armer Freund!« Isabelle erschrak, da sie jäh einen Abgrund sich öffnen sah: »Wie denn? Er ist doch nicht ...« Das entehrende Wort ging ihr nicht über die Lippen. Nein, unmöglich! Simone, die so rein, er, der so aufrichtig war! Zwischen ihnen konnte nichts sein, für das sie nicht frei eintreten konnten. Und wann auch, wo und wie? Isabelle war in ihrem Glauben an das Gute, an Selbstachtung und Ehre außerstande, so etwas anzunehmen. Simone fuhr fort: »Ich will nicht von dir verachtet werden. Irre dich nicht! Zwischen Henri und mir, ich schwöre es dir, ist nichts Entscheidendes vorgefallen. Er hat nur Mitleid mit mir, ich nur Achtung vor ihm.« In einer Bewegung verletzter Scham, nicht um ihrer selbst willen, sondern der unglücklichen Schwester wegen, legte Isabelle ihr die Hand auf den Mund. »Ja! du selbst, du mußt es wissen. Aber nur für dich allein, für dich allein ... Mein Gott!« rief Isabelle schmerzlich. Sie bürgte für Simones Tugend, für ihren sittlichen Wert, als ob sie es selbst wäre. »Etwas ist leider da, das für uns verhängnisvoll werden kann, der Schein. Papiere, die Sergius mir gestohlen hat, und die ihm eine Waffe gegen mich in die Hand geben. Denn in unseren Empfindungen, denen Henris und meinen, ist nichts, das ich zu hehlen hätte; sie sind ehrenhaft.« Isabelle betrachtete die Schwester voll ratloser Milde. Die vertrauliche Anwendung jenes Vornamens schien ihr unpassend. Welche Sophismen des Herzens wollte Simone sich leisten, auf welchen abenteuerlichen Wegen des Unterganges hatten sie sich verirrt? »Immer«, sprach Simone, in die Kissen sich lehnend und angestrengt atmend, »habe ich seinen Freimut, die Klarheit seines Denkens, die Einfachheit seines Wesens hoch geschätzt. Als ich ein junges Mädchen war, hätte er mir mehr gefallen, hätte ich für jemanden außer Sergius einen Blick übrig gehabt. Das war meine Verblendung. Als ich verheiratet war, sah ich Le Jas gern wieder. Als Arzt gewann er mich durch schonende Rücksicht, als Freund durch seinen Takt. Doch erst im vergangenen Sommer traten wir in nähere Beziehungen. Er ahnte mein Leid, ich habe ihm manches anvertraut.« »O, Simone!« »Was willst du? Ich starb langsam dahin. Ist sein Mitleid noch tiefer geworden? Ist ein anderes Gefühl in ihm, das er seit langem zurückhielt? Er selbst hat mir das schmerzliche Geheimnis seines Lebens, das er niemandem mitgeteilt hatte, gestanden. Er hat mir gesagt, daß er verheiratet, und warum er es geblieben ist.« Isabelle rief widersprechend aus: »Verheiratet! Und das hat er verborgen! Alle meinten, er sei Witwer, und er selbst ...« »Er ist verheiratet! Davon zu reden ist ihm mißlich. Seine Frau ist für ihn wie tot, aber sie lebt. Er kann sich nicht scheiden lassen, sie weigert sich. Ihr einziges Unrecht gegen ihn ist, daß sie ihm das Leben durch Unvereinbarkeit des Temperaments und durch Szenen vergiftet hat, die die Ehe unmöglich machen, aber vor dem Gesetz sie nicht aufheben. Sie ist bigott, eitel, dumm und boshaft.« Ohne den Fingerdruck Isabelles wahrzunehmen, die ihr bedeuten wollte, mehr Menschenliebe und Gerechtigkeit zu üben, erzählte Simone weiter: »Seit fünfzehn Jahren leben sie in freiem Einverständnis getrennt. Er zahlt ihr eine Pension. Sie haust in Brügge in einem Beguinenkloster, den Kopf voll von Klatsch und Gebeten. Du siehst also: in unserer Trauer, in unserer Misere, die einander glichen, haben wir zueinander verinnerlichte Neigung gefaßt. Wir hatten das Bedürfnis nach gegenseitiger Aussprache, und so sind wir dazu gekommen, uns zu lieben.« »Habt ihr es euch wenigstens niemals gesagt?« »Gesagt? Nein. Wir haben im vorigen Jahre wie sonst einander als Freunde verlassen, aber wir fühlten, daß sich in uns eine Wandlung, eine neue Richtung unserer Gedanken, vollzogen hatte. Unsere Existenz hatte ein Interesse, fast ein Ziel. Wir haben einander geschrieben.« »Wie unvorsichtig!« »Von mir? Ein ernster Verstoß war es gewiß nicht. Ich schrieb ihm von meiner Pein, die damals unerträglich war. Dieser in meinem Schreibtisch eingeschlossene Brief ist wie durch Zauberei verschwunden; Sergius wird ihn mit Hilfe eines Nachschlüssels gestohlen haben, aber er, Henri ...« »Komm zu Ende!« bat Isabelle. »Ein einziges Mal hat er mir während der Abwesenheit meines Mannes einen langen Brief geschrieben, worin er es über sich brachte, mir zu gestehen, daß er unausgesetzt an mich denke, daß er mit meinem Unglück sich nicht abfinde und alles gäbe, um mich diesem Kerker entrinnen zu sehn, mit einem Wort, daß er mich liebe!« »Oh, ein solches Vergehen! Ich hätte ihn dessen nicht für fähig gehalten.« »Diesen Brief hat mir noch am selben Abend ein Lakai, der für Sergius spionierte, geraubt. Nie habe ich ihn wiedergesehn.« »Und seitdem?« »Wir haben uns in diesem Winter ein einziges Mal ganz kurz getroffen, im Vestibül eines Hotels in Rom. Wir kamen an, er reiste ab. Ehe Sergius dazutrat, habe ich ihn zitternd verabschiedet. Und das war alles, du kannst mir glauben.« »Aber er liebt dich?« »Ja!« Ein armseliger Strahl des Stolzes erleuchtete Simones Gesicht. »Und du, du ...« »Auch ich liebe ihn.« »Und dann, armes Kind?« »Nun, und dann?«

Simone fiel in ihre Kissen zurück. Ein langes, bedrückendes Schweigen entstand. Sie hatte die Augen zu. Ueber ihre Lippen irrte das gleiche, sonderbare, beängstigende Lächeln wie vorhin. Dann erlosch diese Helligkeit, und auf ihrem Gesicht, das wieder stumpf geworden war, lag nur noch eine Niedergeschlagenheit, von der es keine Befreiung gab, das Siegel eines Schicksals von bleierner Schwere. So ergreifend war dieser Ausdruck bei einem so jungen Menschen, daß Isabelle sich das Herz umdrehte. Mit Erbarmen betrachtete sie ihre Schwester, deren Augen geschlossen waren wie die einer Toten, und mit Haß gegen Sergius und mit Unwillen über Le Jas verdammte sie den Mord einer Seele. Der eine, der nach dem Gesetz dazu befugte Bandit, hatte langsam und feig sie gefoltert, und nun schickte der andere, der Ehrenmann, mit aller seiner Liebe sich an, in tödlichen Qualen ihr den letzten Stoß zu geben. Kinderstimmen erschollen, kleine Hände klopften an die Tür: »Wir wollen Mama sehn!« Simone flüsterte, ohne die Augen aufzutun: »Laß sie herein!« Sie hatten die Arme mit Blumen beladen; das war eine von Antoine der Schwester erwiesene Liebe. Isabelle führte die Kinder, die ihr wie Verkünder des Morgenrots erschienen, zum Bett. Sie waren das Lächeln des einzigen Lebens, das der Unseligen noch vergönnt war. Mit heftiger Bewegung zog Simone sie an sich: »Meine Kleinen, meine Kleinen!« Und haltlos schluchzte sie.

V.

Fünf Uhr abends. »So war es also,« sagte Le Jas in knappem Ton. Er saß in Florents Zimmer auf dem kleinen, roten Diwan; und der junge Mann sah mit freundschaftlicher Teilnahme zu ihm hinüber. Le Jas hatte die Ellbogen auf die Knie gestemmt, den Kopf in den Händen, und er verharrte in dieser Stellung hoffnungsloser Betrübnis, die bei einem Mann so erschütternd wirkt: »Sie hat mich nicht empfangen wollen. Zweimal hat sie es mir verweigert.« Florent blickte stolz auf. Ihm schmeichelte ein Vertrauen, das in einer Wahlverwandtschaft des Geistes ihn unter seinen Brüdern auserkoren hatte, und doch war er überrascht; denn im Alter waren sie sehr verschieden, und nie spielte sonst der sehr verschlossene Le Jas auf seine persönlichen Empfindungen an. Zu wissen, daß ein solches Gefühl Simone galt, war seinem eifersüchtigen Familiengeist, seinem brüderlichen Schicklichkeitsbegriff nicht angenehm, und dennoch rührte es ihn. Denn seine ursprüngliche Natur genoß alles wie ein Abenteuer und suchte in den ersonnenen Handlungen der Dichtung und im Leben das furchtbare, drohende Geheimnis der Liebe. Wie mußte Le Jas leiden, wenn sein Herz hier vor ihm so plötzlich sich entladen hatte, und was für ein Schurke war dieser Polotzeff, der ihm bisher als unendlich geistreich, scharfsichtig, anziehend erschienen war. »Sie wissen, wie sehr ich Frau Jacquemer verehre. Ihre Strenge trifft mich ungemein hart.« In langem Gespräch war Isabelle mit Le Jas so ins Gericht gegangen, daß er, dem sein Gewissen keine Schuld vorwarf, sich jetzt schuldig fühlte. Den Brief, in dem er seine ganze hervorbrechende Zärtlichkeit ausgesprochen hatte, diesen unvorsichtigen Brief rechnete sie ihm zum Verbrechen an. Er sollte so unedel sein, die Frau eines Freundes verführen zu wollen – und Polotzeff war ja nicht einmal sein Freund –; er sollte daran denken, eine flüchtige Schwäche zu mißbrauchen! Was hatte er anderes erträumt, als einer Unglücklichen zur Freiheit zu verhelfen? Seine Empfindung für Simone war so rein, daß er sie laut hätte ausschreien mögen.

»Hoffen Sie,« sprach Florent bewegt. »Alles löst sich, im Guten oder im Schlimmen.« »Im Schlimmen,« seufzte der Arzt. »Von Ihrer Familie beargwöhnt zu werden, wäre mir unerträglich.« Florent packte in seinen Koffer Wäsche, ein paar Bücher, ein paar Kunstgegenstände. »Ach ja, Sie sollen abreisen,« bemerkte Le Jas entmutigt. Florent fühlte, wie sein ganzer Kummer wiederkehrte. Jean-Marc vergaß nicht. Eben noch hatte er ihm Unterweisungen gegeben, und jetzt konnte er gerade noch den Zug erreichen. In einem solchen Zeitpunkte abfahren zu müssen, gleich nach der Ankunft Simones, einen Tag vor der des Konsuls! An einen Aufschub war nicht zu denken. Wie einst in der lustigen Schulzeit ersehnte Florent ein von der Vorsehung zu gewährendes Hindernis. Wenn seine Schwestern sich ins Mittel legten? Aber er war doch kein Schuljunge mehr, und er hatte sich verpflichtet, zu gehorchen. Konnte er sich nicht den Fuß verrenken, oder von Cholerine befallen werden? Nichts war zu machen. »Sie wären noch dagewesen,« murrte Le Jas. »Sie sind ein guter Bursche, Florent, Sie haben Herz. Was ich da bei Ihnen versuche, ist vielleicht nicht allzu korrekt. Aber habe ich eine so rauhe Behandlung verdient, bin ich nicht völlig ehrenhaft? Was ist von mir zu befürchten? Simone liebt Sie besonders. Sie hätten ihr sagen können ... Sie hätten erfahren, ob sie mich nicht mehr liebt, oder ob ...« »Ja, ja,« entgegnete Florent, in zunehmendem Aerger und in zunehmender Bewunderung, wie eine starke Leidenschaft die sprödesten Naturen überwältigt! Armer Henri! Donnerwetter, er hätte den beiden schon helfen wollen! Doch wie, da er abreisen mußte?

Antoine trat ein: »Jetzt ist es so weit.« Und nun entsann Florent sich wieder des anderen. So gern wäre er geblieben, um zu wissen, was mit Antoine sein würde. Der Gedanke, Miche zu heiraten, war vielleicht nicht sehr gescheit; und wie würde der Vater ihn aufnehmen? Aber kühn war er, aus der schönen Logik eines ehrlichen Herzens geboren. »Da,« – er nahm das Bassin vom Holzgestell – »ich schenke dir meine Frösche.« »Nun,« meinte Antoine, »wenn du nichts dagegen hast, trage ich sie zurück in den Waldsumpf.« Die vererzte Eidechse flog durchs Fenster. Aus einer Lade nahm Florent seinen Revolver. Er wollte ihn in die Tasche an seiner Hüfte stecken; da hörte man einen Motor in der Luft schnurren. »Ein Aeroplan!« Antoine beugte sich vor, und Le Jas blickte in die Höhe zu dem leinenen Vogel, der im umrahmenden Himmel pfeilschnell dahinschoß. Man hörte einen Knall, der trocken klang wie ein Peitschenhieb. Le Jas sprang empor. »Was ist los?« rief er verdutzt. Florent, dessen Revolver noch rauchte, rief, indem er Grimassen schnitt: »Ich bin aber ein Tölpel!« Kalten Blutes hatte er, die allgemeine Unaufmerksamkeit benutzend, sich in den Oberschenkel, knapp unter der Haut, eine Kugel gejagt. Die Stimmen schwirrten durcheinander. Mit Fragen bestürmt, gab Florent Auskunft, und gelehrig ließ er sich verbinden. Potztausend, das tat weh! Wenigstens brauchte er so nicht abzureisen.

Zwischen Simone und ihm ging nun eine doppelte Sympathie hin und her. Die große Familie, die so regelmäßige Gewohnheiten hatte und ihren friedlichen, machtvollen Gang zu gehen pflegte, fühlte sich von stärkeren Gefühlen erfaßt; Neugier, Interesse, Mitleid und Zorn stießen in lastender Gewitterluft zusammen. Denn als man über Florent beruhigt war, wandte die Sorge sich wieder Simone und ihrem Unglück zu. Man hielt sich an das, was Isabelle eröffnen zu dürfen geglaubt hatte, indem sie auf den besonderen Wunsch ihrer Schwester Sergius' letzte Roheitsakte und alles, was Le Jas und sie betraf, verschwieg. Uebrigens hatte Armande, die sich Einlaß erzwang, einige vertrauliche Mitteilungen erhalten, und Simone hatte darauf bestanden, mit Sophie eine Unterredung unter vier Augen zu haben. Auch Frau Fabrecé und Frau Siglet-du-Salt hatte man Ereignissen nicht fernhalten können, in die man sie nach und nach, mit Rücksicht auf das Alter der einen und auf den Gesundheitszustand der anderen, einweihte.

Jeder gab seinem Charakter gemäß seine Empfindungen kund, die Großmutter mit unbestimmbarem Ekel, die Mutter mit Zeichen des Schmerzes, der Gouverneur und Armande mit Entrüstung, die Oberverwalterin empört und Antoine mitleidsvoll. Olivier und Cyrille schwiegen, der erste betrübt, der zweite aus einem Uebermaß von Diskretion, und weil sein eigenes Gebrechen ihn quälte. Ihm ward bewußt, wie er bei der allgemeinen Erörterung den anderen nachstand, wie sie ihn oft vergaßen und oft mit allzu sichtbarer Vorsicht befragten. Meinungen, Ratschläge, Anschuldigungen durchkreuzten sich. Jean-Marc erklärte barsch, man habe Simone in jeder Tonart gewarnt, und sie büße jetzt nur ihren Starrsinn. Sophie neigte zu einer gesetzlichen Trennung, worauf Isabelle erwiderte, daß Simone, obwohl unendlich beklagenswert, nicht allein auf der Welt sei und man vor allem das Wohl der Kinder erwägen müsse. Konnte sie davon absehen, ohne zu wissen, wie am Ende eines solchen Prozesses die Behörden entscheiden würden? Jean-Marc, der mit dem Präsidenten des Zivilgerichts auf bestem Fuße stand, erklärte laut, er nehme die Sache auf sich. Dann lenkte er mit derselben Energie um und mißbilligte die höchst schädlichen Folgen, die ein Skandal und sein Widerhall für den großen Namen des Vaters und aller Fabrecés haben müßten. Uebrigens war die Trennung nur eine verkappte Ehescheidung, denn drei Jahre später ... Die Scheidung sofort zu verlangen, hatte denselben Vorteil für sich und dieselben Unannehmlichkeiten gegen sich. Und dann sei Polotzeff auch ein verrückter Mensch, den man nicht länger als Verwandten ertragen könne. Ja, überbot Armande noch, aber auch an die Jugend Simones müsse doch gedacht werden. Sie könne gefallen, sie könne sich wieder verheiraten und diesmal glücklicher werden. Skeptisch und ein wenig bitter lehnte Sophie mit einer Kopfbewegung ab. Von einer zweiten Heirat sei keine Rede. Doch Simone könne in einsamer Würde, so wie in edler Witwenschaft, sich ihren Kindern widmen und nur noch ihnen leben. Unwillig, die anderen so mit der besten Absicht über das Schicksal der Schwester verfügen zu hören, stotterte Antoine, wie er in der Erregung manchmal tat: »Eigentlich, na eigentlich ist Simone doch alt genug, selbst zu bestimmen.« Jean-Marc sandte ihm einen durchbohrenden Blick, Sophie machte eine abweisende Miene. Nachsichtig gegen Florent – wer kennt die Launen des Herzens? – hatte sie für Antoine, der zu sehr von den übrigen sich unterschied, nur absprechenden Tadel, obzwar sie ihn nach ihrer Art liebte.

Von oben herab schloß Jean-Marc den Streit: »Der Vater wird sich der Sache selbst annehmen und hierin wie immer am besten für die Interessen der einzelnen und der Familie Sorge tragen.« Die Familie! Er betonte das Wort wie ein Symbol, wie eine Glaubenshandlung, ein Dogma, dessen höherem Gebot die Selbstsucht eines jeden nach dem Gesetz sich zu opfern hatte. Und der Blick, mit dem er Antoine maß, erinnerte daran, wie übel er die Auseinandersetzung am heutigen Morgen empfunden hatte; wie tief er in seinem persönlichen Stolz und in seinem Begriff von der Achtung, auf die die Gesamtheit ein Recht habe, gekränkt war. Die Bäuerin will er heiraten? Warte noch ein wenig, mein Junge!

 

Beim Nachtmahl war alles noch erregt, und spät ging man zur Ruhe. Endlich verdunkelten sich die weiten, von elektrischem Licht flammenden Fensteröffnungen; nur dünne Strahlen noch drangen aus den Laden. Dann versank das große Haus in Finsternis. Doch schlummernd oder wachend spann jeder seine ernsten Gedanken oder seine Träume fort.

Müde und vom Fieber heimgesucht, sah Florent sich in London, einen Polizistenhelm auf dem Kopf, mit dem Sohne des Direktors des großen Buchverlags Purgers u. Son Ale schlürfen. Polotzeff kam hinzu, in Gesellschaftsanzug und Lackschuhen, doch mit nacktem Oberleib. Auf seiner Haut klebten wie Pflaster rote Plakate, Reklame für die Seife » Miche Soap«, mit dem Bilde Michettes in einem Medaillon, das wie eine Rasierschüssel aussah. Sardonisch lachend, das Monokel im Auge, zog Polotzeff aus seiner Tasche gesottene Krebse, die er sich zum Hohn ins Haar flocht. Dann sah Florent, in einer Bar auf hohem Sessel sitzend, die Cockneys von London Gin trinken. Polotzeff fiel wie eine Riesenfliege von der Decke herab und summte, mit den Armen um sich schlagend. Aus dem Kinn ragte ihm ein Elefantenrüssel, und er packte damit den Hals einer niedlichen Girl, die sich wütend umwandte. Wie, Simone, hier? Außer sich gab Florent auf seinen Schwager fünf lautlose Revolverschüsse ab. Er sank in den Parkettboden ein, der jetzt ein Pfuhl geworden war, in dem die ganze Bar, Schanktisch, Stühle und Gäste allmählich verschwanden. Der Untergang im Schlamm war es, der Tod. Zu Hilfe! Aber Florent konnte nicht schreien und erwachte, die Stirn in Schweiß gebadet. »Wie dumm!« ächzte er, während er versuchte, sich auf die Seite zu legen und wieder einzuschlafen.

Sophie hätte gern bei ihrer Mutter gewacht, die ihren Vorschlag jedoch ablehnte. Nun wollte sie nachsehen, ob Frau Fabrecé etwas brauche. In Nachtjacke und kurzem Rock, die Stirn mit Wickellocken umsteckt, die Schlänglein glichen, zeichnete sie mit ihrem Schatten sich von der Wand ab, an der – denn sie hatte Angst bei Nacht – zuckend der dürftige Kerzenschein umherirrte. Frau Fabrecé erwachte nicht. Das Licht verdeckend, betrachtete Sophie sie voll Zärtlichkeit. Eine lange Weile blieb sie unbewegt stehen. Wie schön war ihre Mutter, welcher Friede lag auf diesem Antlitz, in dem wie in einem Buch die Weisheit eines langen, tätigen, idealen, ohne Vorbehalt den Ihrigen hingegebenen Daseins zu lesen war! Jetzt, nach vollbrachter Arbeit, stieg sie, trotz ihrem Anteil an Simones Qual, von der Natur besiegt, in die Tiefe jenes Schlafes hinab, dessen Ruhe bei alten Leuten so sehr der des Todes ähnelt. Sophie lauschte ihrem langsamen, gepreßten Atem. Die gute Mutter war müde. Der düstere Gedanke, der alle Wesen verfolgt, drängte sich ihr auf. Doch an die Hoffnung und an den Willen zum Leben sich klammernd, scheuchte sie ihn aus der Gegenwart dieser Frau, die so vornehm ihre Mission erfüllt hatte und noch lange Jahre leben sollte. Sie beneidete sie. Ihre Mutter hatte die Ehe zu einem wahren Sakrament erhoben, zu einem Werk des Lebens und der Seele. Aber war das nicht eine glückliche Ausnahme, die in ihrer Tugend so sehr begründet war wie in dem überlegenen Charakter des Vaters? War dieses schwierige Verhältnis nicht voll von Gefahren und seelischer Not? Zeuge dessen war das Ehepaar Cyrille, das in sich selbst so glücklich, doch kinderlos war; Zeuge das Ehepaar Jean-Marc, bei dem die Gegenwart der Töchter aus erster Ehe einen schleichenden Unfrieden hervorrief. Eine Zeugin war Simone, der ihre Kinder eine Bürde mehr und eine Pflicht zugleich waren. Jean-Marc war mit Claudie nicht glücklich gewesen, er lernte mit Armande es zu sein. War diese Ehe vollkommen? Nein. Von den Polotzeff war nicht zu reden. Welcher jammervolle Fehlschlag! Derart tröstete Sophie sich über ihre eigene Ehelosigkeit. Plötzlich fiel ihr Virquot ein, und es wurde ihr schwer, jetzt nicht an ihn zu denken. Hatte sie nicht bessere Anträge ausgeschlagen? Und doch fühlte sie manchmal trotz ihres altruistischen Wirkens eine Verlegenheit in sich. Eine alte Jungfer! Dunkel litt sie unter der Entbehrung einer menschlichen und sozialen Funktion. Kinder fehlten ihr. Sie dachte an Nénette und Mimi. Dabei hätte sie sie nicht erziehen mögen, da sie sich als hierzu nicht tüchtig erkannte. Sie selbst wollte Kinder haben wie die anderen, Kinder, die durch die Einheit des Fleisches und des Schmerzes mit ihr zusammenhingen. Nénette und Mimi! Arme Mädchen! Im Grunde, das war ihr heute klar geworden, war auch die Großmutter nicht ihre berufene Schützerin. Deren Liebe blieb kindisch und blind, ohne Weitherzigkeit, in Kleinigkeiten anspruchsvoll, mit dem Schein der Ordnung sich begnügend, und schon so fern. Sie war sehr gealtert; viele Zellen waren in ihr vertrocknet, die nicht wieder aufleben konnten. Auch hierin war nur auf Isabelle zu zählen. Doch, wie sonderbar und traurig, die Gewißheit, daß Isabelle der beste Hort für Claudies Töchter sei, flößte Sophie eine unfreiwillige Eifersucht ein, so wie vorhin, als sie sie gerufen hatte, das vertrauliche Geständnis Simones zu empfangen. Das waren häßliche Empfindungen, die es schnell zu verjagen galt. Still ging Sophie hinaus. Als sie ihr Zimmer wieder aufsuchte, wäre sie fast bei Simone eingetreten. Das wäre liebevoll gewesen. In behutsamer Rücksicht stand sie davon ab. Sie sah Licht in Oliviers Kammer und zögerte anzuklopfen. Wenn er nun krank war. Aber sie drängte ihren unangewandten guten Willen zurück. Sie dachte als reifes und schamhaftes Mädchen an ihre Wickellocken, ihre Nachtjacke und ging vorüber, ohne stehen zu bleiben.

Bei versperrter Tür schrieb Olivier einen langen Brief. Manchmal hielt er inne, ließ die Feder fallen und betrachtete starren Blicks, in Träumerei verloren, die Wüste seines Lebens. Ohne Schmerz noch Freude, flach und eintönig, dehnte sie sich vor ihm aus. Wo war die Glut seiner Anfängerjahre, als er Saint-Cyr verließ und ins Heer eintrat? Hatte er nicht gewähnt, seine Stirn sei mit dem Flammensiegel gezeichnet? Hatte er sich nicht dem Berufe des Soldaten gewidmet wie Missionare dem Apostelberuf? Jetzt machte er die Krise des Zweifels und der Leere durch, in der brennende, ungesättigte Seelen zu ihrer Zeit sich suchen, um sich wiederzufinden oder zu verlieren. Was hatte er über das hinaus erhofft, was ihm zuteil geworden war? Ein Leben der Entsagung, der körperlichen Ermüdung, des sittlichen Strebens; ein Leben, in dem die rauhe Berührung mit einfachen Menschen seinen Charakter festigte, ohne sein Mitleid abzustumpfen. Woraus erklärte sich also dieser wachsende Ueberdruß an seiner Laufbahn? Nicht im Müßiggang einer Garnison oder im Spiele des Kleinkriegs verbrachte er sie, sondern in erschöpfenden Märschen, mit kurzen Befehlen und Gewehrsalven dazwischen, und mit Ruhepausen nachher, deren Zweck war, seine Leute zu erziehen und sich selbst auszubilden. Zucht, Arbeit, Wille waren sein Katechismus. Hätte nicht er, der in allem nüchtern war, ein Asket, der allnächtlich wachte, um zu lernen, und unablässig seine Seelenkraft vorwärts trieb, wenigstens die strenge Befriedigung spüren müssen, die das Bewußtsein geleisteter Pflicht verschafft? Und doch war in ihm keine Regung des Glücks.

Mechanisch zerrte er an seinem Schnurrbart und nahm die Feder wieder auf: »Glauben Sie nicht, Fräulein, daß ich den unvermeidlichen Schäden eines Berufes zu große Wichtigkeit beimesse, der, von Menschen ausgeübt, ihre Unvollkommenheit verrät. Ich fühle mich nicht unglücklich wegen irgend einer Strapaze, einer Zurücksetzung, oder der schlechten Laune eines Chefs. Nach dem Beispiel André Sarnels, Ihres geliebten Bruders, habe ich von jeher dem Gehorsam und der Notwendigkeit alles geopfert. Doch ich bin weniger wert als er, der nichts wünschte als das Schicksal, das er sich bereitet hatte, während ich mich von einer Unruhe zerrissen fühle, die, unbestimmt zuerst, von Tag zu Tag mehr Herrschaft über mich gewinnt. Ich glaube, Fräulein, daß für uns Soldaten, die wir Selbstlosigkeit und Einsamkeit gelobt haben, das Schauspiel des Familienlebens nichts taugt. Darf ich es Ihnen gestehen? Mehr als einmal hat mich inmitten meiner Angehörigen der Gedanke überkommen, daß neben der Mission des Soldaten, einer der höchsten für den, der ihre männliche Schönheit zu begreifen vermag, es andere Formen der Tat gibt, die uns näher liegen und vielleicht auch jenem Glück, dessen Vorstellung alle Wesen bezaubert und enttäuscht. Ich sage mir, daß große Süßigkeit in den Worten liegen muß: eine Frau, Kinder, in der endgültigen Vereinigung zweier Menschen, die sich schätzen, die gleiche Richtung des Geistes haben und auf Leben und Tod sich einander ergeben. Ich frage mich dann, ob ich nicht bisher sehr hoffärtig war zu denken, daß ich allein mein Heil im philosophischen Sinne des Wortes mir erringen kann, und ob nicht eine liebe Gefährtin ...«

Olivier hielt nochmals inne. Er stand auf, nahm die Photographie Sarnels und überdeckte sie mit den Fingern, so daß nur die klugen, gütigen Augen erschienen, die auch die Augen von Fräulein Elisabeth Sarnel waren. Sie war in seinem Alter, zweiunddreißig Jahre, und besaß in einem schwachen Körper eine erlesene Seele. Ihre Sympathie und ihre Freundschaft wuchsen unter den Auspizien des dem Toten geweihten Gedächtnisses. Für keine Frau, bis auf Isabelle, hatte Olivier solche Achtung empfunden. Sein mißtrauisches, stummes Wesen hatte sie gezähmt. Zu ihr fühlte er Vertrauen, vielleicht weil sie keine Gefallsucht zeigte, weil sie nicht schön im landläufigen Sinne war, eher häßlich, trotz ihres herrlichen Haars und ihres Blickes, der durchdringend war wie ein schöner Gedanke. Er setzte sich wieder. Sein Mund zog sich in einer Falte der Schwermut zusammen. Weshalb sollte er diese Dinge schreiben? Hat man nicht jede Beichte nachher als Schwäche zu bedauern? Und vor allem diese, die Fräulein Sarnel betrüben oder im Gegenteil verwirren mußte? Kein Straucheln, Olivier! Nicht der gewöhnlichen Ehrsucht der Menschen hatte er seine Dienste gelobt, sondern einer höheren Gesamtheit, dem Vaterland selbst, das unumschränkte Ergebenheit forderte, unangetastet von irgend welcher Neigung, unbegrenzt von irgend welcher anderen Pflicht. Kannte er eine Frau, die Fräulein Elisabeths wert war, und konnte er sie heiraten? Warum nicht? fragte er sich. Ach was! war seine Antwort. Und er zerknitterte den begonnenen Brief und setzte ihn mit einem Streichholz in Brand.

VI.

Die Nacht rückt vor, und mehr als ein ängstlicher Gedanke wacht noch. In ihrem dunklen Zimmer sprechen die Jacquemer leise miteinander, und es scheint Cyrille – ihm ist, als sei dies Sünde –, daß Isabelle in dieser vertrauten Stunde noch mehr sein ist und noch mehr ihm ähnelt, da auch sie durch den schwarzen Sammet der Finsternis nicht hindurchzusehen vermag. Sie haben alle ihre Ahnungen und Befürchtungen für Simone dargelegt, und nun reden sie von den Töchter Claudies. »Sie sind unglücklich,« sagt Cyrille. »Und doch ist Armande nicht bösartig.« »Gut ist sie auch nicht. Sie ist selbstisch und eifersüchtig.« »Vielleicht wird sich das geben?« »Auch du glaubst nicht daran, Isabelle. Die Zeit heilt niemals, sie verschlimmert nur das Uebel.« Sie erriet das, was er nicht aussprach; niemals, das wußte sie, tröstete Cyrille sich. Seine armen Augen ... »Nénette und Mimi sind lieblich,« wagte sie zu bemerken. »Wir können sie nicht zu uns nehmen.« »Und doch scheint mir, daß man die Kinder einer anderen Frau lieben kann.« »Das scheint dir, weil du selbst keine hast.« Wie traurig sind diese Worte, in denen kein Vorwurf liegt, sondern ein ungeheurer Gram! Cyrille fügt hinzu: »Es ist doch besser so, denn ich könnte sie nicht sehen.« Immer dieser Egoismus eines Gebrochenen! Er verbessert sich: »Aber du, Liebe, würdest sie sehen können.« Und nach kurzem Schweigen: »Du schläfst nicht?« »Nein, Freund.« »Soll ich dir sagen, woran du denkst?« »Ja.« »Daß Nénette und Mimi, wenn sie bei uns wären, nicht mehr Enterbte wären.« Isabelle preßt seine Hand; denn auch in der Nacht eint dieses schweigende Band sie. »Das ist wahr.« Er seufzte: »Das Leben ist schlecht eingerichtet und unser Herz unersättlich. Du machst mich so glücklich; was brauchen wir Kinder? Nähmest du eine solche Bürde auf dich, so hätte ich weniger von dir. Und dann sei gewiß: weder er noch Armande würden sie uns überlassen.«

Auch Simone schläft nicht. Zuweilen schließt sie die Augen und ruft den wohltätigen Schlummer herbei. Doch ihre Gedanken arbeiten, und ein Tumult von Erinnerungen bestürmt sie. Ist sie wirklich hier und gerettet? Aber morgen, das Unbekannte? Sie lauscht. Nein, im anstoßenden Zimmer, dessen Tür offen steht, schlafen ihre Kinder einen guten Schlaf. Ach, hätte sie sie nicht! Doch sie sind da und hatten nicht selbst den Wunsch, geboren zu werden. Sie sind die unschuldigen Gläubiger der Zukunft, sie besitzen die Hoheitsrechte des Stammes, der leben und sich entfalten will.

Simone sieht keinen Ausweg. Kann sie zu Sergius zurückkehren? Unmöglich! Er wird flehen, drohen, versprechen, er wird fordern, daß sie seinem Joch sich wieder unterwerfe. Er wird die Maske und die Stimme annehmen, die am besten geeignet sind, sie zu überzeugen, ihren Argwohn einzuschläfern, sein Unrecht abzuschwächen. Er kann nicht ohne sie sein. Er muß an ihr seine grausame Lust stillen, ihr seine mißhandelnden Worte zuschleudern, sein höhnendes Lächeln, seine Blicke, die auskleiden und beschmutzen. Den schmachvollen Verrat will er und die Peitsche und alles andere. Er muß die Qual voll machen, an der er, der wahnwitzige Sadist, sich berauscht. Nie wieder kann sie mit ihm leben. Was soll sie tun? Wenn sie die Scheidung verlangt, so wird er die Stirn haben, den Debatten eines Prozesses von zweifelhaftem Ausgang zu trotzen. Ja, zweifelhaft. Allzu gut kennt Simone den schrecklichen Leidensgang einer Freundin Claire Jayant, die endlich der Tod von ihren Leiden befreite. Claire hat geklagt, ohne die Untreue und die Brutalität ihres Gatten beweisen zu können. Zum Beweis bedarf es der Zeugen, die zur Stelle sind und zu reden wagen. Die Untersuchung ist eine Falle. Jayant hatte einen geschickten Anwalt und Freunde unter den Gerichtsbeamten. Fünf Jahre lang hat Claire, durch alle Schlupfwege eines unehrenhaften Verfahrens aufgehalten, nach ihrer Freiheit getrachtet. Von der ersten Instanz wurde sie an eine zweite weiter geschickt, und endlich lehnte man ihre Klage ab. Wieder kam sie in das Abhängigkeitsverhältnis der Gattin, ward sie ihrem Häscher zurückgegeben. Sie liebte einen Menschen von Herz und Gefühl, sie hatte sich ihm verweigert, da sie immer noch hoffte, und der Hoffnung gelebt, ein Heim des Friedens und der Ehre sich wieder erbauen zu können. Statt unter das Dach ihres Gatten zurückzukehren, der sie von Rechts wegen dazu auffordern ließ, und um dem Zwang der Richter zu entgehen, die ihr Kind von ihr wegrissen, hatte sie mit gräßlichem Mut sich getötet, indem sie mit einer langen Hutnadel sich ins Herz stach. Wenn Sergius die Scheidung verschmähte, dann war zu erwarten, daß er sich mit allen Mitteln verteidigte und, um sie bloßzustellen, die gestohlenen Briefe öffentlich vorwies. Wollte er in einer Gegenklage die Scheidung beantragen, so war kein Hindernis, daß sogleich, ihr zum Trotz, die Kinder ihm zugesprochen wurden. Sie mußte zusehn, wie man sie ihr nahm. Sie war dann nur noch die Besucherin, der es zweimal wöchentlich erlaubt ist, Mutter zu sein.

Wenn unter dem Einfluß von Pierre Fabrecé – und dann mußte der Vater, der einen so reinen Namen hatte, darein willigen, daß dieser im Gewühl umhergezerrt wurde – das Gericht das Unrecht zu gleichen Hälften bemaß und beide für schuldig erklärte, wem würde es die Kinder zuerkennen? Sie würden wohl geteilt werden. Er bekäme Iwan und sie Betty. Doch das war unerträglich. Nicht ihre Tochter noch ihren Sohn konnte sie einem solchen Menschen ausliefern. Was würde er aus ihnen machen, unglückliche oder verworfene Geschöpfe?

Kein Ausweg! Und Henri Le Jas liebte sie und sie ihn. Hier hatte sie eine Aussicht auf Glück, eine Möglichkeit der Rettung, einer neuen Existenz. Er wäre ihr ein rechtschaffener Führer, er würde ihre Kinder erziehen und ihnen Vater sein. Aber das Verhängnis wollte, daß, wurde sie jemals frei, er in einem Bund ohne Schönheit gefesselt blieb. Einer Ehe? Einem Kerker, aus dem es kein Entrinnen gab. Konnte sie Henri heiraten? Nein, solange seine Frau lebte; und Frau Le Jas war siebenunddreißig Jahre alt und gesund. Kein Ausweg, kein Ausweg! Sollte sie wie andere tun, ihre Liebe verbergen und unter der zum Schein untadeligen Fassade ... Nein, nein, sie wollte nicht eine von den Frauen werden, die zwischen fünf und sieben verschleiert und ängstlich aus einem Wagen steigen und in eine diskrete Wohnung im Erdgeschoß schlüpfen. In ihren Augen war das nicht minder erniedrigend als ein offener Ehebruch. Eine Fabrecé: zu sehr achtete sie sich selbst und den Namen, den sie trug. Alles, hätte sie ihn vergessen, mußte sie hier an ihn erinnern: das Zimmer, in dem sie auf Regalen die Kunstgegenstände und Bücher ihrer Mädchenjahre wiederfand, das alte Haus, in dem sie aufgewachsen war, und das zu ihr sprach von Stolz, Ueberlieferung, Lehre und Beispiel. Ach, wie schuldig war sie – Isabelle hatte recht – als sie mit Le Jas in dieser freien Freundschaft sich gehen ließ, in dieser Vertrautheit, aus der durch gegenseitiges Mitleid die Liebe hervorsprießen mußte! Und durch ihre Schuld litt jetzt auch er, der arme, geliebte Freund. Tapfer hatte sie sich die Weigerung abgerungen, ihn zu sehen und mit ihm zu reden, während sie mit ihrem ganzen Menschenwesen ihm zueilte, während es sie erleichtert und getröstet hätte, ihre verwundeten Arme, ihre heißen Hände ihm entgegenzustrecken und ihm zu sagen: »Henri, nur Sie können mich befreien, retten Sie mich! Irgendwohin!« Ja, das blieb ihr übrig, Flucht und Schande, Flucht und Skandal. Alles mußte sie hinter sich werfen, die Vergangenheit, die Familie, den besten Teil ihres Ich, ihr Gewissen, ihren letzten Stolz, um der herben, schmerzlichen Trunkenheit, um der Leidenschaft willen, die allem trotzt und, nur auf sich selbst sich berufend, über Gewohnheit, Moral, Gesetz und Ehre sich erhebt. Und ihre Kinder? Sollte sie sie mit sich nehmen? Welch törichter Gedanke! Sich konnte sie zugrunde richten, aber sich allein. Sie durfte ihnen nicht die Gegenwart eines Freundes aufzwingen, eines Eindringlings ohne Rechte. Sollte sie sie verlassen? Wem sie überlassen? Sergius? Nein, niemals! Ihren Eltern, ihren Brüdern und Schwestern? War es möglich, sich von jeder Verpflichtung zu befreien und die Verantwortlichkeit, die sie zerschmetterte, anderen aufzuladen? Kein Ausweg, kein Ausweg. Sollte sie sich bescheiden und in einem organisierten modus vivendi auf alles verzichten, nur noch Mutter sein, ihren Kindern ihre enttäuschte Jugend, ihre Glücksmöglichkeit preisgeben, sich opfern? Ja, Isabelle riet dazu. Aber Henri, aber sie ... Es war schrecklich. Sie war jung, sie hatte ein Recht zu leben. Man foltert eine fünfundzwanzigjährige Frau nicht so. Sie möchte schreien, sie möchte weinen. Minuten und Stunden vergehen mit unendlicher Langsamkeit, ohne daß der Kampf in ihr sich lindert, ohne daß ihr von irgendwoher ein Hoffnungsstrahl kommt.

Henri Le Jas verzehrt sich in krampfhaftem Begehren, in Bedauern. Im Dunkel steht er dort, fast unter Simones Fenster. Wie ein Dieb hat er sich in den vom Mondlicht überfluteten Park geschlichen, da, wo Reisigbündel die baufällige Verzahnung der Mauer stopfen. Die Hunde sind herzugelaufen: sie erkennen ihn und schweigen. Sein Beginnen ist tollkühn. Wenn man ihn ertappt? Der Wächter macht allnächtlich die Runde. Was erhofft er? Hineinzugelangen? Das erste Stockwerk zu erklimmen? So etwas liest man nur in Romanen. Er ist nicht so bar der Vernunft, daß er darauf rechnete, sie zu sehen. Was denn? Er gehorcht einem unwiderstehlichen Trieb, er will sich ihr nähern. Er ist nicht mehr Henri Le Jas, der bewährte Praktiker, dessen Intelligenz Herrin seines Tuns ist. Er ist nicht mehr vierzig, sondern zwanzig Jahre alt. Er handelt mit dem Ungestüm eines jungen Menschen, den sein Wahn begeistert. Was er erfahren hat, rührt ihm die Seele auf. Er ballt die Fäuste, er spricht in rasender Wut zu sich selbst: »Der Elende! Und solche Schurken läßt man in Freiheit. Das Glück gibt ihnen die Weihe, die Welt lächelt ihnen zu, indessen sie im Gefängnis stecken müssen, oder unter der Dusche einer Irrenanstalt.« Welche Befreiung wäre es für ihn, könnte er Polotzeff ins Gesicht schlagen; und was würde er erst sagen, wenn er alles wüßte? Doch daß Simone in ihrer Unseligkeit zur Flucht genötigt war, war ihm genug. Die auffällige Verschwiegenheit Isabelles hat ihn das Drama wittern lassen. Er sieht ungeahnte Dinge und überhäuft sich mit Vorwürfen: »Ich Tor! Was brauchte ich ihr eine ohnmächtige Neigung anzubieten, die so ungeschickt war, daß nun sie für mich büßen muß! Ich hatte kein Recht, ihr Unruhe und Qual zu bringen, wenn ich sie nicht ihrer Hölle entreißen konnte. Ach, ich bin nur ein Mensch aus gleichem Stoff wie alle. Ich wußte, daß ich nicht frei war, daß, wenn sie es wird, unsere Situation so falsch bleiben muß wie jetzt. Warum habe ich ihr mein Geheimnis aufgedrungen? Ich erstickte daran, ja; die Liebe ist stark. Ich hatte gefühlt, daß auch sie nicht gleichgültig war. Und doch, es war unrecht. In ihrer Schwäche mußte sie mir um so heiliger sein. Gestehe es dir nur: dir, der du dich für besser hieltest als viele, war es von vornherein selbstverständlich, daß sie für dich sich opferte. Denn würde sie auch morgen von dieser Kanaille befreit, so darf sie dich selbst insgeheim nur lieben, indem sie ihren Ruf aufs Spiel setzt. Du müßtest unbedingt das Vertrauen der ganzen Familie täuschen. Und du glaubst, du seiest anständig?« Sein guter Wille sprach zu seinen Gunsten. Er hatte die aufrichtige, die ewige Entschuldigung, die ein wahres Gefühl darstellt. Warum hatte er geheiratet? Warum hatte er sich locken lassen, Pauline zu ehelichen, die Frau mit dem dürren Herzen und den kalten Sinnen, sie, die sechs Jahre lang ihm eine Fremde, eine Feindin geblieben war und noch in der Trennung seinen Namen behalten, seine Frau bleiben, ihn durch einen Vertrag knechten wollte, dessen Bestimmungen weder sie noch er nachkam? Sollte er ihren Tod ersehnen? Niemals fügte sie sich, das war gewiß. Sollte er ein letztes Mal versuchen, sie umzustimmen? »Zweifle nicht daran! Um dir alles Mitleid zu versagen, wird sie ein ehrwürdiges Alibi zum Vorwand nehmen, ihre Religion, die sie Güte nie gelehrt hat. Sie wird sich weigern; das ist klar. Welcher Funke soll diesem Stein entsprühen?« So sollte er, weil er zu Beginn seiner Laufbahn eine irrtümliche Ehe geschlossen hatte, bis zuletzt diesen Irrtum bezahlen. Er konnte nicht gegen sie an. Sie war unversöhnlich tugendhaft und, wenn er es forderte, gehorsam, bereit, ihm ein neues, unlebbares Eheleben zu schaffen. Seine Freiheit ihm wiederzugeben, dessen wehrte sie sich. Und diesem seelenlosen Geschöpf gegenüber, das ihm anhing wie ein Aussatz, sah er Simone, die er liebte, ein Wesen voll Zärtlichkeit, Hingabe, Anmut. Eine plötzliche Woge erfaßte ihn. Gewissensnot, Bedenken, alles ging unter. Er war nur noch ein von seinem Instinkt dahingetriebenes Wrack. Er brauchte nur den Fensterladen aufzustoßen; ein heiserer Ruf, ein Schreckensschrei: »Sie sind es, Henri!« Er wollte sie anflehen, ihm zuzuhören, und zitternd tauschten sie mit gedämpfter Stimme jene Worte, die alle sagen und wiederholen, in denen frenetisch das Blut kreist. Vielleicht kam sie herbei, ihm zu öffnen, und ...

Die kleine Tür, die nach der Gesindestube führt, geht unter einer vorsichtigen Hand auf. Eine Taschenlampe erhellt für eine Sekunde den Schatten eines Menschen, der gerade den Schlüssel umdreht. Antoine! Le Jas ist schnell hinter einen Baum zurückgetreten. Er sieht den jungen Menschen sich entfernen. Die jähe, wirkliche Erscheinung hat seinen wachsenden Taumel zerstreut. Einen Schritt weiter, und Antoine hätte ihn bemerkt. Ein Schauer durchläuft ihn. Um sein Gewissen zu beruhigen, überzeugt er sich, ob das Tor fest zu ist. Ja, keine Hoffnung. Nach einigen Minuten schleicht er sich wieder auf die Mauerbresche zu, gleitet hindurch und geht in fahler Traurigkeit wie in einem Vorgefühl des Todes von dannen.

 

Jean-Marc hat spät noch gearbeitet. Zweimal schon hat Armande sacht die Tür geöffnet. Er schiebt seine Akten zurück und schreitet, bevor er zu seiner Frau geht, durch das Zimmer seiner Töchter, nach denen er sonst nicht schaut. Er will sich vergewissern, ob Nénette ... Sophie hat von einer heftigen Erkältung gesprochen. Friedlich schläft Mimi, ein kindliches Schmollen auf ihrem guten Gesichtchen. Auch Nénette schläft, und er sieht ihr scharfes Profil unter ihrem langen Haar. Ihre Kleider sind sorgsam zusammengefaltet. Aber warum ist dieser Rock da ausgefranst? Und auch Mimis Schuhe sind schon recht zerschlissen. Wirklich. Wenn Armande, die so beschäftigt ist, sich nicht darum kümmern kann, so sollte es doch Odile, die alte Kinderfrau Claudies. Doch sie hat mit den Zwillingen vollauf zu tun, und Jean-Marc hat ihre knechtische Demut, ihre Unterwürfigkeit gegen ihre neue Herrin wohl bemerkt. Darf er sie ihr verargen? Nein. Sonst wäre sie nicht im Dienst geblieben. Und doch ist etwas dabei, was ihn ärgert. So sehr hatte Claudie der Frau vertraut, und noch sterbend hatte sie sie ihm für die Kleinen empfohlen. Jean-Marc prüft das reinliche, kahle Zimmer. Da hat ja jemand die beiden hübschen norwegischen Holzstühle weggenommen und durch zwei abgenutzte Rohrstühle ersetzt. Was sind das für merkwürdige Schlafkissen? Es sind Sofakissen, auf die man eine Serviette gebreitet hat. Das ist wieder irgend eine Geschichte von Sophie. Auf einem Tisch, zwischen Schulbüchern und Heften, ragt über eine kleine Vase mit Hyazinthen, die einer blühenden Gabe der Andacht gleicht, ein Bild Claudies, das einzige, das noch vorhanden ist. Jean-Marc denkt an die Entschwundene. Entschwunden ist sie aus dem Hause, in dem sie schattenhaft und stürmisch umging, entschwunden aus dem Gedächtnis von Menschen und Dingen. Er wendet sich um. Mit offenen Augen starrt Nénette ihn an. Er geht zu ihr und betastet ihr sanft Stirn und Wangen. Sie sind ein wenig feucht. Bei dieser unerwarteten Liebkosung flüstert das junge Mädchen: »Vater!« und auf der Hand, die er zurückzieht, fühlte er den Hauch eines Kusses. »Schlafe, Kind,« sagt er leise.

Eine Gestalt erscheint, Armande, deren Gesicht einen sonderbaren Ausdruck annimmt. Jean-Marc entfernt sich vom Bett und folgt seiner Frau in ihr gemeinsames Zimmer. Aus dem rosigen, seidenen Nachtgewand schimmert ihr Nacken. Auf der Brust steht es offen, so daß das Perlenkreuz, das sie in kindlicher Freude angelegt hat, von ihrem Fleisch sich abhebt. Er hat ihre Hand ergriffen, die ein wenig spröde sich zusammenpreßt, und stichelnd sagt sie: »Du wolltest sehen, ob deinen Töchtern nichts fehlt.« Er antwortet nicht. Sie hebt nochmals an, in säuerlichem Ton: »Du hältst mich also für unzuverlässig und findest, daß ich mich um sie nicht kümmere?« Mit gelangweiltem Lächeln zuckt er die Schultern. »Sophie wenigstens meint es und, wie es scheint, auch deine Großmutter. Sei ruhig, morgen werde ich ihnen neue Kissen kaufen.« »Armande ...« »Und willst du nicht auch nach den Kleinen sehn?« »Du irrst, wir wollen zu ihnen.« Sie stellt sich, als höre sie nicht. Wird ihr nachtragender Groll sie wieder so häßlich machen wie heute morgen? Vorsichtig faßt er den Perlenschmuck und hält die silberblassen Kugeln in der Hand: »Gefallen sie dir?« »Warum sollten sie mir nicht gefallen?« Sie ist noch immer mißtrauisch. Nun wird sie milder: »Ach ja, Jean-Marc, ich habe dir ja nicht genug gedankt. Der Schmuck ist sehr schön, und er gefällt mir ungeheuer, wenn du wahrhaftig an mich allein gedacht hast.« »Immer noch Eifersucht,« denkt er. Aber die Frauen können nicht begreifen. Sie ist sehr nett, die kleine Hycler! Ein etwas gewöhnlicher Zeitvertreib, wenn er sich überarbeitet hat. Für sein bürgerliches, ehrbares Leben hat sie den Reiz einer lasterhaften Blume, den man im Vorbeigehen einatmet; und nun ist er zu ihr zurückgekehrt. Denn in der Zeit, da Armande Mutter werden sollte, und dann als sie ihr Kind nährte, hat er nicht entsagen können. Zur Beschönigung gibt er vor sich selbst an, daß fast alle Männer ... Uebrigens verfährt er dabei sehr schonend, und er glaubt noch, er habe viel Zartgefühl. Liebt er Armande nicht, ist sie nicht seine rechtmäßige Frau, seine teure Gefährtin, für die er arbeitet, die er verwöhnt und glücklich machen will? Das hindert doch nicht ...

»Nun wollen wir zu den Kleinen,« wiederholt er. Sie ist sich ihrer Macht bewußt. Als die Mutter dieser schönen Kinder beherrscht sie ihn dank seinem Vaterstolz, seiner Zuversicht, in seinen Söhnen sich und sein Werk fortzuführen. Sie schreitet voraus. Ihr weißer Nacken zieht ihn an, er beugt sich sie zu küssen. Sie fährt ein wenig mit den Schultern auf, doch jetzt ist ihre Bewegung nicht mehr feindselig. Die Stube der Zwillinge ist weiß wie eine Kapelle, vor jeder Wiege liegt ein weißes Bärenfell, die Wiegen selbst sehen wie kleine Altäre aus. Sie sind aus gesteppter Atlasseide, mit gesticktem Behang. Jean-Pierre und Pierre-Jean schlafen mit geballten Händchen. Sie sind beide gleich groß, dick, von gesunder Röte und zum Vergöttern hübsch mit ihrem gelockten Haar. Armande zieht an einem der Betten die Decke hoch, richtet den Kopf eines der Zwillinge und blickt sich um, als wolle sie, strahlend in ihrer jungen, doppelten Mutterschaft, ihn fragen: »Nun, was sagst du dazu?« »Wie stark sie sind, die Kerle!« Er umschlingt seine Frau und führt sie hinweg. Er wagt nicht die hübschen norwegischen Stühle zu sehen, die wie zu Besuch vor jeder Wiege stehen. Gesehen hat er sie, sie wird dessen inne. Und sein Schweigen ist das Schweigen, das man in allen schwierigen Situationen bewahrt, wenn jeder nachgeben will, die Frau in erobernder Selbstsucht, der Mann um seiner Ruhe willen. Und dann ist die Liebe da mit ihrer Verblendung.

Pfeifend war Antoine in der hellen Nacht gen Val-Changis zugegangen. Einmal wöchentlich, wenn die gute Noëmie zu ihrer kranken Schwester fuhr und in Nemours schlief, hatte er ein solches nächtliches Stelldichein. Das Zimmer Miches lag nach der einsamen Straße zu. Wenn er etwas Sand gegen die Scheibe warf, stieg sie schnell herab. Ihr Stiefvater war zu taub, um ihn zu hören, und Pompon, der kleine Fox, den Antoine ihr geschenkt hatte, verriet ihn sicher nicht.

Langsam und ruhig, wie ein Rind wiederkäut, überlegte er. Das Unglück Simones bekräftigte ihn in seiner Lieblingsweisheit: »Vom Geld allein wird man nicht glücklich.« Der Spruch war nicht sehr neu, jedoch der Fall Polotzeff war eine beredte Illustration dazu. Und ein zweiter Spruch lautete: »Gleich soll sich zu gleich gesellen.« »Und ich,« dachte Antoine weiter, »ich sage, daß man heiraten muß, je nachdem man einen Charakter hat. Die Liane könnte man mir in Spitzen eingepackt geben. Ich könnte eine solche Zierpuppe mit ihrem Geschwätz: ›Ach, Liebste, hätten Sie das Kleid gesehn, süß!‹ um mich haben und möchte sie nicht einmal dazu verwenden, die Glasglocken auf meinen Melonen abzudecken. Ich bin ein einfacher Bursche und trage meinen Kopf deswegen nicht höher oder niedriger. Morgen werde ich Baptistin sagen, daß er die Orangenbäume ins Freie bringt; und auch mit dem Pfropfen werden wir anfangen können.« Wie er es sich gewünscht hatte, oblag ihm die Aufsicht über die Gärten und den Park. Die Forstakademie in Nancy hatte er nicht absolvieren mögen, weil sie zu schwer für ihn war; aber so etwas wäre er gern gewesen, Oberwaldhüter, immer zu Pferde, durch dick und dünn. Eine Landwirtschaftsschule hatte er besucht. Er wußte alles von der Erde, ihren Blumen und Früchten. Sie war ihm das Herrlichste. Der Anblick der ersten Tulpen mit ihren glatten Blumenkelchen oder der kleinen purpurroten Anemonen bereitete ihm einen köstlichen Rausch. Lange stand er bei den Lilien, wenn ihre großen Dolche schossen, und Veilchenbeete konnten ihn immer wieder entzücken. Man belachte das als harmlose Schwäche, während er doch, in seiner Seele ein Bauer wie der Großvater Marie-Joseph, innig die Schönheit der Naturkräfte empfand, den Rhythmus der Jahreszeiten, die Gesetze, denen die Zuchtwahl der Pflanzen und die Vollkommenheit ihrer Erstlinge gehorchen.

»Was für eine schöne Nacht,« sprach er zu sich, »und wie das duftet!« Der Frühlingssaft stieg empor. Der Harzgeruch der Tannen mischte sich mit dem rohen Grün des Heidekrauts und der Odem der feuchten Eichen mit der dicken Gärung des Erdbodens. Er hatte den großen Pfad eingeschlagen, der neben der weißen Landstraße daherläuft. Weich war das Gras, und in den mondbeglänzten Lachen schimmerte es wie Diamanttropfen. Plötzlich klingelte eine kleine Schelle, und hinter einem großen Kastanienbaum stürzte eine schwebende Gestalt auf Antoine zu: »Kuckuck!« »Miche! Du bist es!« »Ja, ich wollte dich überraschen.« »Hast du keine Angst?« »Wovor? Vor Werwölfen? Die würde Pompon schon an der Gurgel packen.« Antoine streichelte den Fox, einen jener kleinen, wütenden Kläffer, die sogar einen Riesen anspringen und, mit den Zähnen in ihre Beute verbissen, sich eher töten lassen, bevor sie sie freigeben. »Bin ich froh, dich zu sehen, Miche.« »Und ich erst! Ich glaubte schon, ich könnte nicht. Im letzten Augenblick wollte Mutter nicht nach Nemours fahren.« Sie hatte eine leise, verschleierte und manchmal rauhe Stimme. Ihr Ton ähnelte dem Gurren der Wildtaube, und sie besaß für Antoine einen so holden Reiz wie der Leib des jungen Mädchens, ihr leichter Gang, das Rätsel ihrer festen, runden Formen und die leuchtende Schönheit ihres Fleisches, die etwas von der Anmut eines jungen, reinen Tiers hatte. Miche fuhr fort: »Ich hätte schwören wollen, daß der Mutter etwas schwante. Was wir tun, Antoine, ist doch nicht schlecht?« »Schlecht, warum? Man kann doch zusammen spazieren gehn.« »Das schon, aber die Leute sind so hämisch. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn der Stiefvater wüßte ... Als er heute vor dem Essen seine Geranien umpflanzte, sah er ganz angegriffen aus, der arme, alte Mann.« »Miche, du hast etwas?« Er fühlte selbst, wie er, der stets friedliche Mensch, vor Spannung zitterte. »Was soll ich denn haben? Aber, wenn es dir recht ist, wollen wir die Landstraße meiden und durch das Birkenwäldchen gehn.«

Die silbernen, schlanken Baumstämme standen hoch aufgerichtet wie ein Heer von Lanzen. Zwischen ihrem lichten Laub sah man die bläuliche Nachtluft fließen. Sandsteinfelsen schimmerten. Alles schwieg; nur halblaut noch klang die Schelle des Hundes, der im Gebüsch herumschnupperte. »Nun denn,« sprach Antoine, »ich habe mit dir zu reden. Da sind schöne Geschichten passiert!« Er erzählte von der Ankunft seiner Schwester, vom Unfall Florents und namentlich von seiner Auseinandersetzung mit Jean-Marc. Betroffen blieb sie stehen. Von vollem Licht war ihr Antlitz gebadet, so scharf erhellt, daß er ihre Augen glänzen und ihren Mund sich in Falten ziehen sah. »Ach,« rief sie trostlos. »Ich wußte das schon; so mußte es enden. Du hast Unannehmlichkeiten.« »Erstens habe ich keine. Und dann, was wäre dabei? Wir tun doch nichts Böses!« »Du wiederholst das, und ich will es dir glauben. Du bist klüger als ich, wenn du mir auch, meine ich, jetzt etwas vormachst. Aber Sorgen werden sie dir schon schaffen, und das will ich nicht, Antoine!« »Und wenn auch? Bist du es nicht wert, daß ich mich ein wenig mit dem Gouverneur streite und dem Vater frei heraus die Wahrheit sage?« »Was für eine Wahrheit?« Noch einmal war sie angstvoll stehn geblieben. Nun lachte er, und zärtlich packte er sie am Ellbogen: »Die Wahrheit, daß ich dich heiraten will, Miche.« Schreiend machte sie sich los: »Bist du denn verrückt?« »Just das hat mir Jean-Marc gesagt,« rief Antoine heiter; »nein, ich bin nicht verrückt, aber was hast du denn, Michette? Habe ich dich beleidigt? Ich wollte dich nicht quälen, Miche. Du weinst doch nicht?« Wieder faßte er sie an beiden Ellbogen und neigte sich über sie, die aufseufzte: »Laß mich, Schatz, laß mich atmen! Mein Herz ist so schwer, daß ich ersticke. Hast du das wirklich gesagt? Habe ich nicht geträumt? Mich willst du heiraten? Antoine, du mußt mich sehr lieben oder nicht bei Verstand sein.« Die Stimme versagte ihr vor Unglauben, Zweifel, Seligkeit, Scham, der Auflehnung einer kleinen, stolzen Seele gegen einen unmöglichen Traum. Ernst und fast feierlich erklärte Antoine: »Ich liebe dich, Miche, nicht erst seit heute. Wir haben dieselbe Milch getrunken und oft, als wir Kinder waren, im selben Bett geschlafen. Dich hatte ich immer gern. Erinnere dich: wir haben uns nie gezankt. Ich tat alles, was du wolltest. Je größer du wurdest, desto mehr habe ich dich geliebt. Ich habe dir Bücher geliehen und das bißchen, was ich wußte, dich zu lehren versucht. Ich bin traurig zum Militär gegangen, voll Furcht, daß du einen andern lieb gewinnst. Ich habe dich wiedergefunden, Michette, ganz wie zuvor. Jetzt will ich dich nicht mehr verlassen. Ich bin kein Kind mehr, und wenn ich mir etwas in den Schädel setze, dann lasse ich nicht nach. Kein Weib gefällt mir so wie du; ich will dich für mich haben.« Das junge Mädchen begann zu lachen, doch es hörte sich an, als weine sie. Sie zog wie eine Taube den Hals ein, während sie mit leiser, rauher Stimme sagte: »Guter Antoine! Mädchen wie ich gibt es hunderte und tausende. Weil du mich lieben willst, redest du so. Aber ich weiß auch, wer ich bin, und du dürftest mich verachten, hätte ich daran gedacht, anzunehmen, was du so hochherzig mir bietest.« Er machte eine Bewegung des Widerspruchs. »Laß es mich dir sagen! Du machst mich stolz, Guter, nicht wegen des Glücks, das du mir bietest, sondern um eines andern Geschenkes willen: Daß du mir deinen Namen geben und vor aller Welt mein sein willst, und daß du mich so sehr achtest. Ja, darauf bin ich stolz. Aber ich sage es dir rundweg: es geht nicht.« »Warum denn?« fragte er kurz, ein wenig verdrossen. »Nimm es mir nicht übel, Antoine! Weil du die ganze Familie gegen dich hättest, der du Rücksicht schuldest, und weil man mit Recht sagen würde, ich sei eine schlaue, nichtsnutzige Person.« »Das sollte einer vor mir behaupten,« fuhr er zornig los. »Die Leute würden so sprechen, aber das wäre nicht alles. Ich selbst würde es denken, und du wärest nicht glücklich.« »Nicht glücklich mit dir!« So barsch sprach er, daß Pompon fragend sich nach ihm umwandte, bellend jene Worte zu bestätigen schien und dann weiter lief. »Nein,« erwiderte das Mädchen. »Wir wollen uns hier auf die Steine setzen. Ich weiß nicht, mir sind die Beine wie gebrochen. Nein, du würdest nicht glücklich sein. Höre ja auf mich! Du lebst in einer anderen Welt als ich. Unter meinem linkischen Benehmen, meiner Unbildung würdest du leiden. Ich bin ein Bauernmädel.« »Und ich,« rief Antoine, der noch vor ihr stand – er schien ihr wunderbar groß, breit und stark – »ich bin ein Bauer und will nichts anderes sein. Ich kann die Salons, die Ziererei, den Klatsch, die Püppchen und die Gecken nicht ausstehen. Ich liebe nur das Korn, das wächst, die duftenden Blumen, den Wald, der uns schützt. Miche, blicke doch hin, ob du je Schöneres gesehen hast! Braucht man mehr, um glücklich zu sein?« Mit weiter Gebärde deutete er auf das paradiesische Licht, auf die milchweiße Nacht, worin die schwarzen oder glanzübersäten Bäume in durchsichtiger Perspektive sich bargen. Ein frischer Wind wehte, und der Hauch des Waldes umströmte sie.

»Ich sage ja nicht,« sprach Antoine wieder, »daß du mit mir ein Leben in Luxus und Müßiggang teilen sollst. Zusammen wollen wir ein Leben in schlichter Arbeit suchen.« »Nie willigt dein Vater ein.« »Ich bin ein freier Mann!« beteuerte Antoine. Erschrocken fuhr Miche auf: »Nein, Antoine! Das wirst du nie tun. Lieber springe ich gleich von der Brücke zu Valvins herab in die Seine. Du sollst Vater und Mutter ehren. Das wäre noch schöner! Du sollst deinen Eltern gehorchen, hörst du, ich will es!« Sie faßte ihn an beiden Händen: »Ich bitte dich inständig.« Er war tief bewegt: »Du bist ein gutes Mädchen, Michette.« Leise entgegnete sie: »Antoine, du brauchst mich nicht zu heiraten, damit ich dich lieben soll. Und wenn ich dich auch nicht lieben wollte, könnte ich nicht anders, denn du bist so gut und gerecht, daß ich kein Herz haben müßte. Und deshalb, und weil ich dir vertraue, bin ich trotz meiner Reue noch einmal gekommen. Ich wußte ja, daß du zu mir sein wirst wie zu einer Schwester. Aber ich habe keinen ehrgeizigen Wunsch. Ich will nichts als deine Magd sein, wenn du es begehrst. Ich bin nichts, ich habe nur dich und meine Liebe, die gebe ich dir, Antoine. Darum quäle dich nicht und sei auf Leben und Tod meiner sicher!« Gerührt und erschüttert von so viel Selbstlosigkeit – der mußte schon ein Vieh sein, der sie mißbrauchen wollte – erwiderte er, indem er das Mädchen bei den runden Schultern packte: »Sage nichts mehr, Schatz, sage nichts mehr, Bräutchen! Ich möchte eher sterben als dir den geringsten Kummer machen.« Und nach Minuten des Schweigens: »Komm', ich bringe dich hin zur Tür.« Noch zauderte er: »Miche, darf ich dich küssen?« Sie hielt ihm ihr Gesicht hin. »Du riechst wie Erdbeeren,« sagte er zärtlich. Er küßte sie auf die Wange, und sie gab ihm seinen Kuß zurück. Freundschaftlich betrachtete Pompon, der auf seinem Hinterteil saß, die beiden. Ein leiser Schauer glitt durch die Luft. In einer Entfernung von wenigen Schritten lief ein Reh mit glänzendem Fell über den Waldpfad. Ein Lüftchen bebte, und der Wald schwankte im silbernen Mondlicht.


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