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Einleitung

Die Brüder Paul und Victor Margueritte sind Söhne des Generals Margueritte, der bei Sedan an der Spitze seiner Chasseurs d'Afrique mit den Kürassieren der Generäle Michel und Bonnemains der mörderischen Wut der preußischen Artillerie sich entgegenwarf. Auf der Höhe des Calvaire d'Illy tödlich verwundet, gab er dem Obersten Galliffet den Befehl zum letzten Verzweiflungsritt. Der Nimbus der Gloire umstrahlt seinen Namen.

In Algier sind die Brüder geboren, Paul 1860 in Laghouat, Victor 1866 in Blidah. Der ältere wurde Beamter im Unterrichtsministerium, der jüngere Offizier. Lange Jahre hindurch rang nur Paul um die Ehren des Schriftstellers. Als Naturalist trat er in die Literatur ein. Mit Maupassant, Huysmans und vier anderen vereinigte er sich zu dem Novellenband » Les Soirées de Médan«, der Huldigung für den Meister Emile Zola. Doch auch die Kundgebung des Abfalls (im Jahre 1887, nach » La Terre«) trug seine Unterschrift. Sein erstes Buch war » Mon père«, ein Buch des Gedenkens. Vier Romane folgten, einzuordnen in die Gattung des » roman psychologique« und ein wenig von der Schule der Goncourts. Der dritte, » La Tourmente«, behandelte das Problem der Ehescheidung, für das Paul Margueritte eine standhafte Vorliebe hat.

Im Jahre 1897 verband er sich mit seinem Bruder, der den Militärdienst quittiert hatte und in den (1898 gedruckten) Gedichten » Au fil de l'heure«, was er zu sagen hatte, aussprach. Schon in ihrer Jugend hatten sie zusammen improvisiert – Gelegenheitsstücke für die Liebhabertheater zu Valvins, Samois, Vétheuil und Marlotte, Charaden Victor, Paul Pantomimen. Mit dem » Carnaval de Nice« begann eine ernstere Gemeinschaft, die bald unauflöslich schien. Ihr dauerndes Vermächtnis ist der Romanzyklus » Une époque«, die mit Zolas » Débâcle« wetteifernde Darstellung des »furchtbaren Jahres«, das zwischen Juli 1870 und Juni 1871 liegt. Aus der Fülle der Details entsteht ein archivarisch genaues und doch an Inspiration, Pathos und Menschlichkeit reiches Bild des nationalen Schicksals. »Wir erniedrigen unsere Kunst nicht,« so erklären die Verfasser, »wenn wir sie der Geschichte botmäßig machen.« Jede Kriegsszene, jede Ministerberatung, jede Sitzung der Nationalversammlung wird mit Hilfe der zeitgenössischen Berichte rekonstruiert; aber zu den Napoleon, Bazaine und Thiers treten die Gestalten der Phantasie, die historischen Vorgänge werden erhöht durch die symbolischen. Der Kommandant du Breuil ist der Held der Brüder Margueritte. Sechs Monate verbringt er in Gefangenschaft; dann, als er heimkehrt, sieht er die Greuel der Kommune, an deren Unterdrückung er sich in der Armee von Versailles beteiligt. Doch er findet den Glauben an Frankreich wieder, den Glauben an das Volk. Ausgesöhnt wird das patriotische Ideal mit dem demokratischen, als dessen Blutzeugen Louis Simon und Rose auf den Barrikaden gefallen sind. Rein glüht die heilige Flamme fort, »das Licht, das 1789 und 1848 der Welt aufging, nach dem heute noch alle Völker blicken, und das sie begrüßen als das Wahrzeichen eines neuen Menschheitsmorgens«.

Noch vor dem Schlußband, der » Commune«, erschien der Eheroman » Les deux vies«, ein Thesenroman, der das französische Gerichtsverfahren anklagte und, der Form nach parteilos, die Frage vorlegte: »Hat der einzelne, der unter einer Grausamkeit der Sitten oder einer Ungerechtigkeit der Gesetze leidet, das Recht, sich gegen die Gesellschaft zu empören? Ist es nicht im Gegenteil seine Pflicht, sich zu opfern?« Ein gereizter Feminismus gab sich in diesen soziologischen Kapiteln kund, der die » Femmes nouvelles«, das Buch von 1899, durch seinen wuchtigen Ernst überholte. Seitdem war der Signatur Paul und Victor Margueritte ein starker Erfolg nicht mehr beschieden. Sie verschwand mit dem Roman » Vanite«, indem die Figur Jaluzots sichtbar wird, des Warenhausbesitzers und Spekulanten. Dann kam die Trennung. Victor schrieb den im Polizeidepot und in den Mansarden der Dienstmägde beginnenden, am Tor des Polizeidepots endigenden Roman » Prostituée«, für dessen lehrhaften Zolaismus er in » Jeunes filles« Buße tat. Der Frauenroman » Le Talion« ließ, nicht ohne Tiefe, das Gesetz der seelischen Vergeltung walten, » L'Or« erneuerte den Finanzroman, » Les Frontières du Coeur« schilderten den durch den Krieg herbeigeführten Bruch der Ehe einer Französin mit einem Deutschen. Paul unternahm die Selbstbiographie » Les pas sur le sable«, die er in » Les jours s'allongent« fortsetzte, und wandte sich, auf Daudets und manchmal auf Ohnets Spuren, dem sentimentalen Charakterroman zu.

» Les Fabrecé«, die hier deutschen Lesern vermittelt werden, sind mehr als Belletristik für eine Pariser Zeitschrift, sie sind der Roman der französischen Intelligenz schlechthin, wie sie heute ist oder zu sein wünscht: moralisierend und von dem Bewußtsein vermeintlich naher Entscheidungen durchdrungen. Die gallische Skepsis steht niedrig im Kurs, die Pflicht wird verherrlicht, der Soldat, der Fabrikant, der Ingenieur, der Aviatiker. Ganz wie in Bougets » Etape« (auf die Paul Margueritte sogar Bezug nimmt) ist in den » Fabrecé«das oberste Gesetz der Wille der Familie, die ihre Einheit sucht. Das Haus des Industriellen Pierre Fabrecé, des in den Verirrungen und dem Unglück seiner Kinder aufrechten Senatsmitglieds, ist das französische Bürgertum. Und nicht nur Romantypen sehen wir: die Ideen der Gesellschaftsschicht, die unter dem Präsidenten Poincaré den Geist der französischen Republik bestimmt, lernen wir kennen.

Paul Wiegler


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