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IV.

Im Garten des Hotels Grandpré, im Schatten der Ceder, stand der Teetisch gedeckt. Aus dem wolkenlosen Himmel eines leuchtenden Spätnachmittags fiel ein klares Licht auf die saftiggrünen Rasenflächen, auf die Alleen, in denen die Gäste gruppenweise plaudernd sich ergingen. Seit Anfang des Monats hatte die alte Gräfin ihre Empfangsabende wieder aufgenommen, und diesen Sonntag, den 13. Mai, war die Zahl der Gäste besonders groß.

Ein Kreis lichtgekleideter Damen umgab die Greisin, die, ein Spitzentuch über den weißen Haaren, mit vornehmer Anmut ihr Lorgnon handhabte. Claire machte, von Anina unterstützt, die Honneurs. Sie reichte Frau von La Mûre die Zuckerdose. Die dicke Dame ließ mit der silbernen Zange vier Stücke in die kleine Tasse gleiten.

»Etwas Rahm?« fragte Anina die dürre, blasse Person, die neben ihrer Mutter noch länger und flacher erschien.

Fräulein von La Mûre dankte. Aninas Verlobung mit dem schönen Major Du Breuil verdroß sie wie eine persönliche Beleidigung. Nicht als ob sie je ihre Wünsche nach dieser Seite gerichtet hätte, aber jede Heirat schien ihr wie ein Hohn auf ihre eigenen verwelkten Reize, die trotz der von ihrer Mutter bei jeder Gelegenheit deutlich genug betonten Mitgift von den Männern beharrlich verschmäht worden waren. Neugierig blickte sie in Aninas Gesicht und freute sich, darin den Ausdruck sorgenvoller Trauer zu lesen.

»Sie haben doch keine schlimmen Nachrichten von Ihrem Bräutigam?« erkundigte sie sich in der geheimen Hoffnung, ihre Frage bejaht zu hören.

»O nein, ich danke.«

Anina stellte die Zuckerschale aus Sèvresporzellan auf den Tisch und wandte sich einem elegant gekleideten jungen Manne zu, den zwei alte Herren eben mit einer Hast, als wäre er mit der Pest behaftet, verlassen hatten und der, allein gelassen, im Begriffe war, sich zu verabschieden. Martial Poncet war ihr von Du Breuil vor dessen Abreise vorgestellt worden auf Grund der nahen Familienbeziehungen, die zwischen Du Breuil und den Familien Real und Poncet bestanden.

Anina, die das erstemal Martial kaum beachtet hatte, fand heute einen Trost darin, ihn wiederzusehen, jetzt, da sie durch die Abreise ihres Bräutigams, – der tags zuvor sich mit Chenot in das Hauptquartier zu Châtillon begeben hatte – sich in einer Stimmung trauriger Vereinsamung befand. Weder die für die nächste Woche festgesetzte Ankunft ihrer Eltern, noch die Hoffnung, daß die neuerliche Trennung nur von kurzer Dauer sein werde, vermochte sie zu trösten. Pierre schien ihr fern wie in den Tagen seiner Gefangenschaft. Voll bitterer Wehmut durchlebte sie in der Erinnerung immer wieder die Stunden traulichen Beisammenseins, in denen sie sich fast in das Gefühl gesicherten Besitzes eingewiegt hatten.

Jetzt gähnte zwischen diesen beiden nach Glück dürstenden und noch nicht in geweihter Vereinigung verschmolzenen Menschen schwer und drückend eine grausame Leere: dieser furchtbare Krieg, die tausend kleinen täglichen Zufälligkeiten, das Unbekannte...

»Sie gehen doch noch nicht, Herr Poncet?«

Bei Aninas Anblick hatte Martials Miene sich wieder aufgehellt. Er verneigte sich höflich. Die stolze Schönheit, die anmutige Güte des jungen Mädchens flößten ihm tiefe Sympathie ein. Sie erhöhte ihm noch den Reiz dieses Milieus des Luxus, dessen Raffinement und Vornehmheit einen angenehmen Gegensatz zu dem demokratischen Paris bildete. Trotz der von seinen eigenen Überzeugungen so verschiedenen Ansichten, die durch eine gewisse Freiheit im Ton, durch die Höflichkeit der Salons erträglich gemacht wurden, erlag Martial allmählich dem souveränen Despotismus der Umgebung.

Gleich zu Anfang seines Versailler Aufenthaltes hatte er seinen Sammetrock, der ihm ein etwas zigeunerhaftes Aussehen verlieh, mit dem modischen Frack vertauscht. Und wie sein Äußeres sich verändert hatte, so auch seine Seele. Aus Höflichkeit und auch von dem Gefühl geleitet, daß all dieses Herkömmliche in der Form im Grunde doch der Bedeutung nicht entbehrte, eignete er sich langsam das Wesen seiner Umgebung an.

Was ihn gestern noch peinlich berührt hatte, ließ ihn heute schon gleichgültig. Er hielt sich nicht damit auf, über Worte zu streiten und war bereit, die Berechtigung der Ideen anzuerkennen. Gehässige Reden, Interpretationen von Tatsachen, die in Paris ihn empört hätten, ließen ihn in Versailles kalt: die Gesichtspunkte waren eben verschieden. Wie diesem verderblichen Einfluß widerstehen, der in der Luft lag, die man atmete, der sich in die Augen einprägte, dem Ohr sich aufdrängte, dieser Epidemie von Groll und Haß? ... Die Ansteckung verschonte auch nicht die kühlste Vernunft, den rechtlichsten Sinn. Berühmte Männer, Männer von Geist, die zum Teil das intellektuelle Frankreich repräsentierten, predigten das Beispiel für die leidenschaftlichen Angriffe der Journalisten und der Boulevardtrotter.

Soweit hatte es Martial schon gebracht, daß er ohne Widerwillen der Einbringung der Trophäen von Issy beiwohnen konnte. Über den staubbedeckten Kolonnen der Linientruppen in offenem Rock und schief sitzendem Käppi flatterten etliche zerfetzte rote Fahnen. Die herbeigeeilten Bürger begrüßten das aufrührerische Emblem mit Flüchen und Hohnreden, von kochender Wut erfaßt beim Anblick dieser roten Fetzen, die ihnen als das Sinnbild ihres eigenen vergossenen Blutes erschienen, als wäre in diesem brudermörderischen Kampfe das Gemetzel nicht gegenseitig gewesen. Zwischen den Reihen der Soldaten rollten mit Laub geschmückte Mitrailleusen und Kanonen; von Stirn und Brust der Pferde hingen welkende Feldblumen. Vor dem Gitter der Präsidentschaft hatte das Gefolge der Delegationen Halt gemacht; Fanfaren grüßten Thiers und den Marschall Mac-Mahon, die auf der Schwelle der Vorhalle standen. Mit schmeichlerischen Reden empfingen sie die Truppen angesichts der blutroten Fahnen, von denen man mit erheucheltem Abscheu sich abwandte. Nachdem die Begrüßung vorüber, hatte der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt und den Schloßhof erreicht. Unter der Reiterstatue Ludwigs des Vierzehnten stellten die Chasseurs und die Artillerie sich in Schlachtordnung auf, die Trophäen mit Musik und Trommlern in der Mitte.

Da waren aus einem der Seitentore des Marmorhofes eine Anzahl alter Herren in gewöhnlicher, bürgerlicher Kleidung herausgetreten, die einen barhaupt, die anderen mit ehrwürdigen Zylindern oder einfachen Strohhüten. Einige trugen im Knopfloch auffallende Abzeichen. Das waren die Machthaber von Frankreich. Ungefähr zweihundert an der Zahl, nahmen sie längs der Fassade Ludwig XIII. Aufstellung und einer der Vizepräsidenten der Nationalversammlung, Herr von Malleville, richtete an die Offiziere und einen Teil der Truppen, die man hatte vortreten lassen, Worte der Beglückwünschung und des Dankes.

Anina und Martial sprachen von dem, was einen Berührungspunkt zwischen ihnen bildete: von Charmont und dem alten Oberst Du Breuil. Es gewährte ihnen ein egoistisches Vergnügen, inmitten dieses Sturmes der Ereignisse sich von diesen persönlichen Dingen zu unterhalten. Fräulein von La Mûres mißbilligender Blick verfolgte sie: schon kritisierte sie mit einigen Klatschbasen das unkorrekte Benehmen Aninas, die sich mit einem jungen Manne von der Gesellschaft absonderte, und mit wem? dem Sohn des Republikaners Poncet, eines der berüchtigsten unter den verbrecherischen Mitgliedern der Versöhnungsliga.

Herr von Grandpré erschien und küßte mehreren Damen die Hand ... Die Konversation wurde allgemein und immer lebhafter. In einer Ecke saß Herr von Grandpré und sprach mit geheimnisvoller Miene. Martial trat näher und erfuhr überraschende Neuigkeiten.

Gestern abend war Paris mit knapper Not der Gefahr entronnen. Nach dem Mißlingen des Komplotts, welches den Zugang zum Tor von Passy der Armee ausliefern sollte – nachdem einmal schon nach gescheitertem Versuche die mobilisierten Truppen im Bois de Boulogne unnütz die Zeit verloren hatten – waren die Unterhandlungen von neuem aufgenommen worden. Oberst von Beaufond, der Reeder Lasnier, Kapitän Laroque waren mit Dombrowskis jetzt in der Muette installiertem Generalstab in Unterhandlungen getreten. Ein gewisser Oberst Malonsky – Martini horchte hoch auf – hatte sich verpflichtet, für den Preis von vierzigtausend Franks ein Tor offen zu halten.

Um Mitternacht war Ladmirault in aller Stille von Courbevoie herabgestiegen und hatte sein Armeekorps in der Umgebung der Tore von La Muette und Auteuil zusammengezogen. Douay hatte seine Schanzen verlassen und hielt das Tor von Passy besetzt. Im Vordertreffen lauerten sorgfältig gewählte Polizeitruppen, durch Geniesoldaten verstärkt, auf den geeigneten Augenblick, sich im Zentrum auf den besprochenen Eingang zu stürzen und hierauf, sich teilend, die beiden anderen Tore zu öffnen. Vorgestern hatte man aus Versailles mehrere mit Maschinen, Leitern, rollenden Brücken beladene Wagen gesandt. Mit der ganzen in Bewegung gesetzten Reserve Vinoys waren achtzigtausend Mann im Bois zusammengepfercht und hielten den Atem an. Thiers hielt sich neben Douay, der Marschall stand unter der Zeder zwischen den beiden Seen. Nach vier Stunden des Harrens hatte Mac-Mahon, um die Armee nicht zu sehr dem Kartätschenfeuer auszusetzen, den Befehl zum Rückzug gegeben.

Übrigens war es eine böse Nacht für die Verschwörungen, fügte Grandpré hinzu. Troncin-Dumersan war eben angekommen: Lasnier war diesen Morgen verhaftet und einer anderen Sache wegen nach Mazas gebracht worden. Trikolore Armbinden, die den Parisern als Sammelsignal dienen sollten, waren seit einiger Zeit von allerlei Händen fabriziert worden. Eine gewisse Frau Legros leitete eine dieser Unternehmungen und bezahlte ihre Arbeiterinnen höchst unregelmäßig. Eine dieser Arbeiterinnen nun hatte sich, in der Meinung, für das Rathaus zu arbeiten, an dieses gewandt, um ihren Lohn zu fordern. Dies führte zu einer unliebsamen Entdeckung ... Andererseits zogen die Unterhandlungen mit Dombrowski sich in die Länge ... Es gab fortan keine Hilfe mehr, als durch die Kanonen.

Er rieb sich die Hände: hier ging ja alles vortrefflich. Dank Thiers' großer Inspiration – die schnelle Einnahme des neuen Bahnhofes des Matelots mit seinen ansehnlichen Arbeiten – konnte die Armee jetzt jede Schlacht aushalten. Die Verproviantierung ging wie am Schnürchen! ... Ein genialer Einfall! ... Fortan konnten 35 Kilometer Schienenweg, durch Pontoise und Chevreuse mit sämtlichen Eisenbahnen Frankreichs verbunden, die ungeheuere Pariser Zentralisation abwenden ... Der kommerzielle Verkehr, der Zustrom der Zölle unterbunden, eingezogen ... Hehe! das war ein Mittel, jede künftige Revolution im Keime zu ersticken! Indessen wollte man diese vollends zertreten ...

Herr von Grandpré strich sich mit gewohnter Geste den Schnurrbart und meinte ironisch:

»In acht Tagen...«

Man verstand die Anspielung und Frau von La Mûre nahm, als fühlte sie sich persönlich getroffen, eine beleidigte Miene an.

Ihr Gatte gehörte zu jenen, die Thiers mit Nadelstichen quälten, ihn zu langsam an der Arbeit fanden, ihn der Parteilichkeit für die Republik verdächtigten. Graf La Mûre gehörte zu den eifrigsten Anhängern jener unversöhnlichen, beschränkten Rechten, die durch das Organ Mortimer-Ternaux' Thiers aufgefordert hatte, sich wegen angeblichen Einverständnisses mit der Versöhnungspartei zu verantworten und sich die harte Erwiderung zugezogen hatte: »Es gibt unter Ihnen unkluge Köpfe, die es gar zu eilig haben. Acht Tage noch und die Gefahr wird beseitigt, die Aufgabe ihrem Mute und ihrer Fähigkeit angemessen sein.«

Dieses Wort konnten La Mûre und seine Freunde Thiers nie verzeihen: es war wie ein Backenstreich, den man ihnen versetzt hatte und sie wollten dessen gedenken. Augenblicklich waren sie ganz im Banne der frommen Rührung, die Graf Chambords volltönender politischer Brief im legitimistischen Lager verursacht hatte. Eine Predigt pro domo, aus Goritz datiert, in der der Erbe der enttäuschten Bourbons in feierlicher Weise sich anbot: »Das Wort gehört Frankreich, die Stunde ist Gottes.«

Mit beredter Handbewegung rief Grandpré die Anwesenden zu Zeugen auf. Gestern waren die Föderierten unter dem Vorwand einer Hausdurchsuchung nach Waffen in die Bank eingedrungen und hatten die Ausgänge des Gebäudes militärisch bewacht; Gott weiß, was geschehen wäre, hätte der alte Beslay, der Herrn von Ploeuc sein Wort gegeben, daß das Institut verschont bleiben sollte, nicht sofort bei der Kommune Protest eingelegt ...

Ein Schauer durchlief jeden bei dem Gedanken an die riesenhafte Plünderung des Bargeldes, der Wertpapier- und Schmuckdepots. Frau von La Mûre konnte ein Ächzen der Entrüstung nicht zurückhalten: sie hatte in der Bank Depots im Wert von hunderttausend Franks liegen. Und alle dachten an die Möglichkeit dieser Katastrophe, an den sozialen Zusammenbruch, den die Plünderung des ungeheueren Hauses mit seinen mit Millionen, mit Goldrollen und ungezählte Vermögen repräsentierenden Wertpapieren angefüllten Kellern mit sich führen würde. Verachtende Empörung gegen diese verruchten Räuber, die den gigantischen Diebstahl, den ketzerischen Raub hätten vollführen können, jeden Augenblick, wenn es ihnen gefiel, vollführen konnten, durchschauerte die elegante Gesellschaft. »Man sollte sie samt und sonders totschießen und bei sämtlichen Gefangenen damit beginnen!« erklärte ruhigen Tons ein liebenswürdiger Herr.

Grandpré fuhr in seiner Anklagerede fort: der Haufe der im Rathaus residierenden Verräter hatte seine Macht in die Hände der Gewalttätigsten gelegt, indem er alle Vollmacht über die Kommissionen und Delegationen jenem neuen Komitee, dem sogenannten Wohlfahrtskomitee, übergab, der fünfköpfigen Hydra, die man bald zu zertreten hoffte. Auch hatten sie Courbet, den sie als zu schwach befanden, abgesetzt und durch Ferré, den würdigen Nacheiferer Rigaults, ersetzt. Während sie darauf warteten, sämtliche Bürgen zu beseitigen und Paris mit Feuer und Schwert zu verheeren, zerstörten sie in ihrer wahnsinnigen Wut das, was es an Heiligstem gibt, das persönliche Eigentum, die Erinnerungen der Geschichte. Sie ließen ihren Zorn an harmlosen Steinen aus, wie um in ihnen die großen Prinzipien zu vernichten, auf denen sie beruhen:

»Heute demolieren sie Thiers' Palais. Sie haben damit begonnen, die wertvollen Sammlungen fortzuschaffen, alle diese teueren Erinnerungen eines der Kunst, der Gelehrsamkeit geweihten Lebens. Unter dem Vorwand, die Museen und die Ambulanzen beschenken und eine öffentliche Auktion zum Besten der Verwundeten veranstalten zu wollen, raubt und plündert man! Morgen vielleicht schon werden sie die Vendômemesäule stürzen, an die sie bisher sich noch nicht gewagt hatten. Man trifft schon alle Vorbereitungen dazu. Wir sollen dies unvergängliche Denkmal unserer Siege fallen sehen! Aber Geduld! Der Tag der Vergeltung wird kommen, und zwar bald!«

Tief ergriffen, Tränen in den Augen, warfen die alten Damen ihre Spitzenärmel zurück und falteten die Hände. Ein Diplomat schüttelte mit niedergeschlagener Miene seinen weißen Kopf. Lauter Protest, leise Schreie wurden hörbar. Martial teilte die allgemeine Entrüstung. Nein, wahrhaftig! so sehr er Paris auch liebte, so viele Entschuldigungsgründe er für das Verhalten der Hauptstadt auch fand – das war zu albern, das waren die Sitten wilder Völker, diese Erbitterung gegen die leblose Materie, dieser brutale Vandalismus gegen die Vergangenheit!

Er war im Begriff, sich zu verabschieden, als, von einem affenähnlichen, behaarten Greise begleitet, Herr von La Mûre in tadellosem Salonrock, schneeiger Wäsche, den grauen Hut in der Hand, in der Gesellschaft erschien. Auf seinem an gesprungenes Email erinnernden Gesicht lag der Ausdruck ungewohnter Erregung. Er nahm zur Rechten der alten Frau von Grandpré auf einem niederen Tabouret Platz. Mit der kalten Herablassung des der Zukunft gehörenden Politikers beantwortete er die an ihn gerichteten Fragen:

»Wir hatten eine bewegte Sitzung, Frau Gräfin. Zuerst hat Cazenove de Pradines unter allgemeiner Zustimmung den herrlichen Vorschlag gemacht, öffentliche Gebete zu veranstalten, um Gott anzuflehen, unserem Bürgerkrieg ein Ende zu machen und uns von den uns betrübenden Übeln zu erlösen.«

Diese in salbungsvollem Ton vorgebrachte Nachricht fand bei den Gästen der Frau von Grandpré die günstigste Aufnahme. Zustimmendes Schweigen herrschte. Zufällig begegneten sich Aninas und Martials Blicke in verständnisvoller, mit Melancholie gemischter Ironie. Der affenartige Deputierte senkte die Stirn, als vernähme er die Stimme des Apostels. Martial gedachte des von Trochu erfundenen einzigen Mittels, das Heil der Seele zu retten: die neuntägige Andacht in Sainte-Geneviève! Wie tief, wie tief steckten doch all diese Menschen im Dunkel der Vergangenheit, im Aberglauben des Mittelalters, wie fern waren sie dieser französischen Revolution, die die Gewissen befreit, die Menschenrechte verkündet hatte! Doch schon verkündete Herr von La Mûre die große Neuigkeit:

»Favre, aus Frankfurt zurückgekehrt, bestieg die Tribüne. Meine Herrschaften, diesmal ist der Friede mit den Deutschen besiegelt.«

Er machte eine Pause. Es war, als bereitete es ihm eine hohe Erleichterung, eine ungemischte Freude, seinen seit den ersten Niederlagen täglich sich erneuernden Traum verwirklicht zu sehen.

»Von Seite der Deutschen können wir nun ruhig sein. Bismarck hat sich diese verdammte Insurrektion zu nutze gemacht, um einen rascheren Abschluß des Vertrages und die von ihm gewünschten Garantien zu erlangen, indem er drohte, bei den ersten Schwierigkeiten unsererseits gemäß dem ursprünglichen Übereinkommen zu verlangen, daß alle unsere Truppen sich hinter die Loire zurückzögen und Deutschland allein die Aufgabe überließen, Paris zur Vernunft zu bringen. Diese unangenehme Eventualität konnte vermieden werden, dafür hat jedoch die deutsche Regierung stipuliert, daß, solange die Ordnung in Frankreich sowohl wie in der Hauptstadt ihr nicht genügend erschien, um die Zahlung der Kriegsentschädigung zu sichern, die Okkupation von Oise, Seine-et-Oise, Seine-et-Marne und Seine fortdauern sollte! Die Räumung der Somme, der Unter-Seine und der Eure wird erst nach Auszahlung der ersten halben Milliarde stattfinden; und diese fünfhundert Millionen werden erst nach den der Wiedereinsetzung der legitimen Gewalt in der aufrührerischen Stadt folgenden dreißig Tagen ausgezahlt werden können! So unterdrücken die Paris beherrschenden Banditen, nicht zufrieden damit, alles um sich her zu verwüsten, das gesamte Frankreich, indem sie dem Lande die erniedrigende und verderbliche Gegenwart des Siegers noch weiterhin auferlegen!« Der behaarte Abgeordnete kratzte sich seinen Affenschädel und grunzte ein paar Worte der Zustimmung. Er war der Meinung seines ehrenwerten Kollegen und wich nur in geringfügigen Nuancen von derselben ab. Sein Groll gegen die Kommune hatte seinen Ursprung hauptsächlich darin, daß diese ihn die solide Macht, die kräftige Organisation der Deutschen schätzen gelehrt hatte. In Familienangelegenheiten hatte er sich heimlich nach Paris begeben müssen: beim Verlassen dieser Hölle hatte es ihm eine wahre Erleichterung gewährt, die borstigen Helmbüsche zu erblicken, sich unter dem Schutz der bayrischen Bajonette zu wissen und das »Ja« des Beschützers zu vernehmen. Er hatte diese mächtigen Hüter der Ordnung gesegnet, während er denjenigen fluchte, die ihn zwangen, jene zu bewundern.

Martial las einen Ausdruck der Scham auf Aninas Antlitz. Ihm war, als empfände sie allein in ihrer lothringischen Seele dieses verletzte Schamgefühl, denn in der Umgebung des Affen fanden seine Worte allgemeinen Beifall. Und in der Wiederkehr seines Gerechtigkeitssinnes dachte er bei sich: »Ja wohl, das war der große Fehler der Kommune, diese zähe Hartnäckigkeit, die sie die demütigende Nähe des verhaßten Feindes hatte vergessen machen. Doch beging Versailles in der gleichen Unnachgiebigkeit, in seinem jetzt gegen die Vertreter der Versöhnungspartei gerichteten Hasse nicht das gleiche Verbrechen, nicht die gleiche Verantwortlichkeit?

Martial ahnte nicht, daß denselben Nachmittag, in Tours, sein Vater das harte Gesetz des Stärkeren an sich erfuhr.

Nebst vier anderen Delegierten der Liga war Poncet beauftragt worden, sich nach Bordeaux zu begeben, wohin ungeachtet des Verbotes verschiedene Behörden ihre Vertreter entsandt hatten. In anderen Städten, in Lille, Angers, Macon, organisierten sich Protestzentren; in Lyon gruppierten sich die Mandatare von sechzehn Departements des Südens und Ostens.

Während der Waggon ihn seinem Ziel entgegentrug, setzte Poncet seine ganze Hoffnung auf diese Intervention in extremis. Das Anerbieten Pascal Groussets, der am Tag nach der Auflösung des Kongresses von Bordeaux das Luxembourgpalais der Liga zur Verfügung stellte, hatte er stets nur als das aufgefaßt, was es war: eine neue Verhöhnung. Tags zuvor drohte ein Sekretär des Wohlfahrtsausschusses, drei Delegierte der Liga gefangen zu nehmen, deren einzige Schuld darin bestand, Worte der Beschwichtigung der Kommune gegenüber gesprochen zu haben; sie entkamen nur dank der Hilfe Vermorels, der ihnen eine geheime Tür öffnete. Und heute hüllte sich die hochherzige Kommune, um Versailles etwas am Zeuge zu flicken, in eine erheuchelte Milde und öffnete allen Versöhnungsfreunden Frankreichs die Arme. Was sie jedoch nicht hinderte, den nächsten Tag bei einem in den Tuilerien abgehaltenen Konzert Schoelcher verhaften und zwei Tage lang hinter Schloß und Riegel bewachen zu lassen.

Ebensowenig Hoffnung setzte Poncet auf die Menschlichkeit der Versailler Herren und war sich der Gefahr, in der er sich befand, klar bewußt. War nicht eines der bekanntesten Mitglieder der Liga, Loiseau-Pinson, kürzlich in Chartres verhaftet worden? Der Chemiker ergab sich in alles, nur nicht darein, den furchtbaren Augenblick des Zusammenstoßes näherkommen zu sehen, ohne vorher das Menschenmöglichste versucht zu haben.

Welch seltsames Gefühl war es für ihn gewesen, im Wagen die frühlingsgrüne, im Blütenschmuck prangende Bannmeile zu durchfliegen! Unersättlich weideten sich seine Augen an dem Anblick dieser eine reiche Ernte verheißenden Felder, dieser mit schlanken Pappeln begrenzten Wiesen, der dunklen Wäldermassen. So fuhr die Natur neben und über der sterilen Erregung der Menschen unbeirrt in ihrer fruchtbaren, ihrer ewigen Arbeit fort.

Er dachte an seine Frau und hätte sie an seiner Seite haben mögen. Wie hätte sie das erquickt nach all den Stunden trauriger Melancholie, in denen sie in dem Gärtchen, das ihnen mit jedem Grashalm, jedem Blatt so vertraut war, aus dem im Käfig schmachtenden Pariser Frühling dem freien Frühling des freien Frankreich entgegenseufzten! Er gedachte seiner ohnmächtigen Grübeleien auf der Marmorbank, während das geschäftige Völkchen der Ameisen seine Vorräte einheimste und seine unterirdische Stadt verschönerte.

Als der Zug Orleans erreicht hatte, als man auf den Perrons der Bahnhöfe nicht mehr die wuchtigen Gestalten der preußischen Posten sah, hatte eine unsagbare, mit trüber Freude gemischte Traurigkeit ihn überkommen. Jede Umdrehung der Räder brachte ihn Amboise und Charmont näher und stieß ihn zurück in den blutigen Orkan, der das vertraute Familiennest verheert hatte. Und doch blieb der Zauber dieser Orte, der schmeichelnde Hauch der lauen Luft, des klaren Azur nicht ohne lindernde Wirkung auf sein Gemüt. Unter dem durchsichtig reinen Horizont zog goldig funkelnd die Loire ihre blauen Wellen. Niemals hatte er die Schönheit der Touraine mit ihren gleich steinernen Blumen über die lachende Landschaft verstreuten Schlössern, die mit Recht den Namen: Garten Frankreichs trug, so voll erkannt und genossen.

Frankreich! mit seinen verschiedenartigen Rassen, mit seinen von schwellendem Saft erfüllten Provinzen, mit den von den Dichtem besungenen Wäldern, dessen Bäume unter der Axt des Holzhauers das die Wohnungen wärmende Holz, das schirmende Dach lieferten! Frankreich mit seinen Weinbergen und Getreidefeldern, dem brotspendenden Boden, die geheiligte Erde, das Vaterland!

Und vor diesem Beispiel unermüdlicher, fruchtbringender Arbeit, vor dieser Lehre der Weisheit und des Friedens neigte sich Poncet, die Augen mit Sonnenschein und Grün erfüllt, zum Fenster hinaus und atmete in vollen Zügen die würzige Luft, das tiefe Schweigen der freien Natur. War es möglich, daß diese Lehre vergeblich war, daß dort unten Männer, Brüder einander niedermetzelten, während es einer kurzen Ruhepause bedurft hätte, um ihnen die Augen zu öffnen?

Häuser tauchten auf, rauchende Fabrikkamine kündeten die Nähe einer großen Stadt. Er besann sich: Tours! Die schwindelnden Wochen der Delegation, die kolossalen Anstrengungen der Verteidigung nahmen wieder Besitz von seinem Geiste. In seiner Erinnerung erstand wieder die Gestalt des Mannes, der, im Gegensatz zu Thiers und seiner kalten Berechnung, den alten gallischen Heldenmut, den wahren Geist der Rasse, verkörperte: Gambetta! Und trauernd beklagte er das Fernbleiben des Besiegten.

Der Zug fuhr in die Halle. Poncet war im Begriffe, auszusteigen, als ein Individuum an der Wagentür erschien:

»Sie sind Herr Poncet? Wollen Sie mir zum Polizeikommissär folgen.«

Der Chemiker traf dort zwei andere, einige Stunden vorher verhaftete Kollegen. Auf eine nach Versailles gesandte telegraphische Anfrage hin kam der Befehl, die Gefangenen dahin zu überführen. Poncet mußte mit seinen Genossen unter Bewachung von Gendarmen den eben zurückgelegten Weg noch einmal machen. In ironischem Glanze lagen, von hellem Mondschein übergossen, Feld und Wald und silbern glitzerte die Wasserfläche der Loire.

Wut erfaßte Poncet. Verzweifelt blickte er im Vorüberfliegen auf die schlummernden Städte, die dunklen Dörfer, die geschlossenen Hütten. War denn dieses Volk taub und tot, daß es diese Ungeheuerlichkeiten geschehen ließ: ehrliche Leute geknebelt und der Freiheit beraubt, Paris und Versailles von Mordwut entbrannt, die Republik unter ihren Streichen erliegend! Er hätte gewünscht, daß statt dieser tragisch heiteren Stille der Lärm der Sturmglocken und der Sammelsignale das nächtliche Schweigen aus seiner schmachvollen Lethargie geweckt hätte. Er hätte gewünscht, daß Tausende von Stimmen, alle jene, die noch nicht in der Tiefe der Gewissen erstickt waren, sich zu dem Ruf geeinigt hätten: »Auf! Zu Hilfe! Dort mordet man einander!« und daß in einem gewaltigen Erwachen, im blutroten Schein der Fackeln, Frankreich auferstände, um sich mit unwiderstehlicher Kraft zwischen die Mörder zu werfen!

Sie fuhren in ihrem Todeswerke fort, gleichsam hypnotisiert von dem Anblick ihres Blutes, von dem wütenden Hasten nach dem erstrebten Ziele: der unbarmherzigen Vernichtung der Kapitale. Im Schutz der furchtbaren, im ganzen Halbkreis der Batterien dröhnenden Marinegeschütze rückte Versailles unerbittlich näher.

Während Ladmirault in Asnières und Neuilly stand, wo die Kanonade und das Gewehrfeuer mit erbitterter Kraft wüteten, dehnten zur Linken Douays Truppen ihre Laufgräben bis hinter den Schießstand, von Montmartre aus. In der Mitte überschritt Clinchant die Seine, kampierte auf Longchamp, von wo aus, von den Seen bis zu den Toren der Muette, eine Parallele eröffnet wurde. Zweihundert Meter von dem Gegenwall der Bastione entfernt, wurden Waffenplätze errichtet, an den Ausläufern der Seen Batterien aufgefahren, auf den Inseln Hinterhalte installiert. Die Batterie von Billancourt hatte binnen zwei Stunden den Viadukt von Point-du-Jour reingefegt, den Estoc zum Sinken gebracht und die übrigen Kanonenboote zur Flucht stromaufwärts gezwungen.

Rechts schnitten die Linientruppen Osmont, indem sie Vauves mit jeder Stunde enger umzingelten, jede Verbindung zwischen den Forts von Vauves und Montrouge ab; andere drängten die wütenden Horden von Brunel und Lisbonne zurück und erstürmten mit dem Bajonett die letzte Barrikade von Issy, das Kloster des Oiseaux und das Seminar; das Dorf wurde mit acht Kanonen, mit Fahnen und Gefangenen plötzlich im Stich gelassen. Im Zeitraum eines Monats waren hundertfünfzig Kanonen erbeutet und zweitausend Mann gefangen genommen worden. Vom Lyzeum von Issy flatterte die trikolore Fahne. Ein Laufgraben umgab die Kehle des Forts von Vauves. Auf der äußersten Rechten deckte die Kavallerie mit fortwährenden Scharmützeln die langsame, aber sichere Bewegung.

Rose und Louis hatten sich seit ihrer Liebesnacht nicht mehr getrennt. Ihr seliges Erwachen in leuchtender Frühe war nur ein kurzes Erwachen gewesen. Um sie her hatte der Morgen sich mit aufgeregten Trompetensignalen und Flintenschüssen gefüllt. Während sie in glücklicher Ermattung schlummerten, war Wroblewski mit zwei Bataillonen mit blanker Waffe den Versaillern entgegengestürmt, die bereits die Glacis des Forts von Vauves besetzten, das, unhaltbar und preisgegeben wie Issy, von dem Slaven aufs neue okkupiert wurde.

Anatoles Faust pochte kräftig an die Glastür; ein dringender Appell hatte sie aufgeschreckt. Dury war im Begriff, die Reste der Kompagnie zu sammeln, während Levidoff mit etlichen guten Schützen den Rückzug deckte.

Eine ergreifende Szene spielte sich zwischen den Liebenden ab: Louis verlangte, daß Rose zu den Ihren heimkehrte, er flehte, er befahl ... Soeben fuhr ein mit Verwundeten beladener Marketenderwagen ab, der sie bis zu den Wällen hätte bringen können ... Doch sie widersetzte sich mit sanfter Festigkeit. Sie hatte zu viel schon bisher gelitten, fern von ihm – die endlosen Tage, die schlaflosen Nächte. Sie war jetzt sein Weib und mußte als solches sein Los teilen. Sie wollte ihn niemals verlassen. Und sie wollte ihn so gar nicht stören, wollte tun, was man von ihr verlangte ... Sie konnte die Suppe kochen, die Waffen reinigen. Sie war ja nicht die einzige hier. War nicht die Frau ihres Nachbars, des Uhrmachers Pontois, ihrem Manne nachgeeilt? So wohlhabende Leute! Sie folgte ihm überall hin, still und ruhig für ihn und die anderen ihre Frauenpflichten erfüllend.

Rose sprach mit so inniger Überzeugung, ihre Augen leuchteten in so reinem Feuer, sie war so schön in ihrem in Eile geschlossenen Kleid, mit den den entblößten Hals umspielenden Löckchen, dem Ansatz der runden Schulter, daß Louis zögerte. Sie umarmte ihn, drückte ihre schwellenden Lippen auf die seinen und besiegelte mit einem Kusse die schweigende Zustimmung.

Und nun begann ein seltsames Leben, ein beständiger Wechsel von blindem Lärm, Kampf, Flucht, kurzem Schlummer tiefster Erschöpfungen und flüchtigen Augenblicken trunkener Liebeswonne. Am Abend des 13. waren sie in den Festungsgürtel geraten. Ein äußerst gefährlicher Schlupfwinkel, ein Haufen formloser Trümmer, zerbrochener Lafetten, umgestürzter Kanonen zwischen Leichen und Ruinen. Hier hatten sie eine unvergeßliche Nacht verlebt; das Bewußtsein der über ihnen schwebenden Todesgefahr hatte das Feuer ihrer Liebe bis zu seliger Extase entflammt. Leib an Leib geschmiegt, in glutvoller Umarmung versunken, hörten sie von ihrem finsteren Versteck aus nur wie im Traume den heiseren Atem der Betrunkenen und der Schläfer, das Geflüster angstvoll gestammelter Worte.

Auf dem Grund des Brunnens unter der Poterne zusammengepfercht, erwarteten die letzten Verteidiger von Vauves – sie wußten selbst nicht, was – die Erlösung oder das Ende. Nebst Louis und Anatole waren von der Kompagnie, die bei Issy gekämpft, von dem Bataillon, das bei der Proklamation der Kommune defiliert hatte, nur noch Levidoff und Dury, der große Jules und Pontois übrig. Die Uhrmacherfrau, die ein Taschentuch über ihr graues Haar geknüpft hatte, zerbrach eine Brotkruste und teilte sie mit Rose. Man lebte, man aß rein mechanisch. Die Stunden dehnten sich zu Ewigkeiten, als ein von oben hereinfallender bleicher Schimmer den Anbruch des Tages verkündete.

Plötzlich drang Stimmengewirr an ihr Ohr, ein Befehl: »Hierher! Hierher!« Leutnant Dury gelang es endlich, den Grund des Lärms zu erfahren. Die Festung war vollständig umzingelt, die Versailler im Begriffe, einzudringen. Doch noch war es möglich, durch die unterirdischen Gänge und ehemalige, zur Züchtung von Erdschwämmen bestimmte Mistbeete zu entfliehen. Ein Werkführer bezeichnete ihnen den Weg, Levidoff und Dury berieten sich. Vierzig betrunkene Franktireurs wollten mit ihrem Hauptmann hinaufsteigen, um die Festung dem Feinde zu entreißen.

»Sind Sie dabei?« fragte Dury den Prinzen.

Seine schönen blauen Augen glänzten im Fieber der Verzweiflung. Doch Levidoff schüttelte den Kopf: nein, hier war die Partie unwiederbringlich verloren, es gab in Paris besseres zu tun. Nur Mut, der Krieg begann ja erst! ... Er sprach in gemessenem Ton, sein bleiches Gesicht, in dem nur die breiten Nasenflügel bebten, trug den Ausdruck kalter Willenskraft. Er legte seine kleine Hand auf Durys Arm und zog ihn mit stählerner Kraft mit fort.

Zwischen Anatole und Louis folgte Rose den schattengleich dahinhuschenden Gestalten. Man ließ sich über Gerölle gleiten, man mußte sich bücken, um durch die Maulwurfsgänge zu gelangen. Einen Augenblick erschien durch einen Spalt über ihren Köpfen, hoch oben, der bleiche Himmel, an dem ein letzter Stern erlosch. Dann wieder kamen endlose Galerien, durch die man schweigend, in undurchdringlicher Finsternis schritt. Zuweilen wurde ein Fluch, ein Stöhnen laut. Rose berührte, wenn sie die Arme ausstreckte, Anatoles gebückten Rücken. Louis ging jetzt neben ihr und hatte den Arm um ihre Taille gelegt.

Allmählich sank aus dem niederen, zersprungenen Gewölbe, aus den nässetriefenden Mauern, zwischen denen eine muffige Atmosphäre lastete, tiefe Niedergeschlagenheit auf sie herab. Was war das für eine Totenstadt mit stummen Straßen, durch die sie irrten? Konnten sie jemals hoffen, aus diesem Netz von Hohlwegen tief unter der Erde zu entkommen? Sie fühlten auf ihren Schultern die zermalmende Last. Ihnen war, als wandelten sie durch Katakomben. Dort in jener Nische, war das nicht ein Haufe von, Menschenknochen? ... Von Grauen gepackt, drückte Rose die Hand des Geliebten. Doch Anatole stieß mit dem Fuß in den Haufen: Steine und Scherben.

Dumpf hellendes Grollen, Ausrufe der Angst, das endlose Echo eines aus Unvorsichtigkeit abgefeuerten Flintenschusses, der heisere Gesang eines Betrunkenen, all das gewann in dieser unheimlich geheimnisvollen Finsternis eine bedrohliche Intensität. Oft blieben sie stehen und zählten die Genossen: Levidoff, Dury, Pantois, der große Jules, die Simons, die beiden Frauen ... Dann ging es wieder weiter; die Schritte der Vorangehenden verhallten in der Ferne. Sie liefen, um sie einzuholen. Oder sie wandten sich klopfenden Herzens um und lauschten ... Wer folgte ihnen? Wilde Angst erfaßte sie, der Schmerz eines gejagten Tieres.

Mit wankenden Knien stießen sie gegen unsichtbare Hindernisse; es waren ausgestreckte Körper, Betrunkene, die die Kraft verlassen hatte, Greise, die hier in tiefer Erschöpfung niedergesunken waren. Seit Ewigkeiten wanderte man hier fort. Kam man überhaupt vorwärts? ... Zuweilen blieben ihre Sohlen im Schlamm stecken; sie fürchteten, in einer Schlucht zu versinken. Das Wasser netzte ihre Füße, stieg ihnen bis an die Knie. Bei dem Geräusch eines herabkollernden Steines näßte kalter Schweiß ihnen den Rücken.

Bei den Gabelungen geheimnisvoller Wege blieben sie zögernd stehen. Welches war der rechte Weg? Der Steinbrechermeister war nicht mehr bei ihnen. Levidoff hatte die Führung des Häufleins übernommen. In seiner Faust hielt er hoch erhoben eine schwach flackernde Laterne. Die Galerien waren mit Käppis, Waffen und Feldflaschen bedeckt. In den in phantastisches Dunkel gehüllten Gewölben stieß man auf Biwaks schlafender Männer, die dicht aneinander gedrängt auf dem nassen Boden lagen. Jammerlaute und Stöhnen drang an das Ohr der Vorübereilenden. Manche lachten ein irres Lachen.

Rose hätte am liebsten sich neben ihnen zu Boden sinken lassen. Die Füße schmerzten sie, die Kniee zitterten ihr. Louis drückte sie enger an sich und öffnete nicht die Lippen. Anatoles Scherze waren längst verstummt. Man sah Dury erschöpft sich an die Mauer lehnen. Der Hunger wühlte in ihren Eingeweiden, brennender Durst klebte ihnen die Zunge an den Gaumen.

Man konnte nicht mehr weiter und ließ sich kraftlos auf einen Haufen von Erdschwämmen sinken. Beim erlöschenden Licht der Laterne blickte Levidoff auf die Uhr: zwölf Uhr – Mittag oder Mitternacht? Mit ruhigem Gleichmut zog er sie auf.

Der große Jules ließ seine wuchtige Faust hängen. Entsetzen sprach aus seinen runden Augen unter der niederen Stirn.

»Ach! hätte ich nur ein Stückchen Brot!« stöhnte die Pontois.

»Oder wenn man nur etwas von dem Wasser hätte, in dem man den Salat ausgewaschen hat!« sagte Anatole.

»Schweigen Sie!« verwies ihn Dury.

Rose hatte sich, so erschöpft, daß sie jeden Augenblick ohnmächtig zu werden fürchtete, an Louis' Brust geschmiegt. Ihre Schwäche erfüllte sie mit unirdischer Leichtigkeit, mit dem Wohlgefühl der Bewußtlosigkeit. Aus dem Pflanzenlager stieg ein starker Duft auf, der sie durchdrang und betäubte. Und gleichzeitig senkte es sich aus dem bleiernen Gewölbe wie ein feuchter Mantel über ihre erschöpften Glieder.

Sie schliefen. Im Schlafe sammelten ihr Geist und Körper die letzten Reste von Energie. Rose träumte, sie wäre tot, dasselbe Leichentuch umhüllte sie und Louis, und, fern von ihren starren Leibern, schwebten ihre Seelen dem Lichte zu. Sie waren zu einem Wesen verschmolzen: das war das Paradies ... Sie seufzte tief auf. Eine Hand rüttelte sie. Sie öffnete die Augen, suchte Simons Werkstatt. Nichts als tiefe, erstickende Finsternis. Sie drückte Louis fest an sich. Um sie her sprach man leise.

Seit Stunden war die Laterne erloschen. Levidoff gab mit fester, klarer Stimme seine Weisungen. Man hatte nur noch etwa dreißig Streichhölzchen; diese wollte man bei den Wegkreuzungen benützen, während man die übrige Zeit aufs Geratewohl sich an den Wänden forttappen wollte, er voran. »Seid ihr bereit?« fragte er. Ein Reiben, ein Aufflammen, und der zitternde Lichtschein fiel auf die angstverzerrten Gesichter, auf die gespensterhaft abgemagerten Gestalten, auf die undeutlich unsichtbare Mitte einer Höhle, ein Labyrinth unheimlich düsterer Galerien.

»Dorthin!« kommandierte Levidoff.

Mit einem Schimmer neuerwachter Hoffnung, der Energie des Führers vertrauend, folgten sie alle. Das Streichholz war erloschen. Die endlose Wanderung begann von neuem, ohne daß man wußte, ob man sich nicht beständig im Kreise drehte. Ein Streichholz nach dem anderen flammte auf und erlosch. Zweimal fand man sich in der kürzlich verlassenen Höhle wieder; in mutloser Verzweiflung hätten sie alle sich niederlegen und das Ende erwarten mögen ...

Plötzlich strauchelte Rose. Louis fing einen leblosen Körper auf. Während er sich bückte und die warme Bürde in seine Arme nahm, waren die anderen schon fern. Sein Entsetzen war so groß gewesen, daß er nicht hatte schreien und sie zurückrufen können. Als er die Sprache wieder fand, war sein Rufen vergeblich. An der Stelle, wo Rose umgesunken war, schnitten die Galerien in rechtem Winkel ab. Wohin sich wenden? ...

Das junge Weib erwachte aus seiner Ohnmacht und begann wie ein Kind zu wimmern. Die niederschmetternde Wirklichkeit verblendete die beiden; sie hatten sich verirrt und waren nun allein in dieser grauenvollen Finsternis. In wildem, tierischem Geheul schrie Louis um Hilfe. Nur das Echo antwortete. Zwischen den Grabesmauern, in dem unentwirrbaren Labyrinth der Tunnels und Krypten verhallten machtlos ihre verzweifelnden Stimmen.


Am Spätnachmittag des 16. saß der alte Simon, abgemagert und bleich die Knie in eine alte Decke gehüllt, in dem Laden, durch dessen geöffnete Tür der warme Sonnenschein hereindrang, Therese gegenüber. Er vermied es, seine Frau anzublicken, deren rotgeweinte Augen und verstörte Miene die trotzige Hoffnung, die er zur Schau trug, erschüttert hätte. Nach Übergabe der Festung waren die Föderierten heimgekehrt und hatten von ihrem gefahrvollen Auszug berichtet. Dem bösartigen Rougeard hatte es Vergnügen bereitet, unheilvolle Nachrichten zu verbreiten. Simon jedoch behauptete, ebensosehr, um Therese nicht alle Hoffnung zu rauben, als um sich selbst zu täuschen, immer wieder: »Die Kinder werden zurückkommen.«

Therese in ihrer hellsehenden, mütterlichen Zärtlichkeit seufzte und schüttelte den Kopf ... Rose, ein Weib, in solcher schon für Männer genug furchtbaren Lage! ... So sehr sie auch Louis' Kraft, Anatoles Gewandtheit vertraute, sie zitterte für sie alle. Über den Drang völliger Hingabe, der das junge Mädchen in die Arme des zukünftigen Gatten getrieben, hatte sie sich keinen Kummer gemacht. Das begriff und billigte sie, das war nur natürlich und in der Ordnung. Daß man einander angehörte, wenn die Herzen in treuer Liebe zu einander schlugen, darin sah sie keine Schande, hatte sich in schlichtem Stolze ihrer eigenen freien Liebe nie geschämt.

Während sie die Kartoffeln zum Abendbrot schälte, rechnete sie für sich: »Die Festung ist am 14. geräumt worden, warum sind sie noch nicht zurück?« ... Und auch sie vermied Simons Blick, fürchtend, in seinen Augen ihre eigenen Gedanken zu lesen.

Er spähte durch den Rahmen der offenen Tür auf die Straße, durch welche die Abwesenden kommen konnten und verzehrte sich in Kummer und Sorge. Seit gestern außer Bett, hatte er eine oder zwei Zeitungen lesen wollen, sie aber bald aus den Händen fallen lassen; sie lagen nun zu seinen Füßen, neben einer Sammlung des Charivari, die ein Nachbar ihm geliehen hatte, um ihn zu zerstreuen. Er hatte kaum einen Blick auf die prachtvollen Daumiers geworfen, auf diese von Kraft und Ironie strotzenden Seiten, auf denen der große Künstler seine ganze hellsehende Seele, all seinen patriotischen Glauben niedergelegt hatte.

Mit schmerzlichem Erstaunen brütete Simon von neuem über die schlimmen Nachrichten, den schnellen Zusammensturz. Von Vaugirard bis Neuilly waren die Wälle entblößt, die Versailler konnten, sobald sie wollten, den Sturm beginnen. Von allen Seiten verlangte man nach Erdarbeitern für die trotz Rossels Befehlen vernachlässigten Barrikaden. Geduld. Noch waren die Versailler nicht da, und wenn sie einzogen, werden die Pflaster der Straßen von selbst sich öffnen! ... In einer Aufwallung der Wut ballte Simon die Fäuste und richtete sich auf, um gleich darauf kraftlos in den Lehnstuhl zurückzusinken.

Was lag jetzt noch daran, daß die Herren von der Kommune ihre Aufgabe nicht zu erfüllen verstanden? Das Volk wird seine Pflicht tun! Voll Bitterkeit dachte er an die Zänkereien, an all die nutzlosen Erlässe, und als er bedachte, was zu dieser Stunde auf dem Vendômeplatz sich vorbereitete – der Sturz der Säule! – schweifte seine Erinnerung zu jenem Abend, da Thédenat, nach dem Abmarsch der Preußen, ihnen hier, an derselben Stelle, von dem ersten Einzug der Alliierten, dem Versuch der Monarchisten, die Statue Napoleons niederzuwerfen, erzählt hatte ... Was Herr Thédenat, wohl heute sagen würde?

In diesem Augenblick trat der Gelehrte auf die Schwelle. Mit langsamen Schritten, in gebeugter Haltung, war er gekommen. Er neigte den edlen, von weißen Locken umwallten Kopf und lüftete den breitkrempigen Hut. Er behandelte die Simons stets als bescheidene Freunde, voll Achtung für Theresens schönen Charakter, voll Sympathie für die jungen Leute, voll Mitleid für den Vater. Die Überzeugung des alten Simon, im Dienste eines getäuschten Ideals, rührte ihn wie der Opfertod des Soldaten für eine verlorene Sache. Inmitten des Wirbelsturms, der so viele arme, ihren Instinkten überlassene Geschöpfe in den Abgrund gerissen hatte, waren diese Menschen ehrlich und nüchtern geblieben, die Nichtstuer und die Trunkenbolde, die Gewalttätigen und die Schwächlinge tadelnd, an die segenspendende Kraft der Arbeit und die Notwendigkeit der Ordnung glaubend, – einer neuen Ordnung, die jedoch, wie die alte und mehr als die alte, ihre Harmonie besaß.

Voll Zartgefühl bestrebt, die Eltern nicht mit banalen Worten zu verletzen, fragte Thédenat:

»Noch keine Nachricht?«

Und er versuchte, ihnen ein wenig Hoffnung einzuflößen.

Er schwieg von den Besorgnissen, der düsteren Trauer, in die der alles mit sich reißende Strom der Ereignisse ihn versenkte: wie die Diktatoren des Wohlfahrtskomitees ganz offen von eingebildetem Verrat träumten, auf den redlichen Rossel die Schuld an ihrer Unfähigkeit und ihrer Dummheit schoben, blind oder ohnmächtig gegen die geheimen Manöver, welche die Kommune von unten her, durch bonapartistische Agenten oder Parteigänger der Nationalversammlung, untergruben; wie Delescluze krank, geschwächt, erschöpft und nur durch zähe Willenskraft aufrecht erhalten, unter der Last der Kriegsdelegation kämpfte; daß Billioray im Rat der Fünf seine Stelle einnahm. Überall der Drang nach Veränderung, nach nichtigen Bestrebungen, ein fortwährender Wechsel der Personen, der die Verwirrung noch erhöhte. Die Militärkommission war abgesetzt, Moreau zur Intendanz übergegangen.

Aus seiner Kerkerzelle in Mazas erteilte Cluseret seine strategischen Ratschläge. Pascal Grousset verkündete, indem er die Provinzstädte zu den Waffen rief, den Pakt der Hauptstadt mit dem Tode: nach den Mauern die Barrikaden, zuletzt die Häuser, die man lieber in die Luft sprengen wollte, als sie in die Hände des Feindes geraten zu sehen. Er drohte mit furchtbaren Kräften, welche die Wissenschaft in die Hand der Revolution legte.

Eine Delegation von Gelehrten, Doktor Parizel an der Spitze, studierte die Mittel, die Grausamkeit des Krieges noch zu erhöhen, schuf vier Züge von Raketenschleuderern, überrechnete die verfügbaren Quantitäten an Phosphor, Schwefel usw., kaufte den ganzen Vorrat an Carbonsulfur auf. Die Händler von Petroleum und anderen mineralischen Ölen erhielten Ordre, innerhalb achtundvierzig Stunden eine Liste ihrer Vorräte in dem Beleuchtungsbureau im Rathause abzugeben. War das eine einfache Vorsichtsmaßregel für den Fall, daß das Gas versagen sollte, oder war es ...? War von diesen Wahnwitzigen, die ihren Plan einer totalen Vernichtung offen gestanden, nicht alles zu fürchten? Ballès veröffentlichte im Cri de Paris folgende Notiz: »Kein Soldat wird Paris betreten. Wenn Thiers Chemiker ist, wird er uns verstehen...«

Gleich einem dem sicheren Tode, der wilden Verzweiflung zugetriebenen Tiere zeigte die Kommune die Zähne und knurrte, bevor sie biß. Auf Paris beschränkt, nachdem sie auf ganz Frankreich gehofft, und in der Hauptstadt selbst sich isoliert, geduldet und nicht anerkannt fühlend, irrte sie haltlos umher und schlug blindlings um sich. Die Widerspenstigen wurden verfolgt und hordenweise ins Gefängnis geworfen. Jeder Bürger mußte sich in den Arrondissements, wo Polizeigeneralkommissariate funktionierten, mit einem Identitätsschein versehen. Wer einen solchen nicht besaß, konnte durch den erstbesten Förderierten auf offener Straße verhaftet werden. Weitere sechs Tagesblätter, darunter der Siècle, das einzige große liberale Organ, das den Temps überlebt hatte, waren verboten worden. Dafür waren in kindischer Reminiszenz Zivilkommissäre zu den Armeen entsandt worden.

Und diese Tyrannei, die zermalmend auf Paris lastete, ging nicht allein von der von der Stadt gewählten Vertretung aus. Der Bruch, der seit langer Zeit zwischen der fanatischen Majorität und der besonneneren Minorität bestand, hatte sich in eklatanter Weise geäußert. Die Jakobiner und die Klubisten gaben sich nicht einmal mehr die Mühe, bei den Sitzungen zu erscheinen, beschlossen alle Angelegenheiten in ihren Komitees. Zweiundzwanzig Sozialisten hatten, als sie den Saal leer fanden, rebelliert und wiesen in einer öffentlichen Erklärung, obgleich sie die persönliche Verantwortlichkeit für die Handlungen der sozialen Revolution forderten, jede Solidarität mit dem Wohlfahrtsausschuß von sich. Die Kommune löste sich auf.

Von diesen Verurteilten, deren eine furchtbare Sühne harrte, schweiften Thédenats sorgenvolle Gedanken zu jenen, die entschlossen gewesen, sich ins Mittel zu legen, zu den von beiden Lagern abgewiesenen und als Verräter behandelten Mitgliedern der Versöhnungspartei. Er dachte an Poncet. Wo weilte der Freund zu dieser Stunde? War es ihm gelungen, Bordeaux zu erreichen? Bemühungen und Worte, alles war verloren. Die Bestrebungen der Liga, den Waffenstillstand für die südlichen Dörfer zu erlangen, waren resultatlos geblieben. Der Kongreß von Lyon war unfruchtbar.

»Sie sehen aus, als ob Sie von weither kämen, Herr Thédenat«, sagte Simon. »Darf ich ...«

Er schob dem Gast mit linkischer Gebärde den Stuhl zurecht, von dem er selbst sich erhoben. Müde ließ der Greis sich darauf niedersinken. Und ihm, wie Simon, kam die Erinnerung an den Tag des Einzugs der Deutschen in den Sinn. Er hatte sich seitdem nicht mehr längere Zeit in dem Laden aufgehalten, hatte nur hie und da sich flüchtig eingestellt, um eine Nachricht, eine mildherzige Gabe zu bringen. Befangenes Schweigen herrschte eine Weile in dem engen Raume. Beide dachten an die Säule, von der sie einst soviel gesprochen, und die soeben gefallen war.

»Ich komme vom Vendômeplatz«, sagte Thédenat endlich.

Simon senkte die Stirn wie unter einer Anklage, richtete sich aber bald wieder mit einer Gebärde des Trotzes empor.

»Sie haben gesehen...?«

»Ja wohl«, sprach Thédenat traurig. »Ihre Freunde haben das Beispiel befolgt, das die Monarchisten ihnen gegeben hatten, doch, glücklicher als diese, war es ihnen gelungen, die Trophäe zu stürzen! Die Statue des Siegers von Jena ist zu den Füßen der Sieger von Sedan gerollt. Ein glücklicher Tag für die Deutschen! Das kann sie wohl über ihren teilweise mißglückten Einzug trösten!«

Bestürzt und verwirrt, zog Simon die Decke fester über die Knie. Er gedachte des Abends, da man ihnen gegenübergestanden hatte, bereit, sich töten zu lassen, um sie zu verhindern, Paris durch ihren Einzug zu schänden! Ja, die Deutschen hatten wohl Grund, sich zu freuen! Er wunderte sich, daß er überhaupt wieder an sie dachte, er hatte sie vergessen, als wären sie längst schon in ihr Land der Pfeifen und des Sauerkrauts heimgekehrt, als hielten sie nicht immer noch im Norden und Osten die Stadt bedroht. Wie so vielen anderen, hatte auch ihm Versailles den Horizont völlig ausgefüllt und allen Haß und Groll aufgesogen! Jetzt aber tauchte das verhaßte Bild wieder vor ihm auf und bedrückte sein Gewissen. Patriotisches Schamgefühl überkam ihn.

Im Prinzip war die Zerstörung der Säule ja erklärlich; die Vernichtung dieses aus dem Erz der Kanone gegossenen Denkmals, dieses Symbols brutaler Kraft, war ein Angriff auf die Idee des Krieges; man wollte diesen falschen Begriff der Ehre töten mit allem, was derselbe an Unglück und Verbrechen mit sich bringt: Plünderung, Brandstiftung, Mord... Man appellierte damit an die Brüderlichkeit der Völker, an eine neue Ära der Menschlichkeit... Aber freilich, der Augenblick war nicht glücklich gewählt, während die Kanonen noch donnerten und die Deutschen über die Schultern zuschauten. Er murmelte:

»Dazu hätte man Sieger sein müssen. Dann, in einem großen Friedensfeste, hätte man begriffen...«

Von diesem Traum jedoch war man so weit entfernt, daß er selbst die Sinnlosigkeit dieser Worte fühlte. Sie klangen eher wie eine Anklage, als wie eine Entschuldigung. Von Neugier getrieben, fragte er:

»Wie ist das vor sich gegangen?«

Thédenat erzählte von den Vorbereitungen. An der Basis, der Rue de la Paix gegenüber, war an dem steinernen Sockel bis zum Drittel des Durchmessers ein schrägkantiger Einschnitt gemacht worden. Auf der anderen Seite – die Bronzetafeln waren vorher entfernt worden – hatte man den Stein durchgesägt, die eisernen Ecken eingedrückt. In der Höhe der Plattform war um die Säule ein Kabel gewickelt, durch Flaschenzüge an eine riesige Schiffswinde gebunden, die durch einen Anker im Boden befestigt war. In der Achse des Fallkreises war ein Lager von Reisbündeln und Dünger vorbereitet worden.

»Der Platz war bedeckt mit Nationalgarden, die Gewehr bei Fuß standen, die benachbarten Straßen von Menschen wimmelnd, die Balkons mit Neugierigen besetzt. Auch einige Invaliden waren da, denen man, wie in Anerkennung ihrer Rechte, Platz gemacht hatte. Um halb vier Uhr fielen die Tücher, welche die letzten Arbeiten verhüllten. Die Musikkapellen spielten die Marseillaise, die Seile spannten sich, ein Krachen...«

Therese hörte mit aufrichtiger Rührung zu. Ihr, der mehr an den Erinnerungen, den Traditionen der Vergangenheit hängenden Frau, war es unbegreiflich, daß man »eines der schönsten Monumente von Paris« stürzen und wieso dies die Dinge fördern konnte. Nach kurzer Pause fuhr Thédenat fort:

»Es war ein blinder Lärm. Einer der Flaschenzüge war gebrochen. Die Säule stand noch fest. Es folgte ein Augenblick der Enttäuschung. Schon hörte man einzelne Stimmen Verrat schreien. Arbeiter drängten herzu. Endlose Zeit verging. Anfangs hat das Publikum, wie im Theater, sich amüsiert, bald aber wurde es ungeduldig. Vor dem Generalstab der Nationalgarde spielten die Musikkapellen, um die Wartezeit zu kürzen. Halbwüchsige Burschen sangen ihre Gassenhauer. Lachend und einander das im Sonnenlicht aufrecht stehende Monument zeigend, tauschte man die über den Sturz der Säule berichtenden Abendblätter. Endlich befestigte ein Offizier der Föderierten an der oberen Balustrade die trikoloren Farben, damit sie gleichzeitig mit dem, der sie zu Glanz und Ruhm gebracht, fielen. Um halb sechs Uhr erklang von neuem die Marseillaise, das Seil spannte sich. Man sah die Säule sich neigen. In der Luft in drei Stücke zerbrechend und zersplitternd, sank sie auf das von Reisbündeln gerüstete Lager. Der Kopf der Statue und der eine Arm hatten sich vom Rumpf gelöst. Kaum, daß wir unter den Füßen ein leichtes Zittern spürten; doch das dumpfe Getöse, den ungeheueren Staub, der sich zu einem Schleier verdichtete, das werde ich nie vergessen, ebensowenig wie das Jubelgeheul der Menge, die auf die Trümmer kletterten, um besser zu sehen. Auf dem Sockel schwenkte man eine rote Fahne, und während die Reden von neuem begannen verließ ich traurig den Platz...«

Wieder herrschte tiefes Schweigen. Weder Simon noch Therese empfanden das Verlangen, es zu brechen, in ihrem Ideal gedemütigt. Denn die Ideen blieben schön, die Forderungen gerecht, auch wenn die Menschen und die Handlungen ihnen schadeten! Den Tadel fühlend, der in Thédenats tiefer Trauer lag, versenkten sich der Schuster und sein Weib mit erhöhter Bitterkeit in ihr eigenes Leid, ihre persönlichen Sorgen: Rose, die Söhne...

Thédenat, der sie so gerne ermutigt und getröstet hätte, erkannte seine absolute Ohnmacht und die Kluft, die ihn von den beiden trennte. Auch der Händedruck, mit dem er Abschied nahm, brachte sie nicht näher. Sein Schmerz wuchs. Er, dem nichts Menschliches fremd war, er sah mit tiefer Bestürzung, wie fern er diesen Menschen blieb, diesen wie jenen, den Verteidigern wie den Angreifern, die beide zu dem gleichen Gemetzel bereit waren...

In seine Wohnung heimgekehrt, verbrachte er beim offenen Fenster, durch das aus dem frischgrünen Luxembourg die würzige Nachtluft hereinströmte, einen trüben Abend neben seiner Frau. Was barg das Morgen in seinem Schoß? ... Sie äußerten ihre Befürchtungen. Welcher Abscheu, und welche Ironie hätte sie erfaßt, hätten sie gewußt, was an diesem selben Nachmittag, während die Vendômesäule fiel, in der Nationalversammlung beschlossen worden war.

Eine sehr starke Majorität weigerte sich, die Dringlichkeit eines durch Peyrats vorgebrachten Vorschlags der Deputierten der Linken zu votieren: daß die Republik in definitiver Weise als die Regierung Frankreichs sanktioniert werde. Und, nicht zufrieden, ihren Haß auf die Zukunft, ihre Hoffnung auf eine Restauration hinauszuschreien, hatten diese Vertreter der Vergangenheit, diese blutdürstigen Querköpfe, die im Himmel ihre letzte Stütze suchten, selbst diejenigen, die all das Unheil entfesselt und, um es zu beschwören, jesuitisch den Herrn der Heerscharen anriefen, mit 413 von 416 Stimmen die unverzügliche Abhaltung von öffentlichen Gebeten angeordnet, um den göttlichen Schutz und das himmlische Erbarmen auf Frankreich herabzuflehen!


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