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II

In schlankem Trab trug Cydalise ihren Reiter in kühler Morgenfrühe durch den Wald von Faunes-Reposes bis nach Ville-d'Avray. Ganz in seine Grübeleien eingewiegt, hatte Du Breuil keinen Blick für den in bläulichem Opal schimmernden Himmel, für das üppige, von Tauperlen glitzernde Grün der fernen Gehölze. Vorbeiziehende, bewaffnete Detachements grüßten ihn, der Lärm der Kanonade erdröhnte, ohne daß er aus seinem Traume erwachte ... Heute, den 4. Mai, begab sich Jules Favre nach Frankfurt, wo Bismarck ihn zur endgültigen Unterzeichnung des Friedens erwartete ... Diese Nachricht, die er durch Grandpré erfahren, stieß Du Breuil in den Abgrund zurück, aus dem er seit einigen Wochen an Aninas sanfter, fester Hand loszukommen versuchte, um sich dem sonnverklärten Horizont ihres zukünftigen Glückes zuzuwenden.

Metz! das Kotmeer vom Ban Saint-Martin, die bangen Wochen, in denen er sich in Untätigkeit und Zweifeln verzehrt hatte ... Seltsame Verkettungen frischten die Erinnerung an den langen Dornenweg von neuem in ihm auf. Das Problem, das ihn so sehr gequält, und das nun, unter dem Druck der Ereignisse, in anderer Form wieder vor ihm auftauchte, verkörperte sich in den Gestalten zweier Kameraden aus den letzten Tagen der Blockade: Rossel und Leperche. Er sah sie beide wieder vor sich, den trockenen, eigenwilligen Geniehauptmann und den Adjutanten Bourbakis, Waffenbrüder, die im Schmerze ihrer verwundeten Vaterlandsliebe das gleiche Vergehen gegen die Disziplin begingen. Er sah sich wieder in der Versammlung, in welcher so viele Tapfere, wütend darüber, die Armee und sich selbst gleich einer Herde Vieh ausgeliefert zu sehen, den Vorschlag machten, Bazaine zu verhaften und in Massen oder einzeln sich den Weg durch die feindlichen Linien zu erzwingen ... Und nun fanden diese beiden Männer, die gleichzeitig, verkleidet, die deutschen Linien durchbrochen hatten, um ihre Herzen und ihre Waffen in den Dienst der Verteidigungsarmeen zu stellen, sich wieder, nicht mehr Seite an Seite, sondern Auge in Auge, in feindlichen Lagern.

Seltsame Ironie des Schicksals, welche diese beiden ehemaligen Offiziere der Rheinarmee einander gegenüberstellte und es fügte, daß der Kriegsdelegierte Rossel in diesem Ministerium, das Du Breuil wie sein eigenes Haus kannte, die von Oberst Leperche, dem Kommandanten der Laufgräben, an die Garnison von Issy gerichtete Mahnung empfing ... Kaum war das Fort wieder besetzt, als am Abend ein Parlamentär sich eingefunden hatte, sich jedoch ohne Antwort wieder zurückziehen mußte. Den nächsten Morgen wiederholte Leperche seinen ritterlichen Versuch, indem er den Verteidigern eine Viertelstunde der Überlegung gewährte, um sich zu ergeben, und ihnen Schonung des Lebens zusicherte. Anderenfalls jedoch würde die ganze Garnison erschossen werden ...

Und in diesem Hotel der Rue Saint-Dominique, das von oben bis unten von Zudringlichen, Bittstellern und Geschäftigen wimmelte, dessen kleiner Hof mit Föderierten angefüllt war, die mit ihren Karren hierher, wie in ein Magazin kamen, um Pulver zu holen, dessen prächtige Salons in Wachtposten verwandelt, dessen Fauteuils zerrissen und beschmutzt waren und auf dessen Marmorkonsolen man das Fleisch zerschnitt, – in diesem Fauteuil des Ministerkabinetts, in dem Du Breuil den sorglosen, siegessicheren Leboeuf hatte sitzen sehen, dachte er sich nun Rossel, in die Enge getrieben, aber zähe und stolz, mit seiner herablassenden Steifheit antwortend: »Mein lieber Kamerad, wenn Sie noch einmal sich erlauben, uns eine so unverschämte Mahnung zu senden, lasse ich Ihren Unterhändler, den Kriegsgesetzen gemäß, niederschießen.«

Die Kriegsgesetze – mechanisch wiederholte sich Du Breuil dieses Wort. So oft hatte er in technischen Kursen, im Gespräch es ausgesprochen und gehört und dessen eingehendes Studium zu schätzen gewußt. Auf einmal fand er es jetzt sinnlos, furchtbar. Die Kriegsgesetze waren es, die tagtäglich Paris und seine Bannmeile mit Blut befleckten und rings um die neu bewaffnete, hartnäckigen Widerstand leistende Festung jene erbitterten Kämpfe entfesselten, die in der Nacht des 1. Mai den Bahnhof von Clamart und das Schloß von Issy mit dreihundert getöteten Föderierten und vierhundert Gefangenen in die Hände des Generals Faron brachten, die am 2. und 3. die Okkupanten aus dem Bahnhof trieben und die zusammenstürzende, unter dem Feuer notdürftig wieder hergestellte und von einer neuen Garnison verteidigte Festung mit einem scharfen Gewehrfeuer umgaben!

Tapfere Kerle waren sie doch, diese während der Belagerung so mißachteten Leute, deren bei Tag und Nacht fortgesetzte Angriffe die Truppen von Cissey derart ermüdeten, daß Clinchant und das 5. Korps heute von Satory herabkamen und auf der Rechten und hinter dem 2. Korps Aufstellung nahmen. Und dieser nächtliche Sieg, den man bei Tagesanbruch in Versailles so stark übertrieb, die Erstürmung von Moulin-Saquet, stellte sich als einfacher Überfall heraus; die Truppen waren nur durch List eingedrungen, indem sie das Losungswort nannten, und hatten nebst acht Kanonen dreihundert Gefangene fortgeführt, die man, da die Gefängnisse überfüllt waren, nicht mehr unterzubringen wußte.

In den Gewissenszweifeln, die in den Stunden, da er nicht von seinen egoistischen Zukunftsträumen absorbiert war, an ihm nagten, war einer jener Gedanken, die unaufhörlich ihn verfolgten, der an Rossel. Welche Vernunftsgründe hatten diese hochgemute Seele, diese durch Gewohnheit und Neigung zum Befehlen, durch stark ausgeprägten Sinn für Recht und Ordnung eminent militärische Persönlichkeit derart irrezuleiten vermocht? Es konnte weder verletzte Eigenliebe, die Verweigerung eines Avancements sein, wie man verleumderischerweise behauptet hatte, noch gemeiner, immerhin gefährlicher Ehrgeiz. Falsch angewandter Ehrgeiz? Gewiß war dies im Anfang der Beweggrund gewesen, doch gegenwärtig war keine Hoffnung, den Krieg gegen die Deutschen wieder aufzunehmen. Was also hatte ihn in die Reihen dieser so wenig den anderen gleichenden Soldaten geführt, was hatte ihn an die Spitze von Männern gestellt, von denen er nur Mißtrauen und Undank erwarten durfte? ...

Mit leiser Sorge fragte sich Du Breuil, ob die geheimen Beweggründe einer solchen, in seiner Umgebung als unverzeihliche Fahnenflucht verurteilten Handlungsweise nicht in denselben Empfindungen zu suchen seien, die ihn selbst seit der neuen Krisis, die in ihm wühlte, qualvoll verfolgten. Angesichts seiner militärischen Gewohnheiten erwachte in ihm eine neue, ungekannte Auffassung seiner Mannespflicht. Wo er zögerte, von der sozialen Ungerechtigkeit, der Offenbarung einer ganzen Welt mit ihren legitimen Rechten geblendet und durch die Knechtschaft der Traditionen gefesselt, hatte Rossel mit seinen gefestigteren und geklärteren Überzeugungen, als ehrlicher Republikaner, seine Grundsätze in Übereinstimmung mit seinen Handlungen gebracht: der Bürger hatte den Vorrang vor dem Soldaten gewonnen. Du Breuil, an der Schwelle unbekannter Domänen im Dämmerlichte tastend, ehrte, ohne sie vollkommen zu begreifen, diese strenge Logik, die sich mit einem Schlag über alle Zufälligkeiten hinweggesetzt hatte.

In dem ehemaligen Offizier von Metz, dessen Worte und Schriften er nun mit beinahe schmerzlicher Neugier verfolgte, ahnte er, von sympathischem Mitgefühl erfaßt, einen Charakter. Und das war seit einiger Zeit Gegenstand nicht mehr stillen Mißklangs, sondern lebhaften Streites mit d'Avol. Der junge Oberst beurteilte Rossel mit so unerbittlicher Strenge, daß Du Breuil, so entschlossen er war, ihre Freundschaft nicht in ihre Meinungsverschiedenheiten hineinzuziehen, sich nicht enthalten konnte, zu bemerken: »Wenn man denkt, daß du seiner Ansicht warst, als man damals gegen Bazaine ...«

Da war d'Avol aufgefahren: »Damals war die Disziplinlosigkeit eine Pflicht, das Heil des Landes! Jetzt ist sie sein Verderben. Ich handelte als richtiger Soldat ... Wage es, zu behaupten, daß Rossel desgleichen tat ...« Du Breuil hatte für mildernde Umstände plädiert, wobei er es vermied, sich zu weit in die Debatte einzulassen. Wie doch eine Verschiedenheit der Anschauungen meilenweit trennen konnte, was einst so nahe beisammen war! Und traurig erkannte er unter dem Wiederfinden ihrer Herzen die tiefer als in Metz noch gähnende Kluft der Gedanken. Damals bezog sich ihr Streit nur auf die Auslegung der militärischen Ehre, jetzt erstreckte er sich auf das weit wichtigere Problem des menschlichen Gewissens.

War denn die Offiziersuniform ein Nessusgewand, unabreißbar, selbst wenn es den Körper lebendig verbrannte? Mußte man jedem persönlichen Urteil, dem Rechte des freien Prüfens, der überlegten Kritik, alldem, was den Adel des Individuums und die wahre Kraft des Vaterlandes ausmacht, entsagen? Mußte dieser aufs äußerste getriebene passive Gehorsam nicht zu weit schlimmeren Irrtümern, möglicherweise sogar bis zum Verbrechen führen? Durfte der Soldat nichts anderes sein, als das blinde Werkzeug einer Politik in den Händen des Stärkeren? Würde nicht eines Tages eine freiwillig übernommene, denkende, dem Ideal des Bürgers gemäße Disziplin an Stelle der heutigen automatenhaften Seelenstarre treten?

Seinem Cousin Védel gegenüber, dem er hier und da bei seinen morgendlichen Spazierritten begegnete – der Hauptmann diente in einem der Regimenter der Armee Vinoys – fühlte sich Du Breuil, wenn nicht geistesverwandter, doch sympathischer hingezogen. Durch seinen Kontakt mit der Mannschaft, seine verständnisvolle, humane Auffassung der Aufgaben des Offiziers, machte ihm Védel, dessen Rechtlichkeit des Herzens, dessen schlichten und loyalen Sinn er trotz der linkischen Außenseite schon in Metz schätzen gelernt, nach den aufreizenden Gesprächen mit d'Avol einen gesunden, belebenden Eindruck. Dieser Krieg flößte auch ihm, Védel, Abscheu ein, da er jedoch notwendig, unabwendbar geworden war, mußte man wenigstens für die Armee möglichsten Nutzen daraus zu ziehen wissen. Die Soldaten lernten wieder Zähigkeit und Ausdauer und Zusammengehörigkeit ... Zu etwas war also auch dieses Unglück gut.

Diese männliche Entsagung verglich Du Breuil mit dem kindischen Leichtsinn eines Francastel, wie mit der mutigen Selbstentäußerung eines Barrus. Der Republikaner hatte, trostlos über die Reaktion und an der Kommune verzweifelnd, gleich zu Beginn um seine Entlassung gebeten ... Wie mannigfach die Art und Weise, die Pflicht aufzufassen und zu erfüllen! ...

Als der Weg abwärts führte, fiel Cydalise in Schritt. Ein von Truppen wimmelndes Dorf, eine dichte Laubmasse, die, langgestreckte Mauern überragend, sich saftig grün vom blauen Dunst des Morgenhimmels abhob. Du Breuil besann sich: die Kirche von Ville d'Avray, der Park von Saint-Cloud! ...

Wie fern, wie fern die Zukunft lag, fern wie die Vergangenheit! Zu seinen trüben Träumereien gesellte sich das plötzliche Wiedererwachen des Einst, eines Einst, das kaum zehn Monate zurücklag und sich in finsterer Nacht verlor. Heute, den 4. Mai 1871, reiste Favre nach Frankfurt, um den schmachvollen Frieden zu unterzeichnen ... Ein warmer Julitag steigt in seiner Erinnerung auf; dort, ganz nahe, in dem Park, den er seitdem nicht mehr betreten hatte, vom Quai des kleinen Schloßbahnhofs, setzt ein Zug sich in Bewegung, der in den mit dem goldenen N geschmückten Wagen, mit dem Gefolge von Generälen, mit dem Kaiser und seinem Sohne die Hoffnung des Landes, das Glück Frankreichs der deutschen Grenze entgegenführt ... Andere Bilder noch ziehen an seinem Geiste vorüber, das Diner an der Tafel der Souveräne, der von Lichtern, Ordenssternen, gestickten Uniformen und nackten Schultern funkelnde Abend ... Dann Lacostes kleines Zimmer in der Kaserne.

Die geringsten Einzelheiten dieser Nacht, da ihre Freundschaft tiefernste Worte getauscht, die nächtliche Runde, da sie in dem vom Geruche menschlichen Lebens erfüllten Saale den Hauch des mächtigen und doch so gebrechlichen Organismus der Armee empfunden hatten, lebten mit der Klarheit gewisser unauslöschlicher Erinnerungen wieder in ihm auf. Er sah den Freund wieder vor sich, die hohe, hagere Gestalt in der Rittmeisteruniform der Gardeulanen, das martialische, wettergebräunte Gesicht mit dem rötlichen Schnurrbart. Armer Lacoste, schlichte und ehrliche Seele! Er glaubte die frische Stimme wieder zu hören, den Ton ernster Freude, mit dem er den bevorstehenden Krieg, die Wohltat der läuternden Geißel, begrüßte, in der die Energie sich stählte, die Charaktere sich festigten! Lacoste sprach von der Kraft des Opfers, von der Ehre, angesichts des Feindes fürs Vaterland zu fallen. »Schöneren Tod«, hatte er gesagt, »kenne ich nicht ... Möge Gott ihn uns geben!«

Unendliche Bitterkeit wallte in Du Breuil auf, der blutige Hohn von Lacostes Ende, bei Mars-la-Tour ... Einen Augenblick galoppierten sie Seite an Seite im Sturmwind des Angriffs durch die dichten Staubwolken des Plateaus von Yron; mit geschwungenem Säbel stürmten sie ins heulende Handgemenge ... Der verhängnisvolle Irrtum ... Die Dragoner Legrands im Kampfe mit den preußischen Dragonern und, beim Anblick der blauen Röcke der Gardeulanen, sich von feindlichen Ulanen bedrängt glaubend ... Lacoste vor seinen Augen von einem Säbelstich durchbohrt ... Mit Hilfe des alten Saint-Paul, des graubärtigen Marchi, führte er den Sterbenden fort, den immer schwerer werdenden Oberkörper stützend ... Roten Schaum vor den Lippen, flüsterte der Verwundete: »Franzosen, von Franzosen getötet ...« Dann fällt er vornüber auf den Hals seines Pferdes, mit gekreuzten Armen, wie ein Hingerichteter ...

Hatte er nicht an jenem Tage den Kelch des Entsetzens zu leeren geglaubt?... Ah! Elend des Krieges, Elend eines einem solchen Ideal geweihten Lebens, eines solchen Todes ... Armer, armer Lacoste! ... Und doch war es vielleicht besser, daß er durch einen grausamen Zufall auf diesen dem Feinde wenigstens streitig gemachten und von dem Ruhm der Waffen verklärten Feldern den Tod fand! So war es ihm erspart geblieben, diesen neuen Krieg zu erleben, in dem er nichts als Franzosen und nur Franzosen vor sich gehabt hätte!

Und wenn seine Stunde jetzt hätte schlagen sollen, wie für jene, die täglich ihr Leben ließen, welch weit grausameres Entsetzen hätte seine brechenden Augen vergrößert, mit welcher Empörung seines ganzen Inneren hätte er die Worte des Staunens und der Verzweiflung geseufzt: »Von Franzosen getötet!«

Von der Gewalt vergangener Bilder erfaßt, empfand Du Breuil, von dem frischen Blättergewirr des Parkes gelockt, ein unwiderstehliches Verlangen, einzutreten und bis zu den Ruinen des Schlosses vorzudringen, deren düstere Schönheit er von Gleichgültigen hatte rühmen hören. Ein ansteigender Weg, eine geschlossene, von einer Schildwache bewachte Tür. Der Mann präsentierte das Gewehr und rief. In dem halbgeöffneten Flügel erschien ein altes Soldatengesicht. Beim Anblick des Riesen in der Uniform der Marchis der Chasseurs d'Afrique, des martialischen Schnurrbarts und des grauen Knebelbarts, dem Ausdruck froher Überraschung, der sich auf den rauhen Zügen malte, zögerte Du Breuil, selbst überrascht, einen Augenblick und rief dann freudig:

»Saint-Paul!«

Die Begegnung verwirrte ihn. Trotz seiner veränderten Uniform war das noch ganz der ehemalige Ulan von Mars-la-Tour und Ban Saint-Martin, der schlichte Gefährte, der nach dem Tode seines Hauptmanns seine treue Zuneigung auf all das übertragen hatte, was von seinem Herrn noch übrig war: die mächtige Dogge, mit dem menschlich verständigen Gebell, die vor Hunger und Verlassenheit umkommenden Pferde ... Er hatte immer noch seine düster stolze Miene, die würdevolle Haltung, die an die Blütezeit der ehemaligen Armee gemahnte. Welch verblüffender Zufall ließ in diesem Augenblicke, an diesem seltsamen Orte diese lebendige Erinnerung, diesen Hüter der Vergangenheit erscheinen?

Saint-Paul hatte die Fersen geschlossen und salutierte in steifer Haltung. Doch Du Breuil streckte ihm die Hand entgegen. Sie tauschten kurze Worte der Erklärung: nach Auflösung der Garde hatte er die Erlaubnis erhalten, zu den Chasseurs d'Afrique zurückzukehren, und hatte hier mit einem kleinen Posten den Dienst; er hatte oft an den Major gedacht ... Das Schloß wiedersehen? ... Gewiß war das möglich ... Der Major kenne ja den Weg ... Und der ansteigenden Allee sich zuwendend, deutete der Veteran mit der Hand nach den Ruinen ... Sie schwiegen jetzt; sie hatten sich zuviel zu sagen, als in kurzen, banalen Worten sich hätte aussprechen lassen. Trotz der Kluft der Vergangenheit, der Verschiedenheit der Kaste und des Ranges, fühlten sie beide voll verhaltener Rührung sich nahe gerückt in gleicher Trauer und gemeinsam empfundenen Schmerz ... Mit feuchten Augen lächelten sie sich zu; dann gab Du Breuil seinem Pferd die Sporen.

Die gefällten Baumstämme, die von den Granaten aufgerissenen Löcher versperrten ihm den Weg. Das Getöse der von der Diogeneslaterne her donnernden Batterie erschreckte die Stute, sie sprang zur Seite, warf den Kopf zurück und biß in den Zaum. In weiten Sätzen sprengte sie davon und erreichte die große Mittelallee. Jenseits des mit Kanälen und Statuen umgebenen großen Bassins erhob sich die östliche Fassade des Schlosses mit den scheiben- und rahmenlosen Fensterhöhlen, den vom Feuer geröteten, vom Rauch geschwärzten Mauern.

Cydalise hatte sich wieder beruhigt; im Schritt wandte sich Du Breuil nach links und ritt das zackige Steingerippe entlang. Die vom Palast zum Sommerpavillon, in dem die Majestäten zu frühstücken pflegten, führende Eisenbrücke lag, wie ein Blatt zusammengeschrumpft, quer über der Allee. Gierig suchten Du Breuils Blicke im Innern der Ruine, in den herabhängenden Brettern bei eingestürzten Plafonds, den ins Leere führenden Treppen, in diesen Überbleibseln von gespaltenen Wänden, Marmorsäulen, verbogenen Bronzestatuen und geröteten Vergoldungen die Stelle, wo die großen, lichterfunkelnden Salons, durch die er gewandert, geprangt hatten ... Champreaux, Frau von Avilar, General Jaillant, der müde im Salon des Vernet im Lehnstuhl ausgestreckte Kaiser, die in sieghafter Schönheit strahlende Kaiserin ... Die dort verlebte Stunde fügte zu der Melancholie dieses Erlöschens einer ganzen prunkhaften und glanzvollen Vergangenheit einen Hauch persönlicher Traurigkeit.

Im Ehrenhofe des in Trümmern liegenden Ostflügels sprang er vom Sattel. In Hügeln erkalteter Lava und Asche breitete sich hier die Verwüstung aus. Eine Art heiligen Schauers erfaßte ihn, ihm war, als berührte er eine der großen Leichen der Geschichte. Wie ein Kind hob er aus einem Schutthaufen einen Porphyrsplitter auf, den die Glut des Feuers mit Edelsteinreflexen irisiert hatte. Doch gedachte er eines anderen Steines, des Opalringes, den er in die kalte Mosel geworfen, und ein sanftes, bleiches Antlitz schwebte an seinem Geiste vorüber ... Frau von Guionic ... Sie lebte jetzt in ihrem düsteren Schlosse in der Bretagne, wie eingesponnen in ihre Erinnerungen und ihre Liebe ... Er hatte sie doch auch geliebt ... Er selbst, oder ein anderer Er? ... Jawohl, ein anderer ...

Aninas Antlitz mit den reinen Linien und der warmen Blässe verscheuchte diese geisterhaften Bilder, wie das Licht die Schatten verscheucht ... Bald gehörte auch die Gegenwart, gehörte dieser furchtbare Krieg der Vergangenheit an. Berauschendes Glück, einander anzugehören und gemeinsam ein Leben des Friedens und der Liebe zu beginnen! Die Erinnerung an die gemeinsam bestandenen, tragischen Prüfungen würde ihren Gefühlen einige Kraft verleihen!

In tiefster Seele freute er sich, nicht sein Leben in dem Kampfe gegen Paris aufs Spiel setzen, nicht Menschen einem ketzerischen Tode oder ruchlosem Morde entgegenführen zu müssen. Genug, übergenug schon war es, daß er in seiner neutralen Aktionssphäre zur Vorbereitung dieses Kampfes beitragen mußte. Hätte er doch einmal ein Ende machen, das Entsetzen dieser Blutbäder, dieser täglichen Begräbnisse, dieser Gefangenenzüge und dieses ganzen, den Frühlingshauch verpestenden Todesgeruches abschütteln dürfen! Wieder die Freude, die Schönheit des Lebens genießen lernen und ein Mensch werden! ... Einen Augenblick aufatmen dürfen, bevor man den kriegerischen Harnisch wieder anzog und langsam, unentwegt, mit allen Kräften, in Stille und Frieden jenen anderen Krieg, den großen Tag der Revanche, vorbereiten half ...

Ein Blümchen, das rosig und frisch zwischen dem Spalt einer zerbrochenen Steinfliese hervorsproßte, die Sonne, die Cydalisens Schatten auf der Allee abzeichnete, das balsamische Grün des Parkes erfüllten ihn mit tiefer Rührung. Wenn man daran dachte, daß es Flüsse gab, die friedlich im leichten Morgendunste und im leuchtenden Gold des Sonnenunterganges dahinflossen, Wälder, in denen die scheuen Rehe flüchtigen Fußes über das Moos huschten, und der Saft in den leichten Gehölzen, den üppigen Dickichten zitterte, Getreidefelder, deren reifende Frucht in goldenen Fluten wogte! ... Unbekümmert um Tod und Verfall entfaltete allerorten die Natur ihre unerschöpflichen Kräfte. Die Wonne des zauberhaften Wiedererwachens durchdrang ihn, ein überströmendes Liebesverlangen, ein flammendes Sehnen nach Leben und Glück.

Und zugleich entsann er sich jenes Augenblickes, da am Abend von Saint-Cloud, inmitten der Lichter, der Spiegel und geschmückter Frauen ein düsteres Ahnen ihn durchschauert hatte. Der Tod! Und wieder löste in ihm diese blitzartige Vision Jugend und Gedanken, verhüllte mit einem Trauerschleier die Schönheit der Zukunft und den Glanz der Sonne. Es war nur ein flüchtiges, seltsames Empfinden. Mit den wiedergeöffneten Augen betrachtete er das so ähnliche und doch so verwandelte Bild und glaubte, einen anderen Himmel zu sehen.

Er schwang sich wieder in den Sattel und schüttelte in raschem Galopp die Verzauberung ab. Wie jeden Morgen nach seinen Spazierritten, stieg er vor dem Ministerium ab. Diesmal kam er aus weiter Ferne ...

Ein junger Mann, der von einem stutzerhaft gekleideten Manne begleitet war, entledigte sich schnell des Lästigen und trat auf Du Breuil zu. Dieser erkannte Martial Poncet, dem er vergangene Woche einen Dienst geleistet hatte. Der Bildhauer, bei den Vorposten von Gennevilliers angehalten und durch Théroulds Passierschein, den er unvorsichtigerweise behalten hatte, verdächtig geworden, hatte sich auf den Major berufen. Von der Sympathie geleitet, welche Martials Talent und ihre Familienbeziehungen ihm einflößten, hatte Du Breuil sich für seine Befreiung verwandt und die Bürgschaft für seine Loyalität übernommen.

»Ich habe Ihnen neulich nur so flüchtig gedankt ...«, sagte Martial.

Du Breuil protestierte und erkundigte sich nach Poncet, den er seit der zweiten Sitzung der Nationalversammlung, seit Jules Favres großer Rede nicht mehr gesehen hatte. Ob Martial ihm schon hatte Nachricht senden können?

»Der schriftliche Verkehr ist trotz der offiziösen Agentien fast gänzlich unterbrochen«, entgegnete der Bildhauer, »und ich weiß nicht, ob meine Briefe ... Glücklicherweise erfahre ich soeben von der Ankunft dreier Delegierter der Liga, zu deren Mitgliedern mein Vater zählte ...«

Er vermied es, sie näher zu bezeichnen, fürchtend, daß das Wort »republikanisch« Mißfallen erregen konnte; es hatte in Versailles einen so schlechten Klang!

»Sie kommen, um einen zwanzigtägigen Waffenstillstand zu verlangen. Ich kenne einen von ihnen. Durch ihn wird mein Vater erfahren, daß es nur, dank Ihrer Güte, erspart blieb, aus der Charybdis in die Scylla zu geraten ...«

Lachend verließ ihn Du Breuil. Martial freute sich, daß die letzten Worte den Offizier nicht verletzt Hatten. Man war hier gar empfindlich. Mehr als einmal hatte er sich durch harmlose Worte einen schiefen Blick zugezogen. Man mußte seine Zunge hüten! ... Unmerklich tat er dies schon, mit größerer Leichtigkeit. Schon begann, ohne daß er sich dessen bewußt ward, das Milieu Einfluß auf ihn zu üben ... Und doch empfand er keine Sehnsucht nach Paris, denn wenn man den Versailler Zeitungen glauben durfte, ging es dort unter dem aus den Herren Arnaud, Meillet, Pyat, Charles Gérardin, Ranvier bestehenden Wohlfahrtskomitee heiß her. Wie hübsch war gleich das erste Dekret des Rates der Fünf! Zweifellos hatte der Generalprokurator der Kommune noch immer nicht genug Geiseln unter Schloß und Riegel! Daher gab man auch Raoul Rigault vier Substituten zur Seite.

Als er sich zum Gehen wandte, stürmte sein Begleiter von vorhin ihm nach. Blacourt, denn er war es, flehte:

»Noch einen Augenblick, Herr Poncet! Es ist mir eine solche Freude, in ... Satzfehler: richtige Zeile fehlt; statt dessen unrichtige Wiederholung

Dank Louchards Protektion aus Paris entkommen, begann er, zum drittenmal Martial die Geschichte seiner tragikomischen Odyssee zu erzählen. Aufs äußerste gebracht und überdies mit leeren Taschen, hatte er eine stürmische Szene mit der grausamen Schönen gehabt. Maddalena hatte, als sie sah, daß nichts mehr aus ihm herauszupressen war, ihn mit einem brutalen »Lassen Sie mich ungeschoren!« verabschiedet. Malonsky, dem er den Phaeton und das geliehene Geld abverlangt, hatte sich als beleidigter Edelmann aufgespielt. Und spät erst sich auf das eifrige Bemühen seines Kameraden um die Gunst seiner Maitresse besinnend, hatte er ihn mit gemeinen Schmähungen und schrecklichen Drohungen überschüttet, als falschen Freund und Dieb behandelt; ein Wort noch, und er hätte ihm den Schädel eingeschlagen.

Fassungslos und niedergeschmettert, war Blacourt in die Rue Soufflot zurückgekehrt, um hier in Tinets Klauen zu geraten. Der frühere Buchbindergehilfe erschien mit seiner in rauschende Seide gekleideten Mélie, von Frauen gefolgt, die unter der Last umfangreicher Pakete stöhnten, zuweilen auf der Treppe und rasselte mit Sporen und Säbel. Louchard hatte, auf die Gefahr hinweisend, sein Anerbieten wiederholt. Und eines Nachts war der Stutzer, nachdem er sich an Seilen von den Wällen herabgelassen, entflohen, über Steinhaufen stolpernd, in den Mauerwinkeln sich versteckend, Bäume für Schildwachen ansehend und wie ein Nachtvogel ängstlich hin und herflatternd. Tagsüber von Gemüsegärtnern beherbergt, hatte er sich durch schlechtes Fett eine böse Gelbsucht zugezogen. Zu dem Abscheu vor Paris gesellte sich seine mit Grauen gemischte Leidenschaft für Maddalena, deren schneeige Haut, deren berückender Duft ihm in der Erinnerung noch Qualen der Wollust bereiteten.

»Ah, dieses Weib!« ächzte er.

Er klammerte sich an Martial nur, um ihm von ihr zu sprechen, und fühlte sich weltverloren, als der Bildhauer ihn verließ. Er hatte mit Gewalt ihn bis zum Gitter des Schlosses begleiten wollen, wo Martial von einem Abgeordneten der Linken, einem Freunde Poncets, zum Frühstück geladen war. Das in den Galeries de l'Empire, im Erdgeschoß des südlichen Flügels eingerichtete Restaurant Chevet servierte hier – zu drei und fünf Francs, die Weine inbegriffen, – vortreffliche Mahlzeiten.

Du Breuil verließ, nachdem er die angestrengte Arbeit des Tages vollendet und die Uniform gewechselt, eiligst sein Chambre garnie. Trotz der Ungemütlichkeit und des Lärms des mit den verschiedenartigsten Gästen überfüllten Hotels hatte er sich mit einer Leichtigkeit, die an dem an raffinierten Luxus gewöhnten Du Breuil von ehemals überraschend war, mit dem schrecklichen, mit gehäkelter Spitze überzogenen roten Federbett und den schmutzigen Tapeten ausgesöhnt. Er eilte in die Rue d'Anjou, wo Frau von Grandpré ihn ein für allemal aufs herzlichste eingeladen hatte, dreimal in der Woche im engsten Familienkreise bei ihnen zu speisen. So konnte er trotz Bersheims Abwesenheit Anina ungehindert sehn und sprechen.

Er fand sie im Salon, glücklicherweise allein. Bei seinem Eintritt sprang sie auf; ihre Hände fanden sich in heißem Drucke, aus ihren Blicken leuchtete frohes Entzücken. Als fänden sie ineinander völlig neue Wesen, so ließen sie sich von der unwiderstehlichen Flut ihrer Liebe in die Wonne des Entdeckens und Vergessens fortreißen. Die unbedeutendsten ihrer Worte waren wie ein geheimnisvoller, langhallender Akkord, die ernstesten berauschten sie mit süßer Traurigkeit. Er erkundigte sich, ob sie einen Brief von ihrem Vater erhalten habe. Darauf entnahm sie einer Mappe einen Brief mit dem Stempel von Metz und der deutschen Marke und reichte ihn ihm schweigend.

Während er las, betrachtete sie ihn mit der glühenden Andacht des liebenden Weibes. Sie war schöner denn je; ihre schönen Augen strahlten in höherem Glanze, ihr Teint hatte die rosige Durchsichtigkeit einer von einer Flamme durchleuchteten Nachtlampe ...

»Vater ist sehr unglücklich!« sagte Anina.

Der Metzer hegte, vor kaum acht Tagen erst in sein trauliches Heim zurückgekehrt, wo er seine Frau abgemagert und gealtert, Großmutter Sophia still und unbeweglich gefunden, nur den einen Gedanken: so schnell als möglich wieder abreisen, diese Orte fliehen, die seine Leiden gesehen und deren Bitterkeit von neuem aufwühlten. In dieser Luft konnte man nicht atmen! Die zur Erledigung seiner Angelegenheiten notwendigen Wege waren ihm eine Pein. Wenn er den Platz Fabert passierte, wo der Statue gegenüber, vor dem Tore der Kommandantur, ein bayrischer Wachposten mechanisch auf und abpendelte, wenn er von irgend einem Punkte der Stadt mit den von selbstbewußten Siegern belebten Straßen, den mit deutschen Plakaten bedeckten Häusern aus den Blick hob, überall fiel sein Blick auf das, was sein Herz erzittern, seine Wangen erbleichen machte: über Metz flatterte, an Stelle der Trikolore, von dem hohen Turm der Kathedrale die feindliche Flagge, nach allen Seiten sichtbar.

Die Stille der alten Gassen, das Gewühl der Esplanade, wo am Abend die Militärmusiken heitere Weisen spielten, alles verursachte ihm Schmerz und Bitterkeit, selbst sein Haus, durch das seine Frau vereinsamt irrte, und in dem nur die Großmutter sich gleich geblieben war, an ihren Lehnstuhl gefesselt mit dem ruhigen Gleichmut des Alters, das nichts mehr bewegt – selbst das war ihm fremd geworden. Zuweilen, so gestand er, wenn in seinen Ohren die schrillen Töne der Pfeifen oder die dumpfen Klänge der Trommeln dröhnten, ertappte er sich bei dem Bedauern, nicht mehr den doch so verhaßten Lärm der Kanonade zu hören, die zwischen Paris und Versailles unaufhörlich, verderbenbringend, tobte.

Er hatte in Metz eine kurze Zeit der Ruhe zu finden gehofft und hätte nun, aufgeregt darüber, nichts zu wissen und alle Ereignisse nur vergrößert und entstellt zu erfahren, viel darum gegeben, bald wieder an die Quelle der Nachrichten, in die Couloirs der Nationalversammlung, in diese von Liniensoldaten wimmelnden, von Stimmenlärm erfüllten Straßen zurückkehren zu können, wo er so oft empört gewesen war über das, was er gesehen und gehört, wo er ja auch gelitten hatte, doch ohne direkten Kontakt mit den Deutschen. – als Franzose unter Franzosen! ...

Anina und Du Breuil bedauerten ihn von Herzen. Ihr Erinnern folgte ihm in dieses Haus, wo sie sich kennen gelernt hatten. Sie machten in dem Speisezimmer mit den glänzend schwarzen Möbeln und dem holzgetäfelten Plafond Halt; alles war ihnen hier vertraut, von den zinnernen Schüsseln auf dem Bord bis zu der großen Wanduhr in dem geschnitzten Rahmen. Welch köstliche Stunden hatte sie ihnen geschlagen, trotz der Devise auf dem Zifferblatt: Vulnerat omnes, ultima necat ... All das gehörte der gemeinsamen, der schmerzlich teuren Vergangenheit an, ein fester Grund in der Unbeständigkeit und Ungewißheit ihres Lebens. Oft noch wollten sie in der frohen Zukunft, die ihrer harrte, lächelnd, wie in dieser Stunde, jener trauten Räume gedenken.

Der Eintritt der alten Frau von Grandpré weckte sie aus ihren Träumen. Die beiden ergriffen die welken Hände der Greisin, die mit der Anmut der einst schön und des Herrschens gewohnt gewesenen Frau sich Du Breuils ritterlichen Handkuß freundlich gefallen ließ. Gütig und mit Wohlgefallen ruhte ihr Blick auf dem jungen Mädchen und dem Offizier und freute sich des Anblicks ihrer Liebe.

»Entschuldigen Sie«, sprach sie, »ich war soeben im Begriff, an meine alte Freundin, die Marquise d'Espoissac in Marmande, zu schreiben. Sie ist über die Ereignisse im höchsten Grade entsetzt, und ich erachte es für meine Pflicht, für sie alle Niederträchtigkeiten, die die Blätter bringen, zu lesen. Heute erzählte ich ihr von der Verhaftung des Gouverneurs der Invaliden, des alten Generals von Martinpré, von den Vorarbeiten zur Stützung der Vendômesäule, und auch von dem Monstreskandal, den man wegen der angeblichen Leichen in der Kirche Saint-Laurent erhoben hat. Sie wissen doch ... die zwanzig mit Gebeinen angefüllten Kubikmeter ... das Skelett der »Frau mit der Wortteil unleserlich...blonden Haarfülle ...« die von Carjat bei elektrischem Lichte photographierten Keller!«

Sie schüttelte mit einer Gebärde ironischen Abscheus den Kopf. Sie wußte nicht, was sie am meisten abstieß, die gemeine Profanation oder die leichtgläubige Dummheit der Schwätzer. Sie seufzte:

»Die arme Marquise! Wenn sie erfährt, daß die Schändung und Plünderung der Kirchen fortdauert, daß in Saint-Ambroise, in Saint-Nicolas-des-Champs, in Saint-Christophe neue Klubs sich niedergelassen haben, um Gott weiß was für Blasphemien und Tollheiten zutage zu fördern! daß man dort den Gottesdienst parodiert, daß man an diesen geweihten Orten schlemmt und praßt, wird sie glauben, das Ende der Welt sei gekommen.«

Dabei vergaß Frau von Grandpré zu erwähnen – vielleicht auch, daß sie es nicht wußte, – daß in vielen Stadtteilen eine große Anzahl von Kirchen, und darunter die vornehmsten, verschont blieben, daß die Schar der Getreuen zwar sich lichtete, die Priester jedoch auf ihren Posten blieben und ohne Störung ihr heiliges Amt versehen konnten. Als in Saint-Gervais auf Rigaults Befehl ein Haussuchungsdetachement erschien, eilte sofort eines der mit der Verwaltung des Arrondissements betrauten Kommunemitglieder herbei, warf den Polizeikommissär hinaus und hielt ihm vor, er entehre die gute Sache.

Anina und Du Breuil ließen die alte Dame sprechen und tauschten einen Blick des Einverständnisses: das alles war ja gewiß traurig genug, aber es ging vorüber. Sie allein blieben unwandelbar in ihrer treuen Liebe. Die Fülle ihrer Zärtlichkeit, ihres Vertrauens hob sie gleich einer mächtigen Woge über die gegenwärtige Stunde empor. In diesem geschlossenen Salon, bei dem künstlichen Lichte der Lampen, atmeten sie all die Hoffnung auf Tage der Freiheit, den berauschenden Ausblick auf einen Horizont des Glückes, die Pracht der Wiesen und der Wälder. Und unbewußt genossen sie vielleicht im mächtigen, unabänderlichen Egoismus der Jugend um so tiefer nur den frohen Frieden ihrer Seelen inmitten des fürchterlichen Taumels dieses Krieges, den Überschwang der Daseinslust im Wüten des Todes.


Den nächsten Tag bei einbrechender Dämmerung betrat Catisse, die älteste seiner fünf Kleinen – er hatte sie aus der Schule abgeholt – an der Hand, das Gärtchen der Poncets. Die Tür knarrte in ihren Angeln, die Klingel ertönte. Aus einem geöffneten Fenster des ersten Stockwerks neigte sich Frau Poncets gutes, derbes Gesicht mit den ergrauenden Haaren unter der rüschenbesetzten Haube.

»Sie sind's, Herr Catisse? Ich dachte, es sei Poncet ... Ihrem Töchterchen geht es gut.«

Seit einigen Tagen hatte sie das von Anämie verzehrte, ewig hüstelnde jüngste der kleinen Mädchen zu sich genommen. Hier konnte das Kind besser gepflegt werden, als daheim in der fast immer leeren Wohnung unter der Aufsicht einer armen Nachbarin. – In der Rue Sainte-Scolastique, in dem kleinen, weißen Bett, in dem Martial als Kind geschlafen, und das sie vom Boden hatte herabbringen und im Zimmer des Bildhauers hatte aufstellen lassen, konnte Frau Poncet die kleine Kranke wenigstens nach Herzenslust verhätscheln; die drei anderen Schwestern waren tägliche Gäste beim Nachmittagskaffee. Durch die guten Nachrichten, die einer der Delegierten der Liga, ein alter Freund des Hauses, ihnen aus Versailles gebracht, über das Schicksal ihres Sohnes beruhigt, befriedigte sie auf diese Weise ihren mütterlichen Drang und jenen Instinkt der Hingebung, den das Geplapper der Kleinen, das Erwachen ihrer Seelen entzückt und rührt.

Dabei vernachlässigte sie doch nicht ihre anderen Pflichten und ging nach gewohnter Weise in die Ambulanz. Während dieser Stunden überließ sie Lili Catisse der Fürsorge der dicken Melanie, die, einen Kupferkessel scheuernd, im Zimmer saß und, um das Kind zu unterhalten, die Volkslieder ihres Dorfes sang.

»Darf ich hinauf?« fragte Catisse.

Schon hatte jedoch die Auvergnatin die Haustür geöffnet und schlüpfte davon mit den geflüsterten Worten:

»Sie hat heut immerfort gelacht ...«

Während seine Älteste leichtfüßig Frau Poncet entgegenhüpfte, die sich oben über das Treppengeländer beugte, stieg Catisse langsam die Stufen hinauf. Seine abgetragenen Kleider, sein grünlicher, an den Ellbogen geflickter Überrock verrieten Not und Elend. Schwer lastete die Anstrengung der letzten Tage auf ihm; sein Bart war länger, seine Stirn faltiger, seine Gesichtsfarbe fahler geworden; mit Arbeiten überbürdet, in tausenderlei Diensten sich erschöpfend, war er einer gemäßigten Gesinnung verdächtig und doch stets dienstbereit. In seinen Augen reichte Paris nicht über die Grenzen von Montmartre hinaus; sein Arrondissement war die Kommune. Die Politik beschränkte sich für ihn auf die Lebensmittelversorgung des Stadtteils, auf die Unterstützung der Armen. Der Zukunft sah er trüben Blickes, nicht ohne Angst entgegen. Doch das tägliche Leben, die Notwendigkeit des Broterwerbs absorbierte all seine Sorgen und ließ ihm kaum Zeit Zum Denken ... Vor allem hieß es handeln. Wo die Ziege angebunden ist, da muß sie grasen.

Während die beiden Schwestern in dem kleinen Zimmer, deren Wände mit Photographien Martials aus allen Lebensaltern geschmückt waren, fröhlich schwatzten, fragte Catisse nach Poncet. Was wußte er Neues? Versailles willigte also nicht in den Waffenstillstand?

Frau Poncet berichtete ihm, was sie wußte: die Delegierten waren von Thiers abgewiesen worden, der zwanzigtägige Waffenstillstand, unmöglich; die Waffenruhe von Neuilly hatte seine Strategie schon genügend gestört! Die Nationalversammlung einerseits, Preußen andererseits, drängten ihn, ein Ende zu machen. So hatte er sich denn darauf beschränkt, zu diesen Herren zu sprechen: »Beeilen Sie sich, beeilen Sie sich, wenn Sie mir Bedingungen zu stellen haben, die von der Kommune angenommen und für mich annehmbar sind ...«

»Es ist doch etwas Schönes«, rief sie aus, »um dieses anmaßende und verspätete Wohlwollen, wenn man angefangen hat, seine Gegner derart aufzureizen, daß sie unfähig werden, überhaupt etwas zu verstehen ... Denn« – sie dämpfte die Stimme, – »von der Kommune ist nichts zu erhoffen. Kein Sieger kann unduldsamer sein. Man kann sich von ihrem Hochmut und ihrem Eigensinn keinen Begriff machen ... Nicht als ob es zwischen ihnen nicht genug Meinungsverschiedenheiten gäbe. So hatte Felix Pyat vergangenen Monat, als er sich in Worten so kategorisch zeigte, geheime Zusammenkünfte mit dem Bureau der Liga behufs Feststellung eines Versöhnungsprogramms ... Was ihn jedoch nicht hindert, im Rate der Fünf zu sitzen! Kann man wissen, was sie wollen? Es ist da eine Majorität, die zu allem fähig ist, außer zum Nachgeben. Und die dreiundzwanzig, die in jener vom Officiel geschilderten, stürmischen Sitzung gegen die Gründung des Wohlfahrtskomitees gestimmt haben, können nichts anderes, als ächzen und seufzen ... All ihr guter Wille bleibt nutzlos ... Viele sogar sehen klar ... Zum Beispiel Ranc. Am 15. April soll Ranc, als er seine Demission gab, zu ihm gesagt haben: »Bleiben Sie nicht bei diesen Leuten, die Partie ist verloren ...« Er hat, Ranc die Hand drückend, erwidert: »Ich weiß es wohl, aber ich kann nicht, ich muß bleiben. Man hat mich zu sehr verleumdet.« –«

Während Catisse ihr zuhörte, wie sie mit dem gesunden Sinn, der an den Geist ihres Mannes gemahnte, ihre Ansichten entwickelte, lächelte er, ein leises, müdes Lächeln, das weniger ihren Worten, als dem aus dem Nebenzimmer an sein Ohr dringenden Gekicher seiner Kleinen galt. Er fuhr zusammen, als sie, um ihn zu necken, zu scherzen versuchte:

»Ich dachte an Sie, als ich die letzten Beschlüsse der Freimaurer erfuhr. Ich sagte mir: Nun wird Herr Catisse die Uniform anziehen und sich in die Marschkompagnien aufnehmen lassen müssen ...«

Er wurde rot vor Verlegenheit. Er liebte es nicht, daß man von seiner Verbrüderung mit den »Kindern der Witwe« sprach; nein, er würde nicht, wie jene alten Narren, zu den Waffen greifen! Er hatte genug zu tun, seinen Unterhalt bei der Mairie zu verdienen, bei all der Plage, die Rossels Idee ihm bereitete! Herr Martial hatte gut daran getan, Paris zu verlassen. Man war im Begriff, Unterdelegationen zu schaffen, um die Einwohner zu zählen, Identitätsscheine zu verteilen und die Widerspenstigen zu verfolgen. Die noch übriggebliebenen Pferde, die verlassenen Wohnungen, alles sollte notiert und benützt werden.

Frau Poncet freute sich von ganzem Herzen, daß Martial in Sicherheit war. Sie drückte Catisse die Hand:

»Ach, mein armer Freund, wenn Sie wüßten, wie es mich schmerzt, zu wissen, daß wir da eine ganze Menge braver Menschen sind, und daß all unsere Bemühungen nicht ein Quentchen wägen! Ohne jede Hoffnung habe ich mich jenem Aufruf zum Waffenstillstand, zum Frieden angeschlossen, der überall plakatiert und von einer Gruppe von Bürgerinnen unterzeichnet ist! ... Sie gehen? Wollen Sie denn nicht meinen Mann erwarten? Er mußte ins Rathaus gehen und hat außerdem eine wichtige Sitzung in der Liga ...«

Sie kehren ins Krankenzimmer zurück, wo die Magd die Lampe angezündet hatte. Unter dem grünen Schirm beugten sich die beiden blassen Köpfchen, dicht aneinandergeschmiegt, über ein Bilderbuch, das geöffnet auf den Knieen der Ältesten lag, und auf das sie mit dem Finger zeigte: »Das da ist die Giraffe, wie sie aus der Arche herauskommt! na, die wird sich schön die Stirn anhauen! Und da ist der Elefant mit den grauen Hosen ...« Silberhell klang das Lachen. Catisse befestigte selbst mit seinen ungeschickten, dicken Fingern das Gummiband des Wachstuchhutes um Zézées Zöpfe. Beide küßten Lili und entfernten sich mit Bedauern.

Der Abend verging, ohne daß der Chemiker heimkehrte. Man gab der Kleinen zu essen, und nachdem sie ihre eigene Mahlzeit verzehrt – ein Glas Milch und ein Stück Brot – setzte sich Frau Poncet an das Bett, an dem sie einst viele Stunden gesessen und in dem jetzt, bis an die Nase zugedeckt, Lili Catisse in ruhigem Schlafe atmete. Stunde um Stunde saß sie da und strickte; immer länger ward der grobe Wollstrumpf und gleichförmig klapperten die unermüdlichen Stricknadeln in den knochigen Fingern. Es war nahe an Mitternacht, als endlich die Glocke gezogen wurde. Poncet! Sie erkannte seinen Schritt auf dem Kies des Gartens. Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Sie nahm die Lampe und ging hinunter, ihrem Mann entgegen. Langsam hing er seinen hohen, altmodischen Hut an den Rechen.

»Nun?« fragte sie.

»Ich habe nach der Versammlung mit Jacquenne bei Laveur gegessen und ihn dann zu ihrer Abendsitzung ins Rathaus zurückbegleitet.«

Mit unzufriedener Miene berichtete er:

»Es geht nicht, es geht gar nicht. Sie sind hier ebenso unzugänglich, wie in Versailles, wenn nicht noch schlimmer. Thiers hat doch wenigstens geruht, unsere drei Delegierten zu empfangen. Diejenigen, die wir an die Kommune entsandten, um ihr die Antwort von Versailles mitzuteilen, wurden nicht einmal zur Audienz zugelassen. Mit Mühe und Not ist es ihnen gelungen, Miot und Vermorel aufzufinden und unbestimmte Zusagen von ihnen zu erzwingen. Worte, leere Worte! ... In der gestrigen Sitzung hat Leo Meillet die Forderung gestellt, daß man mit den Versöhnungsvermittlern fertig werde. Andere Mitglieder der Kommune haben bei Begegnungen mit einigen unserer Freunde ihnen die ungereimtesten Dinge gesagt. Der eine: »Wir schaffen vollendete Tatsachen.« Und weißt du, was ein anderer auf den Einwand: »Gut denn, angenommen, ihr seid die Sieger – was tut ihr dann mit den Preußen?« geantwortet hat? »Das wissen wir nicht, wir gehen aufs geratewohl vorwärts!« Raisonnements von Narren oder von Verzweifelten, die dem Licht den Rücken zukehren und sich in die Sackgasse begeben. Jacquenne freilich weiß, wohin er geht. Und ich fürchte, er kommt nicht weit ...« In der Traulichkeit des bescheidenen Schlafzimmers, wo seit ihrer Heirat alles unverändert geblieben war, wo alles, die geblümten Tapeten wie die steifen Möbel aus der Zeit Louis-Philipps, ihnen eine Erinnerung, eine Gewohnheit war, besprachen sie lange, lange noch in vertrautem Gespräch die Ereignisse in ihren Ursachen und ihren Folgen ...

»Denke dir«, sagte er, »– Jacquenne hat es mir erzählt, während er in Eile das Omelette bei Mutter Laveur verzehrte –, Paris hätte gestern beinahe einen wichtigen Fang gemacht! Kein geringerer als Jules Favre! Dieser ließ beim Ausgang von Saint-Denis – die Eskorte der Ulanen Fabricius' hatte er abgelehnt – den Wagen halten, um nach dem Weg nach Pantin zu fragen, wo er Ponyer-Quertier treffen und den Zug nach Frankfurt besteigen sollte, um dort den Frieden zu unterzeichnen. Man erkennt ihn und fordert ihm seine Papiere ab. Der Wagen fährt weiter, und auf dem Bahnhof von Pantin umringt ihn ein lärmender, von deutschen Soldaten mühsam in Zaum gehaltener Haufen. Es fehlt nicht viel, und man hätte ihn fortgeschleppt! Nein, die Angst, die er gehabt haben muß! Welch ein Fang! Jacquenne konnte sich gar nicht darüber trösten ... Diesmal wäre Versailles wohl gefügiger gewesen und hätte mehr Eifer bewiesen, als in der Angelegenheit des Erzbischofs und Bonjeans!«

Frau Poncet erkundigte sich:

»Über den Abbé Lagarde weiß man noch nichts Neues?«

»Nein. Oder vielmehr, ja. Er ist immer noch in Versailles. Monseigneur Darboy hat ihm am 28. April einen letzten Brief geschrieben, worin er ihm den gemessenen Befehl erteilt, zurückzukehren. Doch trotz seines Ehrenwortes stellt der große Vikar sich taub. Seit acht Tagen ist er im Besitz der ablehnenden Botschaft, in welcher Thiers erklärt, weder das Recht, noch die Macht zu haben, den vorgeschlagenen Tausch zu bewerkstelligen. Da jedoch dieser Brief versiegelt ist, während er Darboys Schreiben offen übergeben hatte, nimmt er dies zum Vorwand, um auf seiner Weigerung zu bestehen. Bewundere die Schönheit des distinguo! ... Diese Antwort, die man durch keinen anderen als durch Lagarde senden kann und die er nicht übernehmen will, wäre die reinste Komödie, wenn sie nicht ein grelles Licht auf die Feigheit des einen und die Unmenschlichkeit der anderen würfe. Und es könnte den Anschein erwecken, als hätten Rigault und La Flotte das Versprechen gewechselt, für Blanqui nicht nur die fünf wichtigsten, sondern alle Bürgen – hörst du, alle – einzutauschen. Damit fiele eines der stärksten Hindernisse, das in Versailles zu gunsten des status quo uneingestehbare Hintergedanken erzeugt hat ...«

In nervöser Aufregung schritt er vor dem Bett, auf das Frau Poncet sich gestreckt, auf und ab. In seinen überreizten Nerven spielte das ganze widerwärtige Drama mit seinen Nachklängen und seinen Erschütterungen weiter:

»Wieder eine Hoffnung zerstört! Der zwanzigtägige Waffenstillstand, der der erstickenden Atmosphäre dieses Käfigs etwas frische, freie Luft zugeführt, der vielleicht die Wut von Versailles abgekühlt und den neuen Stadträten der Provinzen Zeit gegönnt hätte, ihren Wunsch nach Frieden zu bekräftigen. Denn es ist nicht zu leugnen: dieser Sieg der republikanischen Listen im Norden wie im Süden ist eine Kundgebung Frankreichs gegen die Wut der beiden extremen Parteien, gegen die Fortsetzung des Bürgerkrieges. Ausgenommen in Tours und in Lyon, wo die rote Flagge von neuem wehte, herrschte überall die Ruhe eines überlegten, zielbewußten Willens, ein eklatantes Dementi auf diese reaktionäre Nationalversammlung, die nach getaner Arbeit und beschlossenem Frieden mit Deutschland noch die Anmaßung hat, sich das Abbild des Landes zu nennen!«

Mit schlaff herabhängenden Armen blieb er stehen:

»Von allen Seiten kommen uns Beitrittserklärungen zum Kongreß der Delegierten der französischen Städte zu. Wenn es uns gelingt, uns in Bordeaux zu versammeln, rechtzeitig zu versammeln, vielleicht, daß wir dann noch imstande sind, trotz alledem, trotz des wahnwitzigen Eigensinns der beiden Parteien, diese Blinden und Tauben auf ihrem unseligen Wege aufzuhalten. Das Traurige ist, daß wir untereinander nicht mehr ganz einig sind. In der Versammlung heute abend haben die Fortschrittlichsten – natürlich die Unbekanntesten, – gegen die Fortsetzung der Unterhandlungen mit Versailles gemurrt und behauptet, daß wir uns, gleich den Freimaurern, offenkundig der Kommune anschließen und die Waffen ergreifen sollten ... Man hat sich über neuerdings zu unternehmende Schritte nur soweit geeinigt, daß man den Beschluß faßte, eine Waffenruhe für die um die südlichen Forts gelegenen Dörfer zu verlangen. Sie haben mehr noch als Neuilly gelitten ... Ach, liebe Frau, ich fürchte, das nimmt ein trauriges Ende!«

Mit offenen Augen lag Frau Poncet und schien der düster drohenden Zukunft mit mutiger Resignation entgegenzublicken. Das Licht der Lampe ward immer schwächer, der Docht begann zu glimmen – in seine Gedanken und Sorgen versunken, sprach Poncet unaufhörlich weiter, und seine treue, tapfere Lebensgefährtin hörte ihm mit liebevoller Aufmerksamkeit und verständnisloser Teilnahme zu.

In großen Zügen entwarf er ein Bild der gegenwärtigen Lage. Die Kommune, die in der Angst des Todeskampfes sich nach allen Seiten wandte, hier zurückweichend, dort die Hörner zeigend, in innere Gehässigkeiten gespalten, ohne Ursache sich streitend oder aus allzu vielen Gründen einander anklagend. Auf Rigaults Denunziation hin war eines der gewalttätigsten Mitglieder, Blanchet, ein ehemaliger Polizeimann, eingesperrt worden. Die wütende Gier des Vernichtens und Niederschlagens, die er an der Gegenwart nicht befriedigen konnte, ließ er an der Vergangenheit, an toten Steinen aus. Bis die Stunde kam, da man die Vendômesäule stürzen konnte, gab er Befehl, die Sühnekapelle Louis XVI. zu demolieren, und machte den Vorschlag, sämtliche Königsstatuen niederzureißen. Dazwischen wurden stundenlange Besprechungen darüber gepflogen, ob die Sitzungen fortan öffentlich oder geheim geführt werden sollten. Diese Männer, die Paris in gutem Vertrauen gewählt hatte, sie waren nicht mehr dieses unzusammenhängende, in demselben glühenden Tiegel verschmolzene Amalgam der ersten Tage. Jetzt kämpfte die Kommune, in zwei Lager gespalten, gegen sich selbst in jenem von Anfang an fühlbaren, seit der Bildung des Wohlfahrtskomitees jedoch offenkundigen Antagonismus.

Einerseits eine leidenschaftliche, fanatische Majorität, mit Worten fechtende Jakobiner, trotz persönlicher Ehrenhaftigkeit zu den schlechtesten Handlungen bereit, von maßlosem Ehrgeiz und der von Rigault eingeflößten Furcht gestachelt. Andererseits eine gemäßigtere Minorität, gewaltsam vom Gedanken zur Tat getriebene Sozialisten, die angesichts der Wirklichkeit unsicher umhertasteten, und, ob aus Gewissenhaftigkeit oder Unerfahrenheit, nicht zu handeln wagten. Ihnen allen fehlte es am Terrain, an Zeit und – da Beslay, Jourde und Varlin sich der Konfiskation und der Plünderung der Bank widersetzten – auch an Geld. Man war auf spärliche Vorschüsse angewiesen, mußte überall die unbedingt notwendigen Summen zusammenscharren. An diesem Mangel war die sinnlose Verschwendung schuld, die mit der Löhnung für die Nationalgarde getrieben wurde. Von allen Seiten bedrängt und keinen Ausweg sehend, hatte Jourde seine Demission gegeben und sie nur mit großer Selbstverleugnung zurückgenommen.

Die Intendanz befand sich in einem solchen Zustand der Unordnung, daß man die Brüder May hatte fortjagen und Varlins strenge, wenn auch machtlose Kontrolle an ihre Stelle setzen müssen. Überall, in den Munitionen, in der Bewaffnung und Equipierung herrschte sinnlose Verwirrung. Fünfzigtausend Revolver waren verteilt worden, man wußte nicht, wie und wo; die Preise auf den verschiedenen Märkten wurden so wenig beaufsichtigt, daß die Zwischenhändler sich die Taschen füllten, während die Arbeiter nahezu verhungerten. Rossel endlich, Rossel, die letzte Hoffnung einiger, war vom ersten Tag an vernichtet und beiseite geschoben. In dieser Verstümmelung endete sein einstiger, mit Charles Gérardin geteilter Traum einer jugendlichen, energischen Diktatur: das Wohlfahrtskomitee, in dem Ranvier, der Feind jeder militärischen Suprematie, Arnaud und Millière, Männer von untergeordneter Bedeutung und Pyat, der verworrene und wahnwitzige Kopf, saßen, verrammelten jeden Ausweg. Der Melodramendichter spielte sich auf den Generalissimus, ohne Rossel um Rat zu fragen, erhob Dombrowsky zum Oberkommandierenden, schickte ihn von Neuilly zur Besichtigung der südlichen Linien und trennte Wroblewsky vom linken Flügel bei Issy.

Doch das war nur eines der schwachen Hindernisse, welche Rossels Energie und Willenskraft lähmten; sein Wille, zu siegen, war so unerschütterlich, daß er vor keinem Mittel zurückschreckte und so weit ging, nach dem Muster der Regierung, welche kürzlich zwölftausend Chassepots von Moltke zurückgekauft hatte, tausend Pferde von den Preußen zu erwerben, um die Remonte einer problematischen Kavallerie zu bilden.

Die alte Gesellschaftsordnung hassend, auf die neue vertrauend, die seiner Überzeugung nach immerhin die bessere war, hätte er systematisch an der Vernichtung der Vergangenheit und der Vorbereitung für die Zukunft arbeiten mögen. Statt der lockeren Masse der Legionen wünschte er administrative und faktische Gruppen von fünf Bataillonen, unter dem Kommando eines Obersten, zu organisieren. Mobile Regimenter, die mit je fünf Kanonen bewaffnet, eine richtige kleine Armee mit vier Brigaden gebildet hätten, mit welcher er den Kampf gegen Paris hätte liefern können, – nach seiner Ansicht das einzige Rettungsmittel. Was vermochte eine passive Verteidigung anderes, als das Fallen der Wälle, die Notfrist einer regelrechten Belagerung, zu verzögern? ... Die bloße Drohung dieser Reform hatte das Zentralkomitee und die Legionchefs zu erbittertem Widerstand verbündet. Gemeinsam begaben sie sich unter stürmischer Erregung in das Ministerium der Rue Saint-Dominique, wo seit Cluserets Sturz das Komitee sich niedergelassen hatte, um der Kriegskommission Beistand zu leisten. Rossel hatte die Lautesten verhaften lassen. Sofort hatten sich die Legionchefs und die Mitglieder des Komitees, mit großem kriegerischem Apparat, mit Säbeln und Revolvern bewaffnet, in corpore zum Wohlfahrtskomitee begeben; Moreau hatte das Wort ergriffen und Pyat überzeugt.

Der Augenblick der Entscheidung war für das Zentralkomitee gekommen; als Vater der Kommune schmeichelte es sich, die verlorene Tochter auf den rechten Weg zurückzuführen und war entschlossen, um ihr diesen Weg zu zeigen, vorauszumarschieren. Fernol faßte sich kaum vor Freude. Und am Abend, – während Rossel, die Unmöglichkeit einsehend, das Zentralkomitee zu brechen und es für klüger haltend, das, was von dieser Macht an revolutionärem Ansehen und im Räderwerk der Verwaltung an Kraft noch übrig war, zu gebrauchen, sich dem Komitee näherte, – hatte die Kommune ihrerseits beschlossen, ihm Satisfaktion zu geben, zur großen Entrüstung der Minorität, die vor Wut kochte, diese eifersüchtigen Vorgänger, die nur darauf lauerten, die Nachfolge anzutreten, wiederkehren zu sehen.

Daher diese Lawine von Erlässen, welche die Spalten des Journal officiel füllten: die Kriegsdelegation gespalten, das Zentralkomitee feierlichst in die administrativen Ämter wieder eingesetzt, unter der Oberaufsicht der Kriegskommission, Rossel auf die militärische Direktion und Initiative beschränkt, eine neue Verteilung der Kommandos: Dombrowsky weiterhin in Neuilly, mit Hauptquartieren auf dem Vendômeplatz und der Muette; La Cecilia im Zentrum an Stelle des zu einer Reservebrigade berufenen Eudes, Tag und Nacht im Gebäude der Ehrenlegion residierend; General Wroblesky, Kommandant des linken Flügels und im Elysées untergebracht; Bergeret, bereits wieder in die Kriegskommission eingesetzt, überdies mit dem Kommando einer zweiten Reservebrigade geschmückt und froh darüber, den früheren Vendômeplatz und Mazas gegen die vergoldeten Salons des gesetzgebenden Korps einzutauschen.

Und über alledem brütend, die kleinen Dekrete von tags vorher, wie das vom Artilleriedirektor Avrial verlangte allgemeine Munitionsinventar die Gründung einer Kontrollkommission für Verteilung der Waffen und Effekten; die Einsetzung von Prüfungen bei Eintritt in den Generalstab; mangels technischer Kenntnisse würde man sich mit dem »moralischen und politischen Wert der Kandidaten begnügen! ...«

Ein schauderhaftes Durcheinander, aus dem nur das eine deutlich hervorging: die völlige Anarchie, die totale Ohnmacht.

»Ach!« murmelte Poncet, aus seinen Betrachtungen erwachend, mit einem liebevollen Blick auf seine nun im Schlaf liegende Frau, »all das wird die Kommune nicht retten! Sie begeht ja einen Selbstmord ...«

Mit qualvoller Bitterkeit dachte er an den neuerlichen Autoritätsmißbrauch, die Aufhebung von sieben der letzten unabhängigen Blätter, darunter das Petit Journal, La France, Le Temps ... Wahnwitzige, die alles um sich her hinwegfegten, als wollten sie nichts anderes, als servile Schmeicheleien mehr hören, die den Gedanken erstickten, indem sie die letzten übriggebliebenen, freien Stimmen knebelten!

Leise knisternd erlosch die Lampe. Ein- oder zweimal zuckte das Licht noch auf, dann ward es finster. Da drang durch eine Spalte der das Schlafzimmer mit Martials ehemaligem Zimmer verbindenden Tür ein schmaler Lichtstreif. Poncet erinnerte sich der kleinen Lili und drückte leise auf die Klinke. Das Kind schlief, in unregelmäßigen Atemzügen hob sich die eingesunkene Brust. Sanft neigte sich Poncet über das magere, blasse Gesichtchen und ordnete die Decken ... Einen Augenblick noch betrachtete er sie mit sinnendem Mitleid, seine Gedanken schweiften zu Catisse und zu jenen, die gleich ihm still und unbeachtet der Kommune dienten, und ein Wort kam ihm ins Gedächtnis, das Rossel gesprochen, als er eines Tages einen Trupp schwächlicher, trotz der Uniform elend aussehender Nationalgardisten vorüberziehen gesehen: »Diese Leute haben das Recht, zu kämpfen. Sie kämpfen, damit ihre Kinder weniger dürftig, weniger skrofulös, weniger lasterhaft seien, als sie selbst.«

Er trat ans Fenster, zog die Vorhänge auseinander und stieß die Läden auf. Dort unten lag sie, die Riesenstadt, aus der tausend goldig blinzelnde Lichter heraufgrüßten. Herzbeklemmende Rührung ergriff ihn; wie das kranke Kind da nebenan, so schlief auch das Volk von Paris seinen unruhigen Schlummer, der die müden Glieder löste. Vertrauensvolles Volk mit den kindlichen Freuden, vom Rausch dieses wundervollen Frühlings eingewiegt, sorgloses, auf seine eigenen Kräfte gestelltes Volk, so unendlich schwach ungeachtet seiner mächtigen Spannkraft, von Verschwörern und Verrätern, von dem langsam wirkenden Zorn eines rachgierigen, furchtsamen Bürgertums umgebenes Volk!

Ein Uhr schlug es, leise verhallte in der Ferne der Klang. Lange noch horchte Poncet in die von Millionen von Atemzügen rauschende Nacht hinaus.


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