Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III

Unrat hastete die stille Gasse wieder hinauf, denn er hatte einen Gedanken gehabt, dessen Richtigkeit er sofort, aber sofort nachprüfen wollte. Er wußte durch plötzliche Erleuchtung, Rosa Fröhlich sei die Barfußtänzerin, von der man jetzt so viel Aufhebens machte. Sie sollte herkommen und in dem Saal der Gesellschaft für Gemeinsinn ihre Künste sehen lassen. Unrat entsann sich ganz deutlich, wie Oberlehrer Wittkopp, ein Mitglied dieser Gesellschaft, davon erzählt hatte. Er war im Lehrerzimmer an sein Wandschränkchen getreten, hatte es aufgeschlossen, einen Packen Exerzitienhefte hineingelegt und dazu gesagt: »Nun bekommen wir hier also auch die berühmte Rosa Fröhlich, die auf bloßen Füßen griechisch tanzt.«

Unrat sah Wittkopp vor sich, wie er sich wichtig machte, eitel um seinen Klemmer herumschielte und die Lippen spitzte, um auszusprechen: »Rosa Fröhlich.« Ganz ohne Zweifel, er hatte gesagt: »Rosa Fröhlich.« Unrat hörte ja jeden der vier Laute, in Wittkopps gekünstelter Sprechweise und mit dem gesäuselten R. Das hätte ihm früher einfallen sollen! Zweifellos war die Barfußtänzerin Fröhlich inzwischen eingetroffen, und der Schüler Lohmann war mit ihr in Verbindung getreten. Unrat war nun auf dem Wege, beide zu »fassen«.

Er erreichte die Siebenbergstraße, er hatte sie halb durcheilt, da ging donnernd ein Rolladen nieder vor einem Schaufenster, und Unrat blieb, einige Schritte davor, vernichtet stehn. Denn der Rolladen gehörte dem Musikalienhändler Kellner, der bei solchen Gelegenheiten die Karten verkaufte und alles Nähere wußte. Es schien, als sollte Unrat die zwei, denen er nachsetzte, heute nicht mehr einholen.

Trotzdem konnte er sich nicht denken, daß er jetzt nach Haus gelangen und sein Nachtessen herunterbringen werde. Er war in Jagdleidenschaft geraten. Er gab sich noch ein paar Minuten, machte einen letzten Umweg. Am Rosmarinweg hielt er, ganz erschüttert, vor einem schiefgetretenen Holztreppchen den Schritt an. Es klomm steil bis vor eine schmale Ladentür mit der Inschrift: »Johannes Rindfleisch, Schuhmachermeister.« Eine Warenauslage war nicht da; hinter den Spiegelscheiben der zwei kleinen Fenster standen Blumentöpfe. Und Unrat bedauerte, von seinem guten Geschick nicht schon längst hierhergeführt zu sein, zu der Behausung eines rechtschaffenen und harmlosen Mannes, eines Herrnhuters, der kein Scheltwort in den Mund nahm, niemals kränkend die Miene verzog, und der über die Künstlerin Fröhlich anstandslos Auskunft erteilen würde!

Er öffnete die Tür. Eine Glocke schlug an, und der Ton schwang freundlich nach. Die Werkstatt lag sauber aufgeräumt im Halbdunkel. Eingefaßt in den Rahmen der Tür zum Nebenzimmer, zeigte sich das mild beleuchtete Bild der Schustersfamilie beim Abendbrot. Der Geselle kaute an der Seite der Haustochter. Den kleinen Kindern gab die Mutter Kartoffeln zur Mettwurst. Der Vater setzte die bauchige Flasche mit Braunbier neben die Lampe, erhob sich und sah nach dem Kunden.

»Nabend, Herr Professor.« Er schluckte erst umständlich seinen Bissen hinunter. »Und womit kann ich dienen?«

»Ja«, versetzte Unrat, rieb sich unsicher lächelnd die Hände und schluckte auch, mit leerer Kehle.

»Entschuldigen Sie man«, setzte der Schuhmacher hinzu, »daß hier schon allens duster is. Hier machen wir um Klock sieben Feierabend. Der Rest des Abends gehört dem Herrn. Wer da noch arbeiten tut, da is doch kein Segen auf.«

»Das mag ja denn einerseits – ganz richtig sein«, stotterte Unrat.

Der Schuhmacher war einen Kopf höher. Er hatte knochige Schultern und unter seinem Schutzfell einen unvermittelten Spitzbauch. Ergrauende Löckchen, ein wenig ölig, machten den Bogen um sein langes, bleifarbenes Gesicht, dessen Wangen in einen keilförmigen Bart hineinhingen, und das langsam lächelte. Rindfleisch schob immerfort über dem Magen die Finger ineinander, löste sie und steckte sie wieder zusammen.

»Aber das ist es andererseits freilich nicht, weshalb ich komme«, erklärte Unrat.

»Herr Professor, Nabend, Herr Professor«, sagte die Frau von der Schwelle her und knickste. »Was stehst du da in 'n Schummern mit Herrn Professor, Johannes, laß ihm doch rein. Herr Professor, wenn Sie es man nich übelnehmen, daß wir uns' Mettwuß essen.«

»Das liegt mir ganz und gar fern, gute Frau.«

Unrat entschloß sich zu einem Opfer.

»Meister Rindfleisch, ich unterbreche ungern Ihr Mahl, aber ich ging grade vorbei, und da kam mir der Gedanke, daß Sie mir – aufgemerkt nun also! – ein Paar Stiefel anmessen sollen.«

»Zu dienen, Herr Professor«, und die Frau knickste, »zu dienen.«

Rindfleisch bedachte sich; dann verlangte er die Lampe.

»Denn sitten wi jä all in 'n Dustern bi 'n Eeten«, bemerkte die Frau heiter. »Nöh, Herr Professor, kommen Sie man rein, ich mach Licht für Ihnen in der blauen Stube.«

Sie ging voran in einen Raum, wo es kalt war, und zündete Unrat zu Ehren die beiden unversehrten rosa Kerzen an, die sich über ihren krausen Manschetten und flankiert von zwei großen Muscheln im Trumeau spiegelten. An den kraßblauen Wänden verweilten in sonntäglicher Haltung Großvatermöbel aus Mahagoni. Auf der gehäkelten Decke des Sofatisches breitete ein segnender Christus seine Biskuitarme aus.

Unrat wartete, bis Frau Rindfleisch hinaus war. Als er den Schuhmacher hinter geschlossener Tür und recht in seiner Gewalt hatte, setzte er ein.

»Vorwärts denn also, Meister, jetzt heißt es zeigen, daß Sie, der Sie einige kleinere Arbeiten zur Zufriedenheit des Leh – zu meiner Zufriedenheit bewerkstelligten, auch ein recht braves Paar Stiefel schaffen können.«

»O ja, Herr Professor, o-o-oh ja«, erwiderte Rindfleisch demütig und beflissen wie ein Primus.

»Mag ich immerhin schon im Besitz zweier Paare sein, so kann bei der jetzt vorwaltenden Nässe doch niemand sich genugtun an guter, warmer Fußbekleidung.«

Rindfleisch kniete und maß. Er hatte den Bleistift zwischen den Zähnen und grunzte nur.

»Andererseits ist dies die Jahreszeit, die gewöhnlich etwas Neues in die Stadt bringt, ein wenig – sicherlich doch – geistige Erholung. Die ist es denn wohl auch, die dem Menschen not tut.«

Rindfleisch sah auf.

»Sagen Sie das man noch mal, Herr Professor. Jajajah, die tuhet dem Menschen not. Und das weiß unsere Brüdergemeihende auch.«

»Soso«, machte Unrat. »Aber ich denke an den Besuch ausgezeichneter, unter den Menschen hervorragender Persönlichkeiten.«

»Da denk ich auch an, Herr Professor, und da denkt auch die Gemeihende an und versammelet uns Brüder am morgigen Abende zum Gebet mit einem berühmten Missionar. Ja, o jah.«

Unrat fand es schwierig, zu Künstlerin Fröhlich zu gelangen. Er suchte eine Weile, und als er keinen Umweg mehr fand, ging er gradaus.

»Auch in der Gesellschaft für Gemeinsinn zeigt sich uns nächstens – immer mal wieder – eine Berühmtheit. Eine Künstlerin – Sie werden ja, so gut wie jedermann, von ihr gehört haben, Meister.«

Rindfleisch schwieg, und Unrat wartete mit Leidenschaft. Er war überzeugt, was er brauchte, steckte in dem Menschen zu seinen Füßen, und es liege nur an ihm, es herauszuziehen. Die Künstlerin Fröhlich hatte in der Zeitung gestanden, war im Lehrerzimmer besprochen worden, hing im Fenster bei Kellner. Die ganze Stadt wußte Bescheid über sie, außer Unrat. Jeder andere hatte mehr Weitläufigkeit und Personenkenntnis als Unrat: er lebte, ohne daß er's selber wußte, tief in dieser Vorstellung; und er wandte sich mit vollem Vertrauen an einen herrnhutischen Schuster um Auskunft über eine Tänzerin.

»Sie tanzt, Meister. In der Gesellschaft für Gemeinsinn tanzt sie. Ei, da werden nun die Leute hinlaufen.«

Rindfleisch nickte.

»Die Leute machen es sich woll nich klar, Herr Professor, wo sie hinlaufen«, sagte er gedämpft und bedeutungsvoll.

»Sie tanzt ja barfuß, das ist doch eine seltsame Fertigkeit, Meister.«

Unrat wußte nicht, wie er den Mann noch anfeuern solle.

»Denken Sie nur: barfuß!«

»Barfuß«, wiederholte der Schuster. »O-o-oh! Also tanzeten auch die Weiber der Amalekiter, die vor dem Götzen tanzeten.«

Und er stieß ein leeres Gelächter aus, nur aus Demut, weil er, der ungelehrte Mann, sich mit Worten der Schrift zu schmücken wagte.

Unrat rückte gepeinigt hin und her wie bei der Übersetzung eines Schülers, der stockte und gleich festzusitzen drohte. Er hieb mit den Knöcheln auf die Stuhllehne und sprang auf.

»So lassen Sie's nun gut sein mit dem Maßnehmen, Meister, und sagen Sie mir – vorwärts denn also! –, ob die Barfußtänzerin Fröhlich schon eingetroffen ist! Das sollten Sie wohl wissen!«

»Ich, Herr Professor?« Und Rindfleisch stand bestürzt, »ich – eine Tänzerin?«

»Dadurch werden Sie auch nicht schlechter«, behauptete Unrat ungeduldig.

»O-o-oh, ferne von mir sei der geistige Hochmut und die Selbstgerechtigkeit. Und Liebe im Herrn, Herr Professor, will ich denn auch haben für meine barfüßige Schwester, o jah, und will bitten, daß der Herr an ihr tuhe, was er an der Sünderin Magdalena getan hat.«

»Sünderin?« fragte Unrat überlegen. »Warum halten Sie denn die Künstlerin Fröhlich für eine Sünderin?«

Der Schuhmacher blickte keusch auf den geölten Fußboden.

»Ei ja«, versetzte Unrat, immer unzufriedener mit dem Meister, »wenn Ihre Frau oder Ihre Tochter einen Lebenswandel beginnen wollten wie eine Künstlerin, das stände ihnen – freilich denn wohl – nicht an. Hingegen gibt es Lebenskreise und Sittengesetze: – doch mag's denn genug sein.«

Und er machte eine Handbewegung, die sagte, daß hier ein Gegenstand in Tertia berührt ward, der höchstens nach Prima gehörte.

»Auch mein Weib ist eine Sünderin«, sagte der Schuster leise, schob die Finger über dem Magen durcheinander und sah auf, mit einem Bekennerblick.

»Und ich selbsten muß sprechen: Herr Herre. Denn Fleischessünder sind wir allzumal.«

Nun erstaunte Unrat.

»Sie und Ihre Frau? Sie sind doch rechtmäßig verheiratet?«

»O-o-oh jah, das sind wir woll. Aber Fleischessünde, Herr Professor, bleibt es immerdar, und Gott erlaubt es auch nuhr ...«

Der Herrnhuter richtete sich auf zu etwas Wichtigem.

Seine Augen wurden rund und ganz bleich von Geheimnis.

»Nun?« fragte Unrat nachsichtig.

Und jener, flüsternd: »Das wissen die andern Menschen man nich, daß Gott es nuhr darum erlaubt, auf daß er in seinen Himmel oben mehr Engel kriegt.«

»Soso«, machte Unrat, »das ist ja denn freilich recht hübsch.«

Und er lugte mit einem hinterhältigen Lächeln zu dem verklärten Gesicht des Schuhmachers hinauf.

Aber er unterdrückte bald seinen Spott und wandte sich zum Gehen. Er fing an zu glauben, Rindfleisch wisse wirklich nichts über die Künstlerin Fröhlich. Der Schuhmacher besann sich auf diese Welt und fragte, wie hoch denn die Schäfte sein sollten. Unrat antwortete nachlässig, behandelte auch den Abschied von der Familie Rindfleisch nur mit flüchtiger Leutseligkeit. Dann trat er rasch den Heimweg an.

Er verachtete Rindfleisch. Er verachtete die blaue Stube, die Enge dieser Geister, die demütigen Seelen, die pietistischen Überspanntheiten und die sittliche Verstocktheit. Auch bei Unrat zu Hause sah es eher dürftig aus; dafür aber hatte er in seinem Kopf die Möglichkeit, sich mit mehreren alten Geistesfürsten, wenn sie zurückgekehrt wären, in ihrer Sprache über die Grammatik in ihren Werken zu unterhalten. Er war arm, unerkannt; man wußte nicht, welche wichtige Arbeit er seit zwanzig Jahren förderte. Er ging unansehnlich, sogar verlacht unter diesem Volk umher – aber er gehörte, seinem Bewußtsein nach, zu den Herrschenden. Kein Bankier und kein Monarch war an der Macht stärker beteiligt, an der Erhaltung des Bestehenden mehr interessiert als Unrat. Er ereiferte sich für alle Autoritäten, wütete in der Heimlichkeit seines Studierzimmers gegen die Arbeiter – die, wenn sie ihre Ziele erreicht hätten, wahrscheinlich bewirkt haben würden, daß auch Unrat etwas reichlicher entlohnt wäre. Junge Hilfslehrer, noch schüchterner als er, bei denen er sich mit der Sprache herauswagte, warnte er düster vor der unseligen Sucht des modernen Geistes, an den Grundlagen zu rütteln. Er wollte sie stark: eine einflußreiche Kirche, einen handfesten Säbel, strikten Gehorsam und starre Sitten. Dabei war er durchaus ungläubig und vor sich selbst des weitesten Freisinns fähig. Aber als Tyrann wußte er, wie man sich Sklaven erhält; wie der Pöbel, der Feind, die fünfzigtausend aufsässigen Schüler, die ihn bedrängten, zu bändigen waren. Lohmann schien in Beziehungen zu stehn zur Künstlerin Fröhlich; Unrat errötete darüber, weil er nicht anders konnte. Aber zum Verbrecher ward der Schüler Lohmann erst dadurch, daß er sich bei verbotenen Freuden der harten Zucht des Lehrers entzog. Nicht sittliche Einfalt zwang Unrat zum Zorn ...

 

Er gelangte in seine Wohnung und schlich auf den Zehen an der Küche vorbei, wo die Wirtschafterin, über seine Verspätung ungehalten, mit den Töpfen rasselte. Dann bekam er zu essen, Mettwurst und Kartoffeln. Sie waren zerkocht und dennoch kalt. Unrat hütete sich, ein Wort dagegen zu sagen; dieses Mädchen hätte sofort die Hände auf die Hüften gestemmt. Unrat wollte sie davor bewahren, sich gegen ihren Herrn aufzulehnen.

Nach der Mahlzeit stellte er sich vor sein Schreibpult. Es war, Unrats kurzsichtigen Augen zuliebe, übermäßig hoch; und die dreißigjährige Anstrengung, den rechten Arm daraufzulegen, hatte ihm die Schulter weit aus der graden Linie gehoben. »Das Wahre ist nur die Freundschaft und die Literatur«, sagte er dabei wie gewöhnlich. Dies Wort hatte er irgendwo aufgefangen und sich angewöhnt und sah sich nun genötigt, es vor sich hin zu denken, sooft er an die Arbeit ging. Was er unter Freundschaft zu verstehen habe, erfuhr er nie. Das Wort ging nur zufällig mit. Aber die Literatur! Das war ja sein wichtiges Werk, wovon die Menschen nichts wußten, das hier in der Stille seit langer Zeit gedieh und das vielleicht einmal, Staunen erregend, aus Unrats Gruft hervorblühen sollte. Es handelte von den Partikeln bei Homer! ... Aber Lohmanns Aufsatzheft lag daneben und ließ ihn nicht in Stimmung kommen. Er mußte danach greifen und an die Künstlerin Fröhlich denken. Es gab etwas, das ihn sehr beunruhigte: er war nicht mehr sicher, daß die berühmte Barfußtänzerin sich Rosa Fröhlich nenne. Diese Fröhlich konnte ganz etwas anderes sein. Ja, sie war ganz etwas anderes: es ward Unrat durch Grübeln zur Gewißheit. Er hatte sie immer noch ausfindig zu machen, um sie dem Schüler Lohmann »beweisen« zu können. Er sah sich, im Kampfe mit diesem Elenden, wieder weit zurückgeworfen und keuchte vor einsamer Erregung.

Plötzlich stürzte er sich in seinen Mantel und stürmte hinaus. Vor dem Haustor lag schon die Kette; Unrat zerrte daran wie ein Ausbrecher. Die Wirtschafterin schalt, er hörte sie herbeistampfen. In der Angst der äußersten Minute tat er einen richtigen Griff, die Tür ging auf, er war im Vorgärtchen und auf der Straße. Bis zum Stadttor wechselte er zwischen Trab und Eilschritt; dann mäßigte er sich, aber sein Herz klopfte. Er fühlte sich seltsam, wie auf verbotenen Wegen. Er ging den verödeten Straßenzug, über Berg und Tal, immer gradaus. Er lugte in die Gäßchen und »Gruben«, verweilte vor den Gasthäusern und sah mit gespanntem Mißtrauen zu Fenstern hinauf, zwischen deren geschlossenen Vorhängen ein Lichtstrahl zu liegen schien. Er wanderte auf der dunklen Seite; drüben verbreitete sich heller Mond. Es war sternenklar, es wehte nicht mehr, und Unrats Schritte hallten. Beim Rathaus lenkte er auf den Markt und machte die Runde unter den Lauben. Bogen, Türme, Brunnen stachen ihre von Arabesken umrankten Schattenrisse in die gotische Mondnacht. Eine rätselhafte Aufregung geschah in Unrat; er sagte zu verschiedenen Malen: »Da würde denn wohl ... traun ...« und »Vorwärts denn also!«

Dabei prüfte er eifrig jedes einzelne Fenster der Post und des Polizeiamtes. Da er es unwahrscheinlich fand, daß sich die Künstlerin Fröhlich in diesen Gebäuden versteckt halte, kehrte er auf die vorhin verlassene Straße zurück. Wenige Schritte weiter glänzte die breite Scheibe eines Lokals, in dem sich viele von Unrats Kollegen allabendlich um das Bier scharten. Auf der Gardine erschien schwarz abgezeichnet der spitzbärtige, mit dem Munde klappende Kopf eines Oberlehrers, eines ganz schlimmen, der Unrat den Respekt versagte, weil er zur Lockerung der Disziplin in der Schule Anlaß gebe, und der sich über Unrats Sohn sittlich entrüstet hatte. Unrat sah sich diesen Doktor Hübbenett nachdenklich an: wie er redete aus seinem Bart heraus, was er für einen Biereifer hatte, welch gewöhnlicher Michel er war! Unrat hatte mit den Leuten da drinnen nichts zu tun, gar nichts; es ward ihm jetzt klar, zu seiner Genugtuung. Da hockten nun die beisammen und waren in der Ordnung: er aber dünkte sich fragwürdig, gewissermaßen, und ausgestoßen, sozusagen. Und der Gedanke an die dort war ihm kein böser Stachel mehr. Er nickte dem Schatten des Oberlehrers zu, langsam und mit Geringschätzung – und ging weiter.

Die Stadt war gleich wieder zu Ende. Er kehrte um, wandte sich in die Kaiserstraße. Bei Konsul Breetpoot mußte Ball sein; das große Haus war ganz erleuchtet, fortwährend fuhren Wagen auf. Der Diener und mehrere Aufwärter sprangen vor, öffneten die Schläge, halfen beim Aussteigen. Seidene Röcke raschelten über die Schwelle. Eine Dame hielt an, sie streckte gütig lächelnd die Hand einem jungen Mann entgegen, der zu Fuß herbeikam. Unrat erkannte in dem hübschen Menschen mit dem Zylinder den jungen Oberlehrer Richter. Er hatte sagen gehört, Richter sei auf eine reiche Heirat aus, in einer eleganten Familie, zu der sonst Oberlehrer nicht den Blick erhoben. Und Unrat, drüben im Dunkeln, feixte vor sich hin.

»Ei, recht strebsam – wahrlich doch«, sagte er.

Er machte sich in seinem bespritzten Kragenmantel lustig über den wohlaufgenommenen, aussichtsreichen Menschen, wie ein höhnischer Strolch, der unerkannt und drohend aus dem Schatten heraus der schönen Welt zusieht und das Ende von alledem in seinem Geist hat, wie eine Bombe. Er fühlte sich Richter weit überlegen, ihm war ganz munter; er schäkerte still und sagte, ohne sich selbst zu verstehn: »Ihnen kann ich auf Ihrem Wege noch recht hinderlich werden. Ich werde Sie – immer mal wieder – hineinlegen, merken Sie sich das!«

Und im Weitergehn unterhielt er sich ausgezeichnet. Wenn er wieder auf ein Türschild mit dem Namen eines Kollegen oder eines alten Schülers stieß, dachte er: ›Sie faß ich auch noch mal‹, und rieb sich die Hände. Zugleich lächelte er in verstohlenem Einverständnis den achtbaren Giebelhäusern zu, weil er versichert war, in einem von ihnen stecke die Künstlerin Fröhlich. Sie hatte ihn merkwürdig angeregt, aufgekratzt, aus dem Häuschen gebracht. Zwischen ihr und Unrat, der auf nächtlicher Streife hinter ihr herschlich, war eine Art Verbindung hergestellt. Der Schüler Lohmann war das zweite Stück Wild: sozusagen Indianer von einem andern Stamm. Wenn Unrat mit seiner Klasse auf das Schulfest zog, mußte er manchmal Räuber und Soldaten mitspielen. Er stand auf einem Hügel, reckte die Faust gen Himmel und kommandierte: »Fest drauf, jetzt nunmehr!« und regte sich richtig auf bei dem folgenden Scharmützel. Denn das war Ernst. Schule und Spiel waren das Leben ... Und heute nacht spielte Unrat Indianer auf dem Kriegspfad.

Er kam in immer lüsternere Spannung. Die unbestimmten Formen im Schatten erregten ihm Furcht und Kitzel; jede Straßenecke lockte schauerlich. In enge Nebengassen ließ er sich ein wie in Abenteuer, hielt bei einem Wispern aus einem Fenster unter Herzklopfen den Schritt an. Hier und da ging eine Tür bei seinem Nahen leise auf, einmal streckte sich ein rosa bekleideter Arm nach Unrat aus. Er entfloh, ganz überrieselt, und sah sich unvermittelt am Hafen – zum zweitenmal heut, und er betrat diese Gegend sonst in Jahren nicht. Schiffe türmten sich schwarz, unter Rinnsalen von Mondlicht. Unrat kam auf den Gedanken, die Künstlerin Fröhlich sei darauf, sie schlafe in einer Kajüte; vor Morgengrauen werde das Nebelhorn brüllen und die Künstlerin Fröhlich davonfahren in ferne Länder. Bei dieser Vorstellung ward Unrats Drang zu handeln, zuzufassen, ganz ungestüm. Zwei Arbeiter stapften herbei, der eine von rechts, der andere von links. Dicht bei Unrat trafen sie sich, und der eine sagte: »Na, wo geit hen, Klaas?«

Der zweite antwortete düster und im Baß: »Dun supen.«

Unrat mußte sinnen über das Wort: wo er es heute schon gehört habe und was es besage. Denn er hatte in sechsundzwanzig Jahren die Mundart nicht verstehen gelernt. Er folgte den beiden Proletariern und ihrem zu erschließenden Sprachschatz durch mehrere kotige »Twieten«. In einer etwas breiteren steuerten sie im Bogen auf ein weitläufiges Haus zu, mit ungeheurem Scheunentor, worüber vor dem Bilde eines blauen Engels eine Laterne schaukelte. Unrat vernahm Musik. Die Arbeiter verschwanden im Flur, der eine sang mit. Unrat bemerkte im Eingang einen bunten Zettel und las ihn. Er zeigte eine »Abendunterhaltung« an. Als Unrat in der Mitte war, stieß er auf etwas, das ihm Keuchen und einen Schweißausbruch verursachte, und fing, in der Furcht und der Hoffnung, sich geirrt zu haben, von vorn an. Auf einmal riß er sich los und stürzte sich in das Haus, wie in einen Abgrund.


 << zurück weiter >>