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VII.
Ultima ratio

Die Kinder schrieen tosend vor dem großen Arbeiterhaus, rannten, zappelten, prügelten sich; nur polterten sie nicht mehr gegen den Zaun der Villa Klinkorum, denn die Planken waren jetzt bedeckt mit Stacheldraht. Die alten Männer, die nicht mehr arbeiteten, wärmten sich an der Mauer, in der Sonne des Vorfrühlings. Dann wuchsen die Schatten, die Greise verschwanden mit den Kindern, von der Arbeit kamen die, die Kraft hatten; – nur Balrich verharrte noch immer in dem feuchten Garten, ging und stand, grübelte, horchte. Malli drinnen im Keller saß beisammen mit Thilde, sie bejammerten das Geschick und wurden erzürnt, übertönte sie einmal das Lachen der Kleinen. Der alte Gellert lachte mit den Kleinen.

Da streckte Balrich den Kopf durch einen Busch; nun galt es, dort kam er. Horst Heßling kam daher, ohne Monokel, mit einem dummen Gesicht, und sein Gang sah aus wie stotternd vor Verlegenheit. Dies war der Moment! Balrich tat einen Gleitschritt, unvorhergesehen stand er vor ihm.

»Sie haben mich erwartet,« sagte er rauh. »Früher oder später. Jetzt bin ich da und fordere. Heiraten Sie meine Schwester!«

Horst Heßling lächelte schlaff, als sagte er: »Hätte ich sonst keine Sorgen!« Dann gab er sich einen Ruck, sogar nach dem Monokel faßte er und bemerkte: »Komisch, das müßte doch ihr selbst einfallen.«

»Oder Ihnen,« sagte Balrich. »Denn Sie haben die Schuld.« Er ließ sich nicht unterbrechen. »Nur Sie! – obwohl sie schon vorher nicht mehr unschuldig war. Ein Reicher kann keine Unschuld verlangen. Wer was ihr geschieht und was immer aus ihr wird, kommt alles auf Sie; denn Sie –«

Die gekrampften Fäuste hob er bis unter das Gesicht des Andern.

»– sind der, den sie liebt.«

Horst Heßling fuhr zurück. »Sie sind außer sich,« sagte er und wollte weiter. Balrich, ihm nach mit einem Sprung, warf ihn an den Schultern herum. Horst Heßling war plötzlich tiefrot, den Angreifer stieß er fort.

»Achtung! Hier ist mein Stockdegen;« – und er zog ihn. »Ich bin in Notwehr.«

»Lump!« sagte Balrich. »Feigling!« Mit Schimpfworten wich er vor den gereizten Ausfällen des Feindes zurück, immer zurück, bis an die Planke. Da, ein Schlag, der Degen klirrte und fiel hin, die Handgelenke des Feindes wanden sich unter den Fäusten Balrichs.

»Los!« sagte Balrich. »Stoßen Sie mich in den Stacheldraht! Wer übt jetzt Notwehr? Mit den Stichen im Nacken darf ich Sie totschlagen.«

Horst Heßling sah es ein, er hörte auf, sich zu winden. »Verhandeln wir!« keuchte er, worauf Balrich ihn losließ. Sogleich hatte der Reiche wieder seine überlegene Fresse. »Hunderttausend,« warf er hin. Balrich schnob: »Heiraten!«

»Hunderttausend. Ich fange dort an, wo mein Vater aufgehört hat.«

»Ihr Vater hat beileibe nicht aufgehört. Er bietet mir noch ganz Gausenfeld.«

»Also ganz Gausenfeld,« bot der Sohn, korrekt und höhnisch. Balrich schnob:

»Wenn Sie auch könnten, es wäre noch nicht genug. Heiraten!«

»Ihre Schwester ist mehr wert als ganz Gausenfeld?« – Hierbei streckte er den Kopf vor, um das Gesicht des Bruders zu unterscheiden in der Dämmerung. Der Bruder schrie auf. »Das wissen Sie noch nicht?«

Leise, schnell und mit Knirschen sprach er.

»Wenn Sie es nicht wissen, müssen Sie es lernen. Heiraten Sie nicht Leni, soll Ihr Leben, verstehen Sie mich, Ihr ganzes Leben nur noch Angst sein. In kurzem bin ich Student, dann fordere ich Sie; aber Sie dürfen nicht sterben, nur Krüppel werden sollen Sie. Versuchen Sie nicht, zu lachen! Sie sind der Feigste nicht, ich weiß. Gegen mich aber können Sie nichts, denn ich will, hören Sie, ich will.«

Da der Feind zurückbebte, folgte er ihm mit dem Körper.

»Sie sollen mich finden, wo immer Sie zu atmen wagen. Stückweis sollen Sie absterben unter meiner Hand. Sie sollen erfahren, was einer kann, der nur noch lebt, um Ihr Feind zu sein.«

»Prahlerei,« stammelte der Feind, aber er wich, wie vor einem Feuer. »Auch Sie,« stammelte er, »haben etwas zu verlieren.«

»Aber gerächt ist meine Schwester.«

»Was nützt es Ihnen?«

Balrich, aufgereckt:

»So lieb werden Sie nie jemand haben, daß Sie mich verstehen.«

Da sah er im Schatten den Feind kleiner werden. Horst Heßling fragte, raunend:

»Wie sollen wir es denn machen?«

»Ihre Sache, Geld zu beschaffen.«

»Sie haben gesehen, in welchem Zustand ich aus der Stadt kam. Die Wucherer lassen sich kaum noch hinhalten.«

»Ihre Sache,« wiederholte Balrich. »Beschaffen Sie Geld, fahren Sie nach England mit meiner Schwester, heiraten Sie sie!«

Eine schwankende Handbewegung, der Reiche sagte:

»Ich will es versuchen.«

»Und glauben Sie nicht, Sie könnten nur entkommen! Ich treffe Sie noch im hintersten Versteck der Erde – leichter als hier. Ich habe mich aus der Lohnsklaverei befreit, sagen Sie sich das! Wo sind für den die Grenzen.«

Vor sich hin sagte der Sohn: »Was bleibt übrig, ich breche in die Kasse ein.«

»Und Sie reisen erst, wenn kein Verdacht gegen uns mehr aufkommen kann.«

»Gegen uns,« wiederholte Horst Heßling, von unten. Dann wuchs er wieder. »Aber wieviel verlangen Sie eigentlich selbst?«

»Sie bekommen keinen Fußtritt. Meinem Schwager gebe ich keinen.« Und Balrich drehte sich schroff um.

Er wollte um die Ecke, da vertrat ihm den Weg ein machtvoller Wuchs.

»Ei ei,« sagte die Schattengestalt Klinkorums. »Erpresser, Mordbube und Dieb, ei ei! Das wäre nun der Prophete.«

Balrich, überrascht, sah ihn eine Art Tanz beginnen, als wackelte ein Turm .. Aber Klinkorum bezwang sich, er senkte die Hand auf die Schulter Balrichs. »Mein Sohn!« rief er aus.

Erschreckt durch dies sein Bekenntnis, horchte er in das Dunkel, es schwieg tief. Da legte er los.

»Sohn meines Geistes! Hast ererbt von mir, was ich als Letztes, Tiefstes in mir trug, den Haß der Mächtigen, die Todfeindschaft gegen die Macht.«

Er umfaßte auch die zweite Schulter Balrichs.

»Sohn! Was hat sie aus mir gemacht. Ein Narr ich, ein Spielzeug der Reichen, – ich, der Intellektuelle! Der Geist selbst ihr Spielzeug, verhöhnt und benutzt! Räche mich! Ich werde gelebt haben durch dich!«

Hier fiel er vollends über Balrich her; auf der Wange Balrichs schallte ein Kuß. Balrich ließ es vorbeigehen. Dann sagte er:

»Tue ich es aber, wer weiß, so verleugnen Sie mich.«

»Nie! Bei den Flügeln des heiligen Geistes, nie!« Wie ein Turm in der Nacht. Balrich tastete sich um ihn herum und schnell zur Pforte. Noch nicht erreicht, und einem Vorsprung im Zaun entstieg noch einer.

»Ich habe den Drang, Ihnen zu sagen –« Es war Kraft Heßling.

»– daß ich meinen Bruder nur mißbilligen kann. Er ist nicht feinfühlig, nicht edelgesinnt. In Ihnen vermute ich eine verwandte Seele.«

Da Balrich zweifelte, woran er sei, beteuerte Kraft: »Sie dürfen mir glauben. Nie wäre ich so unzart gewesen, Ihre Schwester zu verführen.«

Allerdings. In dieser Beziehung war ihm zu glauben. »Was wollen Sie denn?« fragte Balrich.

»Ihnen helfen, Sie Lieber.«

»Die Reichen sind verrückt,« dachte Balrich. »Kommst du ihnen mit Gewalt, geben sie nicht nur ihr Geld her, sondern sogar ihr Herz.«

Kraft versuchte seiner hohlen Stimme Wohllaut zu verleihen. »Ihnen ist es doch wohl lieber, wenn man nicht erst die Kasse erbrechen muß? Da weiß ich nun Rat. Mein Bruder Horst weiß sich keinen mehr, er ist verkauft an die Weiber. Ich aber habe Ersparnisse.«

»Und Sie wollen ihm helfen,« stellte Balrich fest, »daß er handeln kann wie ein anständiger Mensch.«

»Das ist schön, nicht wahr? Ich liebe so sehr die Schönheit der Menschen, die seelische – und auch die des Körpers,« – wobei Kraft, leicht rankend, den Arm um die Schulter Balrichs schlang. Balrich schüttelte ihn ab, Kraft lispelte noch: »Darf ich denn nicht den Freundeslohn erhoffen?« – da hatte er eine Ohrfeige, und sofort drohte er dem Seelenfreund, ihn anzuzeigen auf der Stelle, zu zeugen gegen ihn, ihn zu vernichten. Hierbei lief er schon.

Kraft eilte heim, in Finsternis gehüllt und seine Rache bedenkend. Der Mut, den sein stärkerer Bruder hier nicht hatte, Kraft fand ihn in seiner enttäuschten Liebe … Er meldete sich krank und ging ohne Essen schlafen. Stundenlang harrte er in Geduld, bis Horst kam. Horst tat, als entkleidete er sich, wobei er aber Blicke auf den Schläfer warf. Kraft atmete seufzend, darauf gab Horst es auf, sich zu verstellen, zog das Jackett wieder an, und beim Mondschein wartete nun auch er. Das letzte Licht in der Fassade war erloschen, da machte er sich auf, in biegsamen Hausschuhen.

Kraft, kaum war sein Bruder fort über die Treppe, schlug einen anderen Weg ein. Das Schlafzimmer betrat er unhörbar, woraus das Stöhnen seines Vaters drang. Die Lampe brannte auf dem Betttisch des Generaldirektors, sie beschien sein vom Traum zerrüttetes Gesicht; mit dumpfem Murmeln aus seinen Lippen kamen Worte, kamen Zahlen … Da lief ein jäher Schrecken durch alle Massen seines schlafenden Leibes, hoch fuhr er, und gestützt auf beide Hände, starrte er weiß. Wie zum Angriff krümmte dort sich ein schwarzer Mensch. »Lieber Gott!« hauchte er und sank hin.

Kraft sagte heiser: »Papa;« da sah der Vater ihn sich an, den schwarzseidenen Schlafanzug, die hohlen Augen und den Schatten unter der Höckernase, – worauf er in Zorn geriet und noch nachträglich zu dem Revolver griff. Kraft, erfüllt von seinem Geschäft, wich keinen Fußbreit. »Komm, Papa!« sagte er beharrlich und winkte langsam, winkte knochig. »Komm, Papa, du sollst dich wundern.«

Der Generaldirektor, ohne mehr zu erfahren, stand endlich auf und folgte. Kraft, eins mit der Dunkelheit, führte ihn an der Hand über die Treppe. Drunten schien der Mond in die golden bespannte Halle. Kraft wich ihm aus; die Wände entlang schlichen sie in den weißseidenen Barocksaal. Hier nun, grauenvoll, lag Lampenschimmer! Aus der angelehnten Tür fiel er, vom Herrenzimmer! Der Generaldirektor wollte einwurzeln, Kraft riß ihn mit. Der eine lang und schwarz, überquellend aus seinem weißen Hemd der andere, so traten sie auf. Horst sah ihnen entgegen, mit dummem Gesicht. Er stand halb versteckt hinter der geöffneten Schiebetür, die das Allerheiligste barg, mit dem Kassenschrank, – und der Kassenschrank klaffte, und in den Fingern Horsts zitterten Banknoten.

Der Generaldirektor, bei diesem Anblick, ward ein Anderer. Sicherheit und Tatkraft prägten sein Gesicht, »Hände hoch!« rief er stark und erhob den Revolver.

»Pardon,« äußerte Horst, »ich bin es nur.«

Der Generaldirektor, der hieran nicht zweifelte, trat sachlich vor, er untersuchte den Kassenschrank.

»Unverletzt,« sagte er. »Wie hast du das gemacht?« Horst konnte sich der Auskunft nicht entziehen. Er hatte die Zahl, die den Kassenschrank öffnete, aus dem Schlaf seines Vaters erlauscht, aus dem von seinem Feind beschwerten Schlaf des Arbeitgebers – schon längst. »Schon längst?« Denn Horst, dessen erlaubte Hilfsquellen nicht ausreichten, sah keineswegs erst seit heute der Tat in die Augen, die nun vorlag. Er zeigte keine unangemessene Reue, er beklagte nur, in männlicher Form, die Kargheit der ihm gewährten Lebenshaltung. Der Generaldirektor, als Antwort, entnahm dem Kassenschrank ein Buch, stellte Ziffern zusammen und nannte eine Summe, der er zuzutrauen schien, sie werde Horst zum Wanken bringen. Horst aber wankte nicht. Statt seiner fiel der Vater in einen Klubsessel, er seufzte auf, ganz Vater.

»Was schiert mich das Geld, soll es nehmen wer will, nur gerade du! Mein Sohn ein Einbrecher! Mein Ältester ein Dieb! Nagel zu meinem Sarge, nur noch totschlagen mußt du jemanden, dann liegt deine Verbrecherlaufbahn abgeschlossen hinter dir.«

Dies hörte der Sohn mit aller gebotenen Achtung an. Dem Vater hingen die Arme wie abgehackt von den Lehnen, er war so tief verfallen in seinem Klubsessel, daß der Bauch auf dem Sitz lag wie ein Luftkissen. Da er sich wiederholte und von neuem bei dem Geld anfing, das jeder nehmen könne, sah Horst diesen Teil der Zeremonie für beendet an und beschäftigte sich damit, die Banknoten in den Geldschrank einzuordnen. Eine Note entfiel ihm, flatterte fort und glitt unter eine Tür – die Verbindungstür nach der Wohnung der Bucks. Horst ließ sie vorläufig dort liegen, in Voraussicht jedes möglichen Verlaufes, den der Auftritt des Vaters etwa nahm.

»Und alles wäre noch verzeihlich,« winselte der Vater, »hätte mein Sohn nicht als Kanal für die Vergeudung meines Besitzes jene Person gewählt. Denn glaube nur nicht, dein Vater täuschte sich über den Grad deiner Gemütlosigkeit. Die Schwester meines ärgsten Feindes, gerade um ihretwillen hast du den Kassenschrank deines leiblichen Vaters nicht mehr für heilig erachtet.«

Endlich etwas Neues, Horst sah die Möglichkeit, das unfruchtbare Feld der Gefühle zu verlassen. »Ich muß dich aufmerksam machen, Papa,« äußerte er, »daß deine Informiertheit, so sehr ich sie bewundere, hier gerade in der Hauptsache versagt. Der Posten, auf den du anspielst, hat in meinem Haushalt eine verhältnismäßig unbedeutende Rolle gespielt; Ehrenwort. Bei weitem das meiste nahm andere und ich darf sagen, rühmlichere Wege.«

»Welche?« fragte der Vater, aber weiter zu gehen in seinen Eröffnungen, erklärte Horst aus Kavaliersgründen für unzulässig. Kraft sagte höhnisch: »Ich kann vielleicht aushelfen«; aber ein Griff, und Horst schickte ihn in einen entfernten Winkel. Dort ward seine hohle Stimme verschlungen von dem Gepolter der Möbel, die sein Vater in Bewegung setzte. Denn der Vater winselte nicht mehr, sondern brüllte, und aufgesprungen warf er mit den Möbeln. Horst, dem gegenüber, fand es um so leichter Kavalier zu bleiben. Schon sein korrekter Jackettanzug setzte ihn in Vorteil vor den schwach Bekleideten … Da erschien, von dem Lärmen angelockt, in einem Schlafrock mit Spitzenschleppe Guste, die Gattin und Mutter. Sie sah, ahnte, griff ein.

»Es ist die kleine Anklam, daß du es nur endlich weißt, du Ärmster,« herrschte sie. »Nun also, da machst du andere Augen. Von meinen Söhnen wirst du nicht erleben, daß sie sich wegwerfen.«

Der Vater versuchte: »Er gibt zu, daß er auch jene Person –«

»Es ist nicht wahr,« herrschte Guste.

»Aber Mama, ich habe doch ihre Einrichtung gesehen«; – und auch Gretchen fand sich ein, süß verschlafen in ihrem langen Nachtkleid. »Ich war bei der Auktion, denn Horst gab ihr unanständig wenig, das muß wahr sein.«

Dies bekam Gretchen schlecht. »Unanständig?« fragte der Bruder und erhob die Hand. Die Mutter drang gegen sie vor. »Ein junges Mädchen weiß das nicht. Es glaubt es nicht einmal, wenn es dabei ist. Fort, unpassendes Geschöpf!« – und Gretchen war entwichen so schnell wie aufgetaucht.

Der Generaldirektor inzwischen sah Licht, einen Weg und offenen Himmel. In voller Manneskraft riß er die Zügel an sich.

»Die Dinge stehen so,« befahl er, »daß mein Sohn den niederträchtigsten Erpressungen unterliegt.«

»Mann!« kreischte Guste. »So spricht man nicht von einer Dame. Unser Sohn hat Glück bei der Nichte des Generals.«

Aber der Generaldirektor blitzte furchtbar. »Schweig! und folge deiner Tochter. Wo der Ernstfall eintritt, ist nicht der Ort für Weiber.« Er fuhr fort zu blitzen, bis Guste es einsah, sie habe ausgespielt, und sich, rauschend so gut sie konnte, zurückzog. Der Generaldirektor schloß selbst die Tür.

»Du unterliegst den niederträchtigsten Erpressungen,« befahl er.

»Zu Befehl, Papa,« sagte Horst.

»Und zwar von seiten einer liederlichen Person, deren Bruder gegen mich den Umsturz mobil macht. In seine Hände gelangen die Unsummen.«

Horst verstand. »Wenn wir das beweisen können –«

»Wir beweisen es,« befahl der Generaldirektor. »Er hat dich tätlich angegriffen. Er hat dich bedroht, falls du nicht seinen Willen tust.«

Erschreckend sagte Horst: »Das ist sogar wahr.« Der Generaldirektor blühte auf. »Wo sind deine Zeugen?«

»Wie viel bekomme ich?« fragte Kraft, dumpf von hinten. Schon hatte der Generaldirektor ihn beim Wickel.

»Maulschellen nach Belieben, oder du redest. Was hast du gesehen, wie kamst du dorthin. Deine Beziehungen zu dem Menschen will ich wissen.«

Kraft, die Gefahr erkennend, leugnete alles. Klinkorum sei es gewesen. »Gleich nach Horst hat er verhandelt mit dem Balrich.«

»Er ist Mitwisser!« Der Generaldirektor frohlockte. »Vielleicht Mittäter. Auch ihn hab' ich in der Hand. Los! Wir räumen auf in einem. Morgen früh die Verhaftung.«

Er hielt sich das Herz.

»Ah! es wurde Zeit. Ich dachte wahrhaftig schon –«. Der Generaldirektor faßte Fuß seinem Kassenschrank gegenüber. Feierlich nickte er ihm zu.

»Der Brief! Der Brief, der mich enteignen soll! Ihn zurückholen und dort einsperren, – damit noch meine spätesten Enkel gewarnt werden durch den Anblick der entsetzlichen Drohung, die über dem Haupt ihres Ahnen hing. Dafür bin ich zu allem entschlossen.« Höher gereckt und lauter: »Ich schwöre es, zu allem; – denn der mir aufgezwungene Kampf um mein Dasein rechtfertigt auch das härteste Mittel. Und sollte ich den Brief aus rauchenden Trümmern hervorziehen …« Er brach ab.

»Drei Stunden können wir noch schlafen,« stellte er fest. »Ich brauche es.«

Zwischen Kraft, der voranging, und Horst, der folgte, machte er sich auf den Rückweg, durch den weißseidenen Barocksaal und die golden bespannte Halle. Auf der Treppe wiederholte er noch: »Entschlossen zu allem,« – da hielt Horst ihn an. Kraft war droben verschwunden. »Erlaube, Papa,« sagte Horst leichthin. »Nur zu deiner persönlichen Information. Er hat nichts weiter gewollt, als daß ich seine Schwester heirate.«

Der Generaldirektor sah ihn schroff an. »Ich habe keinen Grund, dir zu glauben. Wir sind übereingekommen, daß er Geld von dir wollte. Der Wert geschäftlicher Abschlüsse scheint dir noch nicht klar zu sein.«

Horst schluckte hinunter. »Als Kavalier,« begann er wieder, »empfinde ich es peinlich –.« Der Generaldirektor machte »Haha! Die Ehre des Fräulein Balrich. Sie muß wiederhergestellt werden.«

»Nicht mehr und nicht weniger,« sagte der Sohn; er war erbleicht; »und im Weigerungsfall ist nichts gewonnen, im Gegenteil.«

Der Generaldirektor sah angestrengt in die Augen des Sohnes. Was drohte hier, oder was ließ sich in Anschlag bringen? Er fragte lieber nicht. Vielleicht, daß auf eine gewisse Art die Sache sich stillschweigend abtat. Sicherer und endgiltiger, als durch eine leichte Gefängnisstrafe des Erpressers. »Ich werde schwer getroffen,« überlegte der Generaldirektor, »wenn dem Jungen ein Unglück zustößt. Aber bezahlen muß jeder, und es gibt Geschäfte, die nicht zu teuer liquidiert wären mit der Darangabe eines Sohnes.« So kaufte man dem Feinde sein Recht ab, und die Macht verblieb, wo sie war. Der Vater blinzelte, der Sohn erriet ihn; es durchschnitt ihn kalt … Beide zugleich traten voneinander zurück, – worauf der Generaldirektor etwas beschleunigt in sein Zimmer drang.

Der Sohn setzte, obwohl allein in der Weite, das Monokel ein, und in leidlicher Haltung kehrte er wieder um. Was auch Entscheidendes vorgefallen war, die Banknote unter der Tür hatte es ihn nicht vergessen lassen. Da lag sie noch, – wie er aber hingriff, riß sie aus und war drüben, bei den Bucks. Eine neue Gefahr. Er kauerte und wagte sich nicht zu rühren. Dann kam von drüben ein Pfiff – der bedrohliche Pfiff, den man in dunklen Nächten wohl hörte, aus einem Graben oder Busch, war man allein noch unterwegs. Horst begriff, Hans Buck war es, und er drohte. Er konnte weitersagen, was er erhorcht hatte hinter dieser Tür. Rätlich war es, ihn stillschweigend abziehen zu lassen mit dem Schein. Horst, in seiner Lage, sah keinen Anlaß, sich tiefer einzulassen in die halsbrecherische Politik des Generaldirektors. Noch immer kauernd, zog er sich sacht zurück.

Hans Buck, der durch das Schlüsselloch dies feststellte, tat einen Sprung, und dann lief er. Sie konnten ihn fangen wollen, – rasch fort, nach hinten durch den Park, den Wald, den Arbeiterwald und querfeldein über Gausenfeld hin, fliegen zu ihr! In die Stadt, jene Straße, das Haus und zu ihr! Ihre Arme, ihr Mund! Du hast Geld. Lauf', lauf', mit dem Geld zu der Liebe!

Er war schon durch den Torweg zwischen den Arbeiterhäusern; die Wiese; die Landstraße, – da hielt er an, wollte weiter, stockte – und trat endlich doch ein in das große Haus der Armen. Das Tor ward gerade geöffnet, es dämmerte; sie standen auf, schon waren sie auf den Treppen. Hans Buck hielt an, wen er traf. Schnell ein Wort, und auch dort eins. Zurück nun, und zu Klinkorum. Die Lampe Balrichs glomm gelb im Morgen. An das Fenster gepocht und hastig hinein geraunt, was nottat. Schon lief er, es spritzte der Kies. Zwischen ihm und ihr nichts mehr als der Lauf.

Er lief, und ihm voran lief sein Herz. Es war schon angelangt, es sah sie schon, sein Herz sah ihr Gesicht schon, das es so sehr fürchtete um seiner Schönheit willen, – und wie sie ihre weißen Arme auseinanderschlug … Plötzlich fand er sich auf der Landstraße, noch immer hier, kaum hinaus über Klinkorum. Am Himmel, der sich erhellte, flitzten Schwalben dahin bis über die Stadt, bis über ihr Haus, – kehrten um, waren zurück und bebten noch. So war sein Herz.

»Wenn ich hinkomme,« fühlte er, »wenn ich noch hinkomme!« Nur dies, dann nichts mehr. Nach diesem das Ende, was sonst. Ihr Haus, auf das er zulief, von jenseits lief der Tod auf es zu, sie mußten sich treffen in ihren Armen. Jauchzend lief er auf den Tod zu, der die Liebe war.

Aber kaum eine Stunde, da schlich er hilflos wieder herbei. Sein Herz war unbeflügelt, in den Staub auf seinem Gesicht rannen Tränen. So kam er zu der Villa Klinkorum. Im Garten stand Polizei; auch die Familie Dinkl, die aus ihrem Keller herausstrebte, ward im Zaum gehalten von einem Schutzmann. Hans Buck gab an, sein Lehrer erwarte ihn, und durfte hinaufgehn. Droben begegnete er Männern ohne Uniform und mit schlechteren Gesichtern als die Uniformierten; sie suchten oder lauerten auf. Ein Höherer stand in dem Studierzimmer vor Klinkorum. Der Generaldirektor Heßling saß sogar auf dem Schreibtisch und warf Papiere durcheinander, wer weiß wegen welches Papiers. Beide herrschten Klinkorum an. Mit Würde hielt er ihnen stand. Den Balrich, den sie suchten, habe er nicht gesehn. Er wisse nichts von Attentaten des Balrich. Er, sein Helfershelfer? Er würde lachen, – wenn er nicht fürchten müßte, noch mehr verkannt zu werden in seiner staatstreuen Gesinnung.

Der Generaldirektor sagte schneidend: »Die wird an einem anderen Ort geprüft werden. Wir haben Zeugen für Ihre staatstreue Gesinnung;« – und er zeigte in jenen dunklen Winkel, wo nichts zu erkennen war. Klinkorum aber, noch immer unerschüttert, ging hin und legte jemandem die Hand auf die Schulter. Kraft Heßling war es, mit dem er hervorkam. »Zeugen,« sagte Klinkorum nicht ohne Ironie, »hat jeder, und wäre es nur Gott. So dunkel sind selbst nicht die verstohlensten Herzenstriebe. Wohlan, deutscher Jüngling!« Mit einem leichten Schub schickte er Kraft seinem Vater zu – und hatte dabei um seinen Haifischrachen einen so vielsagenden Zug, daß der Generaldirektor ohne weiteres vom Tisch rutschte. Wohl brachte er noch einige Drohungen hervor, war aber schon im Rückzug begriffen, mitsamt Kraft und den Kriminalern.

Die Luft war rein; Hans Buck, hinter der Tür, machte Huhu! um zu sehen, wie Klinkorum erschräke. Doch erschrak er nicht, er hob gegen seinen Schüler den Finger und lehrte: »So hast du denn mit angesehen, Knabe, was aus den armseligen Machthabern wird, wenn das Wissen gegen sie aufsteht. Wir Intellektuellen tragen in unserem Geist den Sprengstoff für sie alle.«

Hiermit entlassen, machte der junge Buck sich aus dem Hause, das er inzwischen umringt fand, nicht mehr von Polizei, vom Volk, zumeist Frauen. Sie drangen in den Garten, Dinkls berichteten ihnen, – und schon, von ihnen herbeigeholt, liefen Männer über die Wiese. Sie hatten, von der Arbeit weg, die Fabrik verlassen, sie wollten selbst sich überzeugen, ob der Heßling es wagte, den Balrich zu verhaften, ihren Balrich, ihren Führer, den, auf den sie hofften. Denn sie hofften wieder auf ihn allein. In Gruppen standen sie und sagten halblaut, als würden sie bewacht: »Er ist der Wahre. Er hat es immer gewußt, der Heßling mit seiner Gewinnbeteiligung werde uns nur hineinlegen. Jetzt hat er etwas vorgehabt, wozu verhaften sie ihn sonst.«

»Was wird er vorhaben.« Herbesdörfer wühlte umher. »Den Streik, was sonst soll uns helfen. Er hat ihn nie gewollt. Will er ihn jetzt, dann weiß er das Seine, dann los!«

Sie teilten sich, die einen zogen nach der Fabrik, die Genossen zu holen. Andere, leis eingeweiht von den Frauen, kamen mit in das Haus, sie verteilten sich über Treppen und Gänge. Den Spitzel Jauner drängten mehrere in ein Gelaß und versprachen ihm für diesmal das Schlimmste, falls er sehe oder höre. Es währte lange, bis alle sich wiederfanden, vor dem Zimmer 101 im Haus B. In seinem alten Zimmer saß Balrich.

Er sah ihnen entgegen, die Hand auf seinem fichtenen Tisch, an einem Revolver.

»Ich kann hier nur Freunde gebrauchen,« sagte er, die Brauen gefaltet. »Wenn andere mich hier finden, ich habe etwas zu viel für euch getan, mir bleibt nur der da.«

Hierauf, so wild sie waren, schwiegen sie, – bis einer sagte, es sei nun gleich, so ständ' es um sie alle, sie seien die Seinen. Auf Gedeih und Verderb, sagte Herbesdörfer. Nicht einer mache flau, sagte Polster.

Da riet er ihnen: die Arbeit niederlegen und still sein. »Keine Gewalt – nur warten, bis er tut, was ihr wollt.«

»Tarif!« verlangten sie. »Mindestlohn 28 Mark.« Er riet ihnen:

»Keinen Tarif, aber fünfunddreißig … Das tut er nicht? Abwarten! Ich habe eine Sache mit seinem Sohn.« Eindringlich fragte er umher.

»Ihr glaubt doch nicht, er läßt seinen Sohn im Stich. Wo nichts von ihm verlangt wird, als daß er euch nicht mehr betrügt und euer Blut saugt, da sollte er es ausschlagen, seinen Sohn zu retten? Wer glaubt das!«

Ein alter Arbeiter legte auf die Schulter eines jungen seine Hand und sagte: »Das glaubt keiner.«

»Das gibt es in der Welt nicht,« sagte einer nach dem andern; – und einzeln und umsichtig brachen sie auf.

Ein Geräusch hinter dem Bett, Balrich faßte nach der Waffe; aber hervor kam das Bürschlein. Da lief Balrich hin und umarmte ihn. »Du gutes Bürschlein! Ohne dich wäre es nun schon aus mit mir.« Wer er fühlte einen Widerstand. Der junge Reiche wollte dies nicht hören, er machte sich los.

»Danke mir nicht,« sagte er zornig, mit Augen, groß und von Tränen schimmernd wie die eines Mädchens. »Nur nebenher und nicht gern habe ich mich aufgehalten bei den Arbeitern und bei dir. Ich lief zu einer Anderen –«

Er krümmte sich über den Bettpfosten.

»– und die war es nicht wert.«

Schluchzen, über dem Bettpfosten. Dann stellte er sich vor ihrem Bruder auf und fragte:

»Sie hat mich weggeschickt, kannst du es ihr verzeihn, der du mein Freund bist?«

»Du Bürschlein,« sagte der Bruder mit Nachsicht. Der Siebenzehnjährige rang die Hände.

»Welch ein Unglück! So ist es denn möglich, daß ein Mädchen nicht fühlt, kein Mensch, in ihrem ganzen Leben kein Mensch werde so sehr sie lieben! Ich hätte es nie geglaubt. Für mich geht die Welt unter.«

Der Bruder umspannte seine gerungenen Hände. Es rang auch in ihm, er sagte gequält: »Laß sie!

Du bist der Bessere. Ich liebe sie auch, aber wir sind nicht gut, wir lieben das Geld.«

Da schäumte der Liebende auf gegen ihn. »Das Geld? Das hatte ich, und sie wollte es nicht!« Er zeigte den Schein her. »Nicht einmal den, – und welche würde den ausschlagen. Wir Reichen haben sie erzogen, daß sie Geld nehmen, warum beschimpfst du nun sie?«

Jetzt weinte der Bruder. Er legte dem Siebenzehnjährigen die Hand auf die Locken und murmelte: »Du Bürschlein.« Jener warf die Arme zum Himmel.

»Wir würden geflohen sein und wären in der Welt nun allein. In der Menge der Menschen nicht einer wüßte um uns. Ich würde arbeiten, harte Arbeit, schmutzige Arbeit, ich würde arbeiten für sie, um jedes ihrer süßen Glieder zu bekleiden und ihrem süßen Mund die Nahrung zu bringen. Ich würde leben für ihre Küsse, – und wäre es nicht erlaubt, so selig zu leben, würde ich sterben in ihrem Kuß. Wir wären gestorben, besiegt und arm; aber so viel Leben, so unvergängliches Glück wäre ausgeströmt aus uns, daß unsere Dachkammer, lägen wir tot, noch strahlen sollte!«

Er war niedergesunken; vor dem Bett kniete er und sagte sein Herz der einen, die er sah. Balrich, hinter ihm, fragte mitleidig:

»Warum wollte sie dein Geld nicht?«

Der Knabe stand auf, er sah zu Boden. »Weil es gefährlich sei für mich. Weil ich es gestohlen habe, und ich solle es zurückgeben. Aber ich weiß –«

Feindlich richtete er sich auf. »Sie meinte: gefährlich für dich. Ich? Was kümmere ich sie! Einen Kuß hat sie mir gegeben – für dich. Aber du bekommst ihn nicht. Ich behalte ihn, damit ich nicht doch die Lust verliere, zu sterben.«

Heftig wandte er sich fort. Balrich zog ihn wieder herum. »Was sprichst du denn!« Der Knabe machte einen Mund, bitter wie ein Greis.

»Du denkst wohl, das alles soll hingehen und vergebens sein? Eines Tages soll ich sie vergessen haben? Für wie schlecht und feige hältst du mich denn? Könntest etwa du selbst vergessen, was dein Ziel und Leben ist?«

Hierauf schwieg Balrich. Hans Buck streckte wild die Hand hin. »Sie will mich nicht, jetzt bin ich dein – bis an das Ende. Du sollst sehen, was ich kann.«

Er sah nach, ob niemand horchte.

»Du gehst nicht aus dem Zimmer, niemand wird dich finden, ich bürge dir. Ich führe sie auf falsche Fährten. Deine Leute sollen wieder so fest zusammenhalten wie damals, als sie das Geheimnis hatten und Heßling sich fürchtete.«

»Auch jetzt hat er etwas zu fürchten,« sagte Balrich. Hans Buck schüttelte den Kopf. »Jetzt treibt er zum äußersten, er kann nicht anders. Alles treibt zum äußersten, auch du, auch ich. Nicht länger darf es ohne Gewalt gehen und ohne daß ich sterbe.« Bleich und feierlich; – aber er faßte sich und sagte mit Beweglichkeit:

»Laß alles mir! Ich melde dir alles, was vorgeht. Durch mich befehligst du sie. Du sollst nur mich sehen. Ich bin der einzige, der überall durchkommt, und niemand bemerkt ihn.«

Er flüsterte, spähte, glitt aus der Tür.

Balrich hatte auf seinem Tisch die Bücher, er wollte arbeiten wie immer; aber ihm klopfte das Herz. Hierher hatte er sie geführt, auf Wegen, die an so viel Größerem enden sollten, unwissentlich nun doch hierher; und konnte bei ihnen nicht sein. Gewalt stiften – und dann zusehen, wie sie sich vollzog: eine Führerrolle. »Aber ich bin kein Führer; das war. Ich will nur noch dreinschlagen, es soll nur noch drunter und drüber gehn zu welchem Ende? Zu keinem.«

Er versteckte sich hinter dem Vorhang des Fensters. »Die Pfennige, um die ihr kämpft, sind meine Strafe. Wie sehr habe ich einst euch geliebt, und das ist nun alles. Wie groß war meine Sendung, und nun die Pfennige.«

Er sah durch den Vorhang, sie kämpften schwer und täglich schwerer. Gegenüber am Hause C hing einer der Zettel, worauf die Verwaltung Stellung nahm zum Streik. Von weitem lesbar ein großes Wort: Erpressung. Arbeiter standen davor, die ersten Tage lachten sie. Vor der Fabrik hin und her gingen Streikposten; sie wurden verhaftet für das Verbrechen, die Arbeitswilligen aufzureizen. Sie mußten im Dunkeln werben, – indes auf offener Straße die Herren ihren Kriegsrat hielten, der Heßling und sein Freund v. Popp. Der Heßling und seine Leute gingen in die Arbeitervillen, dort wohnten jetzt die fremden Streikbrecher, – und brachten ihnen Geschenke. Laßt aber nur einmal zwei Streikende hingehen, das ist Hausfriedensbruch. Die Gerichte haben Arbeit, und hier denken sie: was du tun willst, tue gleich. Ein Arbeiter, vorbestraft, stiehlt eine Wurst, sie kostet anderthalb Jahre. Kleine Kohlenstücke, von den steifen Fingern der Frauen in ihre Schürze gelesen, sind ein halbes Jahr wert.

Grau schlichen drunten die Frauen, am gestreckten Arm Kinder nachschleppend mit hohlen Augen. Wenige Wochen erst, und nicht einer lachte mehr von den Männern. Vor den Befehlen und Drohungen auf den Mauern spieen sie aus, aber mit einem Blick rundum nach dem Schutzmann. Hungere doch, und bleibe stark! Hungere, und behaupte dein Recht! Der Heßling auf seiner Villa Höhe tafelte mit v. Popp. Dabei verging ihm die Zeit, – und inzwischen ließ er in der Fabrik neue Maschinen aufstellen, Maschinen von einer Art, die man nicht kannte. In einem eigenen Gebäude, ganz hinten am letzten Hof standen sie, wie ein Geheimnis, eine neue Gefahr, über die man raunte, die noch mehr aufhetzt.

Als alle schon müde waren, erschien Napoleon Fischer und wollte vermitteln. Er riet ihnen, anzunehmen, was Heßling bot, dreißig Mark ohne Tarif. Es sei gerecht; die Partei lehne es ab, Streikgelder zu geben zugunsten gewissenloser Hetzer. Napoleon wisse, wen er meine. Wo sei der Mensch, wohin habe er sich verkrochen … Dies erfuhr er nicht, und er ward, zum erstenmal in seinem parlamentarischen Leben, von seinen Wählern fortgeprügelt. Das Bewußtsein nahm er mit, er habe gerecht gesprochen, – und heimlich wußten auch sie es. Dreißig Mark Mindestlohn, das war mehr als früher. Aber dazwischen lag jener Betrug der Gewinnbeteiligung, lagen Erbitterung, Gewalt und Hunger. Dazwischen lag mehr. Wir haben den Kopf erhoben einmal im Leben und haben geglaubt, nahe bevor, uns und den Kindern bevor stehe der Tag der Gerechtigkeit. Gezählt seien die Tage der Reichen. Wir wären, mit dem, was so lange sie uns kosteten, nun selbst bald reich, hätten in gelüfteten Sälen gemeinsam unser gutes Essen, und Maschinen, die uns gehörten, arbeiteten für uns. Wir haben geglaubt, es gebe das Glück, und es sei da. Dies büßet nun, Arme!

Karl Balrich, in seiner Brust das Abbild ihres gemeinsamen Herzens, fühlte: wir büßen mit Trotz, mit der Verzweiflung unseres Lebens, und will es Gott, mit unserem Untergang. Vom Feind umringt, stündlich enger bedrängt und zum Ausbruch bereit, zum Todeskampf, so leben wir. Die fremden Streikbrecher mit ihren Knütteln marschieren in Reihen und wollen uns überrennen. Frech höhnen sie uns für ihren Schandlohn, sie werfen alte Brotrinden nach unseren hungernden Frauen. Da, eines Abends stellt Polster, der Maschinenmeister, sich auf, bei dem Torweg, wo sie hindurch müssen. »Ihr Lumpenhunde!« sagt er laut. Keinen hat er hinter sich als einige Frauen, die vor Schwäche an der Mauer lehnen, die Kinder in ihren Rockfalten. Was kommt ihn an, den ruhigen Mann? Er steht, die Fäuste geballt, und läßt sie heran, als sei es nichts und ihn schütze sein Recht. Gibt sich Halt, der gesetzte Mann, stemmt sich fest auf seine Beine, die mutig in diesem harten Leben standen. Ihm schlottern die Kleider seit diesen Wochen, die Wangen hängen ihm grau herab. »Ihr Lumpenhunde!« Da prallen sie an ihn, entblößt wird sein kahler Kopf, seine Fäuste stoßen in sie hinein, sie werfen sich auf ihn, er verschwindet.

Als sie sich zerteilten, lag er da, ein Messer in der Brust, und röchelte. Balrich droben riß das Fenster auf, er wollte schreien. Umklammert und zurückgezogen schlug er zu und traf das Bürschlein. »Du bist gesehen,« sagte es. »Flieh!« Er wollte nicht, aber es drang in ihn. »Vor der Nacht noch kommen sie und fangen dich. Aber heute nacht geht es los. Du siehst doch, es kann nicht länger dauern. Willst du den Deinen in den Arm fallen? Sollen sie niemals dreinschlagen?«

Das Bürschlein drückte ihm die Mütze in die Hand, es spähte aus der Tür: alles leer, alle drunten bei dem Getöteten. Balrich brach auf. »Du weißt, wohin,« flüsterte zitternd das Bürschlein; – so entkam er, über die Wiese, im Abendgrau.

Er suchte Deckung die Landstraße entlang, machte Umwege in der Stadt durch die leersten Gassen, schlich hervor, unter ihr Haus … Sie selbst öffnete ihm, zog ihn wortlos bis in das letzte Zimmer und zeigte ihm das Fenster. »Drunten ist der Hof. Du kannst auf das Waschhaus springen und über die Mauer.« Dann ihm zugewendet, als träte er jetzt erst ein: »Daß du gekommen bist!« Da wich sie zurück. »Aber du bist grau geworden.«

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Mein lieber Karl!« sagte sie, die Hand vor dem Mund, »was ist mit dir geschehen.«

Er fragte: »Waren sie schon hier?« Und da sie nickte: »Ich wollte doch kommen.«

Sie sprang auf. »Ich wußte es! Ich habe dich erwartet, du sollst nun essen.« Und als sie ihm am Tisch gegenübersaß: »Die ganze Zeit habe ich Angst gehabt, jetzt nicht mehr. Alles ist gleich, solange wir beisammen sind.«

Er hatte gegessen, sie schob ihren Stuhl neben seinen. An seine Schulter gelehnt: »Weißt du noch, wie wir als Kinder in einem umgeworfenen Faß saßen? Es war unser Haus, wir warteten auf den Mann aus dem Wald, der uns holen wollte. Ich hatte große Furcht, aber wie tapfer warst du, ich hoffte nur auf dich.« Sie machte ihr mit dem Leben bekanntes Gesicht. »Jetzt können wir wieder so spielen. Der Mann aus dem Wald kommt mich zu holen, – oder hat er mich schon geholt. Aber du kannst mir nicht helfen, sie werden dich fangen.«

»Sie werden mich nicht fangen.«

»Du bist schön, wenn du das sagst. Du bist das Beste von mir, ich werde wohl nie jemand lieb haben, nur dich, immer und wo ich auch ende.«

Plötzlich sah er den Koffer, der dastand. »Sie schicken dich fort! Sie drohen dir! Alles um meinetwillen.«

»Du aber duldest für mich,« sagte sie feierlich. Beide schwiegen … Da zuckte sie zusammen, sie horchte. Schnell ausgedreht die Lampe; »sie sind wieder da;« – und zurück mit ihm in das letzte Zimmer. »Du mußt nun fort.« Im Fieber des letzten Augenblicks: »Lauf! Aber die Reichen sind schneller. Auch ich werde ins Gefängnis kommen durch sie. Ich werde durch sie immer schlechter werden. Vergiß nur du nicht, wer ich war!« An seinem Hals: »Ich war deine Schwester.«

Hinaus, sie klingelten schon. Der Bruder sah noch die Tür sich schließen vor ihrem Gesicht. Er fühlte: noch seh' ich sie, noch, noch. Da sah er sie nicht mehr.

Er sprang aus dem Fenster, entkam über eine Mauer und durch dunkle Gärten ins Freie. Vor dem Stadttor aus der Kaserne rückte die Truppe aus, er wußte wohin. Er ließ sie voran und wandte sich laufend nach Beutendorf. Von weitem loderte ein Schein in der Nacht, und von Beutendorf läuteten sie. Nun stand das Feuer seitwärts ihm gegenüber. Läufst du jetzt darauf zu, wohin kommst du? Er wußte es schon, wohin, und er lief. Von weitem, im Licht des Brandes, sah er etwas sich bewegen, wie eine wandelnde Mühle: Klinkorum, der um sein brennendes Haus her die Arme durch den Himmel drehte. Als Balrich unversehens hinter dem Hause C hervorkam, riß jemand aus, am Boden, wie ein Hase. Aber bei dem Aufflammen des Balkons, der grade stürzte, erkannte Balrich den Hasen; es war Jauner, der Spitzel, Dieb, Verräter und Brandstifter.

»Seht ihn laufen!« rief er den Dinkls zu; sie saßen auf gerettetem Plunder am Grabenrand, starrten in den Brand und wandten sich nicht um. Der alte Gellert aber, mit nichts Gerettetem als einer Flasche, schwenkte sie drohend. »Niemand läuft! Gefälligst läuft niemand!«

Balrich ließ den Betrunkenen, er sagte zu Klinkorum, der herbeiirrte: »Der Brand kommt dem Heßling sehr gelegen. Ihnen muß er jetzt nichts mehr zahlen, – und dann mein Brief. Er denkt, dort brennt der Brief, der ihn enteignen soll.«

»Brennt er denn nicht?« fragte Gellert, viel weniger betrunken als vorher.

»Sei ein ausgemachter Schurke,« sagte Klinkorum dumpf, »du kannst mehr, als selbst der heilige Geist.« Die Arme drehend, irrte er weiter. Gellert rief ihm nach: »Der Heßling, ein Mann wie Gold! Er kauft alles, was Ihnen übrig bleibt. Er kauft sogar uns unnützes Pack!« – und Balrich, der schon fort war, sah ihn noch feixen gegen die Lohe.

Vor sich, unterwegs nach Villa Höhe, fühlte Balrich ein Stampfen, als schritte sein wildes Herz. Davon dröhnte die Straße, die nun die seine war, seine einzige, seine letzte. Dorthin! Das Dunkel ward dunkler, es ballte sich zu einem stürmenden Menschenhaufen, ausgeschleudert wie ein Arm, stumm wie ein erstickter Schrei, – der Haufe der Armen. In ihm verschwand Balrich.

Sie waren tausend, hinter ihnen die Kasernen der Armut, ihre erbrochenen Gefängnisse, und die Stadt mit den Mächtigen, deren Hand ihnen nachgriff noch jetzt; hinter ihnen die Soldaten. Sie waren tausend und doch nur ein Windstoß. Stürmten ausgeschleudert in das Land vor ihnen, das dunkle und unermeßliche, das sie nicht kannten, und worin andere ihresgleichen ihnen unbekannt stürmten wie sie, nach einer Villa Höhe, die sie niemals erreichten. Nie kommen wir hinein, nie wird sie unser; aber dennoch, wir stürmen. Wir sind beisammen im Sturm, wissen nichts, als unsern Sturm, nichts vorher, nichts nachher. Halt! da ist Villa Höhe. Wir wären über sie hinausgestürmt. Das Tor auf! Wir können nicht warten. Warteten zu lange. Wir sehen das Gitter nicht, stoßen uns blutig, zerstechen uns beim Hinübersteigen an den Lanzen. In den Garten springen wir, stampfen in den Beeten, nehmen Anlauf … Auweh, Schießen! Kugeln um uns her schlagen in die Gartenerde. Geteilt den Haufen, und jeder einzeln tappen, kriechen, rennen wir. Auweh, Schießen! Auch von der Straße. Wir sind zwischen zwei Feuern. Da hilft nur eins noch, Tapferkeit. Zurück, das Tor geöffnet, und hindurch zwischen der Truppe und um sich schlagen, stechen, beißen. Im Dunkeln wissen sie nicht, sind wir es, sind sie es. Sie schreien: »Licht!« – aber als nun die Bogenlampe angeht über dem Tor, sind wir hindurch und weit, bis auf die, die liegen. Auch Soldaten liegen. Das Maschinengewehr im Garten der Reichen hat nicht unterschieden zwischen uns und ihnen.

Die Truppe ordnete ihre Reihen. Vom Waldrand kam wüstes Gebrüll, noch sprangen welche hervor aus den Fichten, wollten es nicht verloren geben, schimpften, drohten, und einer schoß. Die Truppe legte an. Flucht; – aber grell beleuchtet ein verwilderter Mensch, nackt die Brust und mit einer Brille, schleppte etwas heraus auf die Straße – einen andern, der schrie und sich wehrte. Ein Schwung, der Kleine flog vor die Gewehre. Die Truppe gab Feuer. Zwischen Getroffensein und Hinfallen zappelte der da knieend noch in die Luft und kreischte: »Nicht schießen! Ich bin ein guter Mann!« Dann fiel er auf den Magen, kratzte den Staub mit den Füßen, den Händen und war tot, der Spitzel Jauner.

Im Wald riefen sie: »Bravo Herbesdörfer!« – und stolperten, wohin sie konnten. Auch Balrich; – aber da setzte er sich schwer in einen Graben, neben einen andern, fast auf ihn. Der stöhnte, und schon von seinem Stöhnen wußte Balrich: das Bürschlein. »Du, Bürschlein?« Er zündete ein Streichholz an. »Warst bei uns – und blutest?« Nun sah er auch, das Bürschlein lag in Ohnmacht. »Blutest für uns,« murmelte er, »ich aber bin unverwundet,« – und lud es sich auf. Kroch hervor mit ihm und tastete nach den Stämmen, damit es sich nicht anschlage. Licht fiel herein, dort lag Villa Höhe, weiß, verlassen und von der Truppe abgesperrt. »Ich trag' es hin,« dachte Balrich. »Sollen sie mich haben!« Schon setzte er den Fuß aus dem Waldrand, da erwachte das Bürschlein. »Was tust du denn! Fort!« – und es zog ihm den Kopf in den Nacken, das Genick würde es ihm gebrochen haben. »Zu dir!« verlangte es. »In das Haus B!« Und da sie an einen Stein stießen, fiel es wieder in Ohnmacht.

Balrich gehorchte und nahm einen Umweg, es kostete die halbe Nacht. Umstellt der Wald, die Straße, alles, nur nicht die Kasernen. Wen sollten sie hier suchen. Noch niemand war heimgekehrt; sogar das Tor stand offen. Sanft legte er das Bürschlein auf sein Bett, stand davor und faltete die Hände. Er fühlte: »Das ist nun ein Held. Denn wer zwang ihn, und was ging es ihn an … Sind so die Helden? Dann können wir Armen auch das nicht sein.«

Da stand er und sah den Knaben an, als habe nicht er ihn die halbe Nacht getragen und hier gebettet, sah ihn an unter gefalteten Brauen, – bis er aufschrak und eilends daranging, den Schlafenden zu verbinden. Es war geschehen. Nun sagte Balrich vor sich hin: »Ist siebenzehnjährig, ist reich, und geht mit uns Armen, uns Verzweifelten.« Hierauf, mit noch geschlossenen Augen, fragte das Bürschlein:

»Verzweifelt? Warst du nicht glücklich?«

Balrich antwortete: »Ja; wie man glücklich ist, wenn endlich der Selbstmord kommt, nach dem langen Elend.«

Der junge Reiche, die Augen geschlossen, lächelte. »Es war schön – wie ein Fest. Wie hatten wir es nur so hell und solche Rosenpforten.«

Balrich legte ihm die Hand auf die heiße Stirn. »Triumph,« sagte der Fiebernde. »Wir laufen durch den Himmel.«

Balrich sagte: »Wir gehen über die schwere Erde und sind gewiß, nur ihr Schoß ist unser Ziel.«

»Alles ist unser, die Freiheit, das Glück!«

»Worte,« sagte Balrich. »Wer glaubt daran.«

Da öffnete der Reiche die Augen. Der heiße Rausch in ihnen ward überwölkt von Trauer. »Ihr glaubt nicht daran? Nicht einmal heute nacht?«

»Für uns sind keine Götterfeste.«

»Wozu dann stürmtet ihr?«

»Und du?« fragte Balrich. Er stand mahnend da. »Schon hast du vergessen?«

Auf einmal ward das gerötete Gesicht des Kranken weiß, er flüsterte mit Grauen: »Leni! Ich wollte sterben für sie, und konnte sie vergessen.«

Um Balrich, der sich schmerzensvoll neigte, warf er die Arme, brach in Tränen aus an seiner Brust: »Wie wir elend sind!« – und durch nichts getrennt, weinten sie.

Der Morgen wollte grauen, Hans schrak auf. »Du mußt fort, sie werden dich suchen.« Balrich bewegte gleichgültig die Hand. »Wohin? Es ist unnütz.«

»Mein Rock dort, nimm das Geld heraus –«

Hans stockte; die Miene des Freundes erinnerte ihn daran, welches Geld er meine. »Gib es deinem Vater,« riet Balrich. »Dein Vater ist dein Freund.« Da er den Mund des Knaben zucken sah: »Willst du nicht heim?« Der Knabe senkte den Kopf, er schämte sich; aber er ließ es zu, daß Balrich ihn ankleidete.

»Schicke hin,« sagte er ihm ins Ohr. »Die Soldaten werden abgezogen sein und der Heßling noch nicht zurück.«

»War er denn fort? War gar nicht dort in der Nacht?« Balrich lachte auf. »Wir hätten es wissen können, wir Stürmer.«

»Er ist schlau,« sagte der Knabe; »wenn du ihm begegnest, hüte dich.«

»Jetzt kommt er zurück? Schon gut, ich gehe. Deine Leute werden dich holen. Lebe wohl, mein Bürschlein, mache es gut.«

»Mache du es gut,« sagte Hans Buck tiefernst. Sie schüttelten einander die Hände, wie Männer, die weiter nichts sagen müssen.

Balrich schickte ein Kind zu dem Vater des Verwundeten; dann ging er hinüber nach der Brandstätte. In den Trümmern bewegte sich nur der Rauch; er sah umher. Die Nacht des Aufruhrs hob sich von diesen Trümmern, dieser Leere, – die Streikenden versteckt, fortgekrochen auch Dinkls, aber Klinkorum dahinten stand mit den Armen kreisend als leere Windmühle vor all dem Seinen. Balrich ließ ihn laut in die Luft plappern, er suchte in den Bäumen an der Straße nach einem Versteck.

Hinaufsteigend in die Krone, erkannte er sie. Dies der Ast, an dem er einst sich erhängen wollte. So hatte es angefangen, und hierher führte es zurück. Was dazwischen lag, war Kampf, Prüfung, Erliegen und Aufstehn, Kampf bis aufs Messer und bis zum bittern Ende. Du hast es vorausgesehen damals, Armer, das Ende sei die Verzweiflung. Wärest du doch gegangen, schon damals! Jetzt ist es schwer; das ganze Leben, das du erlittest seitdem, tobt jetzt in dir und sträubt sich gegen den Griff deiner Hand. Stirbst du, muß es im Kampf sein, und der Feind muß mit!

Er spähte durch die kahlen Zweige. Damals wogten die Kronen und entsandten den lauen Duft ihrer Blüten. Der Verzweifelte fühlte: »Mir duften sie nie mehr. Ich soll es nie wieder warm haben, nie wieder satt sein, kein Weib mehr lieben.« Er entsann sich, nun er am Äußersten war, nur seiner Sinne noch. Wirf es hin, lauf, rette dich, lebe! Da erscholl der Schritt.

Heßling ward sichtbar, weit hinten unter den letzten Bäumen, auf der Straße allein. Balrich hielt sich bereit, er prüfte den Revolver. Aufgepaßt, keine Schwäche mehr! Das ist der Mensch, der dir einzig im Weg stand. Hat dich zum Hungern bringen wollen und zum Wahnsinn. Ein Dieb solltest du sein, ein Zuhälter, solltest gefangen werden und in Schanden untergehn. Bin hier, aufgepaßt, bin hier! – und er legte an. Aber der Heßling verschwand.

Hinter dem Baum dort mußte er stecken! Balrich sprang herab; die Waffe ausgestreckt, rannte er; – da stak er fest. Noch dachte er, er sei gegen ein Hindernis gerannt, zappelte noch und wollte weiter. Dann erkannte er, von jeder Seite hielt ihn ein Mann. Ein dritter entwand ihm schon den Revolver; ihm ward es klar, hinter jedem Baum hatte einer gestanden. Es war wie ein Traum, weithin kamen welche hervor; – und erst als er vorn und rückwärts ganz zweifellos beschützt war von bewaffneten Gestalten in Zivil und mit schlechten Gesichtern, verließ auch Heßling seine Deckung. Gebläht, gehoben, die Wangen nicht mehr hängend, die Augen nicht mehr matt, mit Kraft geladen wie je, schritt er durch das Spalier seiner Garde los auf seinen ohnmächtigen Attentäter. Da war er, der Mensch, der ihm den Schlaf genommen, ihn verfolgt und krank gemacht, in gottloser Vermessenheit angetastet hatte sein Heiligstes, Besitz und Macht, – da war er zwischen Detektiven, die Handgelenke kräftig gepackt, und hier halfen keine finsteren Brauen mehr, man hätte ihm können in das Gesicht spucken.

Indes aber der Sieger den Anblick genoß, stieß der Besiegte rauh aus: »Lassen Sie mir die Waffe zurückgeben! Ich will mich töten!«

Gelächter der schlechten Gesichter. »Und wen noch?« fragte der Generaldirektor fein. Balrich stieß aus: »An Ihnen liegt mir nichts mehr. Nur mich!«

Der Generaldirektor sagte herablassend: »Mensch, ich hätte Sie nicht für so dumm gehalten. Sehen mich allein, zu Fuß daherkommen und denken in kindlicher Unschuld, dahinter steckt nichts. Wenigstens haben Sie jetzt einen wirksamen Abgang.«

Balrich maß ihn. »Sie wollen großtun? Ihren Sohn haben Sie nicht so gut bewachen lassen. Ihren Sohn hätte ich abschießen dürfen und mich damit erledigen.« Er sah ihm in die Augen. »Sie rechneten damit.« Worauf Heßling auswich. Auf einmal schien er nicht mehr so zielbewußt, – sah die schlechten Gesichter an, tat schon den Mund auf, damit sie sein Opfer abführten; aber dann entschloß er sich anders.

»Wollen Sie vernünftig sein?« fragte er, nahe an Balrich. Der Besiegte sagte: »Was ich getan habe, ist vernünftig.«

»Ich habe mit dem Mann zu reden,« herrschte der Generaldirektor. »Aber legen Sie ihm Handschellen an.« Dies geschah; darauf Balrich: »Ich mit Ihnen nichts, oder Sie lassen mir die Hände freimachen.«

Der Generaldirektor wehrte sich, aber Balrich sprach ihm zu: »Wozu soll ich Sie eigentlich beseitigen. Sie kommen doch mit, wohin ich gehe, auch ohne Schießen.«

»Drohen gilt nicht!« rief der Generaldirektor, aber er bat die Herren, dem Menschen die Handschellen vorläufig wieder abzunehmen. Er begab sich sogar mit ihm abseits, hinter einen Trümmerhaufen der Villa Klinkorum. Die Organe der bürgerlichen Ordnung sahen es mit Staunen, der Generaldirektor trat in vertrauliche Verhandlungen mit seinem Attentäter.

»Augenblicklich lassen Sie mich frei!« verlangte Balrich.

»Augenblicklich geben Sie mir den Brief!« heischte Heßling. Balrich bemerkte: »Also zweifeln Sie doch, daß er mit verbrannt ist?«

»Gellert schwört ihn ab,« raunte Heßling. »Hat ihn nie gesehen. Ich will es ihm raten, nach seinen Seitensprüngen mit der kleinen Dinkl. Vor seiner Abreise habe ich ihm den Brief bezahlt, was er wert ist. Behalten Sie ihn ruhig.«

»Und die Arbeiter?« fragte Balrich. »Die alles wissen aus seinem Munde? Und die Sie, Mensch, betrogen haben mit der Gewinnbeteiligung?«

»Von meinem Sohn haben Sie Geld erpreßt;« – leise, hastig.

»Ihr Dasein, Heßling, ist eine einzige Erpressung.« »Redensart der Tribüne! Aber ein Mordversuch, mein Lieber …«

»Wie viele wollten Sie ermorden, als Sie dem Klinkorum sein Haus anzündeten?«

Dem Generaldirektor verschlug es den Atem. Inzwischen stieg aus seinen Trümmern Klinkorum hervor, beschmutzt und zerrissen, in den Händen eine Flasche. Mit einem großartigen Lächeln begrüßte er seine Gäste. »Auf gerettetem Kahn,« sagte er und zeigte die Flasche her. »Die Herren belieben?« Da sie nicht antworteten, tat er selbst einen langen Zug. »Die Gastfreundschaft und das Studium,« sagte er, Atem schöpfend, »das war mein Leben.« Er versuchte sich aufzurichten, so majestätisch wie einst, und seine Zierden hervorzukehren, die sieben Bartsträhnen, den Spitzbauch in dem klaffenden Wollhemd. Aber er wankte und zitterte. Dennoch schwang er die Flasche und sprach.

»Generaldirektor unser aller!« rief tönend Klinkorum. »Sie haben gezeigt, wer Sie sind. Ich kann Sie nur hochachten und verehren. Sie sind die Ordnung. Sie sind die Macht. Sie sind die Herrlichkeit.« Klinkorum breitete, sich neigend, die Arme hin. Hierauf feierlich, getragen von seiner Erkenntnis: »Zu mißbilligen ist der Empörer! Die Welt kann nur bestehen in Strenge und Ungerechtigkeit. Bereit bin ich, auszusagen gegen ihn!«

Hier ging dem Generaldirektor vor Spannung der Mund auf. Klinkorum sah ihm hinein, nicht ohne Ironie; dann nahm er zuerst noch einen Schluck, worauf er leichthin schloß. »Oder es wenigstens für mich zu behalten, wer es war, der wie ein Hase davonlief, als mein Haus brannte.«

Auch dies befriedigte den Generaldirektor. Er bekümmerte sich nicht weiter um Klinkorum; denn erschöpft setzte Klinkorum sich auf seine Trümmer und nahm nicht mehr teil. Er raunte wieder nahe an Balrich: »Sie haben verstanden?«

»Aber Sie nicht,« sagte Balrich. »Der tote Jauner redet noch weniger als der abgebrannte Klinkorum. Aber darum sind Sie noch immer geliefert.«

»Mensch, was wollen Sie!« Der Generaldirektor fing heiser zu kreischen an. »Ihre Rechnung stimmt. Erpressung! Aufruhr! Mordversuch!«

»Ihre!« schnob Balrich. »Enteignung! Betrug! Brandstiftung!«

»Sollten sich die beiden Rechnungen nicht ausgleichen?« fragte jemand. Der Rechtsanwalt Buck, sie hatten ihn nicht kommen gesehen. Das Auto hielt auf der Straße.

»Ich habe meinen Sohn schon geholt,« sagte Buck zu Balrich; und zu Heßling: »Auch Hans hat etwas abbekommen heute nacht … Genug, ich hörte die Herren verhandeln und biete meine Dienste an.«

»Werden nicht benötigt,« herrschte der Generaldirektor und sah sich drohend nach seinen Leibwächtern um. »Meine letzte Antwort sind die Handschellen.«

Aber Buck fiel ihm in den Arm, mit einem unerwarteten Griff. Heßling erschrak. »Mein Hans sitzt im Wagen,« sagte Buck, leise und fest. »Er hat von seiner Wunde etwas Fieber, er spricht. Er spricht von einer Unterredung, die du eines Nachts mit deinen Söhnen gehabt haben sollst, vor deinem Kassenschrank. Ein Schwur soll sie beendet haben, ein Schwur von einem Brief und rauchenden Trümmern.«

Der Generaldirektor bäumte sich. »Ich zerschmettere euch!« schnob er. »Ich werfe euch auf die Straße.« Hierauf aber ward er kleiner und machte sich ohne Umstände wieder an Balrich heran. »Was wollen Sie noch?« fragte er sachlich. »Ihren Mordversuch könnte sogar ich nicht aus der Welt schaffen.«

»Dann bringe ich Sie wegen Brandstiftung ins Zuchthaus,« erwiderte der Feind, nicht weniger sachlich. Der Generaldirektor verfiel zusehends. Sein Schwager Buck breitete die Arme aus, um ihn aufzufangen, da hauchte er: »Was macht das Zuchthaus Ihnen. Aber mir!«

»Die Herren sind beide zu weit gegangen,« bemerkte der Rechtsanwalt. »Von ihrem Recht zu siegen überzeugt, haben Sie, einer dem andern zuvorkommend, immer zweifelhaftere Kampfhandlungen begangen, und so stehen Sie nun da.«

»Ich habe ihn in der Hand,« beteuerte Balrich, den Arm ausreckend.

»Ich ihn,« schnob Heßling und reckte den Arm aus.

»Dann bleibt den Herren nur übrig, die Faustpfänder auszutauschen,« riet der Rechtsanwalt. Aber sie sträubten sich.

»Ich weiß mehr,« drohte Balrich.

»Ich kann mehr,« behauptete Heßling.

»Lassen Sie mich frei!« verlangte Balrich noch einmal. »Sonst kommen Sie mit mir.«

Da brüllte der Generaldirektor auf. »Kann ich denn? Sie soll ich laufen lassen, mit dem was Sie wissen, mit Ihrem Brief, mit Ihren Plänen gegen mich? Lieber gleich ins Zuchthaus … Bleiben Sie hier und kuschen Sie, dann wollen wir sehen.«

»Lieber ins Zuchthaus,« sagte auch Balrich. Jetzt nahm der Generaldirektor die Zuflucht zu seinem Schwager. »Ich verspreche dir –« sagte er dringlich. »Berede ihn! Er soll hierbleiben – nahe bei mir – in Gausenfeld – wie immer. Im Arbeiterhaus dort, im Haus B, als Arbeiter. Er soll wieder arbeiten in der Fabrik, unter meinen Augen. Sonst bin ich keine Stunde mehr meines Lebens sicher. Berede ihn!«

Und Buck, der gesonnen hatte, machte sich auf. Watschelnd ging er auf Balrich zu, nahm ihn beim Arm, und im Bogen einherwandelnd mit ihm, sprach er. Heßling inzwischen saß auf einem Trümmerhaufen, gegenüber Klinkorum.

Balrich hörte zu, wollte nicht mehr hören, und mußte doch weiterdenken, was er vernahm von dieser befreundeten und unerbittlichen Stimme. Er mußte denken, des Kampfes sei es genug und gut wäre der Friede … Aber alles umsonst gewesen, das erworbene Wissen, die verbrauchte Kraft! Aber zurück, dorthin wo du anfingst! Kann es sein? … Buck sagte: »Ja. Sie hoffen nicht mehr, zu siegen über Ihre Feinde, die Reichen. Sie könnten nur noch erwerben und hinaufgelangen in ihren Diensten, als Mitwisser, Helfershelfer –« Buck bewegte den Finger, unbestimmt wohin, vielleicht auf seine Brust? »Als Verräter,« schloß er. Balrich sagte noch:

»Und immer ein Besiegter? Nie anders leben bis zum Tode, als im Schatten dessen, der die Macht hat?«

Da sagte Buck und lenkte schon ein, auf den Generaldirektor zu:

»Die Macht – das ist mehr als Menschenwerk; das ist uralter Widerstand gegen unser Atmen, Fühlen, Ersehnen. Das ist der Zwang abwärts, das Tier, das wir einst waren. Das ist die Erde selbst, in der wir haften. Frühere Menschen, zu Zeiten, kamen los aus ihr, und künftige werden loskommen. Wir heutigen nicht. Ergeben wir uns.«

So ging denn Balrich heim, in das Haus B. Nur über eine Wiese brauchte er zu gehen. – –

An der Maschine stand wieder der Arbeiter Balrich, aß wieder das Brot des Heßling, um Kraft zu haben für den Heßling. Vor sechs, den Rockkragen hinauf und los, den fröstelnden grauen Weg nach der Fabrik, zu Hunderten schweigend und trabend, Trab hinter sich, vor sich, in sich, Trab wie Maschinenlauf. Abgerackert zurück am Abend in seinem Zimmer, wollte er wohl einmal auch denken, sich erinnern, klarstellen; aber die vielen Geräusche des Hauses übertönten, wie einst, bei weitem seine Gedanken; und er fand es gut. Gut, einzuschlafen, gut, still zu sein. Nicht länger ein arbeitender Kopf, von dem die Chimären das Fleisch nagen. Nur Arbeit unserer Hände bezwingt den Sinn des Lebens, so daß er weniger furchtbar wird. Der Arbeiter Balrich heiratete das Mädchen Thilde, nahm sie zu sich mit ihrem Kind, ihrer Mutter, und ernährte sie alle.

Von da an saß er auch wieder in der Kantine mit den Genossen. Sie sahen endlich, er war ganz wie sie, niemand mußte vor ihm sich zurückhalten. Dennoch erfuhr er weder Feindschaft noch Undank. Er fühlte, dankbarer sind sie mir jetzt, da es vergebens war. Ein Händedruck sagte ihm manchmal, es ist in Ordnung mit dir und uns. Wir lieben uns, verraten uns, kämpfen, werden müde, ergeben uns. Wir haben viel gelernt, und vergessen es schon wieder.

Bei der Taufe ihres Kindes trug Thilde schon ein zweites. Balrich sagte: »Wir sind Proletarier,« – und als einziger verstand er das Wort. Da es ein Sonntag war, ging er und zog aus dem fichtenen Tisch seine lateinischen Bücher, die wenigen, die dem Brande Klinkorums entgangen waren. Er sah sie an, die Brust ein wenig beklommen, aber entschlossen, sie wegzutun und zu vergessen. Wem sie Kraft genug gaben, den Heßling zu besiegen, der mochte sie lesen. Du hast es doch versucht, durfte Balrich sich sagen. Hättest du sie gelesen wie Klinkorum, du lasest sie fruchtlos und zu Unrecht. Das Wissen, das nicht hilft, ist eitel und schlecht. Der Geist, der nicht handelt, ist strafbarer als die Tötung keimenden Lebens. Wer denkt, soll auf das Glück der Menschen denken.

Er hatte sich ergeben, – aber einmal schrieb Leni. Gleich der Duft des noch geschlossenen Umschlages rührte alles auf in dem Bruder. Was ist aus ihr geworden? Du bist schuldig, du hast sie verlassen. Für sie mußtest du weiterkämpfen … Aber ihr ging es gut, sogar glänzend, behauptete sie. Ihr Verkehr in Berlin waren Baroninnen, und sie ging zum Theater. Er dachte zurück. Kampf ist Kampf, dem Elend entrinnst du auch so nicht, ohne Blut zu lassen. Ich hätte ihr ein leichteres Leben zugedacht … Der Glanz aber, schrieb sie, freue sie nicht mehr, gedenke sie ihres lieben Karl. Die Worte warfen ihn nieder, mit der ganzen Wucht eines verfehlten Lebens. Fremd hier bei Frau und Kind, und alles verloren! Da weinte er, bis sie ihn fanden.

Weggesteckt den Brief, – aber als er ihn später noch einmal las, begegneten ihm Wendungen, die er nicht recht erfaßte. Dahinter stand wohl eine unbekannte Welt, wie damals im Theater hinter den schwierigen Reden der Schauspieler. Villa Höhe nannte sie »Provinz«, und sein höchster Traum für sie war einst doch Villa Höhe. Wie nannte sie heute wohl ihn selbst? »Schließlich hat jeder sein Leben. Sie hat ihres, und dies ist nun meins.« Er schrieb ihr plump, sie solle sich nur Geld sparen, das lustige Leben werde auch nicht immer dauern.

Darauf antwortete sie nicht mehr; und er, wenn er dachte, jetzt seien es drei, jetzt sechs Wochen, dachte hinzu, es müsse sein. Sie dort oben wird immer höher steigen, du hier unten sinkst täglich weiter zurück. Was ihr noch wißt voneinander, soll immer weniger werden. Fünfzig Jahre könnt ihr fortleben, – Zeit genug, um zu vergessen, wie es war, als du sie, die um die ganze Welt getanzt hatte, auf deinen Armen einst trugst durch den Staub der Landstraße. Sieh, du weinst schon nicht mehr.

Aber träge floß das Leben. Des Kampfes, der doch beendet und verloren ist, vergißt du nicht und rufst ihn zurück in Sommer und Frieden. Er ist noch da, eine geheime Unruhe erfüllt die Luft. Was fern liegt, rückt herbei und läßt dich auffahren, als wollte dir einer an Weib und Kind. Rußland! das ist der Feind. Frankreich! England! das ist er. Wer fragt noch nach Heßling. An Heßling konnten wir nicht hinan, – mit ihm denn gegen die, die uns überfallen! Dort winkt der Sieg. Krieg muß sein, damit endlich wir Armen das Glück erraffen, das kein Kampf des Lebens uns bringen wollte. Heßling zahlt bis 80 Prozent unserer Löhne an die Familien der Einberufenen. Was Proletarier, was Bourgeois, – das Vaterland! Dem Generaldirektor lag es schon längst im Sinn, beizeiten hat er seine neuen Maschinen aufgestellt. Jetzt machen sie Munition.

Einberufen unter den ersten! Balrich, Dinkl, alle sahen den hohen Tag der Erfüllung, als wir ausrückten. Durch beflaggte Straßen, Feldküchen säumten sie, eine Mutter trug uns Blumen nach oder Würste, in der kleinen roten Faust unserer Schwester hing unser Köfferchen, und sie weinte in ihre Schürze, indes wir sangen. Wir sangen und hatten auf dem Helm einen Kranz. Wo unsere Regimentsmusik um die Ecke bog, flogen die Straßen entlang alle Fenster auf. Die Autos hielten und ließen uns vorbeimarschieren. Auch am Bahnhof hängen Fahnen und Kränze. Werden wir noch einmal die sehen, die uns suchen? Wo ist Thilde?

Einsteigen, es kostet nichts. Das Bürschlein ist da, es hat helle, aufgerissene Augen, hat sich freiwillig gemeldet, es wird nachkommen. »Paris dürft ihr nehmen, bevor ich dabei bin, aber London noch nicht! Bitte, noch nicht!« Dinkl macht Witze und faßt schon die zweite Tasse Fleischsuppe umsonst von einer Dame. Noch kommt Thilde nicht. Welch ein Gedränge! Wer einander nicht am Arm hat, findet sich nie wieder. Die Züge entlang Haufen Gepäck, für Beförderung keine Garantie. Geschrei aus den Zügen: »Sie, Herr Leutnant, nun sorgen Sie doch bitte dafür, daß wir abfahren, wir wollen die Kerls verdreschen.« Die Bande gelöst, Tränen und Lachen in einem, Prahlerei und Herzweh, Pfiffe gellen, ein Zug fährt ab, jemand liegt unter den Rädern, – keine Garantie; und auch die Unordnung wirkt begeisternd und selbst das Elend. Wo bleibt Thilde? Auf einem Sack sitzt, den Rücken rund wie ein Pilz, eine Greisin, sauber und arm, und ringt die Hände: »Ich hab' ihn nicht mehr gesehn.« Balrich weiß, wen: Herbesdörfer. Dahin ist er, keinen Spitzel wird er mehr vor die Gewehre werfen … Balrich reicht die Hand seiner Schwester Malli, nun los! Aber Thilde? Das Kind und Thilde?

Da, von der Stufe des Wagens her, erblickte er Thilde, seine Frau, und sie ihn. Er ward bleich, schon wie der Tod, so sah sie ihn. In ihrem braunen Tuch, mit ihrem hohlen grauen Gesicht, auf dem Arm das Kind und neben dem blonden Haar des Kindes das ihre verstaubt, eine alternde Arbeiterin, so sah er sie. Er winkte; keine halbe Minute mehr! Mit ihrem gewölbten Leib hastete sie beschwerlich hindurch. Er winkte, auf einmal fühlte er: keine halbe Minute mehr, und so vieles drängt. Ich habe sie nicht genug geliebt, nicht genug die Armut geliebt, unser einfaches Menschentum, das ebenso gut wie schlimm ist, – wollten wir nur nicht hart sein, nicht schonungslos begehrlich, alle, die von oben und daher auch die von unten, die Schlechten unter uns und auch wir Besseren. Er fühlte: »Keine halbe Minute mehr, und versäumt ist, so sehr ich auch kämpfte, das wahre Leben, das nur Vernunft und Güte ist. Wir planten Kampf, suchten Kampf, lebten Kampf, schon längst bevor wir in diesen Kampf ziehn. Auf Feindschaft waren wir gestellt, und finden nun Feinde. Ich hatte teil an meiner Zeit und büße für sie. Dies ist das Ende.«

Nun trafen sich ihre Hände. Die Räder, langsam und unwiderruflich, machten die erste Drehung. Ein Kuß dem Kind, und ineinandergeschlossen die beiden harten Hände, diese Sekunde noch und noch diese. Er sagte, dringend vorgebeugt:

»Alles wird besser, wenn ich wiederkomme.« Sie, nachhastend, die Angst des ganzen Lebens in ihrem Gesicht und in der Stimme keinen Trost, sagte:

»Wenn du wiederkommst.«

 


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