Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.
Der Arbeiter und das Bürschlein

Zweitnächsten Sonntag kamen die Familien Dinkl und Balrich mit dem Neugeborenen Mallis über das Feld zurück von Beutendorf, wo es getauft war. Alle gingen geradeswegs in die Kantine und tranken, der Säugling an der Brust. Sie saßen an einem langen Tisch und noch allein. Als andere Gäste eintraten, hatten sie schon zu Mittag gegessen und waren aufgeräumt. Der Großonkel Gellert, vertrocknet unter seinem schwarzen Gehrock und mit dem Grinsen im Bocksbart, vollführte einen Tanz, verbunden mit Händeklatschen und Gestampf, um seine Nichte Leni her. Er behauptete, draußen irgendwo Derartiges gesehen zu haben.

Dann fiel er freilich auf die Bank und blies mühsam aus seinen Hängebacken. Indes ringsum Lärm war, beobachtete Karl Balrich gespannt das Wackeln des Alten und seinen Blick, der sich greisenhaft verglaste. Plötzlich, das Auge auf ihm, raunte er ihm zu: »Onkel, was war es damals, mit dir und Heßling?«

Gellert starrte verständnislos. »Damals?« fragte er. Balrich nickte fest.

»Mit dir und – du weißt schon.«

Denn er hatte sich entschlossen, ins reine zu kommen mit dem Geschwätz von neulich. »Was fehlt viel, und ich wäre, was er ist,« hatte der alte Tunichtgut gesagt, von sich und dem Generaldirektor. Geschwätz, dachte Balrich, so oft es ihm einfiel, und doch fiel es ihm ein. Jetzt wartete er, bis der da kam, – und schon kam er. Er begriff, fuhr auf und fragte zitternd:

»Hab' ich denn geschwatzt?«

»Du hast schon zu viel gesagt,« erklärte Balrich. »Jetzt sag' auch den Rest!«

»Weiß schon jemand?«

»Von mir kein Mensch. Bist du aber nicht offen mit mir –«

Der Alte winkte beschwörend. »Lieber du als die anderen. Du bist der tüchtigste. Dein Onkel leider war nicht tüchtig.«

Das sei ihm bekannt, sagte Balrich barsch. Er hatte keinen Sinn für Familienmitglieder, die mit siebzig Jahren ihren Neffen wohl etwas Erworbenes hätten mitbringen können, und statt dessen fielen sie ihnen noch zur Last. Auch der Tanz vorhin um Leni her hatte ihm mißfallen.

Der Alte blinzelte erregt. Aus Furcht vor dem Neffen ließ er alles fahren.

»Konnte man denn wissen, damals?« Man hat einen alten Freund, Kriegskameraden, Fechtbruder. Mein Strohsack, dein Strohsack, meine Laus, deine Laus; und auch die Sparpfennige immer auf demselben Brett. Manchmal waren es Taler. Und als der eine im Städtchen bleiben will, sein Handwerk treiben und Meister werden, läßt der andere ihm, bis er wiederkommt, seine Taler.

»Das warst du?«

»Gott sei es geklagt.«

»Und der die Taler nahm, war der alte Heßling.«

»Und der sie auch behielt. Verstehst du wohl?« wisperte Gellert. Balrich hob die Schultern.

»Würdest du sie sonst noch haben?«

Da griff der Alte mit Leidenschaft um die Tischkante und rief in der Fistel:

»Nicht die Taler, meinen Anteil an Gausenfeld würde ich haben!«

Kaum ausgesprochen, verfolgte er das Wort auf den Gesichtern der Nächsten. Sie hatten in ihrem Lärm es nicht gehört. Balrich seinerseits wendete sich unwirsch weg. Das war einmal der Mühe wert, um solch ein Gefasel noch nachzufragen. »Mit deinen vier Talern hat er also Gausenfeld gegründet?«

Gellert zischte. »Es waren aber vierhundert weniger vier. Ja doch! Und alles war von einer Meisterin, bei der ich gearbeitet hatte – gearbeitet, du weißt schon wie. Mit dem Pinsel, womit ich anstrich, würde ich beileibe das nicht verdient haben.«

»Unehrliches Geld,« sagte Balrich. Der Alte meckerte.

»Sie hat es hergeben müssen, sonst holte sie der Teufel.«

»Und der Heßling wußte davon.«

»Vielleicht nicht?«

»Auch ein Lump.«

Gellert ward ernst und verweisend.

»Er hatte es nicht selbst getan. Er war sogar ein strenger Mann. Auch er nannte mich Lump.«

»Wenigstens gab er dir einen Schuldschein.«

»Das mußte er nicht.«

Balrich schob den Kopf vor und sagte dem andern nahe in das Gesicht: »Jetzt hab ich genug von deinen Räubergeschichten.«

Hier fing der Alte zu weinen an. »Ich war es doch,« schluchzte er, »und du willst sagen, ich war es nicht.«

Er stieß Dinkl an und auch Herbesdörfer, bis sie ihm zuhörten.

»Ein Schuldschein, zwischen alten Kriegskameraden und Fechtbrüdern? Habt ihr das erlebt?«

Da sie nicht begriffen, erzählte er nochmals das Ganze, begegnete auch ihren Einwänden und schwor, noch immer sei sein Geld ihm geschuldet. Warum er es nicht zurückgefordert habe? Als er wiederkam nach mehreren Jahren, war es nicht mehr da. Vielmehr, es steckte im Geschäft.

»Es steckte im Geschäft? Kannst du das beweisen?«

»Ob ich es kann! Der alte Heßling hat mich doch bei der Hand genommen in seinem Kontor in Gausenfeld und hat mir alles vorgerechnet.«

Balrich sagte, grabenden Blickes:

»Gausenfeld hat dem alten Heßling nie gehört. Seine Fabrik stand in der Meisestraße.«

Gellert ward wild.

»Meisestraße oder Gausenfeld, ich sehe ihn noch an seinem Pult beim Fenster, er kratzte sich hinter dem Ohr und rechnete. Ich sollte nur warten, bald würde ich anfangen, mit zu verdienen.«

»Du siehst ihn. Hast du sonst keinen Beweis?«

»Daß er auf seinem Pult einen Tintenwischer hatte, und der war ein Mohrenkopf.«

Dinkl fragte ernsthaft:

»Wielange ist das nun her?«

»Auf den Schlag vierzig Jahre!« schrie Gellert.

»Das ist Zeit genug,« sagte Dinkl. »Inzwischen hat der Mohrenkopf vielleicht das Reden gelernt und kann für dich zeugen.«

Da er selbst sehr lachte, wandten die anderen Gäste sich her und wollten hören. Dinkl schickte sich auch an, ihnen seinen Witz zu erläutern; Balrich aber verbot es ihm leise und kurz.

Der alte Gellert sank wieder in sich zusammen, und beim Weggehen hatte er nur noch die Sorge, daß niemand weiter von der alten Geschichte erfahre, besonders die Weiber nicht. Dinkl meinte zwar, es sei zu komisch, man dürfe es nicht für sich behalten. »Onkel Gellert Teilhaber von Heßling auf Gausenfeld! Generaldirektor Gellert!« kreischte er und tanzte auf einem Bein, – indes der Alte mit blutunterlaufenen Augen dabeistand wie ein bittender Hund. Aber Balrich verlangte dringend, daß kein Wort laut werde. Ob Dinkl einen alten Arbeiter, der sich in der Fabrik mit Anstreichen ein Stück Brot verdiene, ins Elend bringen wolle. Dinkl erklärte sofort, wenn Onkel Gellert seine Arbeit verliere, werfe er selbst die seine hin, und streiken sollten dann alle!

Dennoch hatte Dinkl jetzt immer, wenn er den Alten sah, einen heimlichen Rippenstoß für ihn. »Wann lassen wir uns denn unsere Dividende auszahlen?« fragte er, und der Alte sah sich nach allen Seiten um wie ein Dieb. Eines Tages aber, in einem Winkel des großen Hofes in Gausenfeld, als er vor dem Schichtmachen sein Gerät ordnete, stieß auch Balrich ihn so an und raunte:

»Du hast wohl noch Zeit bis zur Abrechnung?«

Da entsetzte sich der Alte, und wie gerade ein Schub Arbeiter aus dem Tor kam, glitt er hinein und drückte sich. In diesem Augenblick ward es Balrich zum erstenmal gewiß, Gellert rede wahr, das mit dem Geld sei wahr.

Er hätte es nicht geglaubt, – obwohl er jetzt jede Nacht darüber nachdachte. Noch nicht in der ersten; die Zweifel näherten sich langsam, nahmen immer mehr Schlaf und wurden schwerer, eben von der Schlaflosigkeit. Da er nun gewiß war, schlich er, anstatt zu seinem Mädchen, dem alten Gellert nach, der ihm auswich. Eines Abends nur traf er ihn bei Dinkls, ein reiner Zufall. Der Alte, leicht angetrunken, schien weniger ängstlich. Da trat Besuch ein, ein Herr in mittleren Jahren, recht dick schon, weiches Gesicht ohne Bart, weicher Hut, der Gang etwas einwärts, – und hast du nicht gesehen war Gellert fort. Es ging so schnell, im Schatten die Wand hin und ab, daß der Herr sich nicht einmal umsah.

»Ich bin der Rechtsanwalt Buck,« sagte er. »Guten Abend, ich bringe Ihnen, was sonst meine Frau Ihnen bringt. Sie ist nicht wohl.« Und mit zarter Hand legte er neben Malli, die das Kind stillte, einen verschlossenen Umschlag.

Dinkl erwies sich gewandt, räumte die Kinder fort und machte dem Herrn Rechtsanwalt so viel Platz, als genügte seinem Umfang das ganze Zimmer nicht. Buck ließ sich wohlwollend auf den gebotenen Stuhl, hatte einen gerührten Blick für Malli mit dem Säugling, einen bewundernden für Leni, die die Brust herausstreckte, einen erstaunten über die Kinderschar hin, dann seufzte er und fragte mild und etwas fett:

»Wohnen Sie hier gut?«

Niemand antwortete. Selbst Dinkl hatte die Fassung verloren. Der Schwager des Herrn Generaldirektors fragte: »Wohnen Sie hier gut?« – anstatt nur hinzuwerfen, daß sie glänzend wohnten! In der Stille traf Buck auf die gefalteten Brauen Balrichs. Seine Augen prallten zuerst ab, dann suchten sie um so eindringlicher die des Arbeiters, – dessen Gesicht sich ein wenig entspannte unter dem braunen, weich glänzenden Blick. Buck sagte sanft:

»Lieber möchten Sie natürlich auf Villa Höhe wohnen.«

Und als sei dies noch nicht genug des Unerhörten, hob er seine schweren Schultern und sagte ergeben:

»Begreiflich, aber was kann man machen.«

Es klang, als bewohnte er selbst, mit seiner Frau und seinem Sohn, nicht einen ganzen Flügel von Villa Höhe, sondern allenfalls ein Kellerloch.

Dann stand er auf, gab allen die Hand, ohne irgendeinen dabei anzusehen, und entschwand ihnen, langsam und einwärts. Die Meinung Mallis und Dinkls war: »Ein armer Herr!« Leni blies nur geringschätzig durch die Nase. Balrich schwieg, und er blieb nicht mehr lange.

Zwischen dem Onkel Gellert und diesem Buck gab es einen Zusammenhang, – und was sollte er betreffen, wenn nicht die alte Geldgeschichte. Balrich zweifelte nicht, er ließ sich in der Kantine ein Fläschchen mit Schnaps füllen und ging damit durch die rückwärtige Gartenpforte der Villa Klinkorum, zu dem Anstreicher. Der Schnaps freilich erwies sich als zwecklos, denn Gellert saß schon vor einer Flasche und war nun soweit, daß er sich ganz allein etwas vorsang. Beim Erscheinen Balrichs sang er:

»So dumm ist der alte Gellert noch nicht. Das hast du gedreht!«

Was er gedreht habe, fragte Balrich. Das Zusammentreffen mit Buck sei kein Zufall gewesen, behauptete Gellert. Ihn aber gehe der Buck nichts an. »Wie soll ich ihn kennen. Als ich einmal bei seinem Vater war, trug er noch Röckchen.«

»Aha. Bei seinem Vater.«

Gellert, stark erschrocken, bot Schnaps an.

»Sein Vater ist doch tot,« sagte er, den Blick auf dem Glas. »Was willst du von ihm. Damals freilich wollte jeder etwas von ihm. Er war der mächtigste Mann in der Stadt, noch zu meiner Zeit und der Zeit des alten Heßling. Der junge Heßling dann –«

Er strich sich mit der gestreckten Hand über die Kehle.

»– ist mit ihm fertig geworden. Hat ihm sein Geld genommen, seine Aktien, seine Würden, und stellt nun mehr vor als je der alte Buck.«

»Der junge Buck aber – ist ein armer Herr,« sagte Balrich, finster grübelnd. Gellert kicherte.

»Hat sich zuerst abschlachten, dann heiraten lassen. Nicht das gesundeste Schwein hält das aus.«

Balrich rückte näher.

»Onkel Gellert, du mußt jetzt loslegen.«

Da der Alte sich duckte, faßte er ihn beim Arm. »Das hilft dir nicht mehr. Ich weiß schon zu viel. Und dann bin ich dein Großneffe. Wer wird wollen, daß du reich wirst, Onkel Gellert? Der, der dich beerben soll – wie?«

Der Alte zwinkerte von unten.

»Glaube doch nur nicht, daß da etwas zu machen ist. Hast du eine Ahnung, was für eine Laus du bist gegen Heßling?«

»Sage mir, was du mit dem alten Buck gehabt hast. Vielleicht wächst die Laus.«

Seine Faust rüttelte an den Alten, bis er sich entschloß. Ja, bei dem alten Herrn Buck war er damals gewesen, in dem alten Haus in der Fleischhauergrube, mit den Stufen, die abgewetzt waren von den Füßen der ganzen Stadt. Der Vertrauensmann der ganzen Stadt sollte ihm zu seinem Geld helfen. »Das Seine hat er getan. Er hat sich den Vater Heßling kommen lassen, und Heßling hat ihm auch geschrieben.«

»Auch geschrieben!« rief Balrich unterdrückt.

»Hat ihm schriftlich gegeben, daß in seiner Werkstätte mein Geld stak und daß ich mitverdienen sollte.«

»Wo ist der Brief?«

»Die Abschrift vom Herrn Buck habe ich,« – und Gellert entnahm sie der Kommode. »Er hat sie mir nachgeschickt auf die Wanderschaft und hat mich vertröstet. Mein alter Kriegskamerad Heßling sei schwer bedrängt, und sonst noch allerlei.«

Balrich las schon, gierig versenkt. Zurückkehrend seufzte er.

»Das ist eine Abschrift, die muß keiner uns glauben. Wo ist der Brief selbst?«

Der Alte grinste.

»Der Brief meines alten Kriegskameraden? Gewiß in den Papieren des Herrn Buck. Das ganze Haus war voll von Papieren.«

»Und die Papiere?«

Der Alte kam grinsend näher.

»Heimlich habe ich umhergehört.«

Plötzlich zerrte er an seinen Knöpfen, riß sich die Kleider auf bis zur nackten Brust. Sein Gesicht zerteilte sich in violette Fetzen, und auf heulte er:

»Aus! Der Junge hat sie verbrannt.«

Balrich rührte sich nicht. Gellert begann allmählich, sich wieder zuzuknöpfen. »Noch ein Gläschen,« sagte er.

Balrich trank aus.

»Dann kann ich nach Haus gehen.«

Unter der Tür fiel er gegen den Pfosten, kam aber gleich wieder auf.

Er ging nicht heim, sondern die Straße nach Villa Höhe. Die Linden dufteten, ein warmer Wind schlug ihm entgegen. Sommer war geworden aus dem dürren Frühling, in dem er angefangen hatte zu leben, – zu hoffen, zu wollen, zu leben. Sollte dies aus sein jetzt, nie hätte es dann anfangen dürfen. Lieber tot, als alles wieder sein lassen wie sonst.

»So wird es nicht mehr!« rief er in die Nacht. Vorgebeugt gegen den Wind, machte er Fäuste und zerstampfte die Lindenblüten. Jetzt weißt du! Aufgedeckt war jetzt die Grube. Gestohlenes Geld, und Geld noch dazu, das ein alter Elendsgenosse auf schmutzige Art erworben hatte, dies war die Grundlage des Heßlingschen Reichtums. So sah die Grundlage eines großen Vermögens aus, Geschlechtsschande und Diebstahl. Dies ist das wahre Gesicht derer, die ihr enteignen werdet, Proletarier!

»Enteignen! Setzet mich und die Meinen, ehrliche Arbeiter, an die Stelle solcher Verbrecher! Wäre in der Welt nur ein Funken Gerechtigkeit, hier liefen alle zusammen, zeugten und hülfen. Statt dessen würden alle nur lachen über den armen Arbeiter, und schrie er zu laut sein verlorengegangenes Recht, ihn totschlagen für toll. Lieber gleich sterben! So ist es bestellt. Lieber gleich sterben!«

Er nahm sein Halstuch ab und suchte in den Bäumen nach einem passenden Ast.

Als er aber schon in einer Krone saß, vernahm er Stimmen, und von der Villa herab kamen zwei Gestalten, Herren, schien es. Wer sollte es sein? Nun, gut, Heßling und sein Schwager Buck sollten die ersten sein, die ihn hängen sahen … Er fand aber, dies wäre dennoch eine übertriebene Genugtuung für die glücklichen Verbrecher. Ihr Eintreffen war vielleicht ein Fingerzeig ganz anderen Sinnes.

So ließ er sie vorbei, stieg hinunter und folgte ihnen. Die Nacht war schwarz, und er schlich. Dennoch hörten sie ihn, wenigstens Heßling, denn er blickte sich mehrmals um und ward unruhig, wenn ein Leuchtkäfer ihn anglühte. »Er hat Furcht vor mir,« sah Balrich und freute sich. Er fühlte: Wer schon zum Sterben bereit gewesen war, der hatte und konnte viel mehr als diese reichen Schächer. Er hatte ein doppeltes Leben, und mit denen da konnte er Schindluder treiben. Balrich im Gebüsch tat einen Sprung, daß es knackte, und stieß dazu einen Laut aus wie ein Phantasieungeheuer, – worauf Heßling sich hinter einen Baum duckte. Buck blieb nur stehen und knipste mit den Fingern.

Dann gingen sie weiter, immer sprechend; und Balrich versuchte zu verstehen, soviel der warme Wind ihm übrigließ, der das meiste wegtrug. Eins war klar, daß Heßling seinen Schwager herunterputzte wie einen Tagelöhner. Er warf ihm den Weg in der Dunkelheit vor; das Volk sei verroht, es werde immer gefährlicher; und ihre Geheimnisse hätten sie sich auch anderswo sagen können … Welche Geheimnisse? Buck redete von ihnen nur leise. Darauf erinnerte Heßling ihn, um so lauter, an das Geld, das er von ihm bekomme, die Prozesse und Verhandlungen, die er für ihn führen dürfe.

»Solche nicht!« schrie plötzlich Buck, – worauf es eine Zeitlang still blieb. Balrich schlich noch leiser, von Nüchternheit ergriffen. Wie kam er hierher? Was hatte er gewollt, welcher Fingerzeig war ihm gegeben? Die Herren dort hatten ihre Welt, nichts wußte man. War, was ihm im Kopf saß, nicht ein Schwindel des alten Gellert? Oder er selbst hatte geträumt?

Aber die Herren stritten weiter – ein richtiger Streit. Heßling nannte seinen Schwager einen Schöngeist und Verteidiger in Majestätsbeleidigungsprozessen, den richtigen Sohn und Erben eines alten Achtundvierzigers. Sein Gesinnungswechsel sei ihm bezahlt worden, als Heßling ihm seine Schwester gab. Buck habe kein Recht mehr auf Widerstand, auf diese gewisse unernste Ironie, die das freundschaftliche Beisammenwohnen in Villa Höhe eines Tages gefährden und ihn brotlos machen könne … Worauf Buck von Manövern sprach, gewissenlosen Treibereien, einem Ende mit Schrecken, und wer bezahle dann?

»Wir nicht!« rief Heßling und lachte.

»Nein, alle,« rief Buck. Aber Heßling hielt ihm seine Schulden vor, da gab er klein bei.

Der Arbeiter hinter ihnen fühlte sich unheimlich verstrickt in eine Nacht der Verschwörungen, – und wer weiß welches Massensterben konnte hervorgehen aus dem tückischen Gemächt dieser beiden Bourgeois, die einander doch haßten! Denn einig sind sie nur gegen uns; untereinander möchten sie sich umbringen. Behandeln wir sie doch nur so, wie sie einander! Mut! und sieh, was für arme Menschen, die Furcht haben voreinander – und auch vor uns, wenn es Nacht ist und die Soldaten schlafen. Nur angreifen! Hast du gegen sie Waffen, und sei es die schlechteste, schäme dich nicht! Balrich dachte: »Ein armer Herr!« und meinte Buck. Der war der schwächere, zuerst an ihn! Einschüchtern, erpressen – was wäre denn unerlaubt gegen eine Verbrechergesellschaft.

Schon begannen die Laternen der Vorstadt, dem Heßling kam wohl der Mut, er sagte zu seinem Begleiter: »Magst du nicht weiter, keine Umstände!« Und Buck, nach einem Gruß mit dem Hut, kehrte allein um.

Balrich in langen Sätzen sprang zurück bis wo es dunkel war, und hinter Ästen, die er herabzog, wartete er. Es dauerte lange, Buck kam daher, watschelnd und barhäuptig, schwenkte seinen Hut und sprach mit sich selbst. Mehrmals blieb er stehen, und obwohl er den Wind im Gesicht hatte, wischte er sich den Schweiß. »Ich kann nicht länger!« sagte er, wie beschwörend. »Ich bin der am schwersten Belastete, der Verräter, Gott strafe zuerst mich!«

Da sah er auf, die Strafe nahte schon. Zweige schnellten, und ein Mensch trat vor ihn hin. Buck wartete; da der andere nichts äußerte, sagte er selbst: »Guten Abend.«

»Auweh,« dachte Balrich, »es ist gefehlt.« Und Zorn kam ihm gegen Dinkl, den Prahlhans, der behauptete, sie schliefen immer und mit einem Finger könne man sie umwerfen. Jetzt fragte Buck:

»Sie sind wohl erschrocken?« – und seiner milden Stimme war es anzuhören, daß er im Dunkeln ein spöttisches Lächeln aufgesetzt hatte. Balrich sagte heiser:

»Sie müssen sich nun bequemen –«

Weiter wußte er nicht. Undeutlich hatte er sich vorgenommen, sofort und auf der Stelle Geld zu verlangen und mit Skandal zu drohen. Buck erwiderte schließlich:

»Ich tue nie etwas anderes als mich bequemen. Sie wünschen also?«

»Alles haben Sie gestohlen!« schrie Balrich. »Sie gehören nicht dahin, wo Sie sind!«

Plötzlich brachte Buck ihm das Gesicht ganz nahe.

»Sie sind es also doch,« sagte er. »Ich habe öfter an Sie gedacht seit heute. Sie sind doch überzeugt, daß auch Sie nicht dorthin gehören, wo sie sind?«

Nach einer Pause:

»Sondern in die Villa Höhe?«

»Ich will mein Recht.«

»Ihr Recht. Nun ja. Gehen wir doch weiter!«

Im Gehen:

»Ich gebe zu, wir haben jeder gleich wenig Recht und fußen einzig auf dem Zufall. Daß ich nicht meinen Platz räume, ist Feigheit, leidige Feigheit. Möchten denn auch Sie so feig werden?«

Er hatte den Arm Balrichs genommen und stützte sich darauf. Seine Sprache ward klangvoll und bewegt.

»Sie sind ein junger Arbeiter und stehen vor dem Leben. Ihresgleichen kann weit kommen. Ich, ich bin ein verlorener Mensch. Könnte viel Unrecht verhindern und, wer weiß, dem Verderben Unzähliger in den Arm fallen. Aber der Augenblick kommt, da du Weichling das Herz nicht mehr hast. Verstehen Sie?« fragte er, stehenbleibend.

Balrich verstand, daß der da aus der Fassung war und hier im Dunkeln mit Dingen hervorkam, die nur ihn angingen. Ein armer Herr! Er machte seinen Arm frei.

»Was ich will, muß Sie nichts kosten,« sagte er hart. »Ich will Ihre Zeugenschaft und daß Sie den alten Brief herausgeben, worin geschrieben steht, daß das Geld des alten Heßling von meinem Onkel Gellert war.«

Buck zögerte nur kurz. Wieder mit seinem gewohnten Phlegma sagte er:

»Schon gut. Dann kommen Sie.«

Er ging voran. Balrich hinter ihm fühlte das Herz im Hals und fürchtete, nicht mehr mitzukönnen. War es denn wahr? Buck hatte den Brief? Und gab ihn einfach her? War dies Wahnsinn? War es eine Falle?

Er hörte nichts mehr. Erst als Buck ihm nachrief: »Wohin laufen Sie denn?« kehrte er um. Sie waren schon vor Villa Höhe. Ein dunkler Gartenweg. »Halten Sie sich an mich,« sagte Buck. »Ich gebe lieber nicht das Zeichen, Licht zu machen. Wir kommen ohne Licht besser aus.«

Er führte ihn um das Haus, an vielen dunklen Fenstern vorbei. Als es hell ward, stand Balrich in einem weiten, seidenen Raum, goldgelb mit hellen Bildern. Buck verschwand nebenan, dort war es rotgolden und voll von Büchern. Sogleich kehrte er zurück.

»Da!« – er reichte den Brief hin. »überzeugen Sie sich!«

Indes Balrich das alte Papier hervorzog, entfaltete, prüfte, – sprach Buck in Ruhe weiter und holte dabei eine Kiste Zigarren.

»Daß er nicht mit verbrannt ist, dürfen Sie nicht für Zufall halten. Den ganzen Aktennachlaß meines Vaters habe ich gesichtet und dies zurückbehalten. Ihr Onkel war verschollen oder tot. Aber Sie, dachte ich, sein Erbe, müßten doch einmal auftreten … Was haben Sie denn?« fragte er; denn Balrich hatte eine hochgerötete Stirn, und mit wilden Blicken über die Pracht der Räume hin, stieß er ein irres Gelächter aus.

»Das gehört mir,« sagte er. Buck ließ sich langsam in einen Sessel.

»Sie übertreiben. Der Prozeß wird Sie erstens viel Geld kosten.«

Balrich zog die Brauen zusammen, daß die Augen darunter wie ein schwarzes Band aussahen. Er war tief erblaßt, er kämpfte mit der Versuchung, über den Menschen herzufallen.

»Das beste ist entschieden,« sagte Buck, »Sie nehmen ein Glas von diesem hier.« Er goß Likör ein. »Und auch eine Zigarre;« – wobei er unter Balrich einen Sessel schob.

»Ich will nicht,« sagte der Arbeiter. »Sie sind mein Feind.«

Buck schüttelte den Kopf. »Schade, wenn Sie es glauben. Das erschwert unsere Sache. Zum mindesten müßten Sie doch bemerken, daß ich dem Herrn Generaldirektor gern einen Denkzettel geben würde. Mit nichten will ich Ihnen einreden, nur im Namen der idealen Gerechtigkeit hätte ich Ihren Brief mir aufbewahrt. Ich verspreche mir gute Wirkung davon, wenn dem Heßling, mindestens theoretisch, zum Bewußtsein gebracht wird, er fuße auf Enteignung und am Anfang seines Rechtes stehe der Raub.«

Buck hatte glänzende Augen und dehnte sich in seinem Sessel.

»Noch ein Gläschen,« schlug er vor und leerte selbst eins.

Balrich dachte: »Wie Onkel Gellert. Auch dieser ist ein Taugenichts, ich muß die Sache allein machen.«

»Aber,« begann Buck wieder, »zum Märtyrer bin ich nicht geboren, sonst säße ich nicht hier in Villa Höhe.« Mit dem Lächeln der Verachtung: »Leider kann ich ihn nicht erledigen, ohne auch mich zu erledigen. Darum, alles mit Maßen.«

»Das sagen Sie allein,« stellte Balrich fest.

»Nein. Auch Sie müssen es einsehen. Tatsächlich geht es nur sehr mit Maßen. Auf gütlichem Wege, will sagen mit Hilfe jeder nicht lebensgefährlichen Bedrohung wird vielleicht eine Verzinsung des eingelegten Kapitals zu erreichen sein, wenn schon keine Tantiemen. Das ist nichts Großartiges, aber unterschätzen wir nicht den Gegner! Er wird, selbst wenn er zahlt, die Echtheit des Briefes leugnen.«

»Dann gibt es Richter,« behauptete Balrich. Buck zuckte die Achseln.

»Wollen Sie es darauf ankommen lassen, wie ein Gericht befindet? Sie als Arbeiter müssen sich doch sagen: in den Vorstellungskreis bürgerlicher Richter paßt es nicht, daß ein Armer ein gültiges Dokument sollte beibringen können gegen einen Reichen, geeignet, ihn aus seinem Besitz zu werfen.«

»Wenn es aber doch echt ist!« sagte Balrich, verbissen.

»Die Möglichkeit, daß es echt wäre,« erklärte Buck, »wird mancher interessant finden, auch unter meinen Kollegen mancher. Dennoch übernimmt nicht einer die Sache ohne einen hohen Vorschuß. Ich selbst in meiner Lage kann es nicht, zum Märtyrer nicht geboren, wie ich mich fühle.«

Balrich hörte, nahm auf, und ward unsicher, je klarer der Herr dort sprach. Man hätte es nicht geglaubt, es sei derselbe, der vorhin im Dunkeln sich fassungslos hatte gehen lassen. Jetzt saß er in der Helle und wußte Bescheid in seiner Welt. Für Balrich war sie ein nächtlicher Verhau voller Fallen, – und ihn stürme!

»Was würden denn Sie tun?« fragte er kleinlaut.

Buck sah ihn an wie einen Sohn.

»Ich? So wie ich bin? Ziemlich mürbe schon und in meinem Gedächtnis ohne Beispiel, daß eine gerechte Sache, die schwach war, je gesiegt hätte? … Dies würde ich tun.«

Er nahm den Brief seines Vaters aus den Händen Balrichs und bewegte die brennende Zigarre darauf zu. Balrich, mit rauhem Schrei, entriß ihm den Brief. Heraus aus dem weichen Sessel stand er fest auf seinen Beinen und schnaubte:

»Ich bin nicht Sie, Gott sei Dank. Und brauche Sie nicht, und Ihre Kollegen nicht. Mein Recht schaff' ich mir selbst.«

Buck änderte seine Haltung und den leichten Ton.

»Dazu müssen Sie Anwalt sein. Wie wollen Sie das machen.«

»Das weiß ich!« stieß Balrich hervor und stapfte nach der Tür.

»Halt!« rief Buck. »Warten Sie noch! Sie hören das Auto, das ausfährt, um meinen Schwager abzuholen. Draußen ist jetzt alles beleuchtet.«

Er ging selbst zu dem jungen Menschen, er legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Erst zwanzig, wie? Und einen festen Kopf, vorwiegend Willen. Mein Sohn möchte so sein. Durch meine Schuld ist er anders.«

Buck trat zurück und sagte prüfend:

»Man soll es versuchen. Ich hole Ihnen etwas, aus dem Zimmer meines Jungen. Er schläft im übernächsten Zimmer, ich bin sogar erstaunt, daß er nicht erwacht ist von Ihrem Schreien. Denn mehrmals haben Sie geschrien. Sein Schlaf ist doch gut,« sagte der Vater zärtlich und ging leise in die Tiefe seiner Wohnung.

Mit einem Buch kam er zurück.

»Da nehmen Sie! Er ist nicht aufgewacht. Die Stunde der Verschwörer ist nun auch vorbei,« sagte er und zeigte auf eine Uhr, die Eins schlug. »Gute Nacht.«

Er führte Balrich ins Freie. Man sah jetzt; aus den Räumen, die sie verlassen hatten, fiel Licht auf den Weg.

Vor der Pforte, auf der Landstraße, wendete Balrich sich; gerade erlosch das Licht, – und im Dunkeln suchte er nach der Villa seiner Wünsche, sein brennender Blick holte ihre Umrisse hervor, zwischen herausspringenden Flügeln den zurückweichenden Haupttrakt und davor die Terrasse. »Ich werde sie haben,« fühlte er. »Die schwachen, verwöhnten Menschen dort innen ahnen gar nichts.« Er griff an seine Brust, nach dem Brief. »Der, der so dumm war, ihn herzugeben, ahnt am wenigsten. Sie denken, alles muß bleiben, wie es ist. Wie viel stärker ist der Angreifer! Wie bedroht ist der, der etwas hat!« Laut und stark sagte er:

»Ich werde dich haben, so wahr ich dich sehe!«

Da, gerade da ward der Mond frei, strömte hin sein Licht über Haus und Garten – schenkte sie ihm geisterhaft, Farben des Traumes und der lüsternen Märchen, tiefblaue Schatten, silberne Wand; bot den Besitz ihm an wie ein Weib. Er taumelte.

Schon nahte wieder das Auto. Balrich warf sich rückwärts in die Tannen, brach hervor weiterhin und eilte fort im stampfenden Marschtakt, die Straße hinan in die Ferne, stundenlang.

Als er zurückkehrte, umschleierte blaue Frühe die Villa. Vogelstimmen erhoben sich schon und feuchte Düfte, aber noch streifte Mondlicht die Wege. Von der Terrasse dahinten rieselte es. Oder nein: ein Wesen, herabwandelnd im schleppenden Silbergewand, langsam von Stufe zu Stufe. Er suchte das Gesicht und fand nur Augen, die Augen seiner Schwester Leni.

»Siehst du,« sagte er ihr, »dies ist für uns.«

Er fühlte: »Warum ich, statt Heßling? Aber weil auch Leni da ist.«

So weinte er denn, versteckt im Gebüsch der Tannen; und nach langem Weinen ging er auf die Fabrik zu, querfeldein, unter Vermeidung der Wohnhäuser. Unnütz, daß der Aufpasser am Tor ihm diese Nacht ansah.

Am Abend, als er seinen Rock wieder anzog, begegnete er darin einem fremden Gegenstand. Ein Buch – das Buch des Herrn Buck. »Da wird es sich zeigen, wie ich es mache,« dachte er hoffnungsvoll und schlug auf. Was war das? Fremde Worte untereinander, daneben deutsche, und Sätze wie für Kinder. Ein Lehrbuch des Lateinischen – weniger noch, eine Lateinfibel … Der Arbeiter steckte sie schnell wieder ein und ging heim, gesenkten Kopfes.

Zu Haus aber erhob er ihn. Er hatte begriffen und war entschlossen. Sein Brot, seinen Käse – und gleich an den fichtenen Tisch, worauf sonst nie etwas lag. Jetzt liegt das Buch darauf. Es will gelernt sein – und dann ein anderes und wieder eins, und noch immer stehst du, zwanzig Jahre alt, bei dem, was die Knaben schon kennen. Du weißt nicht wie lange und weißt nicht wie, aber lerne! Dein ist die Nacht. Alle Nächte sind dein. Lerne!

Er legte sich hin, als es hell ward, goß sich drei Stunden später das Wasser aus dem Krug über den Kopf und ging zur Arbeit, im Tritt der Kameraden.

So fuhr Balrich fort zu leben, – und die erste, der es auffiel, war Thilde. Er beruhigte sie, gab ihr eine Stunde hin, die er nachher vom Schlaf abzog; – aber da es so nicht dauern konnte, erklärte er ihr einfach, nur am Sonntag könnten sie sich sehen. Er arbeite des Nachts. Er arbeite an der Verbesserung einer Maschine, es werde ihm Geld und Stellung bringen, seine ganze Zukunft hänge ab davon. Sie sah ihn kraftvoll erregt und ward ganz schüchtern. Er sagte noch: »Glaubst du denn, ich will hier nicht heraus? Ich zwinge es und werde reich!«

Da weinte sie und antwortete ihm:

»Dann wirst du mich verlassen.«

Er leugnete es, aber sie glaubte ihm nicht. Das Versprechen gab sie ihm dennoch, alles für sich zu behalten. Dann ging sie, fast von selbst, niedergebeugt in ihrem Tuch, und Balrich hatte vor sich seine Nacht.

Zwei Sonntage später, er hatte soeben die letzte Seite des Buches gelernt, klopfte es an seine Tür, und mit dem Kopf dienernd kam ein Bürschlein zutage, eins in weichem blauen Anzug, mit Lackschuhen und dem ahnungslosen Gesicht der reichen Kinder. Es legte seine Mütze auf das Bett und bat artig um den freien Stuhl.

»Es wird etwas länger dauern,« sagte es. »Papa will, daß Sie mir das Ganze hersagen.«

Das Bürschlein öffnete das Buch.

»Ich habe dies nämlich schon längst wieder vergessen,« äußerte es. »Warum wollen Sie überhaupt lernen?« fragte es vertraulich. »Ein Vergnügen ist es nicht.«

Balrich sagte:

»Zum Vergnügen bin ich nicht da.«

Jetzt antwortete der Knabe:

»Ich weiß, Sie wollen Geld haben. Sie wollen unser Geld haben. Wundern Sie sich nur nicht,« sagte er unbefangen. »Papa ist mein Freund und sagt mir manches.«

Der Arbeiter, nicht sicher, was zu denken sei, musterte den kleinen Reichen, der lächelte, – und bemerkte dabei, daß eigentlich die Augen recht hell und wach blickten. Nur der Mund stand kindisch offen, und unbegreiflich töricht erschienen die hochgebogenen Brauen, unter diesen beiden großen schwankenden Blondlocken. Schmaler Kopf, die Schultern so schwach, – ein Schlag, dachte Balrich, und der freche kleine Nichtsnutz rutscht vom Stuhl … Statt dessen begann er, holprig herzusagen. Der Knabe unterbrach.

»Einen Augenblick. Ich heiße Hans Buck. Vierzehn Jahre elf Monate. Wollen wir eine Zigarette rauchen?«

Die Fehler Balrichs berichtigte er herrisch aber flüchtig. Nach einigen Seiten hatte er genug.

»Besser habe ich es auch nie gewußt.«

Balrich sagte:

»Ich muß es aber besser wissen. Ich brauche es nötiger.«

»Ihre Sache,« meinte Hans Buck. »Für Klinkorum jedenfalls ist es gut genug.«

Es erwies sich, daß Balrich von Professor Klinkorum erwartet wurde. »Wir kommen sogar schon zu spät.« Das Bürschlein stieß den Zwanzigjährigen zur Tür hinaus. Nebeneinander durchquerten sie die Wiese. Mitten darauf, wo die meisten Kinder lärmten, fiel Balrich lang hin; das Bürschlein hatte ihm ein Bein gestellt. Es bog sich vor Lachen, in einer Rotte, die mitlachte. Als Balrich dann zornrot aufkam, lief Hans schon. Er lief schwebend leicht, keine Aussicht, daß Balrich ihn fing, – wenn nicht ein paar junge Arbeiter ihm, trotz seinem Geschrei, es gölte nicht, den Weg verstellt hätten. Nun rangen sie; ein Griff Balrichs, und der Kleine, verzweifelt gegen den Boden gestemmt, war so gut wie aufgehoben und geworfen. Balrich aber, der ihn so schwach fühlte, tat unversehens, als verliere er selbst den Boden, und sprang zurück.

Sie gingen weiter, Hans Buck mit gepreßten Lippen und die Augen gesenkt. Da plötzlich nahm er Balrich beim Arm.

Klinkorum, der es anläuten gehört hatte, empfing sie an seinem Tisch stehend, den grünen Schlafrock drapiert über dem Spitzbauch, und in weißer Krawatte. Er warf den Kopf zurück, der Bart stand in sieben harten Strähnen hechtgrau vom Gesicht ab, die Lippen entblößten lange Zacken mit ebensovielen Lücken, und er lachte erhaben. Unter Gelächter begann er eine Rede über den Ernst des Lebens, das Eigentum und die Bildung. Die letztere gehe vor, erklärte er mit einem grünen Blick auf den Knaben von Villa Höhe. Wer aber, sagte er dem Arbeiter, bisher in fröhlicher Unwissenheit dahingelebt habe, der lerne jetzt den Ernst kennen, einen Sohn des Wissens. Vorausgesetzt immer, er sei berufen.

Balrich, zuerst eingeschüchtert, kam bald auf den Verdacht, daß dies Geschwätz sei, und ärgerte sich über den Zeitverlust. Da sagte Hans Buck, dreist und hell:

»Na los!«

Und Klinkorum schnappte nur noch, ganz auf dem Trocknen.

Er ließ beide dieselbe Übersetzung machen, »um den Abstand der Geister festzustellen,« – fand aber dann, daß der eine durch Flüchtigkeit ersetze, was der andere an Unbelecktheit voraushabe. Hierbei fielen die Hände Balrichs ihm unliebsam auf. Er sagte nichts, seine Pausen und die Ausrufe seiner Blicke bewirkten es aber, daß Balrich die Hände vom Tisch nahm. Der Fünfzehnjährige bemerkte hierzu:

»Er tut nämlich richtige Arbeit;« – worauf Klinkorum ihm strafweise voraussagte, auch er werde sie noch tun müssen.

Inzwischen ging die Glocke, und Besuch trat ein, zwei Herren, die schon vorbereitet schienen auf den Anblick des studierenden Arbeiters, denn sie nahmen ihn stumm in Augenschein. Hans Buck sagte schneidig: »Darf ich die Herren bekannt machen,« – und stellte dem Arbeiter die Herren Dr. Heuteufel und Konsistorialrat Zillich vor.

Sie zeigten eine Teilnahme, die Heuteufel geradezu für wissenschaftlich erklärte. Klinkorum bekräftigte sie darin, er erläuterte ihnen in der Übersetzung Balrichs die Fehler, die das Fortfallen selbst der allgemeinsten kulturmenschlichen Grundlage zur Voraussetzung hätten und Zeichen einer Klasse seien, einer hoffnungslos rückständigen Klasse.

Sie schüttelten die Köpfe und fragten, ob wenigstens im einzelnen Fall eine Aussicht sei. Der junge Buck schwatzte laut dazwischen, und in das Heft Balrichs zeichnete er recht geschickt einen Haifisch.

»Ähnlich?« fragte er, und Balrich erkannte Klinkorum – strengte sich aber nur noch mehr an, um den Reden der Herren zu folgen. Es war schwer, die Sätze verwickelten sich ihm, und gewisse Worte hatten keinen Sinn. Ein interessantes Experiment, dies wiederholte Klinkorum mehrmals. Ein rudimentäres Gehirn, unvermittelt in Berührung gebracht mit den Humaniora –.

Aber es gehe doch, meinte Dr. Heuteufel, der seinerseits die Hefte der beiden Schüler verglich. Es sehe aus, als könne es jeder.

Dies schien dem Professor zu mißfallen. Er stellte schnell mehrere Fragen an Balrich, die Balrich nicht einmal begriff, – worauf alle lachten, auch Hans. Das schmerzte den Zwanzigjährigen, er zwickte das Bürschlein stark in den Schenkel. Durch seinen Erfolg ermutigt, teilte Klinkorum den Herren mit, wie groß die Liebe zur Wissenschaft bei solchen Leuten oft sei, – leider meistens eine unglückliche Liebe. Dieser einfache Arbeiter habe ein vom Schüler Buck verlorenes Buch gefunden, und es nicht früher zurückgebracht, als bis er es auswendig gewußt habe. »Solcher fast ergreifend zu nennenden Strebsamkeit waren wir immerhin einen Versuch schuldig,« sagte Klinkorum und lachte mit allen seinen Zacken. Die anderen Herren begleiteten ihn.

Balrich wollte nicht wissen, ob auch Hans sich freue. Er sah vor sich hin und sann düster, dies müsse ein Ende haben; allein werde er seinen Weg suchen … Da sagte Hans, mit einem gewissen Blick von einem der drei Herren zum andern:

»Aber Onkel Heßling wird sich ärgern.«

Und wie sie nun schmunzelten und nur gerade noch an sich hielten, dies bemerkte auch Balrich. Der Konsistorialrat nahm das Wort. Kein Arbeitgeber, soviel verstehe er, könne gleichgültig bleiben, überschritten seine Leute eine gewisse Grenze der Bildung. Dies ändere das Verhältnis, die Gesichtspunkte und die Rechte, dies sei in Wahrheit schon Umsturz.

Was er ernst und warnend sprach. Aber hätte seine Stimme die Schadenfreude versteckt gehalten bis auf ihre letzte Spur, die Gesichter der beiden anderen verrieten sie. Balrich sah mit Staunen, daß der Generaldirektor hier keinen Freund hatte. Er horchte auf. Dr. Heuteufel lehrte:

»Für die Gewalt eines einzelnen muß ein Gegengewicht gefunden werden, und das ist –«

»Die geistige Bildung,« schloß Klinkorum. Worauf Heuteufel:

»Die Bildung und sogar der Geist sind nur Mittel zum Zweck. Ihm und seinesgleichen muß wieder einmal klargemacht werden, was persönliche Freiheit heißt. Auf dem Wege, den die Herren, und zwar gern gesehen von der Behörde, eingeschlagen haben, kommen wir zur Staatssklaverei, sogar früher als man denkt.«

Feierliches Schweigen. Der Arbeiter Balrich ergab sich einem heftigen Vertrauen zu denen, die so sprachen und dachten.

»Das ist aber auch wahr,« beteuerte er und schlug auf den Tisch. »Wissen Sie wohl, warum wir nach Gausenfeld keine Elektrische bekommen? Weil wir unter uns bleiben sollen und nicht aufgeklärt werden sollen und in seiner Kantine saufen sollen. Das ist doch wie ein Ghetto!« rief er, stolz auf dieses Wort.

Die Herren, mit gekniffenen Lippen, blinzelten einander schnell zu, und dann traten sie ein Stück weg. Klinkorum äußerte:

»Für heute Schluß. Das nächste Mal, Herr Balrich, könnten einmal Sie, anstatt meiner, den Unterricht geben, etwa über den Zukunftsstaat.«

»Obwohl –,« bemerkte Zillich. »Das eherne Lohngesetz liegt doch auch schon beim alten Eisen.«

Balrich fühlte, enttäuscht und grimmig: Was soll man verlangen von den Bourgeois. Dumm wie mein Steiß, und dazu falsch … Ihr Wissen haben sie nur, weil sie Geld haben. Her damit, und dann ihnen an den Hals. Da ist nicht Dank noch Schonung. Gelte jeder, was er ist!

Er räumte zusammen, stand auf, trug seinen Stuhl an den früheren Platz und verabschiedete sich mit mehreren Kratzfüßen. Inzwischen sprachen die Herren gedämpft.

»Die Sachen sind wie sie sind, und manch' einer spricht sie aus. Aber es kommt doch sehr darauf an, wer.«

Als der Arbeiter schon draußen war, rückte Klinkorum mit dem Eigentlichen heraus.

»Was soll man sagen. Die Begriffe fehlen, folglich die Worte. Ihm genügt es nicht länger, mein Haus, die Zuflucht meiner Muse, hinabgezerrt zu haben in sein Tal der Armut und des Schmutzes, es entwertet und verelendet zu haben: er will mich umbringen!«

Sie wollten es ihm nicht glauben, aber er belegte es mit Zahlen und Daten, herrührend von dem Heßlingschen Baumeister selbst. Ein drittes Arbeiterwohnhaus war bereit zu entstehen; auf dem Plan bestand es schon – und wo, und wo? Hinter Klinkorum, vielmehr, im Bogen um ihn her, – so daß er auf drei Seiten verstellt war, und vorn die Landstraße, Staub und Benzingestank. Das Ende von allem, man konnte ihm nur noch die Hände schütteln. Klinkorum schwur freilich, dies endlich werde nicht so hingehen, es gäbe Richter …

Balrich draußen wollte schon das Gartengitter zuschlagen, aber Hans Buck lief herbei.

»Ich habe gehorcht. Sind sie dumm und falsch!«

Balrich dachte: Dein Glück! Denn er hatte das Bürschlein schon verworfen mit den übrigen.

»Es sind nämlich bloß Neidhämmel,« erklärte Hans Buck. »Und dann das Buch, das du mir gestohlen haben sollst oder so!«

Er sagte plötzlich du. Dabei tanzte er vor Freude.

»Papa hat gewollt, ich soll es dem Haifisch aufbinden, – und der tut, als glaubt er es, denn er kriegt bezahlt. So sind sie.«

»Das ist – ein abgekartetes – Spiel?« sagte Balrich schwerfällig, und starrte ernst in das schlaue Gesichtchen. Fünfzehn Jahre, und wußte Bescheid über die Menschen, und war lustig dabei! Ihre Niedertracht war ein Spaß für das Bürschlein!

»Komm' mit!« verlangte es. »Bis zu der großen Fichte, wo man die Villa sieht. Weiter darfst du nicht.«

Balrich erwiderte:

»Nein. Ich will nicht.«

Und er ging über die Wiese nach Haus B. Hans Buck rief ihm nach:

»Morgen abend wieder!«

»Aber nicht, weil du es bist,« dachte Balrich. »Und Villa Höhe, die will ich erst wiedersehen, wenn sie mein ist, das schwöre ich. Dann komme ich und werfe euch hinaus.«

In dieser Nacht an seinem Tisch dachte er dennoch viel an Hans Buck. Was Klinkorum ihm mitgegeben hatte, war bald aufgearbeitet, und seine eigenen Bücher hatte er noch nicht da; ganz leicht hätte er Thilde folgen können, abends, als sie ihm nachschlich bis auf die Treppe. Er hatte sie aber fortgeschoben, und lieber dachte er, aus Sparsamkeit beim Mondschein, des feinen und schlauen Knaben von Villa Höhe, und daß er ihn wiedersehen werde.

Am Montag nach Feierabend trafen sie sich freilich bei Klinkorum, und nach dem Unterricht hatte Hans Buck nichts Geringeres vor, als daß sie zusammen in die Stadt gingen, das Bezahlen sei seine Sache. Aber Balrich, mit finsterer Miene, zeigte auf den Packen Bücher, den er bekommen hatte.

»Sechs Stunden bis zum Morgen – das reicht kaum.«

Und er ließ den Leichtfuß dastehen.

Erst am Sonntag willigte er ein, spazieren zu gehen. Schwere Luft, rauchiger Sonnenuntergang, – und da Balrich nichts anderes zuließ, gingen sie querfeldein und vorbei an den Arbeitervillen, eben dort, wo er ehemals mit Thilde ging. Auch jetzt herrschte Ernst; Hans Buck ging gemessen und überlegte.

»Das sind nun sieben Nächte,« sagte er, »und du hast rote Augen.«

»Anders geht es nicht,« entschied Balrich. Der reiche Kamerad gab es zu, im Tone hoher Achtung.

»Nein. Denn du willst in einem Jahr lernen, wozu sie mir im Gymnasium fünf oder sechs Jahre gegeben haben, – und ich weiß es nicht.«

Plötzlich fielen ihm die Spiele der Kinder auf, an einem schlammigen Graben, in den jeder den anderen einzutauchen suchte mit dem Gesicht.

»Sie sind schmutzig und boshaft,« bemerkte er; und er behauptete: »Wenn sie das nicht wären, brauchtest du nicht so furchtbar viel zu lernen.«

Wieso? Ihm selbst machte die Erklärung Schwierigkeiten. Er fühlte nur: zuerst sauber sein – und ein anständiger Mensch. Das Lernen ist dann Nebensache.

»Besser als Lernen ist Denken; und das Denken geht am besten, solange man nicht daran denkt,« äußerte er.

Balrich sagte nüchtern: »Das ist Unsinn. Vielleicht, wenn man Geld hat. So aber, wenn ich da heraus will,« – er zeigte auf den Graben – »muß ich lernen wie ein –« Gehässig knurrend: »Wie ein Tier.«

Hans Buck verstand dies nicht völlig, er suchte sich einzufühlen. »Ich habe doch auch nie Geld. Und sogar Papa hat es meistens nur vom Onkel Heßling. Der hat zu viel, darin habt ihr Recht. Meinem Papa sollte er mehr geben. Aber mir wieder sollte Papa mehr geben. Wirklich anständig ist keiner.«

Balrich wußte nun schon, daß sogar die Reichsten noch Unterschiede machen zwischen einander; er dachte mit Verachtung: »Ihr liefert euch selbst an das Messer.«

Hans Buck seinerseits blieb plötzlich zurück; es war klar, er versteckte sich hinter dem Größeren. Und Balrich, der den Zusammenhang sogleich erfaßte, blieb stehen, einen Fuß vorgestellt, in der Haltung des Beschützers. »Ist es der Rote dort?« fragte er, den Blick auf dem nahen Rande des Arbeiterwaldes.

Ja, es war der Rote. Er war der natürliche Feind des jungen Buck, keines Zusammenstoßes hatte es bedurft, keiner Absage. Längst lauerten sie aufeinander und nur der entscheidende Augenblick fand Buck nicht gesammelt. Balrich hörte, daß sein Freund außer Atem war.

»Er soll herankommen,« knurrte er. »Dann kriegt er genug.«

Hans Buck antwortete mit Anstrengung:

»Du darfst nicht. Es ist meine Sache.«

Balrich sah den Roten vorgehen und sah, er war der Stärkere.

»Wenn es deine Sache ist, dann hast du längere Beine. Lauf!« riet er.

»Das ist aber gegen meine Ehre,« sagte der Knabe aus Villa Höhe, – worauf der Arbeiter die Achseln zuckte und dann lachte, zuerst leise brummend, endlich aber mit wüstem Hoho.

Indessen trat Hans Buck hinter ihm hervor, machte einige Schritte und faßte Fuß. Er spannte sich, ward größer, bekam scharfe Fäuste. Der Feind schlich gebückt, seine Hände streiften das Gras. An der Wendung des Weges angelangt, hielt er an – und bog ab. Hans Buck behielt seine Haltung, bis der breite Mensch, ihn seitwärts anschielend, zu laufen, richtig zu laufen anfing. Darauf kehrte er zu Balrich zurück.

»Der Dummkopf hat sich bluffen lassen,« erklärte er, mit einer Bewegung, die die Sache abtat. Der Arbeiter hatte zu lachen aufgehört.

Am Waldrand wendete sich ein Mädchen nach Hans um. Da erst kam ihm das Selbstbewußtsein des Siegers, und er wagte es, ihr eine Kußhand zuzuwerfen, – obwohl sie in Begleitung war. Sie war goldblond, ohne Hut und in einem dunklen Tuch wie die Arbeiterinnen, aber der Rock modern und kleine Lackschuhe mit Stöckeln. Ihr Begleiter trug blaues Leinen, wie ein Maschinist, aber darüber einen koketten Sommermantel.

»Es ist ein Techniker,« sagte Balrich im Ton einer Entschuldigung. »Ein besserer Mensch.« Das Mädchen war Leni, seine Schwester; dies verschwieg er. Er fühlte: das versteht so einer nicht.

Leni ging mit dem Techniker, der Bruder hatte es ruhig dahin kommen gesehen. Der Techniker war ein Arbeiter und doch mehr. Wollen wir, daß er sie heiratet? Nun also. Auch Thilde hatte hören müssen. Jetzt freilich hatte Balrich sie satt. So konnte es enden.

Er gab sich Mühe, zurückzubleiben, aber der junge Buck drängte gewaltig den beiden entgegen. Er sagte: »Das ist einmal ein Mädel!« und tat mutig. Als sie sich aber endlich begegneten, griff er so ungeschickt nach seiner Mütze, daß er sie herunterwarf. Dennoch grüßte Leni ihn mit ihren Goldaugen, und erst nachher lachte sie. Hans, trotz seiner Scham, wollte ihr nach, der Techniker indessen hatte sich wohl mit ihr in die Büsche geschlagen; man fand sie nicht, soviel Staub und Kohlenruß man aufstöberte im Arbeiterwald. Erst am Teich – er war braun von Schmutz, einige badeten, drei Paare ruderten, – in einem wackelnden Kahn, da fand er sie. Aus dem Kahn schöpfte sie, das Kleid gerafft, Wasser und bespritzte damit den Techniker. Bleich und schweigend kehrte der Knabe um.

Beim Arbeiterhaus A wollte er Balrich durchaus nach rechts und auf die Landstraße lenken. Was Arbeit, was Essen! Etwas war noch zu sagen. Balrich wartete; es schien schwer zu sagen … Dann gab Hans Buck sich einen überlegenen Ton und begann von einem Haus, das er schon lange im Auge habe; er kenne es, er sei vorübergegangen, in der engen Straße Klein-Berlin, hinter der Marienkirche des alten Zillich, und habe in dem Haus das Lachen gehört, er müsse hinein. Groß genug sei er schon, seine Vettern Heßling hätten ihn mitnehmen können. Aber vor ihm stellten sie sich wie Duckmäuser, und so wollte er mit Balrich hingehen, – er habe Geld, sagte er nachdrücklich und klimperte.

Balrich sagte zu dem allen nur nein. Ob er nicht neugierig sei? Ob man einem Freund nicht beistehen müsse? Oder gönne er ihm das Vergnügen nicht? Nein. Nein. – Hans fragte schmerzlich: »Warum – warum denn nicht?« Er bekam keine Antwort; Balrich machte lange Schritte, als wollte er ihm entlaufen, aber Hans Buck verfolgte ihn mit seinem Warum bis in das Haus. Da wendete Balrich sich um, sagte:

»Weil ich ein Arbeiter bin, und weil die Mädchen dort meine Schwestern sein könnten.«

Und ließ den jungen Reichen dastehen.

Hans Buck sagte: »Ach so«; aber er ließ seine langen Wimpern herab und dachte sich das Seine. Arbeiterinnen, – die so lachten? Wie mochten sie glücklich sein, in ihrem geheimnisvollen Hause! »Hierin, wie es scheint, verstehen wir uns nicht. Er ist nüchtern wie ein Arbeiter, er sieht nicht, was das Haus für ein Märchen ist, mitten in der ordentlichen Stadt was für ein Abenteuer!«

Und auf seinem Heimweg in der Dämmerung träumte der Fünfzehnjährige von Schleiern und Goldgürteln aus Bilderbüchern oder vom Theater, – die sich aber nun lösten und aufhoben von nie erblickten Gliedern. Schon ihr Gedanke war brennend. Plötzlich, zum Greifen deutlich erschienen ihm Fuß und Wade eines Mädchens, das den Rock gerafft in einem Kahn saß. Daheim noch lange, über sein Buch hinweg, sann er, sie, jene Goldblonde, würde eine der Schönsten sein in dem zauberhaften Hause … Sein Freund Balrich inzwischen lernte; und ging es hart, tauchte sein Geist, sich erfrischend, in das Gesicht einer bläulichen Frühe, als Leni, seine Schwester, in einem schleppenden Gewand aus Mondlicht die Terrasse herabgewandelt war von Villa Höhe. »Dort sollst du zu Hause sein,« versprach er ihr.


 << zurück weiter >>