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Geschichten aus Rocca de' Fichi

Zuerst erschienen in »Das Wunderbare«, Albert Langen Verlag, München, 1897

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, I. Band

 

Der Nachmittag war heiß, nur aus Mangel an Beschäftigung hatte ich meinen Freund, den ausgezeichneten Advokaten Cavaliere Crisostomo Temaniente zu dem Spaziergang veranlaßt, um seinem Bruder guten Tag zu sagen, dem Pächter Sor Alfonso, der im Schweiße seines Angesichts seine Bauern beaufsichtigte, auf den ihm von Sr. Exzellenz dem Fürsten Tordisasso verpachteten Kukuruzfeldern, eine kleine Meile vor Rocca de' Fichi. Mehr als einen Esel, den wir abwechselnd ritten, hatte uns der gefällige Pächter in dieser Erntezeit nicht auf den Rückweg mitgeben können. Sooft an mir die Reihe war, das freundliche Tier zu besteigen, blickte ich über die Kronen der Ölbäume, die von unserer engen Bergstraße den Abhang hinabstanden, wohlgefällig in die Campagna hinein. Ihre gehaltenen, braunvioletten Töne dämpften das allzu grelle Sonnenlicht. Am Grunde kleiner Seitentäler, die ins offene Feld verliefen, lag hier und da ein grauer Steinhaufen, der ein Bauernhof war, von schwarzem Gesträuch überwuchert, schon halb im Schatten. Draußen im Felde versteckten sich die Gehöfte hinter dichten Einfriedigungen von Zypressen. Zwei stolzere Reihen derselben Bäume stiegen aus der Campagna in die herrschaftliche Villa hinein, die sich unterhalb des vor uns liegenden Städtchens die Höhe hinanzog. Diese Villa, von der ich hatte reden hören, ein theatralisches Meisterstück, mit ihren verblüffenden Parkansichten, ihren zierlich nachgeahmten Ruinen, ihren raffinierten Wasserkünsten und dem ungeheuren Barockpalast, wurde bewohnt von dem Besitzer der Kommune Rocca de' Fichi, dem Grundeigentümer und Herrn des ganzen Berges und des angrenzenden Campagnagebietes im Umkreise dreier Meilen, dem Fürsten Tordisasso.

Ich bin nun zwar eigentlich der Meinung, daß diese großen Herren, soweit sie von dem aus dem modernen Rom herüberblasenden Winde des Ruins bisher verschont blieben, unproduktive Zehrer und der wahre Hemmschuh für die gesunde wirtschaftliche Entwicklung des Landes sind. Parzellierung von Grund und Boden, das ist das Wahre, wie auch der ehrenwerte Colaianni im »Messaggero« täglich versichert. Aber die agrar-sozialistischen Anschauungen seines Bruders Sor Alfonso, eines standhaften Lesers der genannten Zeitung, werden vom Cavaliere Crisostomo, der Sachwalter des Fürsten ist, erklärlicherweise nicht geteilt. Mit ihm hierüber zu streiten, ist ganz unnötig und lag mir, schon wegen der herrschenden Wärme, völlig fern. Vor allem, und ohne Rücksicht auf meine politischen Meinungen, höre ich gern Geschichten. Ich bin ein dicker Herr aus Mailand, der immer von einem Postwagen in den andern steigt, zwecklos die Leute aushorcht, und der es zu nichts Rechtem in der Welt gebracht hat, weil er sich stets um anderer Leute Angelegenheiten mehr bekümmerte als um seine eigenen. Und diejenigen der großen Campagnabarone sind manchmal hinreichend interessant, um mich mit den Herren auszusöhnen. Diese alten Geschlechter haben vielleicht den größten Teil der Jahrhunderte, auf die sie zurückblicken, in ihrer kleinen Welt als unumschränkte Selbstherrscher festgesessen, sie besitzen daher noch mitunter ihre eigensinnigen Schicksale und sind weniger, als dies bei uns kleinen Leuten der Fall ist, von den allgemeinen gesellschaftlichen und Zeitverhältnissen abhängig. Ihre eigene Überlieferung bestimmt diese Geschlechter. Wird der Name genannt, so klingt ein Ton an und niemals ein anderer.

Was für ein Ton war dies hier? Ich meinte, er müßte jedenfalls schon beim ersten Anpochen recht deutlich zu vernehmen sein, denn der letzte Tordisasso endete sein bescheidenes Greisenleben in der Villa angesichts des Felsennestes, aus dem meines Wissens sein Geschlecht hervorgegangen war. Nach meiner Ankunft am Morgen war ich droben gewesen, oberhalb der Stadt, wo zwischen den Feigenbäumen, die der Gegend ihren Namen gaben, einige elende, von Hirten bewohnte Schutthaufen um den größeren Schutthaufen herumlagen, der einmal eine feste Burg gewesen war. Statt der Zugbrücke führten ein paar morsche Bretter über den mit Geröll halb verschütteten Graben zu einem Hof, wild überwachsen, und in einige formlose, feuchte Gewölbe. Das alles war wild und arm. Mir fiel es dagegen auf, die angrenzende Kapelle leidlich gut erhalten zu finden. Auf den Wänden befand sich noch etwas Kalk, ein schwarzes Bild über dem Hochaltar, und das frühgotische Portal war durchaus nicht übel. Bekümmerte sich der Fürst darum? Weshalb in diesem Falle nur um die Kapelle und nicht ebenso um den Rest der Ruinen? Rocca de' Fichi ist, soviel als mir bekannt, nicht zum Nationalmonument erklärt, und sobald nicht das berechtigte kunsthistorische Interesse entscheidet, tadele ich es, dem Klerikalismus, der sich so etwas zunutze macht, auch nur den kleinen Finger zu reichen. Der Cavaliere Crisostomo stimmt hierin mit mir überein. Ich fragte ihn:

»Ist der Fürst klerikal?«

»Wer weiß es?« erwiderte er zu meiner Überraschung.

»Nun, wenn nicht einmal Sie es wissen. Läßt Se. Exzellenz denn im Munizipalrat dem Don Agostino freie Hand oder unterstützt er, auch bei den Wahlen, die Regierung?«

Mein ausgezeichneter Freund Cavaliere Crisostomo erfreut sich einer geringeren Beleibtheit als ich, hat aber einen zu kurzen, dicken Hals, der ihm beim Sprechen Beschwerde verursacht. Sooft er etwas Bedeutsames sagen will – und das meiste, was er sagt, ist bedeutsam –, bleibt er stehen und rülpst heftig, worauf er zunächst ein kurzes Ä hervorstößt. So tat er auch jetzt, ohne doch seine Mitteilungen fortzusetzen. Ich sah ihn an. Über seiner weißen Weste – den Rock hatte er ausgezogen – leuchtete sein Gesicht krebsrot. Den Mund, in dessen Winkel die ergrauten Borsten seines Schnurrbartes hineinwuchsen, hatte er vor Anstrengung ein wenig geöffnet. Ich begriff, daß es Zeit sei, ihm mein Reittier anzubieten. Sobald er es sich auf dem Esel ein wenig bequem gemacht hatte, forderte ich ihn auf:

»Sagen Sie mir doch, warum der Fürst für die Unterhaltung der Kapelle auf der Akropolis Sorge trägt.«

Er verneinte mit einer Bewegung seines Zeigefingers.

»Er tut es nicht«, brachte er hervor, und dann etwas freier: »Hier gibt es eine Legende, mein Lieber.«

»Ach was, eine Legende?«

»Und eine, die Ihnen in neueren Veröffentlichungen schwerlich begegnen wird.«

»Erzählen Sie sie mir?«

»Ich will sie Ihnen erzählen, und zwar so, wie sie erzählt werden muß.«

Die Aufgabe bereitete ihm ein offenbares Vergnügen, er wurde ganz beweglich auf dem Rücken des Esels. Der ehemalige Schüler der Beredsamkeit an der alten päpstlichen Universität regte sich in ihm.

Legende

Der das Kastell zuerst gegründet hatte, lebte darin mit seiner jungen Frau, die schlank und ganz weiß war. Sie sah aus wie ein Engel vom Himmel, doch hatte sie brennende Lippen. Beatrice war ein frommes und züchtiges Fräulein gewesen, nur der wilde Baron Guido hatte schuld, daß sie nun in einer fleischlichen Lust mit ihm dahinlebte, die christlichen Ehegatten nicht ziemt. War der Gemahl nicht alles, was das arme Weib auf dieser Welt sein eigen nannte? Es war eine leere und finstere Burg, Gäste oder Sänger verirrten sich selten dahin. Vorn lagen, weit bis an das blaue Meeresband, die braune Campagna, hinten, voller Schluchten mit wilden Tieren, die schwarzen Wälder. Kahler Fels, auf dem von alters nur die Feigenbäume wuchsen, und einige ganz alte waren schon abgestorben – aber Guido hatte ihn zu seinem Sitz erwählt, weil er nichts begehrte als zu jagen. Mit dem Papst lebte er, als tapferer römischer Baron, in Fehde, von Zeit zu Zeit stieg er hinab, um den Kaufleuten aufzupassen, die mit ihren Waren durch das weite Feld nach Rom zogen. Seine scharfen Augen erspähten sie in dem Schatten der Aquädukte, wo die faulen Bäuche sich versteckten, und er nahm ihnen ab, was gut war oder sein Gemahl erfreuen mochte.

Aber der heilige Vater rief zum Kriege gegen die Ungläubigen, da vergaßen die Barone ihre Fehde, und sie machten sich alle auf, auch Guido. Nach ihrer letzten Liebesnacht küßte er noch einmal Beatrices beide weißen Brüste, die er besonders liebte. Mie pesche, nannte er sie, meine Pfirsiche. Er küßte sie und sagte: Wolle Gott, daß ich mich nach dem durstigen Sonnenbrand im Lande der Heiden wieder an euren frischen Früchten gesund erlaben dürfe. – Dann ritt er, unter dem Klange des Jagdhorns, quer über die Campagna, ans Meer.

Die Frau weinte nicht, aber neun Wochen lang sah man sie nicht von ihrem Kammerfenster weichen, von wo sie, am Rande der braunen Einöde, das Funkeln des Meeres erblickte. Als sie dann heraustrat, war sie noch weißer geworden, und ihre Lippen bluteten, man meinte die Tropfen auf ihr weißes Mieder fallen zu sehen. Wie fast das Jahr um war seit Herrn Guidos Abreise, betete sie noch immer um nichts anderes, als daß er schnell zurückkehren, daß er das heilige Grab fahren lassen und sein Weib wiedergewinnen möge. Eine große Sünde, daß Beatrice die allerheiligste Religion weniger liebte als ihre sündige Gier. Das Blut der Frau, das der wilde Gemahl entzündet hatte, wollte nicht zur Ruhe kommen, es jagte sie, nun doch schon zwei Jahre vergangen waren, ins Weite. Die Bauern entflohen, sooft in der Abendkühle das lange weiße Gewand durch den braunen Schatten der Felder flatterte, wie ein gespenstiges Gefieder. Sie bekreuzigten sich, wenn die Frau hinter einem der alten Trümmerhaufen plötzlich ganz nahe vor ihnen stand, so daß sie mit ihrer schwarzen Haarflut und den roten Lippen in ihrem Geistergesicht, als das Bild einer höllischen Versuchung aus den Heidengräbern hervorzukommen schien.

Der Himmel wurde es müde, ihre sündigen Bitten anzuhören, denn in einer Nacht erschien ihr ein stummer, ernster Engel, der ihr ein Pergament entgegenhielt, aus dessen Schrift traten vier Reihen mit Flammenzeichen hervor. Das Licht davon fiel auf einen Feigenbaum, der auf dem Pergament daneben abgebildet war. Beatrice las und war zu Tode erschrocken, am Morgen aber hatte sie die Worte vergessen, und erst als sie in den Hof hinaustrat, erkannte sie, daß der dürre Feigenbaum, der am Portal in den Steinen stand, der war, den sie in der Nacht erblickt hatte, und die Worte fielen ihr wieder ein: Eher wird dieser dürre Feigenbaum frische Früchte tragen. Da wußte sie, daß sie den Gemahl nie mehr in ihren Armen halten werde.

Von jetzt an ging sie stiller umher und mit gesenkten Wimpern, woran mitunter Tränen hingen. Das Volk begann wieder, sie zu begrüßen, die göttliche Gnadenwirkung erweise sich an der Frau, hatte ein frommer Mönch gesagt.

Beatrice griff aber an einem Tage in ihre Truhe und zog ein zierliches Messer mit eingelegtem Schaft hervor, Herr Guido hatte es einem nach Rom reisenden venetianischen Kaufmanne abgenommen. Es war ein wenig rostig geworden, sie gab es einem wandernden Kleriker mit, dem sie Barmherzigkeit erwies. Wie er es ihr hell und glänzend und aufs beste geschärft zurückbrachte, trat sie damit in stiller Mittagsstunde an das Portal zu dem dürren Feigenbaum und sprach zu ihm: Gern will ich sterben, damit du frische Früchte erhaltest und mein Gemahl zurückkehre. Denn sein Leben ist mir noch teurer als mein eigenes. Zwar sind es seine beiden Pfirsiche, die ich dir geben will, doch hoffe ich auf die göttliche Gnade. Dann öffnete sie schnell ihr Mieder, und das Messer blitzte, mit dem sie ihre beiden weißen Brüste abschnitt. Sie heftete sie auf die dürren Zweige, und ihr herniederfallendes Blut drang durch die Spalten der Steine zu den Wurzeln des alten Baumes.

Als Herr Guido nach einem andern Jahr zurückkehrte, fand er statt des erhofften Brautbettes nur ein verschlossenes Gewölbe. Aber er erkannte wohl die göttliche Gnade, die der armen Frau ihr Opfer zugerechnet hatte, denn der dürre Feigenbaum hing voll frischer Früchte. Herr Guido machte eine Stiftung für ewige Zeiten zur Erhaltung der Kapelle, in der sie beigestellt ist, und zum Lesen einer jährlichen Messe für die Seele seiner Gemahlin. Wie mir Don Agostino Salvini versichert, ist diese Messe bis vor zweihundert Jahren regelmäßig gelesen worden, alljährlich am Tage des heiligen Calixtus. Weshalb noch heute die Kapelle besser erhalten ist, als der Rest der Ruinen.

*

Ich drückte dem Cavaliere nur leichthin meine Anerkennung aus, ohne weiter auf seine Erzählung einzugehen. Denn einerseits erfreute mich ein menschliches Kuriosum wie dieses, daß wenige Wegstunden von einer der Hauptstädte europäischer Kultur ein Volk haust, noch immer so kindlich wild, wie solche bei ihm lebendig gebliebene Legende bezeugt. Aber dann hat doch die Wildheit der Leute und der von ihr unzertrennliche Aberglaube und Fanatismus etwas nicht weniger Beschämendes als Abstoßendes. Wir schwiegen also und schnauften, ich von der Anstrengung des Gehens, mein Freund von der des Sprechens. Um so liebenswürdiger war es von seiner Seite, mir den Esel abzutreten.

Der Weg beschrieb gerade die letzte Biegung vor der Stadt. Wie wir um die Felsenecke waren, lag sie vor uns, und zwar als Dekoration zu einem nicht üblen Schauspiel. Die Abendröte, die den Himmel zu überziehen begann, stand hier am tiefsten. Schwefelgelbe und violette Tinten umflossen den Berghang und die ins Leere ragenden Zinnen der schwarzen Stadtmauer, einige Häusergiebel samt dem vierkantigen Campanile; und daraus löste sich ein wolkiges, quirlendes Rot, das wogte, als wollte es alles einhüllen und von unbekannten Tiefen her die Bergstraße überschwemmen. Aus dem Stadttor wickelte sich eben eine Prozession hervor. Von hinten, wo dunkle Mönchstrachten auftauchten, wurden gemurmelte Litaneien vernehmlich. Voraus gingen weiße Gestalten, auf deren Schultern der Himmel schimmernde rote Flocken legte. Die erste von ihnen trug ein silbernes Kreuz, sie hielt es so hoch, daß es in einer rosigen Luft frei zu schwimmen schien. Es blitzte in zahllosen bunten Lichtbrechungen, es schwankte leise hin und her und sah aus, als wollte es sich aus einer anderen Sphäre herniederneigen, wie ein mystisches Zeichen sich über die Häupter anbetender Menschen neigt. Ich bin ein empfänglicher Mensch, und in dieser Minute, ich gestehe es, war ich beinahe klerikal gesinnt.

Wir drückten uns an den Felsen, um den Zug vorüberzulassen. Es waren junge Konfirmandinnen, auf den Gesichtern die liebe Andacht, in der alle dämmernde Güte und alles harmlose Vertrauen der Kindheit sich noch einmal gesammelt zeigt zu einem hohen Festtag der Seele. Ein kurzer Festtag, hinter dem eine graue Reihe von Alltagen schon hervorsieht. Bis auf zwei oder drei, denen ich lieber nichts prophezeien will, werden es ehrbare Familienmütter werden, sagte ich mir. Darauf folgten die Mönche, junge Franziskaner im Haarkranz, alte Kapuziner mit langen Bärten, und endlich noch eine einzelne weibliche Gestalt, in einiger Entfernung von dem hinterdreinziehenden Volk.

Diese Frau verlangte mehr Aufmerksamkeit als die andern. Sie ging in der Tracht der Schulschwestern, die die Herde der jungen Mädchen schützend umringten, doch ärmlicher, also wohl eine dienende Schwester. Der magere, aber große und starkknochige Körper, in dem groben blauen Barchentkleide straff aufgerichtet, wiegte sich mit so unverkennbarer Hoheit, als wären die Füße, statt in breiten Bauernschuhen, auf den spitzen Absätzen der römischen Damen einhergegangen. Ihre Augen sahen groß, schwarz und leer hinweg über die Köpfe der andern. Das breite Gesicht, mit schlaffer gelber Haut unter den Backenknochen, war hart umrissen, der Mund redete von einer erstarrten Leidenschaftlichkeit so ausdrucksvoll, daß mich der Gedanke beunruhigte, um was seine aufgesprungenen, bebenden Lippen beten mochten. Im selben Augenblick ließ sie mich die Hauptursache der eigentümlichen Tragik merken, mit der ihre Erscheinung wirkte. Eine der grauen Haarsträhnen, die unter der ungeheuren weißen Flügelhaube ihr ins Gesicht hingen, war über das Auge geglitten, und sie warf sie mit einem Ruck des Kopfes zurück. Dabei sah ich, daß ihre linke Gesichtshälfte der besonderen, ausdrucksvollen Verzerrung unterlag, die auf der einseitigen Lähmung des Fazialis beruht. Die Illusionsfähigkeit des Menschen bleibt erstaunlich. Ein Muskel funktioniert schlecht oder gar nicht, und wir ahnen die Abgründe einer Seele.

Indes wir den Marsch wieder aufnahmen, fragte ich den Cavaliere Crisostomo:

»Was war das für eine Frau, die große alte?«

Er blieb stehen, traf seine gewohnten Vorbereitungen und sagte:

»Ä. Eine arme Närrin.«

Das letzte Stück der Straße stieg steil bergan, und es wäre grausam gewesen, meinem atemlosen Begleiter weitere Erklärungen abzunötigen. Am Tor nahm man uns den Esel ab, dann wanderten wir mit Behagen durch die Kellerluft eines ewig sonnenlosen Gäßchens, bevor wir den Kommunalplatz betraten, über den sich die Abendschatten lagerten.

Vor dem Café des Sor Pierluigi trafen wir einige Herren, mit denen ich schon am Morgen bekannt geworden war. Der Doktor Pio Vitulli fragte mich höflich:

»Einen Absinth vor dem Essen?«

Ich bat um einen Wermut. Drinnen im Café bemerkte ich durch die schmutzigen Scheiben nichts als Fliegen. Wir blieben draußen und stellten die Füße auf die hohen Querleisten der Stühle; so war man vor den Flöhen, die das Pflaster des Platzes bevölkerten, leidlich sicher. Neben mir, den Rücken an der Mauer, trank der Postverwalter seinen Kräuterlikör. Sein Kinn mit dem prachtvollen Bart hing schon ein wenig schlaff auf das Hemd hernieder, und er bemühte sich angelegentlich, aus dem aufgesprungenen Lederbezug seines Sitzes die Matratze vollends hervorzuziehen. Ich bemerkte ihm:

»Sie tragen zum Ruin des Sor Pierluigi bei.«

Er gab Zeichen plötzlicher Erregung und nahm die Gesellschaft zu Zeugen, daß der jüngste Bankkrach der skandalöseste von allen sei.

»Wo bleibt die Regierung?« rief er aus.

Der ihm gegenübersitzende Apotheker, ein kleines gelbes Männchen, begann sofort zu gestikulieren. Ich meinerseits ermunterte den Cavaliere Crisostomo:

»Sie wollten mir sagen, wer jene Frau sei, die in der Prozession auffiel.«

Der ausgezeichnete Rechtsgelehrte zeigte alle seine Zahnlücken, bemüht, ein feines Verständnis in seiner Miene auszudrücken. Er stieß den Doktor an:

»Unser Freund ist ein Kenner. Er interessiert sich für die Fürstin.«

»Für wen?« rief ich. »Die Fürstin?«

»Man nennt sie die Fürstin«, erklärte mir der zuvorkommende Doktor, »weil sie zu ihrer Zeit – aber das ist an die vierzig Jahre her«, betonte er nachdrücklich – »die Geliebte unseres Fürsten Cesare war.«

Ich kam in Gedanken auf meine früheren Betrachtungen zurück und fragte mich, ob hier etwa der Familienton der Tordisasso wieder anklingen werde.

»Und auch die Geliebte des Kardinals ist sie gewesen«, setzte indessen der Doktor hinzu, wobei er den Apotheker wohlwollend ansah. Dieser machte ein ängstliches Gesicht, und der Cavaliere Chrisostomo flüsterte mir zu:

»Der Kardinal, dessen Parochie seinerzeit Rocca de' Fichi war, gilt den Klerikalen der Kommune noch immer als einer ihrer Heiligen.«

»Wer viel geliebt hat, dem wird viel vergeben«, bemerkte, sich aufraffend, der Apotheker, doch ohne Überzeugung.

»Man nennt sie die Fürstin?« fragte ich nochmals. Doktor Vitulli erklärte:

»Aber ohne unfreundliche Absicht. Man würde ihr den Titel nicht geben, wenn die arme Närrin ihn nicht gern hörte. Die alte Maria genießt die allgemeinen Sympathien. Begraben wir sie, wird die ganze Gegend ihr das Geleit geben.«

»Ah!« rief ich aus. »Wie man in San Gregorio Magno, zur Zeit des großen Julius II., auf einen Leichenstein den Ehrennamen gesetzt hat: Cortigiana Romana.«

»Ah!« so begann nun der Doktor, der in seiner Jugend einige Jahre am Hospital von Santo Spirito Assistent gewesen ist, zu schwärmen: »Ah, die römische Kurtisane der Überlieferung, sie ist im Aussterben begriffen,«

»Wie alle Schönheit der früheren Tage.« Der Cavaliere machte diese poetische Zwischenbemerkung. Auch mich begeisterte der Gegenstand aufrichtig, ich erklärte mich dem Doktor gesinnungsverwandt, ich erläuterte seinen Gedanken.

»Die Rasse! Die Rasse ist die einzige wahre Tugend der Frau. Welch eine Liebe sich damals feiern ließ mit jenen, von den entnervten Enkeln heute zugunsten hergereister Lebedamen vernachlässigten Frauen, den echten Römerinnen von Rom! Die Liebe mit ihnen war stark und kriegerisch wie ihre hohen Brauen, der Helm von schwarzen Haaren über ihrer engen Stirn und die wuchtige Wölbung ihrer Büste. Die Liebe war weich und schmeichlerisch wie ihre mattgoldne flaumige Haut und das Wiegen ihres Ganges, das nicht die Anmut der Schwäche war, sondern daher stammte, daß ihre Hüften breit waren und auf festen Schenkeln ruhten. Und immer war sie einfach, die Liebe solcher Frauen, fern von zerrüttenden Reizungen oder Qualen.«

»Unter dem Vorbehalt«, ergänzte ich, »eines Tages, ganz rasch, einen physischen oder moralischen Dolchstoß zu versetzen.«

Doktor Vitulli, seinerseits erfreut, auf einem so ersprießlichen Gebiete sich mit mir gefunden zu haben, lehnte sich weit über den Tisch und sagte:

»Ihre Worte enthalten eine genaue Beschreibung der Maria Pavoncelli, wie sie in ihrer besten Zeit aussah. Ich selbst war ein halbes Kind, als ich sie damals erblickte, habe auch nur der Szene beigewohnt, die den Höhepunkt von Mariettas abenteuerlichen Schicksalen bildete. Doch hat mein illustrer Lehrer und Freund, der Professor Carfoglio, der schon damals das Vertrauen der päpstlichen Aristokratie genoß, mir des längern von der Sache erzählt.«

Der Cavaliere ächzte an meinem Ohr:

»Ermuntern Sie ihn! Jedesmal, wenn er auf die Sache zu sprechen kommt, weiß er neue Einzelheiten zu berichten.«

»Ah!« sagte ich bloß, während der Doktor scheinbar abwehrte.

»Erwarten Sie keine historische Darstellung. Die Katastrophen in den Palästen der Patrizier oder gar der regierenden Geistlichkeit gingen, so patriarchalisch das Regiment aussah, doch immer wie in unzugänglichen Sphären vor sich. Je leidenschaftlicher das Volk, in Ermangelung anderer öffentlicher Interessen, an den Schicksalen der Herren teilnahm, desto eher ward alles in die Nebel der Legende entrückt.

Marietta war kaum achtzehn Jahre alt, als sie in die Gunst Sr. Eminenz des Kardinals Tordisasso aufgenommen wurde. Sie kam nicht gerade aus den Armen der Mutter, sondern hatte bereits einige unbedeutende Erlebnisse hinter sich, in die große Welt aber, in die Welt der Kenner, wurde sie wirklich erst durch den Kardinal eingeführt.

Die schwarzen Mauern des Palastes Tordisasso am Ripetta-Hafen, mit ihrem hängenden Palmengarten und dem plätschernden Brunnen in der schiefwinklig einspringenden Loggia über dem bemoosten Säulenportal, jetzt sind sie wohl für immer verstummt. Die Gitterfenster werden nie mehr etwas Ähnliches zu verbergen haben wie die Feste, die damals hinter ihnen gefeiert wurden. Der Kardinal war eigentlich der letzte der Patrizier, dem sein Vermögen es noch gestattete, eine der alten Würde eines römischen Fürsten angemessene Hofhaltung zu bewahren. Ganz wie in den großen Zeiten, bevölkerte ein Heer von Klienten, dienenden Edelleuten, Künstlern und Frauen den Palast. Seine Eminenz selbst erschien als die verkörperte Familienüberlieferung. Er hatte den schmalen, feinen, im Alter noch faltenlosen Mund der Tordisasso und trug dicht unter der Nase den kleinen, breit ausgebürsteten Schnurrbart und auf dem energischen Doppelkinn den kurzen weißen Spitzbart, gerade wie sein Ahnherr, der Kardinal Tullio, der vor dreihundert Jahren in die Staatsgeheimnisse Sixtus des Fünften eingeweiht war.

Natürlich mußte die gute Sitte gewahrt bleiben, und Marietta galt öffentlich als die Geliebte des fünfundzwanzigjährigen Fürsten Cesare, der bei seinem Onkel wohnte. Das war gefährlich, denn für den stolzen alten Herrn empfand das Mädchen höchstens Dankbarkeit. Sie war schon damals voll aufgeblüht, Fürst Cesare aber ein blonder, schmächtiger Jüngling, etwas kränklich, und man glaubte nicht, daß er es zu so hohen Jahren bringen werde. Er betete sie an, weil sie die vollkommene Gesundheit und die ruhige Kraft war, sie liebte seine knabenhafte Grazie und sein dünnes, vornehmes Blut.

Der Kardinal besaß den in seiner Stellung besonders schweren Fehler, eifersüchtig zu sein. Seine Eifersucht war nicht die hämische oder wehmütige eines Alten, sondern von stürmischer Wildheit. Wenn ihn seine Leidenschaft befiel, wurde seine Miene so schrecklich, daß von den vielen Spionen, die sich dem Liebespaar gefällig erwiesen, plötzlich nicht einer mehr zur Stelle war, und er überraschte mit Leichtigkeit seinen Neffen in der Gesellschaft Mariettas.

Bei einer besonders schmerzlichen Gelegenheit ließ die Leidenschaft den Kardinal alle Klugheit vergessen. Obwohl es Frühjahr und das Gesellschaftstreiben eben im Wachsen war, verbannte er seinen Neffen hierher nach Rocca de' Fichi und gab den Entschluß kund, seinen eigenen Haushalt für den ganzen Sommer nach Nettuno, in das Kastell über dem Meer, zu verlegen. Marietta sollte dahin abreisen. Seine Befehle waren so gemessen, daß niemand zu widersprechen wagte. Am andern Tage glaubte er sie vollzogen.

Er kam von seiner Abschiedsaudienz im Vatikan, bestieg seine Karosse und fuhr über den Platz, als ihm aus den Kolonnaden, von Porta Angelica her, ein anderer Wagen in den Weg rollte. Die beiden Gefährte hielten einander gegenüber. In dem zweiten saß Maria Pavoncelli, und hinter ihr, im Schatten, meinte der Kardinal seinen Neffen zu bemerken. Er beugte sich hinaus, um seinem berittenen Gefolge Befehle zu erteilen, und seine Miene verhieß nichts Gutes. Da fiel etwas dicht an seinem Gesicht vorüber in den Wagen. Er sah Maria mit der königlichen Gebärde, die sein leidenschaftliches Herz so sehr liebte, an ihre Stirn fassen, und gleich darauf flog ihr Brillantendiadem aus ihrem Wagenfenster in das seinige. Die Spangen und die Ringe folgten, die sie von ihren Armen und Händen streifte, das Kreuz von ihrer Brust, die Schnallen ihrer Schuhe, endlich mit Klappern und Klingen die Schatulle, die vor ihr auf dem Sitz stand. Der Kardinal, kraftlos in die Kissen zurückgesunken, saß inmitten der Kleinodien, die aus dem dunklen Hintergrunde der Karosse hervorfunkelten. Seine Leute entführten ihn im Galopp. Schon hatte ein Haufe staunenden Volks sich angesammelt. Mein illustrer Freund Professor Carfoglio versicherte mir, er habe noch nach Jahren die Bettler auf dem Petersplatz von der Diamantenschlacht des Kardinals Tordisasso reden hören.

Bis zum Abend blieb der Kardinal für jedermann unsichtbar. Nachdem er einige Vertraute zur Berichterstattung vorgelassen hatte, begann er zwei Stunden nach dem Aveläuten eine stürmische Tätigkeit zu entfalten. Einige dreißig seiner Leute, die Seine Eminenz selbst auswählte, wurden bewaffnet, von den Wachtposten, aus den Schenken, wo man sie auftrieb, wurden Sbirren herbeigeschleppt, denen der Kardinal persönlich seine Anordnungen erteilte. Mehrere von ihnen machten sich sofort auf. Als es völlig Nacht geworden war, sahen die verspäteten Kaffeehausbesucher die rote Kalesche des Kardinals, von Bewaffneten umgeben, im Fackelschein durch die Straßen zum Lateran hinaufsausen. Zwei Vorwitzige, die vor den Sbirren nur mit Mühe entkamen, stellten fest, daß der Zug durch das Tor von San Giovanni die Campagna erreichte.«

»Unglaublich!« rief ich aus, und jeder ordnungliebende Bürger würde es ausgerufen haben. »Eine Expedition solcher Art mit Hilfe der vom Staate besoldeten Polizeisoldaten!«

»Mein Vater«, fuhr der Doktor fort, »war zu jener Zeit Verwalter der Villa von Rocca de' Fichi. Er hat das Vertrauen des Fürsten bis an seinen Tod genossen, und ich würde heute in der Stille des Parkschattens sein Nachfolger sein, wenn ich nicht ein mühsames Studium vorgezogen hätte, das mir nichts weiter einträgt, als im Rumpelwagen über heiße Steinwege von einem abgelegenen Gebirgsnest in das andere zu kutschieren. Ich war fünfzehnjährig und schlief in dem kleinen Hängezimmer, über einem der ungeheuren Pfeiler des Parktores. In jener Nacht wurde ich durch ein wirres Geräusch aus dem Schlafe geschreckt und sah eine Menge springender Lichter blutige Schatten auf meine Wände werfen. Ich stürzte ans Fenster, zog mich aber vorsichtig zurück, als ich in die verdächtigen Gesichter von Sbirren blickte. Der Zug verlor sich um die Ecke der Palastmauer. Eilig raffte ich meine Kleider zusammen und stahl mich hinter die Bosketts, der Front des Hauses gegenüber. Der kurze Vorgang, den ich von dort aus beobachtete, hat sich meiner Einbildung genau eingeprägt.

Der Kardinal Tordisasso lehnte weit aus dem Fenster seiner Karosse und schien einem vor ihm Stehenden Anweisungen zu geben. Der Mann stieg die Freitreppe hinan. Der Haupteingang befindet sich oberhalb der Freitreppe, ungefähr in der Höhe des halben Stockwerks, im Hintergrund einer weiten Loggia. Gewöhnlich blickte man von unten bis in die Tiefe einer Spiegelgalerie hinein, damals war aber der Eingang mit schweren Torflügeln versperrt, die ich noch am Morgen nicht wahrgenommen hatte. Der Einzug des jungen Fürsten mit seiner Geliebten war von meinem Vater allen Schloßleuten sorgfältig verheimlicht worden.

Der Beauftragte des Kardinals tat mit dem Kolben seiner Pistole einige Stöße gegen das Tor, die ein hallendes Echo weckten in der plötzlich eingetretenen Stille. Keine Antwort erfolgte. Ein Haufe von Leuten drängte, um dem Kardinal ihren Diensteifer zu beweisen, dem ersten nach die Freitreppe hinauf. Da wurden durch die vier runden Ochsenaugen, die sich in der Mauer oberhalb des Einganges befinden, einige Flintenläufe geschoben. Die zunächst stehenden Sbirren drückten sich eilig gegen die Wand.

Sobald der Kardinal des Vorgangs inne wurde, war er aus der Karosse gesprungen, und ich habe niemals wieder einen Mann so wie ihn, jedes Glied seines Leibes, jeden Muskel seines Gesichts, vor Wut beben gesehen. »Wir werden sehen, ob sie schießen«, rief er mit erstickter Stimme, »ihr aber hütet euch, mir diese Tür unerbrochen zu lassen.« Er wartete den Erfolg der Stöße, den einige Männer mit schnell herbeigeschafften Stämmen und Eisenstangen gegen die festen Planken führten, nicht ab, er wies auf das Lorbeergebüsch, das die weite Nische der runden Treppe ausfüllte, und befahl, vor leidenschaftlicher Ungeduld mit den Füßen stampfend, man solle das Feuer an die Tür legen.

Im nächsten Augenblick war unter den schönen Sträuchern eine heillose Verwüstung angerichtet, doch hatten die Diener nicht Zeit, den Scheiterhaufen aufzubauen, sie wichen zurück, denn die Tür öffnete sich. Maria Pavoncelli trat allein in die Loggia hinaus und schritt langsam bis an die Balustrade vor. Sie trug ein weißes, fließendes Gewand, und ihre Büste glänzte in dem hellen Schein, der rings um sie her flackerte. Die Spiegelgalerie hinter ihr war unbeleuchtet, aber die irren Widerscheine, die das Fackellicht dort erregte, tanzten in der Finsternis umher. Auf diesem flammenden Hintergrund unterschied man ihr verschlossenes, drohendes Gesicht. Sie machte eine Bewegung über die Balustrade hinweg mit der Hand, sie deutete auf den Kardinal. Ich starrte sie aus meinem Versteck fast mit Grauen an, so schrecklich war ihre Schönheit und so sehr erschien mir ihre Gebärde als diejenige einer königlichen Richterin. Der Eindruck auf meine halb entwickelten Sinne war so stark, daß ich mir lebenslänglich ein endgültiges, unanfechtbares Urteil bloß unter dieser Gebärde vorzustellen vermocht habe, und in meinem Innern führe ich sie aus, und wenn ich mich am Lager eines Sterbenden befinde. Sie sagte nichts, sie stand, und ihre Hand richtete jenen Greis – der stillhielt; und auch die Gruppen der Männer blieben in der großen Stille, die eintrat, wie versteinert.

Der Kardinal sah mir nicht mehr wie derselbe Mensch aus. In der roten Seide seines Gewandes, die früher im Fackellicht straff erglänzt hatte, lagen jetzt tiefe schwarze Falten, so eingesunken war seine Haltung. Sein Gesicht, vorher tiefrot vor Wut, glich einer Totenmaske. Er sah mit blassen Augen ganz starr auf die Frau, deren Schönheit für ihn wohl wirklich zur Meduse geworden war. Der arme Kardinal! Er hat bei anderer Gelegenheit gezeigt, daß er der Mann dazu war, die Person, deren er habhaft werden wollte, in recht rücksichtsloser Weise zum Mitkommen zu bewegen. Wenn er es diesmal nicht tat, so beweist dies vielleicht, daß Marietta von dem alten leidenschaftlichen Manne tiefer geliebt worden ist, als von irgendeinem andern. Aber so ist das Ende; die alte Maria geht nun umher mit der stillen Verrücktheit, die sie sich in der Gesellschaft eines andern zugezogen hat.«

»Der Kardinal«, rief ich aus, »ist damals wirklich unverrichtetersache heimgekehrt?«

»Er hat kein Wort mehr gesprochen, sondern ist in seinen Wagen gestiegen und zurückgefahren wie er gekommen war. Ich schlich mich zum Parktor und sah den Zug blutiger Lichter, die rote Karosse in ihrer Mitte, durch die Campagna zurückrasen. Der ganze Vorgang hatte kaum fünfzehn Minuten beansprucht. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hielt ich zunächst alles für einen phantastischen Traum.

Der Rest ist mir wieder nur vom Hörensagen bekannt, und niemand kann viel davon wissen. Der Kardinal soll tagelang in seinen Zimmern eingeschlossen geblieben sein, man behauptete, er sei mit dem Kopf gegen die Wände gerannt. Die ihn nachher gesehen haben, sagten, er sei ein gebrochener Mann gewesen. Tatsache ist, daß er außerhalb seiner Repräsentationspflichten keine Festlichkeiten mehr veranstaltete und daß der Palast am Ripettahafen sich schon damals leerte. Übrigens hat der Kardinal die für seinen Stolz so schmachvolle Niederlage nicht lange überlebt. Vor seinem Tode, der ein halbes Jahr darauf erfolgte, soll er sein Unglück und seine Leidenschaft in schwungvollen lateinischen Versen ausgeklagt haben. Einige, die sie gesehen haben wollten, erklärten sie für im höchsten Maße anstößig.«

»Das sind Redereien«, sagte der Apotheker.

Der Doktor hatte seine Erzählung beendet, und wir schwiegen eine Weile. Der Posthalter war auf seinem Sitze eingeschlafen, der Cavaliere Crisostomo ächzte leise vor sich hin, weil er den zweiten Absinth, den er während der langen Rede des Doktors genossen hatte, nicht vertragen konnte.

Was mich selbst anbetrifft, ich dachte an den Kardinal, der aus enttäuschter Leidenschaft den Kopf gegen die Wände rennt, während ich um mich her die friedliche Versammlung betrachtete, die hinter ihren Gläsern gähnte. In ähnlicher Gesellschaft erzählt man noch bisweilen solche Geschichten, vor dem schmierigen Café, auf dem Kommunalplatz eines verfallenen Bergnestes, während in den Tränktrog, der ein schön gemeißelter Sarkophag ist, auf dem Schatten des Domportals wie Silber erglänzend ein Wässerchen rinnt, und das Mondlicht die Lavaquadern des Pflasters für einige Stunden weißwäscht.

*

»Das war der Kardinal Tordisasso. Aber der Fürst Cesare?«

Da Doktor Vitulli ein verlegenes Gesicht machte, nahm ihm der Cavaliere die Antwort ab.

»Der Fürst hat ein Drama hinter sich, genau wie sein Ohm und die meisten seiner Familie. Nur daß die Katastrophe nicht mehr mit ganz so tragischer Leidenschaft hereinbrach, wie dies den alten Herren zu geschehen pflegte. Es lief vielmehr auf eine moderne Art von Verrücktheit hinaus.«

Der Cavaliere fürchtete wohl zuviel gesagt zu haben, denn er suchte seine Mitteilung einzuschränken.

»Übrigens ist aber Seine Exzellenz ein durchaus klarer Kopf, weise und bestimmt bei den Geschäften, die ich mit ihm zu verhandeln habe.«

»So liegt dennoch eine seelische Störung vor?« fragte ich voll Neugier.

»Ä«, machte der Cavaliere. Der Doktor gab, während er sich erhob, leichthin eine Erklärung.

»Es soll etwas wie eine Übertragung psychischer Bilder stattgefunden haben, die infolge des Abhandenkommens der Reduktionskraft zu einer fortgesetzten Illusion geführt hat. Der illustre Carfoglio sagt so. Ich selbst maße mir kein Urteil an, denn bei meinen Bauern ist mir Derartiges noch nie vorgekommen.«

Er sah nach der Uhr und rief aus:

»Nach halb zehn! Meine Frau wird mir eine Szene machen.«

»Es wird Zeit zum Nachtessen zu gehen«, sagten auch die andern, und die Gesellschaft trennte sich unter Komplimenten.

Ich ging mit dem Cavaliere langsam über den Platz. Wie wir uns anschickten, die Treppengasse hinaufzusteigen, blieb er stehen und begann:

»Sie haben nun so viel von unsern Geschichten erfahren, daß man Ihnen ohne Umstände auch das übrige sagen darf. Das alles ist zwar viele Jahre her, aber der Fürst lebt noch, und so sind wir nicht mitteilsam gegen jeden.«

Ich dankte für das bewiesene Vertrauen, und während wir unter häufigem Stehenbleiben und Ächzen zum Hause meines Gastfreundes hinanklommen, erleichterte er sich von dem Rest dessen, was er wußte.

»Fürst Cesare blieb damals mit Marietta Pavoncelli in dem Palast von Rocca de' Fichi. Es war aber nicht das Idyll von Verliebten, die ihr Glück im ländlichen Grün verstecken. Weder er noch sie mochten die gewohnte Hofhaltung entbehren. Die Schar der Gäste, Mitesser und Lustigmacher vermehrte sich sogar noch, als nach sechs Monaten der Kardinal gestorben, der Familienbesitz dem jungen Fürsten zugefallen war. Die damals hinter den Gitterstäben des Tores angestaunten Maskeraden, Balletts und nächtlichen Parkfeste leben als Feenmärchen in den Köpfen unserer alten Weiber fort. Meistens wurden diese Feste von einem jungen Künstler namens Galboni geleitet, der alle Talente gehabt haben soll. Er ist nach der Art solcher Leute infolge eines lockern Lebenswandels verkommen. Der Fürst war versessen darauf, seine Geliebte in allen erdenklichen Haltungen und Kostümen von Galboni malen, in Stein, Silber und Elfenbein abbilden zu lassen. Park und Schloß wimmeln von diesen Kunstwerken.

Nach einem Jahr dieses Lebens liebte sich das Paar scheinbar mehr als je. Und vielleicht nicht nur scheinbar. Aber der Fürst war damals, wie gesagt, recht kränklich, und stellen Sie sich das große starke Mädchen vor. Den Fürsten einmal sich kurze Zeit erholen lassen und einem kräftigen Kerl folgen, war eigentlich gar kein Verrat an ihrer Liebe, sondern nur ein Ausbruch ihres gesunden Temperaments, wegen dessen kein ernsthafter Denker sie verurteilen kann.«

Der Cavaliere blieb stehen und sah mich triumphierend an.

»Kurz und gut«, so fuhr er fort, »eines Nachts war sie mit dem Galboni davongegangen. Und hier liegt die Katastrophe, die eigentlich nur der armen Marietta übel bekommen ist. Denn als sie nach sechs Wochen, wie ein Beobachter voraussehen mußte, zum Fürsten zurückkehrte, kannte er sie nicht mehr.«

»Wie denn?« fragte ich, da ich falsch gehört zu haben glaubte.

»Er kannte sie nicht mehr«, wiederholte mit geheimnisvollem Lächeln der Cavaliere, und er zog die Schultern hoch.

»Heute kann ich Ihnen dies nicht erklären, mein Lieber. Sie würden die Sache nicht glauben, ohne sie mit eignen Augen gesehen zu haben. Wollen Sie morgen früh mit mir einen Spaziergang nach der fürstlichen Villa machen?«

Ich sagte zu und tat noch die Frage an meinen Wirt, als wir schon vor seiner Haustür standen:

»Und daher schreibt sich das Unglück der Maria Pavoncelli?«

»Daher. Denn als es ihr klar wurde, daß sie den Fürsten für immer verloren habe, weil sie keine Macht besaß über den Zustand, in den er durch ihre Schuld verfallen war, da stürzte sie sich ins Wasser. Übrigens tat sie es von derselben Bergstraße aus, auf der sie uns heute begegnet ist. Ein Mönch fischte sie heraus und brachte sie zu den Schulschwestern. Unter der scheußlichen Tracht der frommen Frauen ist ihre Schönheit allmählich eingetrocknet. Sie war ein wenig einfältig geworden, aber ihre kleinen Manien sind ganz harmlos, und sie tut Gutes, soviel sie kann.«

Die Hausfrau erwartete uns schon längst mit dem Nachtessen.

Als wir in der Morgenfrühe von der Höhe der Stadt herabgestiegen waren und dem Bogen der Straße bis zum Eingang der Villa folgten, erklärte mir der Cavaliere:

»Wir dürfen uns nicht sehen lassen. Der Fürst empfängt mich und andere Geschäftsbesuche immer nur nachmittags. Am Morgen läßt er sich in seiner Verrücktheit nicht stören.«

Der Zypressengang führte uns bis an das Tor der Villa, das mir der Cavaliere vertraulich öffnete; darauf hatten wir das Wohnhaus zu umgehen. Die Front des Palastes liegt dem Abhang zugewendet, an dem sich unterhalb der Stadt der Park hinanzieht. Der Freitreppe gerade gegenüber, zwischen den Bosketts, befindet sich das größte Wasserwerk der Villa, dessen weitem Schwung man den Entwurf des Bernini ansieht. Fischer, die Götter scheinen, leeren in der Höhe gewaltige Fässer, in dem kaskadenartig hinabfließenden Wasser schwimmen erschreckte, fischschwänzige Nixen, drunten in dem ungeheuren Bassin von überlebensgroßen Tritonen lüstern erwartet. Das Wasser rinnt nur noch spärlich herab, der grüne nasse Stein ist vielfach beschädigt, das überall in mächtigen Maßstäben angebrachte Wappen der Tordisasso – ein runder Turm auf einem Felsenrand – geborsten.

Wir stiegen neben den Kaskaden einen Treppenweg hinan, auf die erste der weiten Terrassen, in die der Park vollkommen symmetrisch eingeteilt ist. Sie wird von einem langen, dichten Laubengang durchquert. Ihn bilden Ulmenkronen, ineinander verwachsen und sauber gestutzt. Vor dem Eingang des Weges steht ein hübsches Rundtempelchen, getragen von zierlichen Säulen, deren einige abgebrochen sind. Als künstliche Ruine aufgeführt, ist das Gebäude im Laufe von zweihundert Jahren zur wirklichen geworden.

Wie wir die Rundung halb umgangen hatten, hielt ich den Schritt an, denn eine weibliche Gestalt schien eben die Stufen des Tempels herabzusteigen. Sie war in der idealisierten farbenreichen Tracht der Albanerinnen, das weiße Tuch lag anmutig auf ihrem hohen schwarzen Haar. In der leicht erhobenen Hand hielt sie einen Strauß frischer Blumen. Ich betrachtete das Profil und rief, noch immer ungewiß, halblaut aus:

»Maria Pavoncelli!«

»Es ist ein Werk des Galboni«, sagte der Cavaliere.

Wir betraten den Laubengang. Die Bosketts wiesen hier und da Nischen auf, in denen Hermen standen. Mein Begleiter zog mich in das Versteck hinter einer der Bildsäulen und bat mich, zu warten. Ich blickte das noch lange Stück des Weges hinunter. Die Aussicht ward im Halbkreise von einer großen Steinbank abgeschlossen, die mir aus der Entfernung mit Skulpturen überaus reich verziert schien. Ich unterbrach meine Betrachtung, denn aus einem Seitenwege trat ein Mann hervor und ging auf die Bank zu.

»Der Fürst«, raunte mir der Cavaliere ins Ohr.

Der Fürst ließ sich nach einer artigen Verbeugung auf der Bank nieder. Es sah aus, als begänne er, unter vielen komplimentierenden Gebärden, eine Unterhaltung. Ich beugte mich vorsichtig aus unserm Versteck vor und meinte in dem Grün, das eine Ecke der Bank verhängte, ein Frauenkleid schimmern zu sehen. Gerade erhob sich der Fürst – faßte er nicht, sich verneigend, eine Hand? War er nicht jemandem beim Aufstehen behilflich? Aber dann kam er ganz allein den Laubengang herab.

»Die Dame folgt ihm nicht?« fragte ich.

»Sie ist von Stein«, ächzte der Cavaliere mit verhaltener Heiterkeit.

Der Fürst näherte sich unserem Standpunkt. Er war ein etwas schmächtiger alter Herr, im blauen Leibrock, mit kokettem Spitzenhemd. Er bewegte sein Stöckchen mit dem goldnen Knopf beim Sprechen hin und her, blickte hier und da fragend oder zustimmend zur Rechten, und sein welkes, feingeschnittenes Gesicht trug ein geziertes Lächeln.

Er war an uns vorüber, und bevor er zum Palast hinabstieg, blieb er an dem Rundtempelchen stehen, um mit dankender Verbeugung den Strauß aus der Hand der Albanerin zu nehmen. Mein Begleiter führte mich auf versteckten Wegen ihm nach. Drunten blieben wir hinter einem Boskett, der Freitreppe gegenüber, stehen, ungefähr dort, wo der Doktor Vitulli als Knabe den Mißerfolg des Kardinals angesehen haben mochte.

Der Fürst schritt langsam die Freitreppe hinan, droben ward er von zwei steifen alten Lakaien erwartet, die ihm in die Loggia vorangingen und die Tür zur Galerie aufstießen. Der Fürst führte plötzlich eine große Reverenz aus. Ihm gegenüber, aus einem Rahmen von Laubgewinden, trat eine hohe Frauengestalt hervor, im weißen fließenden Gewand, den Kopf stolz erhoben.

»Dies ist das Meisterwerk des Galboni«, sagte der Cavaliere. »So muß sie in jener Nacht ausgesehen haben.«

Die Tür hatte sich geschlossen, und ich schüttelte plötzlich den Arm meines Begleiters, als wollte ich ihn zu der Erklärung zwingen, daß dies alles Unsinn sei.

»Und diesen künstlichen Stümpereien zu Gefallen hat der Fürst seine lebende Geliebte verleugnet?«

»Ä.«

Der Cavaliere schnappte nach Luft.

»Was soll ich Ihnen sagen? Er konnte schon, solange sie bei ihm war, sich nicht mit genug solcher Nachbildungen umgeben, in seiner Sucht, überall die angebetete Gestalt vor Augen zu haben. Vielleicht hat sich schon damals das Bild, das er in seiner kränklichen, verliebten Seele sich von der Maria machte, auf diese Kunstprodukte übertragen. In der Zeit, als sie ihn verlassen hatte, ist diese Übertragung vollständig geworden, und als sie dann zurückkehrte, kannte er das Original nicht mehr, sondern nur noch seine Abbilder.«

Als er meine ungläubige Miene sah, fügte er noch hinzu:

»Das sind natürlich nur Worte. Aber mehr weiß auch der illustre Carfoglio, auf den sich unser Doktor beruft, nicht von der Sache.«

»Der Fürst ist eigentlich nicht übel daran«, bemerkte ich nachdenklich. »Die wirkliche Maria Pavoncelli ist heute alt, er selbst ist es auch. Die schönen Empfindungen wären alle zum Teufel, wenn nicht seine Narrheit ihm gestattete, noch immerfort, inmitten seines künstlichen Wundergartens, den jugendlichen Liebhaber zu machen.«

»Nicht wahr?« sagte der Cavaliere und gab mir einen vertraulichen Schlag auf den Bauch:

»Wie gut haben es doch die Narren!«

*


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