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Die Gemme

Zuerst erschienen in »Das Wunderbare«, Albert Langen Verlag, München, 1897

Textquelle: Aufbau-Verlag, Berlin, 1953. Heinrich Mann, Novellen, I. Band

 

»Sie finden mich«, rief uns der Hofrat entgegen, als wir durch die weißlackierte Flügeltür den Bibliothekssaal betraten, »Sie finden mich in nicht gelinder Erregung, meine Freunde.«

Im ersten Augenblick zweifelten wir, an welchem Orte des vielwinkligen Gemaches unser Blick den alten Herrn aufzusuchen habe. Wohl fiel von der luftigen Galerie, durch die wir kamen, helles Licht ein. Doch wie mannigfache Gegenstände waren ihm hier in den Weg gestellt! Kreuz und quer bauten sich Büchergestelle, bis nahe zur Decke ragend, Rücken an Rücken oder in rechten Winkeln gegeneinander auf. Oftmals schon waren wir an diesen Schatzhäusern emporgestiegen, um eine wertvolle Handschrift, einen unvergleichlichen Druck des Abraham Wolfgang, Anton Schouten oder Daniel Elzevier vorsichtig herabzulangen, den der Sammler einem Adepten zu zeigen wünschte. Der untere Teil einiger Gestelle wurde von großen Laden eingenommen, in denen Handzeichnungen geschätzter Meister, reinliche Kupferdrucke sorgsam behütet lagen. In der hintersten Gegend des Raumes aber, zu beiden Seiten des breiten Tisches, auf dem zwischen geradlinigen Meißner Vasen und bauchigen Römern ein großer Sèvres-Hund sich über das Tintenfaß ausstreckte – cave canem, pflegte sein Herr zu sagen, mit schmunzelnder Anspielung auf einige Schriften unbekannten Inhalts, die er nie der Öffentlichkeit überliefert hat –, zu beiden Seiten dieses Tisches schlossen sich, auf hohen Stelzbeinen ruhend, einige einfache Kästen aneinander an. Sie wiesen weiße Lackierung nebst Goldkisten auf, das Schlüsselloch bildete eine zierliche Goldrosette. Und sie standen weder zu fern noch zu nah beieinander, als Personen, die ihres Wertes sich wohl bewußt sind. Denn sie bewahrten unter ihren feingeschliffenen Glasscheiben den Herzensstolz des Alten, seine Gemmensammlung.

»In nicht gelinder Erregung finden Sie mich«, so wiederholte der Hofrat Wiedmers, mit seiner etwas kreischenden Stimme, »und doch auch wieder in tiefer Betrachtung.«

Er wendete sich von dem an einer der Bibliothekswände aufgeschlagenen Pulte mit so heftiger Bewegung ab, daß eine Puderwolke um ihn herflog. Näher tretend streckte er uns aus dem mausgrauen Ärmel seines Tuchrockes mit leidenschaftlichem Willkommengruß die Hand entgegen. Dabei fiel wie zufällig die von dem Alten niemals abgeschaffte Spitzenmanschette zurück und entblößte die Hand – seine zarte und wohlgeformte Hand, die durch ihr aristokratisches Wesen dem jungen Diplomaten einstmals, auf dem Wiener Kongreß, beinahe eine vollkommene Gleichberechtigung eingetragen hatte.

»Seit acht Tagen«, fuhr der Greis fort, »lebe ich auf das strengste abgeschlossen von der Welt. Doch da Sie, meine Freunde, mich nun aus meiner Einsamkeit aufscheuchen, begrüße ich es als Fügung, daß Sie, die dessen würdig sind, an meiner Bewegung freundlichen Anteil nehmen sollen.«

»Es ist Ihnen, verehrter Herr Hofrat, etwas Schmerzliches zugestoßen?« riefen Eduard G. und ich wie aus einem Munde.

»Nicht doch.« Er mäßigte seine Stimme zu bedeutsamem Flüstern. »Nicht doch. Es ist vielmehr, was mir begegnet, das freudigste Ereignis meines Lebens.«

Er brachte den zweiten, hinter seinem Rücken verborgenen Arm hervor und öffnete langsam die vorsichtig verschlossene Hand.

»Eine neue Gemme«, riefen wir sogleich und Eduard fügte hinzu:

»Ein Meisterwerk! Welch glückliche Vermehrung Ihres Besitztums, mein verehrter Freund.«

»Ein äußerst sauberer Schnitt«, bemerkte ich.

Mit sanfter Gewalt entnahm ich die Gemme aus des Hofrats Hand, der sich von seinem neuen Eigentum ungern trennen mochte, und betrachtete das Kunstwerk von allen Seiten. Der ovale Stein, der, weiß auf rosigem Grunde, ein weibliches Profil von seltsamem Reize aufwies, lag auf einer dünnen Goldplatte. Die Fassung bildeten in Gold getriebene, zierlich um das Oval gelegte Blätterranken, von schwebenden Putten getragen.

»Wie luftig das kunstvolle Haargebäude herausgearbeitet ist«, äußerte Eduard, dem ich in lebhafter Bewunderung beistimmte.

»Wie natürlich-plastisch fällt doch jene Locke über eine, man möchte sagen, durchsichtige Stirne.«

»Das Auge, wie sprechend.«

»Ich sollte meinen, um den beweglichen Nasenflügel, um den weichen Mund ein rätselhaftes Lächeln spielen zu sehen, das doch nicht da ist?«

Mir war es, als habe der uns aufmerksam beobachtende Hofrat eine unwillkürliche Bewegung geäußert.

»Und der Schnitt des Profils«, sagte Eduard, »so klar ohne Härte. Nichts von dem Maskenhaften, das neueren Arbeiten nur zu leicht anhaftet.« Hier glaubte ich ein unterdrücktes Kichern des Hofrats zu vernehmen. »Wem mag doch dieses Meisterwerk zu verdanken sein?«

»Wer immer der Künstler sei«, so meinte ich bemerken zu müssen, »vermag ich doch nicht einzusehen, Herr Hofrat, inwiefern der glückliche Ankauf dieser Gemme das freudigste Ereignis Ihres Lebens genannt werden sollte. Denn bei allen hohen Vorzügen dieses Stückes scheint doch Ihre Sammlung manches zu besitzen, das sich ihm wohl an die Seite stellen ließe.«

»Lesen Sie!« rief plötzlich der Alte aus, der, während er die Gemme aus meiner Hand zurücknahm, uns an das früher von ihm verlassene Pult zog. Ein Buch lag dort aufgeschlagen. »Lesen Sie!« wiederholte er. »Es ist der neue Katalog meines römischen Freundes Vincenzo Buonvicino, des trefflichen Mannes, der, wenn er mit den Gegenständen seiner Kennerschaft nicht Handel triebe, wohl verdiente, ein Sammler genannt zu werden.«

Wir lasen an der bezeichneten Stelle:

Camei A. 703. Ignoto autore. Detto ritratto della Principessa Foscolini-Winterstein. 1809 (?)

Da wir fragend auf den Hofrat blickten, begann er zu erklären.

»Nicht sobald«, sagte er mit feierlichem Kopfnicken, »nicht sobald hatte ich diese Nummer im Katalog meines Freundes Vincenzo entdeckt, als ich einen dringlichen Auftrag nach Rom ergehen ließ. Ich befand mich nun volle sechs Wochen lang in der peinlichsten Spannung, eine außerordentliche Vermutung, die ich hegte, bestätigt zu sehen. Fragen Sie mich nicht, wie ich das Fieber der langen Erwartung ertrug. Ich ging in Gesellschaft, ohne zu wissen, wen ich traf, ich tat und redete, ich weiß nicht was, begab mich, ich weiß nicht wohin; kaum, daß ich noch lebte. Endlich kommt der gesegnete Morgen, an dem mir der Bote das kostbare Kistchen übergibt. Ich verschweige die unendliche Behutsamkeit, die ich trotz leidenschaftlichster Ungeduld beim Öffnen des zerbrechlichen Gutes anwenden mußte. Endlich liegt dennoch der Schatz vor mir, nach dem ich zwei Dritteile meines Lebens hindurch gefahndet hatte.«

»Aber ich verstehe«, wagte ich einzuwenden, »ich verstehe noch immer nicht –«

»Sie verstehen nicht, welche hervorragende Bedeutung dem in gegenwärtigem Jahrhundert von unbekannter Hand verfertigten Porträtschnitt einer Fürstin Foscolini-Winterstein innewohnen sollte. Allein, meine jungen Freunde, dieses angebliche Bildnis einer unbekannten – mir nur zu wohl bekannten – Dame trägt in Wahrheit –«

Der Alte hatte sein hageres, vor Erregung in die Länge gezogenes Gesicht dem meinigen ganz nahe gebracht. Seine hellen, graublauen und fast wimperlosen Augen waren sehr weit geöffnet und seine dünnen Lippen so fest aufeinandergepreßt, daß hundert kleine Fältchen seiner Wangen strahlenartig auf die Vertiefungen der Mundwinkel zuliefen.

»– trägt in Wahrheit die Züge der Donna Vannozza Orsini, deren übrige Bildnisse zugrunde gegangen sind, und stammt von keinem Geringeren als von dem hochgelobten Meister Benvenuto Cellini.«

»Unmöglich!« rief Eduard G. mit mir wie aus einem Munde, und wir überstürzten uns in Fragen.

»Woher wissen Sie?«

»Haben Sie urkundliche Beweise?«

»Oder welcherlei Merkmale?«

»Die Arbeit trägt irgendeine versteckte Bezeichnung?«

Schon wollte ich die Hand nach der Gemme ausstrecken, doch wehrte mir der Hofrat.

»Nichts von alledem«, entgegnete er mit einem stillen Lächeln. »Sie würden den Ursprung dieses Schnittes niemals entdecken – wäre er denn meinem Kenner Vincenzo verborgen geblieben! –, und mir selbst würde dieser berühmte Ursprung unbekannt sein ohne den seltsamsten Umstand, der ihn mich in höchst glaubwürdiger Weise kennen lehrte. Was ich hier berühre, sind alte Begebenheiten, über die ich nie gesprochen habe und über die in jetziger Zeit außer mir niemand mehr des Näheren unterrichtet sein kann. Allein, da zu bedeutender Stunde das Geschick Sie, meine Freunde, mir zugesandt hat, trage ich kein Bedenken, Sie, falls Sie es lohnend erachten, an meiner freudig und erinnerungsvoll bewegten Stimmung teilnehmen zu lassen.«

Der Alte wies uns mit freundlicher Gebärde zwei steiflehnige Stühle an, er selbst nahm vor seinem Tische, in dem weiten, mit fadenscheinigem Gobelin bezogenen Sessel, halb uns zugewendet, Platz.

»Wie Ihnen wohl bekannt ist, wurde ich als noch recht junger Mann nach Wien entsandt, um unserm hochseligen Herrn Kurfürsten über die Verhältnisse jenes Kongresses zu berichten, der nach Bonapartes vorläufigem Sturz die europäischen Angelegenheiten zu restaurieren unternahm. Als halb offizieller Vertreter eines deutschen Kleinstaates, zudem von bürgerlicher Herkunft, war ich in der erlesenen Gesellschaft, die sich dort zu später nie wieder erhörten Festlichkeiten zusammenfand und, wie es mir heute vorkommt, den letzten Tanz des Europa von ehedem aufführte, doch recht wohl gelitten. Ich besaß leidlich die damals noch weit wichtigere Gabe der Selbstbeherrschung, verstand es, mich auf jenem glatten Boden nie zu weit vorzuwagen und im rechten Augenblick den Fuß zurückzuziehen. Meine Verbindungen waren wenige, doch zeichnete sie beste Qualität aus. Ein Berliner Diplomat, entfernter Verwandter meiner Familie wie auch der des Geheimen Rates von Gentz, führte mich bei diesem ein, und Herr von Gentz, wie ungern er sonst an seine Berliner Vergangenheit erinnert wurde, nahm mich nicht ohne Wohlwollen auf. Er verschaffte mir Zutritt in die Hof- und Staatskanzlei und ich wußte mich dem Kanzler zu empfehlen, der wiederholt die Güte hatte, mir Aufträge zu erteilen. Zu den geschäftlichen fügte er, zwar nur einmal, auch eine persönliche Verhaltungsmaßregel, allein diese ist mir immer bemerkenswert geblieben.

›Sie sind‹, sagte Metternich, ›ein junger Mann von Distinktion und möglichenfalls von Zukunft. Hätte ich einem solchen einen Rat zu erteilen, er lautete: Suchen Sie die Stützpunkte in Ihrer Laufbahn nicht mehr bei den Frauen. Es ist dies, wiewohl einige neuere Fälle das Gegenteil zu beweisen scheinen, ein heute veraltetes System.‹

Nach der respektvollen Anhörung dieses Ausspruches verneigte ich mich ziemlich betroffen und ging mit wunderlichen Gedanken von dannen. Nicht daß ich bis dahin die Prätension gehegt hätte, durch weibliche Intrigen die Ziele meines Ehrgeizes zu erreichen, mich durch Amors Flügel auf die Höhe der geschäftlichen Erfolge tragen zu lassen. Gerade im Gegenteil besaß ich von dem Ernst der Aufträge, die mir inmitten so glänzender Festgäste das Bürgerrecht verschafften, eine vielleicht übertriebene Vorstellung, so daß ich nichts mehr fürchtete, als mich an das Treiben der Gesellschaft zu verlieren. Der überreiche Frauenreiz, von dem man dort täglich umgeben war, erschien mir nicht unverdächtig, ich war entschlossen, Gewehr bei Fuß auszuharren.

Bemerken Sie, meine jungen Freunde, daß viel Leichtsinn der Jugend weniger Schaden zufügt, als eine falsche Berechnung es imstande ist. Da ich mich den allgemeingeselligen Herausforderungen der Weiblichkeit, die mir eine oberflächliche und unschädliche Zerstreuung gewährt hätten, entzog, war ich um so sicherer dazu bestimmt, jener einen zum Opfer zu fallen, in deren Kreis mich das Schicksal trieb. Es war dies die Fürstin Theresa Foscolini-Winterstein, die für die schönste Frau des Jahrhunderts zu erklären ich noch heute keinen Augenblick Bedenken trage. Wenden Sie mir nichts ein! Ich durfte in London der Lady Hamilton die Hand küssen, ich habe Fanny Elßler tanzen gesehen, ich habe bei Madame – doch wozu ferner vergleichen, was unvergleichlich ist. Sie kennen ihre Züge, die, was Ihnen durch später zu berührende Umstände erklärt werden wird, völlig den in diesen Stein geschnittenen glichen. Ich füge hinzu, daß ihr Haar, von eigentümlich stumpfer Kastanienfarbe, zuweilen von unerklärlichen roten Lichtern durchschossen ward, daß ihre umschatteten Augen, zumeist halb geschlossen, wie schwarzer Sammet schmeichelten, manchmal aber weit geöffnet, wie straffgespannte graue Seide erglänzten, daß ihre Gesichtsfarbe blaß, wie nach Honoré von Balzac, einem zeitgenössischen Schriftsteller, die Farbe der meisten Frauen mit sehr langen Haaren, allein von jener südlichen Blässe war, hinter der wir das roteste, leidenschaftlichste Blut hervorschimmern zu sehen meinen – ich füge dies hinzu, und Sie haben das Bild, das sich Ihnen, ach, nicht mehr zu beleben vermag. Mir aber schien damals in diesem vollkommenen Wesen das Leben in seinem ungeteilten Reichtum beschlossen zu liegen. Ihre schlanke, wiewohl üppig vollendete Gestalt – die Fürstin mochte sechsundzwanzig Jahre zählen – bewegte sich mit einer, in ihrer Umgebung nicht gewöhnlichen keuschen Zurückhaltung, dennoch aber sprach jene reife und, wie soll ich sagen, schläfrige Leidenschaft aus ihr, die wir fast ausschließlich an einigen Italienerinnen bester Rasse wahrnehmen. Wenn meine Gedanken sich mit ihr beschäftigten, was nur zu häufig geschah, so erträumte ich sie mir ebensowohl als hingebende Geliebte wie als sicheren und erfahrenen Freund. Ich glaubte niemand so wie ihr mich anvertrauen, nirgend als durch ihre weiche, klangvolle Stimme eine Beratung, eine Teilnahme erfahren zu können, die bei einer lebensklugen und liebenswerten Frau aufzusuchen, dem jungen Neuling so verlockend deucht.

Seltsam war der Umstand, daß die glückliche Sicherheit, die ihr Auftreten bekundete und die man ihrer Stellung augenscheinlich beimaß, dennoch mit den Gerüchten, die sie umgaben, keineswegs übereinstimmen wollte. Wer war der Fürst Foscolini-Winterstein? Öffentlich ließ jedermann gelten, daß der Gatte der Fürstin jener in der Gesellschaft niemals sichtbare Herr unbestimmten Alters sei, der mit ihr den geräumigen Palast bewohnte. Ich hatte einmal Gelegenheit, ihn auf dem Rücksitz ihrer Kalesche Platz nehmen zu sehen. Er war ohne Aufwand gekleidet, hatte ein gelbliches, sorgenvolles Gesicht und die ergrauenden Haare in seine eingesunkenen Schläfen gebürstet. Sprach man vertraulich von der Fürstin, so war von ihrem männlichen Begleiter nie anders als von einem entfernten Verwandten ihrer Familie die Rede, der bei ihr eine Art von Haushofmeister- und Sekretärposten versehen sollte. Dagegen lebte der wirkliche Fürst, ein Sonderling wie man sagte, zurückgezogen auf seinen in Toscana gelegenen Besitzungen. Ob die Gatten durchaus getrennt seien, hierüber wußte das on dit nichts Sicheres beizubringen, doch behauptete es, daß die Fürstin in keineswegs glänzenden Vermögensumständen lebe. In Wien sollte sie unter dem besonderen Schutze einer sehr hohen russischen Persönlichkeit stehen. Hatte man gute Gründe, sie der Klasse jener Frauen von vornehmer Herkunft und unbestimmbarer Lebensweise zuzuzählen, denen die alte Gesellschaft gleich den männlichen aristokratischen Aventuriers eine Stellung zubilligte, die sie durch ihre Erscheinung und ihr Auftreten forderten?

Ich meinerseits war nicht neugierig, diese Einzelheiten zu erfahren. Mußte es mir nicht genügen, sie, die für mich im Mittelpunkt alles Glanzes stand, aus der Entfernung zu bewundern? Die vornehmsten Weltmänner Europas sah ich sich um sie bemühen, ein französischer Emigrierter, Marquis Desjeantes, setzte, kaum in den Besitz eines Teiles seiner Güter zurückgelangt, die Stadt in Erstaunen durch die verschwenderischen Feste, die er der Fürstin zu Ehren veranstaltete. Ein einziges Mal in jener Zeit erhielt ich Gelegenheit, weniger flüchtig mich ihr zu nähern als eine eilige Vorstellung, ein banales Kompliment dies zuließen. Doch erfuhr ich aus diesem Anlaß, daß sie der Gefühle, die sie mir einflößte, völlig sicher sei. Von einem Winkel des Saales, in dem sie sich aufhielt, hatte ich eine geraume Weile zugeschaut, wie sie die ihr dargebrachten Huldigungen entgegennahm, hatte sie mehrmals der Rede eines Kavaliers, dem es gelungen, sie dem Kreise ihrer Bewunderer für einige Augenblicke zu entziehen, zerstreut zuhören, dann mit Desjeantes wenige, wie mich deuchte, kalte Worte wechseln gesehen. Sie neigte sich lässig ein wenig zur Seite, wie berückend sich da ihre Büste, matt schimmernd, aus dem kurzen Mieder hob. Gleich unter der Brust, wie man es damals liebte, floß die schlichtgelbe Seide ihres Gewandes in so leichten, zierlichen Falten hernieder. Ihre Gestalt, voll und duftig, war wohl einer Teerose zu vergleichen – einer ›russischen Tee‹-rose, so lautete das die Runde machende Urteil des mit Bonmots nicht geizenden Fürsten von Ligne. Mein Blick begegnete dem ihrigen, und er deuchte mich dunkel und schwer von irgendeinem Schicksal. Um ihren Mund zitterte ein Lächeln, das mich durchdrang und das ich nicht verstand. Ich weiß nicht, warum mir die Empfindung kam, sie sei unglücklich und bedauernswürdig.

Indessen holte man sie zur Quadrille, die sich im Nebensaal ordnete. Ich bemerkte, daß ihr Gegenüber, ein Offizier, plötzlich abberufen wurde. Wie sich im Augenblick kein Ersatz findet, bin ich kühn genug, mich anzubieten. Gleich danach, indem wir zum Tanze antreten, bereue ich es fast. Ich fühle mich schuldig, die Fürstin, die heute durch jede Aufmerksamkeit belästigt scheint, mit meinem Blick, mit meiner stummen Huldigung verfolgt zu haben. Nun wage ich sie kaum anzusehen. Ich bemerke nur, daß eine Gemme, die ich von weitem schon oft am schlichten Sammetband auf ihrem Halse bemerkt, ihr eigenes Bildnis zeigt. Dann heißt es ›en avant les deux‹, und während ich die Fingerspitzen ihrer frei dargebotenen Hand ergreife, höre ich sie leicht und freundlich sagen:

›Sie dürfen mich ganz ohne Furcht ansehen. Sie wenigstens begehren doch nichts von mir?‹

Ich weiß nicht, was erwidern, wir schreiten in langsamer Tanzbewegung umeinander herum.

›Beachten Sie doch‹, beginnt die Fürstin wieder, die mit leichter Kopfbewegung zur Nachbarquadrille hinüberweist, ›beachten Sie doch jenen galanten Herrn, der die Lady G. komplimentiert. Er hofft von England zu erschmeicheln, was er von Rußland durch mich nicht erreicht hat. Suchen Sie auch mit den Augen den stolzen gelben Spanier auf, der drüben unter dem Vorhange steht, die Brust voll seltener Dekorationen – vielleicht besitzt nur er sie.‹

Der Tanz trennt uns; wie er mich mit der Fürstin wieder zusammenführt, gebe ich ihr kund, daß ich die von ihr bezeichnete Person bemerkt habe. Sie sagte darauf:

›Er würde gern zum Zweck gewisser diskreter Dienste, zu denen man heute Edelleute verwendet, dem Botschafter empfohlen sein. Russisch ist doch jetzt die Parole, und ich gelte als halbe Russin, nicht wahr?‹

Jäh trifft mich ein zorniger Blitz aus ihren Augen, die ich nie so südlich heiß gesehen. Wie anders, mild, fast herzlich, blickt sie beim dritten Zusammentreffen auf mich, während sie zu mir spricht.

›Sie sind sicherlich kein Seladon, wenn ich Ihrem Ernst glauben darf, obwohl – nun, die Schäferspiele sind zu Ende gespielt. Aber noch weniger sind Sie ein ärmlicher Ambitiöser von der heutigen Sorte, und ich halte Sie der Narrheiten und Bosheiten nicht fähig, mit denen uns Liebe und Ehrgeiz verfolgen. Ihr Herz meine ich zu kennen, ich fühle, daß Sie ein Freund sind.‹

›Fürstin, ich danke Ihnen‹, stammele ich, während wir uns die große Reverenz erzeigen.

Als wir uns bei der Schlußpromenade die Hände reichen, wage ich es, die ihrige ganz leicht zu drücken, mit leisen hastigen Worten meinen Dank wiederholend, und wie glücklich bin ich, sie den Druck erwidern zu fühlen.

›Ich weiß, ich weiß‹, flüsterte sie, und indem sie so dicht an mir vorübergeht, daß ihr kühles Haar meine Schläfe streift, sagt sie noch halb über die Schulter hinweg:

›Leben Sie wohl, lieben Sie mich!‹

Nun, ich konnte damals nicht ahnen, unter welchen Umständen sie sich meiner Neigung erinnern, zu welchem Ende sie meine Gefühle noch benutzen sollte. Die Erfahrungen, die zu machen ich bei völligem Aufgehen in den mir anvertrauten Staatsgeschäften zu lange versäumt hatte, blieben mir vorbehalten. An jenem Abend des Glückes enteilte ich, ungeduldig mit meinen Empfindungen allein zu sein. Im Weggehen meinte ich von einem bösen Blick des Marquis Desjeantes gestreift zu werden. Die Fürstin kam mir damals nie wieder zu Gesicht. Ich befand mich zwei Tage später nicht auf jenem Ballfest, das durch die Nachricht von der Rückkehr des Usurpators aus Elba, von seinem Triumphzuge schreckensvoll unterbrochen wurde. Alles stob auseinander, die Russen verließen Wien, die Fürstin Foscolini-Winterstein sogleich nach ihnen. Die Diplomatie war von den Ereignissen nach Hause geschickt. Monate vergingen, für die Welt in heftiger Bewegung, für mich in tiefer Stille. Das Leben unserer kurfürstlichen Residenz stellte geringe Ansprüche an mich, so gelang es mir, meine durch die Kongreßgeselligkeit arg zerrütteten Geldverhältnisse leidlich zu ordnen. Nun lag Waterloo hinter uns, das öffentliche Treiben begann wieder, sich nicht mehr ausschließlich militärisch zu zeigen. Reisende von Distinktion, die angesichts der bevorstehenden Verhandlungen den Weg nach Paris einschlugen, passierten unsere Stadt. Zwar war M. nicht unmittelbar an der alten Straße, wie Sie wissen, doch immerhin bequem gelegen, um als Ausruhequartier, zur Vorbereitung auf das letzte bedeutende Stück der Reise benutzt zu werden. So durfte ich mich nicht wundern, eines Tages das Eintreffen von Fürst und Fürstin Foscolini-Winterstein zu erfahren. Eher fand ich den Umstand auffällig, daß sie nicht im Gasthofe abstiegen. Sie hatten, wie ich hörte, durch vorausgesandten Boten eines der geräumigen Bürgerhäuser, die infolge der Kriegsmiseren zur Miete standen, als Wohnung gewählt.

Sogleich am nächsten Tage stellte ich mich bei der Fürstin ein, ihr die Dienste, die ihr allenfalls erwünscht sein möchten, anzubieten. Im Augenblick meines Erscheinens betrat sie von der andern Seite das Zimmer. Lebhaft schritt sie mir entgegen, die Hand zu freimütiger Begrüßung hingereicht. Es war eine volle, nicht kleine Hand, mit vollkommen geformten, sich schlank verjüngenden Fingern, deren Spitzen ganz leicht zurückgebogen waren. Sie hatte etwas Kraftvolles und Offenherzliches, in der Art mancher italienischer Frauenhände, und während ich sie in der meinigen hielt, erinnerte ich mich deutlich, wie das Gefühl, dieser Frau innig vertrauen zu dürfen, mich recht eigentlich seit ihrem ersten Händedruck überkommen war.

Ich war beglückt, als alter Freund von ihr behandelt zu werden. Der Fürst, so berichtete sie, sei plötzlich erkrankt, sie wisse nicht, wie lange man die Weiterreise werde verzögern müssen, überdies erwarte sie einen in Paris bestellten Reisewagen, vor dessen Ankunft sie keinesfalls aufbrechen könne. Im schlichten Hauskleid, das von ihrem reichen Halse ein mäßiges Stück frei ließ, im Sessel mir gegenüber sitzend, bemerkte sie die Richtung meines Blickes.

›Sie betrachten wieder mein Lieblingsschmuckstück, wie Sie, ich erinnere mich, schon früher taten. Sie sind doch nicht wißbegierig, warum ich mein eigenes Bild, wenn auch in kostbarer Ausführung, am Halse trage? Fragen Sie nicht.

Wissen Sie wohl‹, fuhr die Fürstin nach einem Augenblick des Sinnens fort, ›daß die meisten Frauen irgend so ein Amulett besitzen, wiewohl häufig uneingestandenermaßen. Man hat solch ein Ding gerade am Höhepunkt des Lebens angelegt und läßt es nun nicht von sich, in der törichten Hoffnung, der Abstieg müsse langsamer vonstatten gehen.‹

›Wie nehmen sich‹, rief ich betroffen aus, ›wie nehmen sich solche Worte in Ihrem Munde, Fürstin, aus! Sie, die so sicher auf einer den meisten nie beschiedenen Höhe wandeln.‹

Sie sah mich bedächtig prüfend an, bevor sie sagte:

›Wenn dem so wäre, mein Bester, Sie säßen nicht dort vor mir. Die wirklichen Freunde stellen sich erst ein, wenn es zu spät, sagen wir bloß: wenn es spät ist.‹

Beim Weggehen bemerkte ich scherzend:

›Sie sollten nun, Fürstin, unserer bescheidenen Geselligkeit einen Begriff davon geben, was eine Königin der großen Welt bedeutet.‹

Sie drohte lachend mit dem Finger.

›Machen Sie mich nur schleunigst zum Stadtgespräch.‹

In der Tat gelang es mir, das Wohlwollen einer unserer gesellschaftlichen Autoritäten, der alten Frau von D., für die Fürstin zu gewinnen. Seitdem jene Dame einen Empfang zu Ehren der Fremden veranstaltet hatte, erschöpfte sich die Residenz in Bekundungen ihres Interesses, und auf mich, der hie und da mit der Fürstin zusammen einen Salon betreten durfte, fiel ein Abglanz der mit lächelndem Gleichmut von ihr geernteten Erfolge. Doch vermochte ich es törichterweise nicht, mich den Freuden, die mir ihre Anwesenheit, ein fast täglicher Verkehr gewährten, wunschlos hinzugeben. Kaum ihrer Pläne versichert, hatte ich alle meine bisher erworbene Kunst der Intrige aufgewandt, um von unserm hochseligen Herrn, möglichst unauffällig, den Auftrag auszuwirken, daß ich nach Paris zu reisen, des Ergebnisses der erwarteten Verhandlungen mich aus der Nähe zu vergewissern habe. Die aufrichtigsten Gefühle, die jeder Tag weiter zur Leidenschaft hintrieb, drängten mich; doch wenn ich ganz aufrichtig sein soll, so war auch jene eigensinnige Hast der Jugend in mir, jene Angst, irgend etwas zu versäumen, die Gelegenheit eines Erfolges, auf den man eigentlich ohne Ansehen des geliebten Gegenstandes ausgeht, zu verlieren. Die Fürstin mochte während des Morgenbesuches, der mir nun täglich vergönnt war, mein verändertes Betragen wahrnehmen. Ich sei verdrossen, bemerkte sie einmal in freundschaftlichster Weise, nicht durch ihre Schuld, wie sie hoffe. Sie beweise mir, erwiderte ich, mehr Wohlwollen als ich verdiene, allein ich sei so unglücklich, mehr zu wünschen als –

›Doch nicht mehr, als ich gewähren kann?‹ fiel sie ein.

›Oder mehr als Sie wollen?‹

Ihre im Schoß zusammengelegten Hände rangen unmutig die Finger ineinander, um ihren Mund erschien ein herber, nahezu verächtlicher Zug. Sie sagte kurz:

›Es wäre schlimm, wenn ich es wollte – schlimm für Sie.‹

Und nach einer Pause fügte sie hinzu:

›Sie sind mir zu wert.‹

Ich meinte einer gefährlichen Freundschaftsversicherung auszuweichen und zugleich mein Glück auf eine äußerste Probe zu stellen, indem ich bemerkte:

›Wissen Sie, daß der Marquis Desjeantes angekommen ist?‹

›Nun, und –?‹ versetzte sie schnell aufblickend, und gleich darauf:

›Übrigens scherzen Sie.‹

›Erwarten Sie ihn in allernächster Zeit? Er wird sich nicht versagen wollen, Ihnen aufzuwarten.‹

›Er wird nicht wagen‹, sagte sie fast heftig und mit einem Ton, wie im Selbstgespräch.

Wie unenträtselbar doch alles in einer Frauenseele aussieht für den, der mit Leidenschaft hineinblickt. In mir hatte sich, ich weiß nicht wie, die Vorstellung von einer Rivalität zwischen mir und Desjeantes befestigt. Ich glaubte gut zu spekulieren, indem ich, noch unter der Tür, die Fürstin an ihre vor kurzem getane Ansage der bevorstehenden Abreise erinnerte. Ob ich hoffen dürfe, sie, wenn ich in etwa sechs Tagen aufzubrechen genötigt sein sollte, bald wiederzusehen. Sie reise vielleicht schon früher, entgegnete sie. Das Befinden des Fürsten scheine es zu gestatten, der Fourgon sei für die nächsten Tage aus Paris angekündigt. Ich schöpfte Hoffnung, während ich sie verließ.

Zu Hause erfuhr ich, Desjeantes sei bei mir gewesen. Zwei Tage später, noch bevor ich ausgegangen war, stellte er sich wieder ein. Er sei durch Umstände länger als vorgesehen in M. zurückgehalten, er wünsche einige flüchtige Bekanntschaften durch mich zu erneuern. Ich fand innerlich, daß unsere Bekanntschaft kaum weniger flüchtig sein möge als irgendeine andere. Wir tauschten wenige kühle Bemerkungen aus. Währenddem meldete man die Fürstin an, und ich ging ihr nicht ohne Überraschung entgegen. Sie hatte ein- oder zweimal in Gesellschaft von Freunden das kleine Haus betreten, das ich damals vor dem Westtore bewohnte. Voll unbestimmter, schwärmerischer Hoffnungen hatte ich seit Wochen die Wohnung wie zu ihrem Empfange geschmückt, die Zimmer zu einem einzigen Blumengarten umgewandelt, als vermöchte ich so den Einzug des Glücks vorzubereiten. Wie sie zwischen mir und Desjeantes mitteninnen stand, überkam mich der Gedanke, es sei nun alles wieder an der Stelle wie damals in Wien, nur daß der Duft der keusch beginnenden Neigung verflogen, enttäuschte Leidenschaft ein stummer Zeuge sei.

Sie sei nur gekommen, erklärte die Fürstin, weil sie mich bitten wolle, ihre nahe bevorstehende Abreise zu dementieren. Sie habe gehört, daß eine ihr zu Ehren vorbereitete Abendgesellschaft beim Minister von St. in Frage gestellt sei, sie wolle aber niemandem vergebliche Mühe bereitet haben. Keinesfalls verlasse sie schon morgen die Stadt, ja, wegen neuerdings eingetretener Hindernisse könne ihr Aufenthalt sich wohl noch wochenlang hinziehen, die Reise nach Paris am Ende ganz unterbleiben.

Sie liebkoste mit unruhiger Hand einen im Glase auf dem Tisch stehenden Blütenzweig, den ich ihr, bevor sie sich verabschiedete, anbot. Wir hörten das Hofgitter zufallen, ihre Kalesche davonrollen. Gleich darauf verließ mich Desjeantes, und wenige Augenblicke danach trete ich selbst aus dem Hause. Ich sehe den Marquis ein paar hundert Schritte vor mir in der Richtung der Stadt gehen, endlich hinter der Straßenbiegung verschwinden, und zugleich wird von der andern Seite leise mein Name gerufen. Mich umwendend, erblicke ich die Fürstin, die, augenscheinlich in höchster Erregung, mir Zeichen gibt, ich solle ins Haus zurückkehren. Sie folgt mir auf dem Fuße, schließt die Tür hinter uns, sie hat alle Haltung verloren.

›Rette mich‹, so ruft sie ganz dicht, ganz dicht an meinem Gesicht, ›rette mich, Geliebter, vor den Nachstellungen eines Elenden!‹

Sie liegt wie kraftlos an meiner Brust, ich flüstere heiße Worte in ihr Haar hinein. Ja, sie liebe mich, wiederholt sie auf mein Drängen, aber sie spricht wie im Traume.

›Die Gemme!‹ so schreit sie plötzlich voll Angst auf. Mein Ungestüm hat das Schmuckstück von seinem Bande losgerissen. Sie betrachtet es einen Augenblick und verbirgt es.

›Seien wir vernünftig‹, beginnt sie mit gemäßigtem Tone. ›Ich muß fliehen. Mein Freund, wollen Sie mir behilflich sein?‹

Indem ich meine Ergebenheit beteuere, muß ich doch den Einwand wagen:

›Aber der Fürst?‹

Sie ergreift meine Hand und blickt mich starr an.

›Muß ich Sie an unseren Abschied in Wien erinnern? Gedenken Sie der Quadrille, als Sie mir dankten, weil ich Ihr Herz vertrauenswürdig fand. Vertrauen Sie nun dem meinigen, fragen Sie nichts. Es genüge Ihnen zu wissen, daß der Fürst –‹

Sie hält einen Augenblick inne.

›Daß mein Begleiter nicht mein Gemahl ist.‹

›Also wann?‹ frage ich.

›Morgen abend, bei Einbruch der Dunkelheit. Ihr Reisewagen steht bereit?‹

›Gewiß. Mein Kutscher –‹

›Ist nicht nötig. Ich habe einen verläßlichen Postillon. Übernehmen Sie das übrige. Beschaffen Sie Pässe, es kann Ihnen in Ihrer Stellung nicht schwer fallen, für Frau von – ein gleichgültiger Name. Verkleiden Sie sich als mein Bedienter.‹

Sie bekundet Eile, hält mich zurück, wie ich sie hinausbegleiten will. Sie ist verschwunden, ehe ich zur Besinnung gelange.

Ich komme diesen und den nächsten Tag kaum zu Gedanken vor Tätigkeit. Ich besorge das von ihr Aufgetragene, rüste alles zur Reise. Am Abend habe ich meine Dienerschaft unter verschiedenen Vorwänden fortgeschickt. Zur festgesetzten Stunde sehe ich die Fürstin vor meinem Hofgitter erscheinen. Während der Postillon die Pferde anschirrt, die Kammerfrau ihm beim Aufpacken der Koffer hilft, sind wir an einen Mauerpfeiler getreten. Beim Schein einer Laterne bemerke ich, wie blaß und verstört ihr Gesicht ist.

›Sie bedauern nichts, Fürstin?‹ forschte ich mit angstvoller Teilnahme.

›Nichts. Die Pässe?‹

›Hier sind sie.‹

Sie öffnet ihren Mantel, um die Papiere wegzustecken.

›Ihre Gemme?‹ frage ich, da ich dieselbe nicht erblicke.

Schrecken und Verwirrung bemächtigen sich der Fürstin.

›O mein Gott‹, ruft sie aus, ›ich kann nicht reisen. Nicht ohne dieses Stück, Sie wissen, wie abergläubisch ich daran hänge.‹

Und als ich mich erbiete, es überall aufzusuchen, wo es sich befinden möge, drückt sie meine Hand.

›Sie werden auch noch dies für mich tun. Gehen Sie nach Hause, man glaubt mich dort auf der Gesellschaft des Ministers und wird Ihnen den Gegenstand ohne Umstände mitgeben. Ich muß fort, alles drängt mich. Nehmen Sie Post und erreichen Sie mich in Neuwerk, wo ich Sie erwarten werde. Nur eilen Sie, wir müssen noch diese Nacht weiter.‹

Ich hülle mich in den weiten Mantel, der meine Bediententracht verbirgt, und eile wie sie geheißen. Wie ich mich noch einmal wende, treffe ich ihren Blick, der mir folgt. Sie versucht zu lächeln, doch ist es ein trauriges Lächeln. Gleichviel; wie glücklich stürme ich dahin, die Brust wie von freiem Frohmut erfüllt. Habe ich nicht die Gewißheit, mich nur noch eines lästigen Auftrages in ihrem Dienst entledigen zu müssen, ehe mich dahinten der andauernde Traum meiner Seligkeit, die schönste, liebevollste Frau erwartet. Mehr und mächtigere Empfindungen, als wir später in Jahren zu fassen vermögen, drängen sich einer solchen kurzen Jugendstunde. Wenn sie enttäuscht werden – haben wir sie darum weniger besessen?

Das Haus der Fürstin finde ich offen, Leute mit Lichtern eilen an mir vorüber, ich steige die Treppe hinan und treffe unter einer Tür mit demjenigen zusammen, den man sonst den Fürsten nannte. Er hält einen Gegenstand in der Hand, den ich für die gesuchte Gemme zu erkennen meine. Sie liegt in einem beschriebenen Papier, das der Mann, wie er mich erblickt, hastig wegsteckt. Er sieht mich starr an, scheint sich die Umstände unserer Begegnung zurechtzulegen und sagt plötzlich:

›Die Fürstin ist abgereist. Der Marquis Desjeantes war soeben hier, um mir diese Nachricht zu bringen.‹

Betroffen blicke ich ihn an. Er erscheint mir verändert, seit ich ihn in Wien gesehen. Seine Haltung ist stark gebeugt, die ergrauten Haare hängen wirr in die hohlen Schläfen hinein, sein Gesicht, voll tiefer Falten, gleicht im unsicheren Schein einer kleinen Lampe, die hinter ihm im Zimmer steht, einer Wachsmaske. Allein das Feuer seiner Augen, seine Erscheinung, seine Sprache haben, ich weiß nicht warum, etwas Imponierendes, so daß ich versucht bin, ihn als den Fürsten anzureden, für den er gilt. Ich komme von der Fürstin und sei beauftragt, die Gemme abzuholen. Er fällt sogleich mit Entschiedenheit ein.

›Ich bin nicht der Gemahl der Fürstin, ich war ihr Diener. Die Fürstin bedarf meiner Dienste nicht mehr, sie ist abgereist. Aber diese Gemme herauszugeben, steht nicht mehr bei mir.‹

›Sie wollten wagen‹, fahre ich unwillig auf.

Er wiegt ruhig das Haupt hin und her und sagt mit kaltem Ton:

›Die Fürstin ist ruiniert, wie Ihnen nicht unbekannt sein kann. Dieser Haushalt ist verschuldet. Nach der Abreise der Fürstin bleibt mir, um den dringlichsten Verpflichtungen, nachzukommen, nur der Erlös der Gemme.‹

›Aber dieses Porträt der Fürstin‹, wende ich mit noch mehr Verwunderung als Ärger ein, ›besitzt einen persönlichen Wert nur für sie selbst.‹

›Der Wert der Gemme‹, erwidert er, ›ist doch vielleicht höher als Sie glauben. Sie trägt das anscheinende Bildnis der Fürstin nur aus der Ursache, daß die Familie Foscolini, deren letzten weiblichen Nachkommen der verstorbene Fürst Winterstein geheiratet hat, ihren Ursprung von den römischen Orsini herleitet. Die Fürstin ähnelt, wie dies in alten Geschlechtern vorkommen mag, auf das täuschendste ihrer Ahnfrau, der Donna Vannozza Orsini, deren Züge der Meister Benvenuto Cellini in Stein geschnitten hat.‹

Seine Worte, die Art, wie er sie vorbringt, überzeugt mich, so daß ich nichts zu erwidern weiß. Doch der Zorn, untätig aufgehalten zu werden, den Wunsch der Fürstin, die mich erwartet, durch die Schuld dieses Alten unerfüllt zu lassen, macht mich nochmals aufbrausen. Ich verlange auf das entschiedenste die Auslieferung der Gemme, widrigenfalls ich mit den Gesetzen drohe.

›Ich erwarte Ihre Obrigkeit‹, entgegnet er so kalt wie vorher und schließt die Tür zwischen uns.

Unschlüssig verlasse ich dieses Haus, gehe die Straße hinab, den Kopf von tausend Gedanken durchjagt, von denen doch keiner mir meine Lage erklärt. Vor dem Gasthof zum Weißen Roß werde ich angesprochen und erkenne den Bedienten des Marquis Desjeantes, der mich einlädt, auf einige Augenblicke einzutreten. Auch der noch, denke ich und will weitergehen. Aber der Mann dringt in mich, sein Herr habe mir Wichtiges mitzuteilen. Zugleich höre ich die Stimme des Marquis, der mir auf der Schwelle entgegentritt und mich in den niedrigen leeren Saal hineinzieht. Ein Winkel ist von zwei Kerzen erhellt, daneben auf dem Tische steht eine halbgeleerte Weinflasche. Desjeantes, in Gesellschaftskleidern und sehr bleich, nimmt seinen Platz wieder ein, indem er beginnt:

›Welch feine Komödie, mein Lieber, Sie sich da haben vorspielen lassen!‹

Ich will aufbegehren. Er macht eine abwehrende Handbewegung und fährt fort:

›Bereiten Sie sich doch keine Ungelegenheiten! Haben Sie auch jetzt noch die Meinung von der Fürstin, daß es sich verlohne, Händel ihretwegen zu beginnen, so eilen Sie ihr lieber nach. Sie muß in diesem Augenblicke über Neuwerk hinaus sein, und Sie, mein Freund, mögen versuchen, mit den Postpferden Ihre eigenen guten Renner einzuholen.‹

Meine Bestürzung bemerkend, lächelt er, mit mehr trübem als höhnischem Lächeln, und schenkt ein Glas voll. Nachdem er selbst den Inhalt des seinigen hastig hinuntergestürzt, sagt er:

›Trinken Sie, mein Lieber, trinken Sie – wie ich trinke. Daß ich Ihnen dies alles anvertraue, geschieht nur aus – sagen wir aus kameradschaftlichem Mitgefühl. Sie haben nun wohl ebenfalls genug bezahlt für die Erfahrung, die ich mir auf eine andere Weise erkauft habe.‹

›Und die wäre?‹

›Daß die Fürstin eine einfache Abenteurerin ist. Sie wissen wohl nicht, daß sie in Wien den Großfürsten mit mir hintergangen hat? Da Sie es sind, dem ich dies verrate, ist es keine Indiskretion, haben Sie selbst doch wohl schon ihre Zusage gehabt, auf Kosten desjenigen glücklich gemacht zu werden, der die Fürstin in Paris erwartet.‹

›Wer?‹ frage ich schnell.

Er zuckt die Achseln. Nach einer Pause, indessen er eine neue Flasche anbricht, sagt er:

›Die Abenteuer der Fürstin werden zu verwickelt. Man läuft Gefahr, selbst hineinzugeraten, indem man nur von ihnen spricht. Doch ist hundert gegen eins darauf zu wetten, daß es jetzt schnell mit ihr zu Ende gehen wird.‹

Da er sich in den Wein vertieft, ohne meine Gegenwart weiter zu beachten, und ich manche seiner Worte meine seiner Trunkenheit zuschreiben zu müssen, wende ich mich zum Gehen.

›Ich will Ihnen noch das eigentliche Geheimnis dieser Frau verraten‹, ruft er mir nach, und als ich schon unter der Tür bin:

›Sie verlangt, mit Füßen getreten zu werden.‹

Wie ich diese Nacht zubrachte, ist mir immer unbekannt geblieben. Später habe ich mir eingebildet, ich sei damals in schwarzer Finsternis nach Neuwerk hinausgelaufen, ohne von der Fürstin eine Spur zu finden. Jedenfalls war ich am Morgen äußerst erstaunt, mich in Bedientenlivree auf meinem Bette anzutreffen. Mein Zustand während der nächsten Tage ist in meiner Erinnerung gleichfalls verlorengegangen. Indessen wurde mir nach etwa zwei Wochen meine Reisekutsche samt meinen Pferden unbeschädigt vors Haus gefahren. Der Postillon, der gut entlohnt sein mußte, da er von mir durchaus nichts annahm, übergab mir einen Brief, der nur diese Worte enthielt: ›Verzeihen Sie einer armen Seele und bleiben Sie mein Freund. Teresa.‹ Ich habe von der Fürstin nie mehr etwas vernommen, und da ich ihrer nur als der Unglücklichen gedenke, für die sie selbst bei mir zu gelten verlangte, so möchte ich fast wünschen, es habe, nach der Verheißung des Marquis Desjeantes, ein schnelles Ende mit ihr genommen – wenn es denn schon beschlossen ist, daß das Schöne untergehe mit dem Gemeinen. Dura lex, sed lex«, so endete der Hofrat seine Erzählung.

»Und die Gemme?« so fragten wir Hörer nach einer Weile des Schweigens.

»Ja, die Gemme«, erwiderte der Alte, »sie war der greifbare Rest, der von einem Erlebnis, das ich trotz allem nicht missen möchte, zurückzubleiben schien. An ihr, die sie zurückließ, bevor sie die Brücken hinter sich abbrach, schien die Fürstin wie an dem besseren Teile ihrer selbst zu hängen, und wenn ich die Gemme besaß, diese Einbildung faßte in mir Wurzeln, so war vielleicht das Wünschenswerteste mein von dem, was ich begehrt hatte. Ich wußte damals den mir gewordenen Auftrag einer Reise nach Paris rückgängig zu machen, ich verfolgte den plötzlich verschwundenen Begleiter der Fürstin, ohne ihn auffinden zu können. Später ward er, in ärmlicher Kleidung, in italienischen Museen bemerkt, die Gemme, nach der man ihn in meinem Auftrage fragte, behauptete er, verkauft zu haben. In den Katalogen der Antiquare, die zu den Gegenständen meines Hauptstudiums wurden, gelang es mir nie, sie zu entdecken. Ist es aber zu verwundern, daß mit der Zeit, während ich in die Kunst der Kennerschaft weiter eindrang, und meine wie zufällig angelegte Sammlung sich vermehrte, neben jener Jugenderinnerung auch der hohe Wert eines Meisterwerkes des Cellini meine begehrliche Phantasie aufstachelte? Zwar kann ich für diesen Wert keine anderen Beweise beibringen als meine persönliche Erkenntnis, und diese ist durch einigermaßen dunkle Erlebnisse erworben, mit denen ich Sie, meine Freunde, vielleicht allzulange aufgehalten habe.«

»Mögen diese Erlebnisse«, so bemerkte Eduard G., »immerhin dunkel oder planlos erscheinen – aber eine wie wohlgeordnete und glückliche Lebenseinrichtung ist doch aus ihnen hervorgegangen.«

Der Alte lächelte still vor sich hin. Doch mochte ihm seine Erzählung näher gegangen sein, als er merken lassen wollte, denn während er nun die vor ihm auf dem Tische liegende Gemme aufnahm, zitterten seine Hände so heftig, daß einige Blätter der zierlichen Ranke, die den Stein auf seiner Goldplatte befestigte, sich verbogen. Der Hofrat stieß plötzlich einen Laut des Schreckens aus; die Einfassung der Gemme war zur Erde gefallen, es blieb ihm nur der schlichte Stein in Händen. Wie einer von uns ihm das Verlorene zurückreichen wollte, sahen wir seinen Blick mit unverwandter Aufmerksamkeit auf die Rückseite des Steines geheftet. Wir konnten nicht umhin, dem Alten über die Schulter zu schauen und lasen, was dort mit feiner Perlschrift eingegraben stand.

A Teresa Dagnuolo. Ricordo d' un amore indistruttibile. Paolo Princ. Foscolini-Winterstein faciebat.

»Ach, welche Überraschung, und welch seltsame Enttäuschung«, so riefen wir unwillkürlich aus. Eduard tat nach einigem Besinnen die Frage:

»Teresa Dagnuolo, war dies nicht der Name einer jener bonapartistischen Verschwörerinnen, deren Entlarvung und deren Verschwinden in den ersten Jahren der französischen Restauration solches Aufsehen erregte?«

»Diese Entdeckung«, so fügte ich hinzu, »würde den in Wien von der Fürstin unterhaltenen Beziehungen zum Großfürsten und zu dem emigrierten Marquis eine ungeahnte Bedeutung verleihen.«

Der Hofrat blickte auf.

»Vielleicht«, so sagte er leise. »Es möchte indessen die Identität einer jener Abenteurerinnen mit derjenigen, die in meinen Gedanken immer Teresa Foscolini-Winterstein heißen wird, heute nur schwer festzustellen sein.«

»Und der Fürst«, so begann ich wieder mit erneuter Überraschung. »Er war es also doch?«

»Er war es also doch«, wiederholte der Alte mit stillem Nicken und fuhr dann lebhafter fort:

»Er, der dieses Kunstwerk verfertigte, hatte wohl recht, darauf zu schreiben, daß er es in unzerstörbarer Liebe getan. Denn was hat die, bei der er ausharrte, nicht verschuldet, um ihn zu verlieren! Sie hat ihn ruiniert, sie hat ihm den Fuß auf den Nacken gesetzt.«

»Weil er nicht verstand, ihr das gleiche zu tun«, erlaubte ich mir einzuschalten, in der Erinnerung an die Worte des Marquis Desjeantes.

»Er hat ihr«, so fuhr der Hofrat fort, »alles geopfert, auch seinen Namen. Um ihr Leben auf einer künstlichen Höhe zu erhalten, hat er sich für ihren Diener ausgegeben. Er hat alle Schmach auf sich genommen und ist ihr bis an die Schwelle des Verderbens gefolgt, die er mit ihr überschritten hätte, wenn dies bei ihm gestanden wäre. Seine Liebe zu ihr – oh, wie erkenne ich sie und wie sehr war sie von der meinigen verschieden –, seine Liebe zu ihr ist in allem ihren unterwürfigen Elend so stark gewesen, daß sie zum Talisman ward für die Frau, die sie verschmähte: Die Geschichte der Gemme scheint mir dies zu bestätigen.«

Nach einer Weile vollendete der Hofrat:

»Sie meinten, die nun gemachte Entdeckung sei für mich eine Enttäuschung? Sie ist es nicht, meine Freunde. Denn während dieser anscheinende Zufall mir meine Jugenderfahrungen in ein bedeutsames Licht wendet, lehrt er mich einen großen Künstler kennen und zugleich einen Menschen, den ich auf das tiefste, ich weiß noch nicht ob verachten muß oder bewundern.«


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