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Unschuld und Verdorbenheit.

Eine Erzählung.

Der Graf Wido stammte aus einer der angesehensten Familien des Reichs; er hatte von seinen Vorfahren weitläufige Besitzungen, unermeßliche Reichthümer, aber auch unbegrenzten Stolz geerbt. Seit langer Zeit hatte seine Familie den wichtigsten Posten des Reichs vorgestanden, die Bildung des Grafen war ebenfalls darauf berechnet, und da er schon in seinem zwanzigsten Jahre durch den Tod seines Vaters sein eigener Herr ward, so würde er unaufhaltsam den Plan verfolgt haben, der ihm beinahe von der Wiege an vorgezeichnet war, wenn nicht die Liebe den feurigen Jüngling gezähmt und seiner Ehrsucht Grenzen gesetzt hätte.

Das Fräulein Amalie von Berg erschien zum ersten Mal bei Hofe und erregte durch ihre blendende Schönheit und durch ihren gebildeten Geist allgemeine Bewunderung. Unbemerkt von den Augen der Welt war diese Blume aufgeblüht, und in der Stille des Landlebens hatte sich das Herz gebildet, das bei aller Munterkeit und Offenheit doch seine Reinheit und Unschuld selbst im Geräusche des Hofs unverändert behauptete. Der Graf nahte sich ihr aus Neugierde, suchte ihren Umgang aus Eitelkeit und liebte sie bald mit voller Ueberzeugung und mit dem Feuer, das nur die erste Liebe giebt. Seine Reichthümer und seine Aussichten sprachen ihm das Wort bei Amaliens Verwandten; seine schöne Gestalt und sein einnehmendes Betragen gewannen Amaliens Herz. Er bot ihr seine Hand, und sie nahm sie unter der Bedingung an, daß er den Hof, welcher ihr nicht gefiel, verlassen und auf seinen Gütern nur für die stillern Freuden der Natur, der Liebe und des Wohlthuns leben möchte. Die Vermählung ward mit aller Pracht vollzogen, und er verließ den Hof, der ihn beneidete, mit dem triumphirenden Gefühle, daß er wirklich beneidenswerth sei.

Der Graf erfuhr mit jedem Tage mehr, welch ein herrliches Weib ihm der Zufall zugeführt hatte, und die Entwürfe des Stolzes, die ihn bisher beschäftigt hatten, verschwanden vor dem Glücke der Liebe wie kindische Träume vor einer reizenden Wirklichkeit. Seine Gemahlin gab ihm im ersten Jahre ihrer Ehe einen Knaben, der die blauen Augen der Mutter mit auf die Welt brachte, und der, wie sein nachheriges Leben bewies, auch der Erbe ihrer reinen Seele war. Der Graf verließ seine Familie nur selten, und wenn ihn ja sein Posten in die Residenz rief, so eilte er so bald als möglich zurück, um an der Seite seiner Amalie, an der Wiege seines erstgebornen Kindes ein Glück zu genießen, welches ihn eben so sehr beglückte, als es ihm neu war.

So waren sechs Jahre verflossen. Amalie ward zum zweiten Mal schwanger, ihre Niederkunft war schwer, sie gebar eine todte Tochter und gab in den Armen ihres trostlosen Gemahls ihren Geist auf.

Der Graf empfand ihren Verlust tief. Das Licht war verloschen, das ihn umleuchtet hatte, die Seele, die sein ganzes Wesen belebt hatte, war verschwunden, und er fühlte sich in dem Maaße unglücklich, als er sich vorher glücklich gefühlt hatte. Da ihm der Ort seines Aufenthalts nur traurige Rückerinnerungen gewährte, und da ihm seine Freunde Zerstreuung als das einzige Mittel anriethen, seinen Schmerz zu bekämpfen, so gab er seinen Sohn dem Prediger Liebmann, der einst sein Hofmeister gewesen war und jetzt eine der einträglichsten Pfarren auf seinen Gütern besaß, zur Erziehung, und stürzte sich, um sein Unglück zu vergessen, in das Geräusch des Hofs, das er einst verlassen hatte, um glücklich zu sein.

Der reiche Wido ward mit Freuden aufgenommen. Die ersten Schönheiten des Hofs buhlten um seine Liebe, oder vielmehr um sein Geld. Die ersten Männer des Staats kamen ihm mit Anerbietungen entgegen und trugen ihm Posten an, die wenig Gewinn, aber viel Ehre einbrachten und durchaus einen reichen Mann erforderten. Der Graf trug das theure Bild seiner Amalie noch zu tief im Herzen, als daß er sich zu einer neuen Verbindung hätte entschließen oder selbst zu den Galanterien – herablassen können, die nun einmal zu dem Ton der Welt gehören, und mehr nothwendig als angenehm sind. Aber desto mächtiger wachten alle Bilder seiner Jugend wieder auf; die seligen Tage, die er in den Armen Amaliens genossen hatte, standen wie ein schöner, aber flüchtiger Traum vor seiner Seele, und er glaubte nur durch Ehre und Einfluß das Glück erringen zu können, welches eben so wirklich als dauerhaft wäre. Die Anerbietungen, die man ihm machte, waren ihm daher sehr willkommen, und er weigerte sich bloß, sie anzunehmen, weil er noch unentschlossen war, auf welchem Wege er am gewissesten sein Ziel erreichen würde. Er wußte nur zu gut, daß ihn an Reichthum Niemand übertraf, an Talenten ihm nur Wenige gleichkamen, und er daher mit Recht auf einen der ersten Posten Anspruch machen könnte. Sein Wunsch ward erfüllt, einer der wichtigsten Gesandtschaftsposten war offen, der Graf ward dazu ernannt und erhielt von dem Fürsten den Orden seines Hauses. So nahe und so unbeschränkt hatte selbst der Graf die Erfüllung seiner Wünsche nicht erwartet, und wenn er bis jetzt immer noch auf sein ehemaliges zufriedenes Leben einen wehmüthigen Blick geworfen hatte, so tilgte dieses Ereigniß beinahe jede Erinnerung daran aus seiner Seele, und er glaubte, daß das Schicksal ihm nur deßwegen sein Weib entrissen hätte, um ihn auf die Bahn zurückzuführen, auf der seine Ahnherren seit undenklichen Zeiten gewandelt und Ruhm und Ansehen eingeerntet hatten. Sein Herz kannte nur ein Idol, die Ehre! und er zog den Menschen aus, um Graf zu sein und Minister zu werden.

In einem ziemlich flüchtigen Briefe empfahl er dem Pastor Liebmann die Erziehung seines Sohnes, und nachdem er die nothwendigen Bestellungen auf seinen Gütern gemacht hatte, reiste er auf den entfernten Gesandtschaftsposten ab.

Der Pastor Liebmann war einer von den edeln Menschen, die sich aus der drückendsten Armuth durch unermüdete Tätigkeit emporgehoben haben, und welche jenes Mitgefühl, jene zärtliche Sorgfalt für Andere, die gewöhnlich nur von eigenen überstandenen Leiden erzeugt wird, besitzen. Menschenfreundlichkeit und Sanftmuth waren die Hauptzüge seines Charakters, aber mit beiden verband er eine Festigkeit, die ihm ein Leben voll Erfahrung gegeben hatte. Auch war ihm durch die Reisen, die er als Führer des Grafen unternommen hatte, die feine Bildung zu eigen geworden, die nur der Umgang mit der Welt giebt, und in seinem Stande so selten angetroffen wird. Er nahm den kleinen Moritz mit Freuden in sein Haus auf und wendete die größte Sorgfalt auf seine Erziehung. Da ihm der Graf völlig freie Hand gelassen hatte, so richtete er sich darin mehr nach dem Geiste der verstorbenen Mutter, als nach den stolzen Absichten, welche, wie er wohl vermuthen konnte, der Graf mit seinem erstgebornen Sohne haben würde, und in der Ueberzeugung, daß es weit verdienstlicher sei, ein edles Herz als einen gebildeten Kopf erzogen zu haben, wendete er auch seine größte Sorgfalt auf die moralische Bildung des Knaben.

So wuchs Moritz als ein Glied der Familie des Pastors auf, ohne einen Begriff davon zu haben, daß es noch andere Freuden geben könne, als die er auf seinem Dorfe besaß und ohne zu ahnen, daß man noch andere Absichten beim Leben haben könne, als froh zu sein, und Andere froh zu machen. Er liebte den Pfarrer wie seinen Vater, oder, um wahr zu reden, noch weit mehr wie seinen Vater; denn dieser ließ wenig von sich hören, schrieb höchstens alle halbe Jahre einmal an Liebmann, und wenn er ja auch ein Briefchen an Moritz mit beilegte, so standen lauter kalte und ernsthafte Ermahnungen darin, die der unbefangene Knabe nicht befolgen konnte, weil er sie nicht verstand. An seine gute Mutter dachte er wohl noch dann und wann, und weinte auch recht herzlich, wenn ihn der Prediger vor die Familiengruft führte, und ihm durch das Eisengitter den langen zinnernen Sarg zeigte, in welchem sie schlief; aber wenn er wieder zu Hause kam, so sprang er auf die Pfarrerin zu, umarmte sie und sprach: »Nicht wahr, Du bleibst meine gute Mutter? – und wirst mich nicht so bald verlassen?«

Seine Gespielin war die älteste Tochter des Pfarrers, Pauline. Sie war zwei Jahre jünger als Moritz, sah mit zwei eben so feurigen blauen Augen in die Welt hinein, wie er, und gab ihm an Frohsinn, selbst an Ausgelassenheit wenig nach. Moritz hatte keine Lust zum Spielen, wenn Pauline nicht mitspielte; Pauline hing das Köpfchen, wenn sie irgendwo sein mußte, wo Moritz nicht war, und wenn sie wieder zusammenkamen, so hatten sie so viel mit einander abzumachen, zu erzählen und zu besorgen, daß sie Alles um sich vergaßen, und nicht selten gewaltige Verstöße gegen die Höflichkeitsregeln machten, die ihnen doch die Frau Pastorin so sorgfältig einprägte. Die Lehrstunden, die sie Beide gemeinschaftlich hatten, benutzten sie mit aller Aufmerksamkeit, und wenn sie vorbei waren, so setzten sie sich auf eine Bank im Garten, oder legten sich auf den Abhang eines kleinen Hügels, und wiederholten sich Alles, was der Vater gesagt hatte, und gaben sich die Hände darauf, dem guten Vater zu folgen und seine Lehren immer im Herzen zu behalten.

Ein Jahr nach dem andern verstrich. Der Knabe Moritz bildete sich nach und nach zum Jüngling, das Mädchen Pauline blühte zur Jungfrau auf; ihre Zuneigung gegen einander blieb dieselbe, nur ward sie, sie wußten selbst nicht, warum? stiller, heimlicher und inniger.

Ach! es war die Liebe, die reinste, frömmste Liebe, die nur je ein Menschenherz erhoben hat, und sie wußten es nicht. Sie fühlten, daß sie sich einander unentbehrlich geworden waren, daß Eins nur durch das Andere froh sein konnte, daß sie nur halb leben würden, wenn sie getrennt leben müßten; aber warum das Alles so war? das wußten sie nicht, und vielleicht würden sie noch lange in diesem seligen Traume fortgelebt haben, wenn ihnen nicht das Schicksal durch einen harten Schlag ihren Freudenhimmel zerstört hätte.

Der Pastor Liebmann hatte zur gewöhnlichen Zeit keine Briefe von dem Grafen erhalten; da er aber bemerkte, daß sich dieser von Jahr zu Jahr weniger um seinen Sohn bekümmerte, so hatte ihn das nicht befremdet. Einst, an einem schönen Herbsttage, da die ganze liebe Familie vor der Hausthür saß, und Moritz eben die reifen Trauben von den Weinstöcken abnahm, die das Haus umgaben, und sie Paulinen in das Körbchen reichte, das sie ihm entgegenhielt, rollte auf einmal eine prächtige Equipage mit sechs Pferden das Dorf herunter, hielt vor der Pfarrwohnung, zwei Bedienten sprangen herab, öffneten den Schlag, und ein großer Herr mit einem funkelnden Sterne und einem Ordensbande stieg mit einem leichten und dürren Männchen heraus und eilte auf den Pfarrer zu. Moritz blieb unbeweglich auf der Leiter stehen; Pauline stand wie eingewurzelt und reichte mechanisch das Körbchen in die Höhe; die Pfarrerin zupfte und steckte am Halstuche und Liebmann rief: »Moritz! Dein gnädiger Papa!«

Moritz sprang von der Leiter herab und warf sich mit kindlicher Freude in die Arme des unbekannten, vornehmen Mannes; aber dieser erwiederte seine Umarmungen nur nachlässig, musterte mit scharfen Augen seinen Anzug, seine Manieren, das Tragen seines Körpers und sprach mit seinem Begleiter französisch. Moritz fühlte sich in seiner Gegenwart niedergeschlagen und beklommen, er hätte sich gern über des Vaters Ankunft freuen mögen, aber es war ihm unmöglich, und er wünschte weiter nichts, als sich in der Einsamkeit recht satt weinen zu können.

Der Graf ging mit dem Pfarrer in den Garten, Moritz wurde einigemal gerufen, und er folgte allemal mit Angst und Zittern dem Rufe. Pauline war weder zu sehen, noch zu hören. Endlich nach einer guten Stunde fuhr der sechsspännige Wagen wieder vor; der Graf und das kleine dürre Männchen setzten sich hinein, die Bedienten sprangen hintenauf und Moritz schöpfte frischen Odem, da der Wagen um die Ecke der Dorfgasse verschwunden war. Sein erstes Augenmerk war Pauline, er hatte sie längst vermißt, und dies hatte seine Unruhe vermehrt. Jetzt flog er, um sie aufzusuchen. Er suchte sie im Garten, – vergebens, auf der Wiese, – vergebens; endlich fand er sie in dem kleinen Birkenwäldchen, das an die Wiese des Pfarrers stieß; sie saß in einer Laube, die er selbst über einer Rasenbank gemacht hatte.

»Pauline!« rief er ihr entgegen und stürzte sich athemlos an ihre Brust. Pauline weinte und schluchzte und konnte nicht sprechen; aber sie klammerte sich mit ihren runden Armen um seinen Nacken und drückte sein pochendes Herz fest an das ihrige. »Gott im Himmel! Pauline, was fehlt Dir?« rief Moritz. Da warf sich das Mädchen auf die Rasenbank und drückte seine Hand an ihre Brust und sprach unter tausend Thränen: »Ach, Moritz! Du hast einen reichen, großen Vater, und Pauline ist nur ein armes Mädchen. Ach! sie werden Dich abholen und werden Paulinen nicht mitnehmen, und wenn Du einmal wieder hierher kommst, so wirst Du in so einem prächtigen Wagen gefahren kommen, wirst einen flimmernden Stern auf der Brust haben, ach! und Du wirst mich armes Mädchen nicht mehr kennen.«

Moritz sprach: »Höre, Pauline! weine nicht; der große Mann mit dem Stern hat mir auch nicht gefallen. Ich bleibe bei Dir, Dein Vater ist auch mein Vater, und wenn sie mich in die Stadt abholen und Dich nicht mitnehmen, so laufe ich davon.« – »Ach, Moritz! das darfst Du nicht,« erwiederte Pauline, »weißt Du nicht, daß der reiche Herr Dein Vater ist?« – Moritz fühlte, daß sie Recht hatte, er wollte seinen Schmerz unterdrücken, aber er vermochte es nicht, er fiel an ihre Brust und weinte wie sie. Die Sonne ging unter und spiegelte sich in ihren Thränen, ach! sie ahneten es nicht, daß das ganze Glück ihrer Jugend mit ihr unterging.

Moritz faßte sich zuerst wieder, er sagte: »Komm, Pauline! laß uns wieder zu Hause gehen und sei wieder froh. – Siehst Du,« fuhr er mit zitternder Stimme fort, »die Menschen mögen mit mir machen, was sie wollen, sie mögen mich von Dir wegführen, sie mögen mir sogar verbieten, an Dich zu schreiben; aber sie können mir doch nicht verwehren, daß ich immer an Dich denke, und daß ich Dir ewig gut bleibe, und daß ich Dich für das Beste halte, was auf der ganzen weiten Welt für mich da ist. – Nein!« setzte er schluchzend hinzu, »das können sie nicht! das sollen sie nicht! – und wenn ich größer werde, so will ich wiederkommen und will mit Dir leben bis an meinen Tod!« – Pauline küßte zitternd den lieben Mund, der ihr das Glück ihres Lebens zugesichert hatte, und sagte: »Glaube mir, Moritz! ich werde Dich ewig lieb haben, und wenn ich groß werde, will ich keinen Andern heirathen als Dich! – und damit Du ein Andenken hast an die Stunde, wo ich Dir mein Wort gegeben habe, da nimm dies!« und zugleich band sie die Korallenschnure, die sie um den Hals trug, ab und drückte sie dem Jüngling in die Hand. Moritz fiel ihr um den Hals und riß ein seidenes Tuch aus seinem Busen und gab es ihr. – »Es hat auf meinem Herzen gelegen, Pauline!« sagte er, »nimm es und denke immer daran, daß unsere Herzen Eins sind, und daß wir uns nicht verlassen wollen in Noth und Tod!«

Ein kalter Herbstwind wehte durch die Wipfel des Waldes und schüttelte die verwelkten Blätter herab; sie hörten es nicht; in ihren Herzen war ein Frühling aufgegangen, der den Stürmen des Lebens trotzte, die Hoffnung trug sie auf ihren Fittichen empor und zeigte ihnen hinter den Wolken der Zukunft ein Paradies voll Blumen und selige Tage voll Liebe. Langsam und schweigend gingen sie wieder nach Hause. An der Gartenthür drückte Moritz noch einen brennenden Kuß auf Paulinens Lippen und sagte leise: »Pauline, halte Wort!« und lief dann, um seine rothgeweinten Augen zu verbergen, wieder auf die Wiese hinaus.

Der Pastor Liebmann sprach während der Abendmahlzeit wenig; seine Frau hatte die Augen voll Thränen; Pauline kritzelte auf dem Teller, und Moritz sah still vor sich hin und hatte nicht das Herz, Paulinen anzusehen. Nach der Mahlzeit entfernten sich die Pastorin und Pauline; Liebmann setzte sich in seinen Lehnstuhl, rief Moritzen zu sich und sprach zu ihm, indem er ihm freundlich die Hand reichte: »Du bist neun Jahre in meinem Hause gewesen, ich habe Dich aufwachsen sehen vor meinen Augen, und habe Dich geliebt, wie mein eigenes Kind – jetzt ist die Zeit gekommen, wo Du mich verlassen mußt. Du bist vierzehn Jahre, und Dein Vater verlangt Dich, um Dir eine Erziehung zu geben, die Dich zu Deiner fernern Bestimmung vorbereiten soll. Gehe muthig Deinem Schicksale entgegen, suche Dein Glück durch Deinen Kopf und Deine Talente zu machen; aber versprich mir bei der Asche Deiner verstorbenen Mutter und bei den heiligen Lehren, die ich in Dein zartes Herz prägte, daß Du es nie auf Kosten Deines Herzens suchen willst.« – Moritz küßte seine Hand und sagte mit Thränen: »Ich verspreche es!« – Liebmann fuhr fort: »Diese Nacht ist die letzte, die Du in der Wohnung des stillen häuslichen Glücks und der ländlichen Unschuld zubringst; bald werden Dich Menschen umgeben, die von dem Glücke eines so beschränkten Lebens keine Begriffe haben; sie werden Dich mit Deiner Herzlichkeit verspotten, über Deine unschuldigen Freuden lachen und Dir sagen, daß Du im Geräusche der Welt, in dem glänzenden Zirkel der Vornehmen das Glück suchen sollst, das für Deinen Stand bestimmt ist. Folge ihnen, so weit Du ihnen folgen kannst; aber glaube nicht Alles, was sie Dir sagen werden. Das wahre Glück wohnt nur in der Beschränktheit! Ein reines Herz verliert in den Umgebungen der Welt nur zu oft seine Reinheit und Unschuld. Ein Leben voll Leidenschaften ist ein unglückliches Leben, und die wahre Ruhe wohnt nur in dem Schooße der Natur, in der einsamen Hütte des tugendhaften Menschen.«

Der Pastor schwieg. – Moritz fiel weinend in seine Arme, versprach seine Lehren durch sein ganzes Leben zu befolgen, und erfuhr nun, daß morgen früh mit Sonnenaufgang seine Abreise bestimmt sei, daß ihn Liebmann auf das nächste Gut bringen würde, wo sich sein Vater aufhielt, und daß er ihn nicht einmal Abschied von der Pastorin und Paulinen nehmen lassen wollte.

Moritz sprach kein Wort; so schnell hatte er die Abreise nicht vermuthet, und ohne Abschied sollte er sich aus einem Hause entfernen, das die Wiege seiner Kindheit gewesen war? – An der Brust seiner Pflegemutter sollte er nicht noch einmal seinen Schmerz ausweinen dürfen? – Ach, und Pauline! –

Er schlich die Treppe hinauf nach seiner Kammer; »Es ist das letzte Mal!« dachte er, und sein Herz klopfte heftig, und seine Thränen strömten unaufhaltsam. Er riß das Fenster auf, um Luft zu schöpfen; da stand der Mond voll und schön am dunkelblauen Himmel und beleuchtete das kleine, freundliche Gärtchen des Pfarrers und beschien die stillen Gräber des Kirchhofs und die Familiengruft, wo der zinnerne Sarg mit der Asche seiner Mutter stand. »Das Alles sehe ich zum letzten Mal!« rief Moritz aus. Er lag lange im Fenster und blickte in die Nacht hinaus, und betete dann leise: Schütze du mich, Geist meiner Mutter! Andenken Paulinens! erhalte mein Herz rein und gut.« Er drückte die Korallenschnur an seine Lippen, nahm dann seine Schreibtafel und schrieb:

»Pauline! wenn Du der Morgensonne entgegenlachst, habe ich ihr schon entgegengeweint! Du wirst das Haus durchsuchen, aber mich wirst Du nicht mehr finden; Du wirst in den Garten eilen, aber mich wirst Du da nicht mehr finden. – Ach, Pauline! Moritz ist fort, aber sein Herz ist bei Dir geblieben. Wenn Du allein bist, so sprich mit mir; ich werde täglich mit Dir sprechen. Du wirst mich nicht hören, aber Gott wird mich hören, der das Versprechen hörte, das Du mir gabst. Weine nicht! – Ich werde bald schreiben, schreibe Du auch! Ich habe das Andenken, das Du mir gabst, tausendmal geküßt. Ach, Pauline! lege das Tuch, das ich Dir gab, auf Dein Herz. O! warum bin ich an dem glücklichsten Tage meines Lebens so unglücklich geworden? Bete für mich, Pauline! daß mir's wohl gehe unter den fremden Menschen, und lebe Du glücklich an der Seite der guten Aeltern, und besuche oft die Laube, die ich gepflanzt habe. Ach! ich kann nicht mehr – – – Lebe wohl!«

Leise schlich er sich am andern Morgen, da kaum der Tag dämmerte, in Paulinens Kammer, legte das Briefchen in ihre Schreibtafel und schlich sich eben so leise davon, um nicht die Mutter aufzuwecken, die an ihrer Seite schlief.


Der Graf Wido war von einem entfernten Gesandtschaftsposten in sein Vaterland zurückgekehrt, um auf der Leiter der Fürstengunst höher zu steigen. Er war jetzt völlig ausgebildeter Weltmann, das heißt, er besaß jene kalte Besonnenheit, jene strenge Selbstbeherrschung, jene scheinbare Biegsamkeit des Charakters, auf welche das mehr beneidete als beneidenswürdige Glück dieser Menschenklasse gebauet ist. Er kannte nur ein Idol, Glanz, nur einen Wunsch, Einfluß, nur eine Sorge, beide zu verlieren; und da er die Geschicklichkeit besaß, alle Vorfälle des Lebens nach diesen Zwecken zu berechnen, und sich kein Bedenken machte, selbst das, für den Menschen Wichtigste, ihnen unterzuordnen, so hatte er jeden Tag das Vergnügen, sich seinen Lieblingswünschen nähergerückt zu sehen. Eine zweite Verheirathung mit der Gräfin von S… hatte ihn mit der angesehensten Familie des Landes in Verbindung gebracht. Die Gräfin war jung, schön, liebenswürdig, zwar eine Ausländerin, hatte aber, was ihr in den Augen des Grafen den vorzüglichsten Werth gab, einen Oheim, der das Herz des Fürsten besaß und am Hofe die Rolle des Allvermögenden mit vielem Glücke spielte.

An seine erste, wie er sie jetzt nannte, romanhafte Ehe dachte der Graf selten, und nur Moritz erinnerte ihn zuweilen daran. Er glaubte, es sei nun Zeit, den Jüngling aus dem Hause des würdigen Greises, der ihn erzogen hatte, abzurufen und ihm die Bildung zu geben, ohne welche, seiner Meinung nach, alle Weisheit des Kopfs und alle Güte des Herzens nur ein unnützer Fond war. Ein kleines, dürres Männchen, ein Franzose, war dazu bestimmt, den Jüngling in die Mysterien der Welt einzuweihen, und die Voraussetzung der Gelehrigkeit seines Sohnes, so wie das Zutrauen auf die Talente des Lehrers, ließen den Grafen hoffen, daß die Verwandlung schnell und ohne Schwierigkeit vor sich gehen werde. Noch hatte der feine Weltmann die Erfahrung nicht gemacht, daß die unverdorbene Jugend oft alle, selbst die künstlichsten Plane vereitelt, und daß mancher eisgraue Staatsintriguant, der Hofmenschen wie Gliederpuppen zu drehen gewohnt war, beschämt vor der kühnen Energie eines reinen und großen Herzens dastehen und alle Plane, es seinem Joche zu unterwerfen, aufgeben mußte.

Moritz hatte keine solche Erziehung erhalten, wie unser, an Charlatanerien so reiches Zeitalter in hundert abgeschmackten Büchern die Anweisung dazu giebt, das heißt, die Lehren der Tugend waren ihm nicht künstlich beigebracht worden, sondern ein edles Beispiel hatte alles Große, Schöne und Heilige in sein Wesen übergehen lassen und es zur nothwendigen Bedingung seines Seins gemacht. Sein Pflegevater glaubte, Wissenschaften und Künste zu lehren, möge es Methoden geben, an deren Ausbreitung und Verfeinerung unsere Pädagogen ihren Scharfsinn üben können, aber ein frommes, edles Herz zu bilden, gebe es nur eine Methode – die Nähe eines frommen, edlen Herzens; und diese Bildung tief in das innerste Wesen, gleichsam in den Quell des Lebens einwurzeln zu lassen, gebe es nur ein Mittel – die Religion.

Ach! daß eine wahnsinnige Aufklärung diesen Stützpunkt des Lebens unsern zarten Kindern entrissen hat! Daß ein elendes Wortgewäsch alles Große aus ihren Herzen wegschwemmte, alles Tiefe in ihrer Seele vernichtete, und an deren Stelle einen lächerlichen Stolz ohne Kraft, viel widerstreitende Wünsche ohne einen Friedensvermittler gab! –

Moritz kam als ein Fremdling in seines Vaters Haus. Durch Liebe wäre er einheimisch geworden, aber Liebe war selbst darin Fremdling. Kalte Höflichkeit, Manieren, leicht für Den, der sie sich zu eigen gemacht hat, drückend für Jeden, dem sie unbekannt sind, vertraten hier die Stelle des Frohsinns und der Herzlichkeit, an die er im Hause seines Erziehers gewöhnt war. Er galt für einfältig, weil er schüchtern war, für verschlossen, weil er wenig sprach, für kindisch, weil er an Kleinigkeiten Vergnügen fand, die man hier vornehm verachtete. Das kleine, dürre Männchen fand seine Eitelkeit nicht befriedigt und ward ihm gram. Der Vater nahm eine strenge Miene gegen ihn an; das kränkte ihn. Seine Stiefmutter machte ihn oft zum Gegenstande ihres Spottes; das erbitterte ihn. Seine Fortschritte in den Wissenschaften waren über Erwartung; aber das Gelernte in Gesellschaften anzubringen, seinem Vater Glückwünsche und sich selbst kleine Triumphe dadurch zu bereiten, verstand er nicht. Seine Bescheidenheit sagte ihm, daß diese Eitelkeit in Gesellschaft von Männern, die über ihm waren, lächerlich sei, und sein gutes Herz konnte es nicht über sich bringen, Andere, die unter ihm waren, durch diese Auszeichnung zu beschämen.

Aber eine solche Bescheidenheit ist nicht auf den Effekt berechnet, der nothwendig ist, um auf die Schwachheit Anderer sein Glück zu bauen, und fast scheint es, man müsse auf den Rang Verzicht leisten, den die äußere Welt ertheilt, wenn man auf den höhern Anspruch machen will, den die innere giebt. Die alte Mythe von Herkules am Scheidewege findet in dem Leben jedes Jünglings von Energie ihre Anwendung. Nie liegen die Extreme näher als in diesem kritischen Augenblicke. Entweder der Jüngling umfaßt die neuen Gegenstände mit leidenschaftlichem Eifer, folgt dem Rufe der Ehre, der Schmeichelei, seiner Eitelkeit und vergißt die Lehren, welche fromme Weisheit seiner Jugend einprägte; oder er hält fest an dem, was er besitzt, aber ein bitterer Groll gegen die Nichtswürdigkeiten, die zum Besitz aller Glücksgüter dieser Erde führen, nimmt in seinem Herzen Platz und verdrängt die Liebe, ohne welche keine Tugend schön ist.

Auch Moritz würde unvermeidlich auf eines dieser Extreme gefallen sein, wenn ihn nicht das Andenken an Paulinen davor gesichert hätte. Das Bild dieser engelreinen Unschuld erfüllte sein Gemüth. Wie ein Genius, der den Kranz der Belohnung in seiner Hand hält, stand sie an der Seite des Greises, der ihn erzogen hatte. Durch seine frommen Lehren waren ihre Herzen vereinigt, er hatte ihr geschworen, diese Lehren treu und rein in seiner Brust zu bewahren, und es war kein Verdienst, daß er diesen Schwur hielt, er konnte ihn nicht brechen. Ohne Vertrauten, wie er war, war Gott und ihr Geist der einzige Vertraute, dem er das Innerste seines Herzens aufschloß, seinen Kummer mittheilte, seine kleinen Freuden erzählte. Er schrieb täglich an sie, ohne zu wissen, wenn und wie diese Briefe vor ihre Augen kommen würden; aber es war ihm, als verstände er nur dann sein eignes Herz, wenn er es ihr öffnete. Hier sind einige Bruchstücke aus diesen Briefen.

»Wie es mir geht, Pauline? Ich will nicht klagen, aber ich fühle es, ich gefalle Niemand – und mir? mir gefallen nur Wenige. Mein Vater hat große Dinge mit mir vor, und ich bin zu allen sehr ungeschickt. Noch heute entwarf er mir ein Gemälde meiner Zukunft. Es sollte mich reizen, aber es schlug mich nieder. Ein ganzes Leben voll Entbehrung und Mühe wird kaum hinreichen, mich dahin zu bringen; ach! und ich bin so schwach, daß ein einziger mühevoller Tag mich abmattet! Wie glücklich bist Du! Du denkst nur an die Stunde, die Dich umgiebt, an das Lächeln, das um Deines Vaters Lippen schwebt, an die Blumen, die in Deinem Garten aufgebrochen sind. Sonst war ich auch so. Jetzt muß ich immer in eine freudenleere, mühsame Zukunft hinaussehen. Jeden Tag, sagt mein Vater, soll ich nur als eine Stufe ansehen, die mich weiter bringt, jedes Jahr als eine Reihe Stufen, und das immer so fort. Was denkst Du, Pauline? Ich muß Dir gestehen, es kommt mir recht lächerlich vor, daß man immer Treppen steigen soll. Daß man sie steigt, um in ein anderes Zimmer zu kommen, begreife ich wohl, daß man einen Berg hinaufklettert, um eine schöne Aussicht zu haben – haben wir das nicht oft gethan? Aber ein ewiges Steigen und ein ewiges Klettern – es kommt mir doch seltsam vor.

»Meine neue Mutter ist recht schön und, ich glaube, auch recht gut, aber ich habe kein Herz zu ihr. Weißt Du, warum? Sie hat Alles in ihrer Gewalt, ihre Freude, ihren Kummer, ihre Launen, ihre Liebe. Sie geht mit den Menschen um, nicht, wie sie muß, sondern wie sie will, und da denke ich, es kann nichts aus dem Herzen kommen, sonst wär' es unmöglich; das macht mich mißtrauisch und furchtsam. Sie lächelt mich oft an, es sieht recht liebreich aus, aber es sind nur ihre Lippen, die sich zusammenziehen, um mir ein Almosen zu geben. Manchmal lacht sie auch recht bitter über mich, und dann thut es mir weh', daß ich sie Mutter nennen muß.

»Am widerwärtigsten ist mir der Mensch, der mich unterrichtet. Ich thue ihm vielleicht Unrecht, aber kann ich dafür, daß ich ihn immer mit Deinem Vater vergleichen muß? Ich lerne viel und werde klug, aber das ist's auch Alles. Für mein Gedächtniß nur zu viel, für mich selbst wenig oder nichts. Wenn uns Dein Vater unterrichtete, wie fühlten wir so lebendig, daß Alles aus tiefer Seele emporstieg – seine Liebe zu uns – wie machte die uns Alles so lieb, was er lehrte, seine heitere, herrliche Miene, seine nachsichtsvolle Freundlichkeit – gegen die schönen schnellen Worte meines Franzosen! Er versichert mir in jeder Stunde, ich müßte mich glücklich preisen, ihn zum Lehrer zu haben. Ich habe es, trotz seiner Versicherung, noch nicht gethan.

»Ich bin fremd, Pauline, überall fremd und werde es am Ende mir selbst werden. Ich muß den ganzen Tag, Gott weiß wie vielerlei, denken, thun, lernen, daß ich nicht zu mir selbst komme. Aber Abends spät, o wie herrlich! da bin ich allein, ganz allein! Du hast keinen Begriff davon, was das sagen will: Allein sein! Da hab' ich heute lange am Fenster gelegen und in die schöne sternenklare Nacht hinausgesehen. Zum ersten Male fühlte ich mich wieder einheimisch. Es war der alte bekannte Himmel, der sich über mir wölbte, die alten freundlichen Sterne, die mir zuwinkten. Ach, dort oben ist Alles unveränderlich und fest, und nur hier unten ist Alles so durch einander, so unruhig wechselnd! Weißt Du, wie uns der Vater die glänzenden Welten kennen lehrte? Ich hielt Deine Hand in der meinigen und fühlte, wie Du zittertest, und mein Herz klopfte hoch auf vor Freude, daß mir nun begreiflich schien, was ich sonst nicht begreifen konnte, Gott und die Ewigkeit! Und da der Vater sagte: die Erde wäre ein unbedeutender Punkt gegen das Ganze, und nur deßwegen hochzuschätzen, weil uns von ihr aus ein Blick in das unermeßliche Gottesreich vergönnt sei, da fühlte ich recht lebendig, daß meine Seele bei Gott war, und doch hatte ich auch die Erde lieb, von der ich seine heilige Pracht bewunderte. Gerade wie damals stand das Siebengestirn in Osten. Aus dem Hause Deines Vaters gesehen, stand es gerade über der Kapelle, wo meine gute Mutter begraben liegt. Dein Vater meinte, es wären vielleicht glückselige Inseln, die unter einander in freundschaftlicher Verbindung ständen. Ach, Pauline! wie das Alles wieder so frisch in meiner Seele erwachte! – Mein Vater sagt: ich hätte gar kein Genie, mich emporzuschwingen. Ich will höher als er, nur auf eine andere Höhe!

»Verschlossen wär' ich? kannst Du es glauben, meine Pauline? Ich glaube es selbst kaum, und doch ist es wahr! Wie soll ich offen sein, wenn sich mir alle Herzen verschließen? Ich hing so gerne mit kindlicher Liebe an den Menschen, denen ich nun einmal angehöre, aber sie geben mir kalte Lehren statt warmer Liebe, und das ist ein schlechter Tausch! Alles ist Manier, Zwang, erlernte Worte, und ich soll mich auch darein finden, aber es geht nicht! Wie das Wort aus dem Herzen quillt, so ist es wahr und schön; aber die Phrasen, die diese Menschen im Munde führen, verderben Alles! – und am Ende, was ist's denn? Soll ich sie lernen, daß sie sagen, ich bin wie sie, und mich deßwegen loben?

»Heute hab' ich einen schönen Augenblick gehabt, Pauline! Ich habe in meines Vaters Herz gesehen, und er ist mir um Vieles werther geworden. Höre nur. Zufällig kam ich nach dem Frühstück in das Schlafzimmer meiner Stiefmutter. Noch war ich nie darin gewesen. Ich sah mich neugierig um. Es war Alles prächtig, aber himmlisch schön. Ihrem Bette gegenüber hing ein Gemälde. Ein seidener Vorhang bedeckte es zur Hälfte. Du kennst meine Liebhaberei an Bildern, die ich schon als Knabe hatte. Mit kindischer Neugier sprang ich auf den Stuhl und zog den Vorhang auf. Es war eine Maria mit dem Jesuskinde. Ach, Pauline, welch ein redliches, unschuldiges, stilles Angesicht! so hoch und so demüthig, so verklärt und so menschlich, so voll Ernst und so voll Liebe! Wie selig mußte der Mensch sein, dem zuerst ein solches Bild vor die Seele trat! – Mein Vater kam dazu. »»Die Mutter Gottes,«« sagte er, »»von …«« Ich habe den Namen nicht behalten, denn was kümmert er mich? Aber ich weiß nicht, wie mich das Wort Mutter so tief erschütterte. »»Mutter?«« rief ich; »»ach, wer sich an ein Mutterherz wenden kann, der ist nicht verlassen!«« Mein Vater sah mich ernsthaft an. Die Thränen stürzten mir aus den Augen. Er schloß mich in seine Arme. Es war das erste Mal, Pauline, daß ich an meines Vaters Brust lag! – »»Das Bild,«« sagte mein Vater, »»hat Aehnlichkeit mit Deiner verstorbenen Mutter.«« – Ich drückte sprachlos mein Herz an das seinige. Er fühlte, was ich dachte. Ich sah eine Thräne in seinen Augen schwimmen. Pauline! diese Thräne kam aus seinem Herzen!

»Wie sich doch wichtige Dinge an kleine Begebenheiten ketten! Der Vorfall mit dem Bilde hat auf einmal meine alte Lust an dem Zeichnen wieder lebendig gemacht. Bisher war sie eingeschlafen, wie so Vieles, was in der schönen, alten, vergangenen Zeit mein Herz erhob. Lache nicht, daß ich das wichtig nenne, für mich ist es doch so. Ich habe doch nun Etwas, woran ich meine Freude habe, und das ist für mich Einsamen viel! Ich bat meinen Vater, mir einen Lehrer zu halten. Es war meine erste Bitte, und er gewährte sie mir. Nun stehle ich jede Stunde ab, um mich zu üben. Das Schwerste wird mir leicht, das Mühsamste vollbringe ich freudig, weil ich es gern thue. Das ist doch Etwas, was ich für mich selbst lerne, das Andere lerne ich nur, weil man sagt, ich müsse es lernen. Ich bin jetzt heiterer, ruhiger, auch mein Vater ist zufriedener mit mir, denn mein Zeichnenmeister hat mich gelobt. Der erste Mensch, Pauline, der in diesem Hause gut von mir gesprochen hat.

»Ich stehe mit Allen jetzt auf einem bessern Fuß, als ehedem. Meine Stiefmutter findet Gefallen an meinen Zeichnungen. Der Vater nennt es zwar Spielerei, aber ich sehe es ihm an, wie er sich freuet, wenn fremde Leute meine kleinen Arbeiten billigen. Nur mein Franzose spöttelt darüber und nennt es Zeitverderb. Je nun, mag er! Seine Zeit verderb' ich ja nicht damit, und kann das Zeitverderb sein, was mir glückliche Stunden und Zufriedenheit mit mir selbst giebt? Und Spielerei, wie es mein Vater nennt, ist es gewiß auch nicht. Die herrliche Kunst, die mich ein schönes Bild, das schnell vor meiner Seele vorbeieilt, festzuhalten und zu meinem und Anderer Genuß darzustellen lehrt, sollte Spielerei sein? Muß ich nicht mühsam fremde Sprachen lernen? und enthält nicht diese Kunst die Sprache, die allen Völkern verständlich ist? Freilich sagt mein Vater, jeder Schritt, der mich nicht zu meinem Zwecke führe, sei verloren; aber er nennt das meinen Zweck, was nur der seinige ist.« –

Der Graf Wido, der, wie alle gewöhnlichen Erzieher, aus seinem Sohne nur eine wenig veränderte Kopie seines eigenen Ichs zu machen suchte, glaubte diesen Zweck am besten zu erreichen, wenn er der Lieblingsneigung des Jünglings nachgäbe. Er ließ ihn zeichnen, lobte seine Arbeiten, und glaubte, die Eitelkeit – er nannte es Ehrliebe – des Jünglings würde, wenn sie einmal rege gemacht worden wäre, ihm zur Ausführung seiner Plane von selbst die Hand bieten. Eine Maxime, die in unserer methodischen Erziehung am häufigsten angewandt wird, und auf deren Rechnung man billig die größte Hälfte der Thorheiten setzen sollte, welche unser Zeitalter vor den früheren auszeichnen. Auch würde sie wahrscheinlich gelungen sein, wenn Moritz nicht durch den schnellen Uebergang aus seiner jugendlichen Unbefangenheit zu dem Zwange des konventionellen Lebens eine Reife des Geistes erhalten hätte, die über sein Alter war.

Es war nicht Sucht, zu glänzen, was ihm die Kunst lieb machte – es war Bedürfniß, Etwas darzustellen, was mit seiner Seele verwandt und aus seinem Herzen entsprungen war. Ein Bedürfniß, das er in diesen Umgebungen lebhafter als je fühlte. Es war nicht Eitelkeit, was ihn froh machte, wenn man seine Arbeiten lobte, es war die reine Freude, die ein edles Herz empfindet, wenn es sich verwandt mit andern Menschen fühlt, wenn es gewahr wird, daß auch in einer fremden Brust das Feuer brennt, das mit lichter Flamme in seinem eignen Innern lodert. Er würde die Kunst geliebt haben, auch wenn er selbst kein Talent zu irgend einer Gattung derselben gehabt hätte, denn sie galt ihm als Verbindungsmittel in der äußeren Welt, zwischen ihm und solchen Menschen, welche außerdem keinen Berührungspunkt für ihn hatten, so wie es die Religion in einem hohem und heiligern Sinne in der innern Welt war.

Ein Jüngling, der von solchen Gefühlen geleitet wird, ist für die Eitelkeit des Ranges, des Ansehens, des Einflusses wenig empfänglich. Er hat das aus seiner Jugend in das Leben hinübergerettet, was bei den meisten Menschen verloren geht – das kindlich gute, allen schönen Eindrücken offene Herz! Und ein solches übersieht die Ungleichheiten in der bürgerlichen Welt und kennt nur die Gleichheit im Reiche Gottes und im Reiche des Schönen.

Die scheinbar gütige Behandlung, die man ihm erzeigte, machte oft den Wunsch in dem Jünglinge rege, daß es ihm gelingen möchte, die Erwartungen des Vaters zu erfüllen. Manchmal war es ihm, als sei es nur um eine kleine Veränderung in seinem Aeußern zu thun, er brauche sich nur in den Kleinigkeiten des alltäglichen Lebens einem Zwange zu unterwerfen, der ihm zwar lästig, aber für seine bessere Existenz nicht gefährlich schien. Und dann kam es ihm oft wieder vor, als sei es unmöglich, als müsse er von Allem, was ihm werth sei, von seinem eigenen bessern Selbst auf ewig Abschied nehmen, wenn er denen ähnlich werden wollte, die man ihm zum Muster aufstellte.

In diesen fruchtlosen Bemühungen waren mehrere Jahre verstrichen, und die Zeit, wo Moritz in dem Sinne handeln sollte, welchen ihm der Vater durch seine Erziehung beizubringen gesucht hatte, rückte heran. Bis jetzt hatte sich der feine Weltmann mit derselben Behutsamkeit, die er gegen Fremde beobachtete, auch gegen seinen Sohn benommen. Der Graf war gewohnt, sich nur errathen zu lassen, und wenn der Jüngling auch den zweideutigen Charakter seines Vaters ahnete, so kannte er ihn doch nicht gewiß, und überredete sich oft, daß er irrte. Aber einige bittere Erfahrungen vernichteten diese Täuschung.

Moritz blieb sich in seinem Betragen gegen die Menschen, die ihn umgaben, gleich. Wem er gut war, mit wem er in kleineren Zirkeln vertraut und fröhlich umgegangen war, dem nahte er sich in größern mit derselben Vertraulichkeit und Offenheit. Wer ihm zuwider war, erhielt wenige Worte, und waren diese höflich, so glaubte er Alles gethan zu haben, was man von ihm fordern könne. Daß man in den Versammlungen der großen Welt nicht auf den Menschen selbst, sondern nur auf den Platz sieht, den er einnimmt, und auf die Rolle, die er spielt – davon wußte sein edles Herz nichts. Daß man die ungereimteste Meinung mit Lächeln anhören, der unverschämtesten Medisance, selbst über Menschen, die man werthschätzt, Beifall geben, über Nichts Worte machen und vom Wichtigen schweigen müßte – war ihm nie eingefallen. Er hatte einigemal die Augen der ganzen Gesellschaft auf sich gezogen, weil er gewissen Leuten widersprach, die bei gewissen Leuten Orakel waren. Er hatte mehrmals die Unvorsichtigkeit begangen, Urtheile laut werden zu lassen, die man ihm für Verbrechen anrechnete, weil sie wahr waren.

Diese Verstöße bestimmten endlich den Vater, mit seinen Lehren offener herauszugehen.

»Was glaubst Du wohl,« fragte er eines Abends, »was der Zweck der Gesellschaften ist?«

»Sich zu erheitern, zu zerstreuen,« antwortete Moritz, »durch Gedankentausch zu belehren und belehrt zu werden, den engen Kreis seines Lebens dadurch zu erweitern, daß man sich in den Kreis eines Andern versetzt.«

»Wohl,« fuhr der Vater fort; »wie aber, wenn es Gesellschaften gäbe, wo weder Erheiterung noch Zerstreuung zu finden wäre, wo der Umtausch der Gedanken sogar gefährlich werden könnte? Welchen Zweck würdest Du Dir bei solchen Gesellschaften denken?«

»Das sind keine Gesellschaften!« erwiederte Moritz schnell.

»Laß uns nicht über Worte streiten. Sie nennen sich so, sie haben das Aeußere mit allen Gesellschaften gemein, unser Stand macht es nothwendig, sie zu besuchen.«

»Sollte die Nothwendigkeit da sein, von der ich mich freilich schwer überzeugen kann, so wird es mir noch schwerer werden, einen vernünftigen Grund zu finden, warum man sie besucht. Denn sehen, dulden und schweigen kann wohl schwerlich ein vernünftiger Grund sein.«

»Also hältst Du die Gelegenheit, Menschen zu beobachten, ihre Verbindungen kennen zu lernen, ihre Plane zu errathen, ihre Schwächen zu durchschauen, für Nichts?«

»O ja! bei Menschen, die der Mühe dieses Beobachtens werth sind.«

»Was im Allgemeinen keinen Werth hat, kann oft für Dich den bedeutendsten haben. Du willst Dich emporschwingen, diese Menschen wollen es auch …«

»Sie wollen Geld haben,« fiel Moritz ein, »sie wollen Ehrenstellen erlangen, die der Fürst vergiebt – aber sich emporschwingen? Nein, Vater, das wollen sie nicht!«

»Unterbrich mich nicht mit Aeußerungen einer kindischen, für diese Welt wenig passenden Weisheit. Die Erfahrungen des Lebens widerlegen sie, und sie zerfallen in das, was sie sind – in Nichts!«

»O, dieses Nichts!« sagte Moritz und legte die rechte Hand auf sein Herz und blickte mit feuchtem Auge empor.

– »Du willst Dich emporschwingen,« fuhr der Vater mit finsterer Miene fort, »diese Menschen wollen es auch. In dieser Beziehung stehen sie also feindselig Dir gegenüber, sie beobachten Dich, wie Du sie beobachtest, sie verstellen sich, wie Du Dich verstellst, sie wollen auf Deine Kosten empor, Du auf die ihrigen. Der Geschicktere siegt. Deine Schultern wollten sie haben, um höher zu steigen, Du zwingst sie, daß sie Dir ihre leihen. O mein Sohn, die Kunst, in der Welt sein Glück zu machen, ist schwerer, als Du und Deine Philosophen glauben, aber ihre Triumphe sind reeller und wirken, wenn auch der Vater todt ist, noch auf die Kinder und Kindeskinder fort.«

Moritz schwieg.

»Lerne also,« sagte der Vater, »über Dich wachen. Versäume keine Gelegenheit, wo Du die Gunst eines Menschen erwerben kannst, ohne die Gewogenheit eines Höhern zu verlieren. Meinungen, die man äußert, und Urtheile, die man ausspricht, sind Samenkörner, die emporwachsen. Streue sie nie aus, wenn es nicht Dein Zweck unumgänglich erfordert. Hüte Dich vor Allem, einen bestimmten Charakter zu zeigen. Haben mußt Du ihn, und zwar einen festern, als ihn Deine idealischen Träume möglich halten, aber zeigen – darfst Du ihn nie. Unbestimmtheit gefällt, Jeder glaubt sie zu seinem Vortheile lenken zu können, aber ein fester Sinn ist ein Fels, an dem die Welle sich bricht und den der kluge Schiffer vermeidet. Unter einem bedeutungslosen Ansehen gelingt Vieles. Gegen Den, der seine Wichtigkeit äußert, verbindet sich Alles. Laß also auch Deine Eitelkeit nie laut werden, wenn Deine Bemühungen glücken und Deine Plane gelingen. Dein Weg ist weit, und Eine glücklich zurückgelegte Station bürgt nicht für den guten Ausgang der Reise. Frühzeitige Triumphe bestrafen sich hart. Aber die Zeit kommt – greif' ihr nicht zuvor – wo Du unter dem Auge des Fürsten, dem Du unentbehrlich geworden bist, und in der Nähe des Throns auf das Treiben, Drängen und Planemachen, das nun unter Dir ist, mit der Freude herabsiehst, die jedes gelungene Unternehmen belohnt.«

»O mein Vater,« sagte Moritz mit unterdrückter Stimme, »ich habe schon als Knabe zu einem höhern Throne emporgesehen, zu dem man nur mit einem edeln Gemüthe und einem reinen, redlichen Herzen sich nahen kann. Vor diesem Throne möchte ich einigen Werth haben; aber der Weg, den ich betreten soll, führt nicht dahin!«

»Und auf die Meinung der Menschen,« erwiederte der Graf etwas heftig, »glaubst Du gar keinen Werth legen zu dürfen?«

»O ja, mein Vater!« sagte Moritz bittend, »nur nicht auf die Meinung dieser Menschen.«

»Ich gehöre auch mit zu diesen,« sagte der Graf mit sichtbarer Empfindlichkeit und verließ das Zimmer.

»Ich nicht!« seufzte Moritz und stand mit gefaltenen Händen und niedergesenktem Haupte da. Er trat ans Fenster – da war's ihm, als blickten ihn alle Sterne an und fragten ihn: »Bleibst Du uns treu?«

Der Jüngling legte seine Hand auf sein Herz und sagte mit stiller Begeisterung: »Ich bleibe euch treu!«


Seit dieser Unterredung besuchte Moritz nur gezwungen die Gesellschaften, die ihm der Vater nur zu wahr geschildert hatte. Er war still, in sich gekehrt, mißtrauisch gegen Alle geworden. In der freundlichsten Miene, die sich ihm näherte, sah er versteckte Schlauheit, ihn zu ergründen, und je lebhafter er fühlte, daß das, was sein Herz erhob, von diesen Menschen weder verstanden noch geschätzt werden konnte, desto sorgfältiger wachte er, es nicht durch Mittheilung an Unwürdige zu entweihen. Aber mit doppelter Wärme hing er jetzt der Kunst an. In ihr nur fand er das Unschuldige, Reine und Erhabene versinnlicht, was in seiner Brust lebte. Er fühlte jetzt, daß es wahr sei, wenn man sagt, das Leben des Künstlers sei eine verlängerte Kindheit. Und gewiß, wenn die Menschen das Paradies verloren haben, so hat der Künstler davon noch Rückerinnerungen behalten, die er in Formen, Tönen und Worten darzustellen sucht.

Das Einzige schien ihm unbegreiflich, wie Menschen von der höchsten Verbildung noch an der Kunst Geschmack finden könnten. Der Jüngling kannte den unwürdigen Gebrauch noch nicht, den Menschen, die Alles erniedrigen, auch von der heiligen Kunst machen. Er wußte nicht, daß man Gefallen daran finden kann, ohne davon ergriffen zu werden, er glaubte nicht, daß man das Sinnliche an ihr nur auffassen und von dem Hohen, dessen Gewand sie ist, keine Ahnung haben könne.

In dieser Zeit starb der Oheim seiner Stiefmutter. Er war der Polarstern gewesen, um den sich der Hof drehte, während eine zerrüttete Gesundheit und ein freudenloses Alter ihm selbst allen Lebensgenuß verbittert hatten. Die letzte Rolle, mit welcher die Höflinge unserer Zeit abzutreten gewohnt sind, ist die Rolle eines Philosophen. Auch er hatte sie versucht, aber sie war ohne Vergleich schlechter ausgefallen als alle, die er Zeit seines Lebens gespielt hatte.

Nur ein großes, mit dem ewigen Schicksale vertrautes Herz vermag an der Schwelle noch aufrecht zu stehen, wo alle Eitelkeit in Nichts zerfallt, wo alles Streben für diese Welt zwecklos und klein erscheint, und umsonst bemüht sich ein kleiner Mensch, eine Kraft zu erheucheln, die seinem Herzen von jeher fremd war.

Mit der Trostlosigkeit eines Mannes, der sich von Allem verlassen sieht, nur nicht von dem peinigenden Gedanken an ein ewiges Sein, mit der Schwäche, die nicht einmal den Muth hat, sich zu einem erbarmenden Gott zu erheben, war der Mann von der Welt abgetreten, den die Welt so hoch geachtet hatte. Seine Feinde, die mit der Larve des Mitleids auf seine letzten Athemzüge gelauert hatten, legten nun ihre Masken ab. Des wenigen Guten, was er gethan hatte, ward nicht erwähnt, aber tausend Zungen waren bereit, alle die schlechten Mittel aufzuzählen, deren er sich zu seinem Emporschwingen bedient, alle die Ungerechtigkeiten mit grellen Farben zu malen, die er während seines Einflusses sich erlaubt hatte. Dieselben Menschen, die am tiefsten sich vor ihm gebückt, am eifrigsten ihm geschmeichelt, ihm allein ihr sogenanntes Glück zu verdanken hatten, beschimpften jetzt am lautesten seine Asche. Unter ihnen war auch der Graf, ungeachtet er überzeugt war, daß der Verstorbene einen bessern Nachruf verdiene; aber er sah, daß man nur dadurch dem Verdacht entgehen könne, an Ungerechtigkeiten, die nun einmal laut geworden waren, Antheil genommen zu haben, und daß es für seinen Zweck in jeder Rücksicht vortheilhafter war, in die allgemeine Meinung einzustimmen.

So klein werden die Menschen, die sich an der sogenannten Weltehre gängeln lassen, daß ihnen aller Muth erstirbt, ihre Ueberzeugung zu bekennen, wenn sie der Meinung der Menge entgegen ist.

Moritz sah es und schauderte. Oft hatte man ihm den Mann zum Muster aufgestellt, über den jetzt Jeder ungescheut in Verwünschungen und Klagen ausbrach. Der Entschluß, irgend eine Gelegenheit zu ergreifen, um dieses Leben zu verlassen und sich in eine glückliche Eingezogenheit zu retten, hatte oft, wiewohl nur dunkel, vor seiner Seele gestanden, jetzt ward es ihm klar, daß es sogar Pflicht sei, ihn zu ergreifen. Der Vater hatte schon den Plan zu seiner Anstellung entworfen. Er. sollte dem Fürsten zu einer Hofcharge vorgestellt werden. Die Zeit drängte. Er fühlte Muth in sich, Alles zu wagen. Schon war der Tag bestimmt, wo er zu seinem Pflegevater reisen, den Rath und Segen dieses würdigen Greises sich erbitten und von Paulinen einen längern Abschied nehmen wollte, als er folgenden Brief von ihr erhielt:

»Weine, Moritz! unser Vater und Freund hat uns verlassen. Nach einem thätigen und segensvollen Leben ist er zu einem größern und heiligem Wirkungskreise abgerufen worden. Er ist von uns gegangen wie ein Engel Gottes, der seinen reichen Segen zurückläßt. Er hat auch Deiner gedacht und Dich gesegnet. O hättest Du gesehen, mit welcher seligen Heiterkeit er dem letzten Augenblicke entgegensah, mit welcher heldenmüthigen Zuversicht sein sterbendes Herz erfüllt war! – Seit einigen Monaten fühlte er eine ungewöhnliche Schwäche. Er nahm sie als Vorboten seines Todes und sprach mit heiterer Ergebung, oft sogar mit einer göttlichen Freudigkeit von seinem nahen Ende. Nur wenige Tage vor seinem Tode ward er bettlägerig. Seine Freunde – Du kennst die auserlesene Zahl, die er mit diesem ehrenwerthen Namen belegte – verließen ihn fast nie. Wir weinten, er tröstete uns. Wir waren verzagt, nur er allein war stark. Am dritten Abend schien er sich zu bessern. Wir waren vom Wachen erschöpft. Er hieß uns zur Ruhe gehen, und wir verließen ihn in der Hoffnung, ihn am Morgen gestärkter zu finden. Die Mutter war allein bei ihm geblieben. Er faßte ihre Hand und sagte: »»Meiner Augenblicke sind nur noch wenige, und ich fühle es, mein Leben wird still und schmerzenlos endigen.«« Die Mutter blickte gen Himmel, und da sie wieder auf meinen Vater herabsah, war er schon verschieden. – O Moritz! so brach das Herz, das uns so zärtlich liebte! Weine ihm eine dankbare Thräne und folge seinen Lehren, sie nur allein sind der Weg zu einem solchen Tode!«

Moritz zerfloß in Thränen. Das Bild seines Pflegevaters hing, von ihm selbst gemalt, über seinem Arbeitstische. Er nahm es herab, bedeckte es mit seinen Küssen, drückte es an sein Herz. »Deine Lehren,« rief er, »führen zu einem solchen Ende

Jedermann würde den Schmerz des Jünglings geehrt haben, auch sein Vater, wäre nicht zum Unglück gerade der heutige Tag bestimmt gewesen, Moritz dem Fürsten vorstellen zu lassen.

Moritz bat um Schonung; der Graf zuckte die Achseln, sprach von der Nothwendigkeit, sein Herz, selbst in den edelsten Aufwallungen, zu beherrschen, seinen Schmerz zu bekämpfen; bedauerte selbst, daß die unangenehme Nachricht gerade zu so ungelegener Zeit gekommen wäre, bedeutete ihm aber ganz ernstlich, daß er heute alle seine Kräfte aufbieten müsse, um bei dem Fürsten einen günstigen Eindruck zu hinterlassen. »Heute muß Alles schweigen,« sagte er, »was nicht auf die ehrenvolle Laufbahn Beziehung hat, die Du anzutreten im Begriff stehst. Die großen Beispiele Deiner Vorfahren müssen allein vor Deinen Augen stehen, Dich ihrer würdig zu machen, muß Dein einziges Bestreben sein. Es ist heute der wichtigste Tag Deines Lebens, denn an den ersten Schritt reihen sich alle folgende.«

»Er ist es, ich fühle es auch!« sagte endlich Moritz kalt, kleidete sich an und eilte aufs Schloß.

Alle Beklommenheit, alle Angst, die er sonst empfunden hatte, wenn er die großen, breiten Stufen hinaufstieg, war jetzt verschwunden. Er kam von dem Sterbebette eines der edelsten Menschen, was sind da die Fürsten der Erde?

Er ward vorgestellt. Man hatte dem Fürsten von dem Sonderlinge erzählt, man hatte sein Talent zur Malerei erhoben. Der Fürst, dadurch neugierig gemacht, nahm ihn mit in sein Kabinet. Seine bescheidene Miene gefiel. Er war gütig gegen ihn, Moritz ward davon überrascht; er war herablassend, das riß den Jüngling hin. Ein theilnehmendes Herz an dieser Stelle war ihm eine unerwartete Erscheinung. Er wußte noch nicht, daß die Fürsten oft die einzigen guten Menschen an ihren Höfen sind. –

Moritz hatte sich vorgenommen, Alles aufzubieten, daß er nicht gefiele. Statt Stolz fand er Liebe, und dieser zu widerstehen, war ihm unmöglich. Sein Herz schloß sich auf. Er vergaß den Fürsten, der vor ihm stand, und sah nur den Menschen, der an seinem Schicksale Theil nahm. Frei entdeckte er ihm seine Abneigung gegen die stolzen Plane, die sein Vater für ihn entworfen hatte, mit der Beredsamkeit eines edeln Herzens, der feurigsten von allen, schilderte er das Glück eines eingezogenen, von der Welt vergessenen, nur der Natur, der Kunst und der Tugend gewidmeten Lebens. Er bat dringend, ihm die Erlaubniß, ein solches Leben führen zu dürfen, von seinem Vater zu bewirken. Die Bitte war dem Fürsten neu. Sie mußte ihn interessiren. Er gab sein Wort, dachte wirklich noch denselben Abend an sein Versprechen und sprach mit dem Grafen darüber.

Am andern Morgen ward Moritz zu seinem Vater gerufen. Der Graf war vornehm und kalt.

»Ich habe,« sagte er stolz, »dem Fürsten das Versprechen gegeben, Dich zu entlassen. Ich halte es. Suche in einem niedrigen, ehrenlosen Leben das Glück, das Deine kindische Thorheit sich zum Ideal gebildet hat. Dein Entschluß schließt Dich von selbst von der Familie aus, von der Du abzustammen die Ehre hattest. Meine Plane, Dein Glück zu gründen, haben mir viele sorgenvolle Stunden gemacht; Du hast sie schlecht erfüllt, meine Sorgen mit Undank belohnt, meine Liebe auf immer verscherzt. Geh', wohin Dich Deine Phantasien treiben, aber laß Dich nie wieder vor mir blicken, selbst an mich zu schreiben, verbiete ich Dir.«

Moritz vermochte nicht zu sprechen, er breitete seine Arme bittend gegen den Vater aus, aber eine kalte, verächtliche Miene schreckte ihn zurück.

»Hier,« fuhr der Graf fort und übergab dem Jüngling einige Papiere, »ist das Erbtheil Deiner Mutter; der Reisewagen ist vorgefahren und erwartet Deine Befehle. Entferne Dich!«

»Ist das der Segen eines Vaters?« fragte Moritz zitternd.

»Ich bin kein Freund von Theaterszenen,« erwiederte der Graf mit bitterm Spott und wandte ihm den Rücken.

»Gott wird mir beistehen!« sagte der Jüngling und verließ mit dem bittern Gefühle, verkannt zu sein, und mit dem edlen Bewußtsein, es nicht zu verdienen, das Haus seines Vaters.


Mehrere Jahre darauf gefiel es dem Schicksal, durch ein schreckendes Beispiel und durch bittere Erfahrungen die Menschen zu demüthigen, die sich auf Kosten Anderer erhoben hatten. Die Revolution brach aus und drohte alle alte, durch die Zeit geheiligte Formen zu vernichten und die Grundlagen aller Staaten der gebildeten Welt zu stürzen.

Abkömmlinge von Familien, die sich seit undenklichen Zeiten her hatten ernähren lassen, streiften jetzt von Land zu Lande herum, um von wohlthätigen Händen das Brod zu erhalten, welches zu erwerben sie nicht gelernt hatten. Nie zeigte sich der Kontrast zwischen hohen Namen und dürftigem Ansehen, zwischen weit umfassenden Planen in der Zukunft und dem drückendsten Mangel in der Gegenwart so auffallend. Kein Eigenthum war vor räuberischen Eingriffen geschützt, nur das ewig Unverletzliche, was Jeder in Kopf und Herzen trug, war gewiß. Der Krieg brach aus, die schönsten Länder Deutschlands wurden von feindlichen Armeen überschwemmt. Die Fürsten verließen ihre Residenzen, die Großen ihre Vesten, die Reichen ihre Besitzungen. Alles flüchtete.

Der Graf Wido war auf seine Güter gegangen, aber das Getümmel des Kriegs erreichte ihn bald und trieb ihn von Ort zu Ort.

Es war ein ungestümer Herbstabend. Der Graf flüchtete nach Baiern. Die Wege waren durch den Marsch der Armeen verdorben und mit Flüchtlingen aus allen Gegenden bedeckt. Zwei Meilen vor L… brach der Reisewagen des Grafen. Es ward Nacht. Der Himmel war mit Wolken bedeckt und drohte Regen. In einiger Entfernung sah man ein Dorf. Es lag freundlich auf den Hügeln, welche die Donau begrenzen. Der Graf ließ seine Bedienten bei dem Wagen und eilte ganz allein darauf zu.

Er war noch nicht weit gegangen, als ihn eine Allee von Fruchtbäumen zu einem Meierhofe führte, der dicht vor dem Dorfe am Abhange des Berges lag. Ermüdet, wie er war, war ihm das erste, beste Haus willkommen, und das heitere Ansehen der Meierei, das Licht, das gastfreundlich durch die Fenster schimmerte, ließen ihn eine gute Aufnahme hoffen. Er pocht an. Ein schönes, junges Weib, mit einem Kinde auf dem Arme, öffnet die Thür. Der Graf verschweigt seinen Namen, erzählt seinen Unfall und bittet um ein Nachtlager. Mit freundlicher Miene nöthigt ihn das Weib, hereinzutreten, rafft eilig die Spielsachen auf die Seite, welche zwei muntere, rothbäckige Knaben in der Stube herumgeworfen hatten, bietet ihm einen Stuhl an und eilt hinaus, um in ihrer kleinen Wirthschaft Anordnungen zum Empfang eines Gastes zu machen.

Der feine Anstand der Frau, die heitere Reinlichkeit des Zimmers, die geschmackvolle Form der Geräthschaften fiel dem Grafen auf. Er fragte die Kleinen, die, unbekümmert um ihn, ihre Spiele fortsetzten, nach dem Namen ihres Vaters; aber ungewohnt, von einem fremden Manne in einem so gewaltig dicken Reisekleide angeredet zu werden, blickten sie ihn schalkhaft schüchtern an und wußten weiter nichts zu sagen, als daß der Vater auf der Jagd wäre, bald zurückkäme und daß man dann Abendbrod essen würde. – Der Graf trat zu dem Bücherschrank, der im Zimmer stand. Er fand eine kleine, aber sehr gewählte Büchersammlung, die ihm von der Bildung des Besitzers eine vortheilhafte Idee gab. Alles spannte seine Neugier.

Jetzt ging die Thür auf, und ein schöner, kräftiger, junger Mann trat herein. »Vater! Vater!« riefen ihm hie Kinder entgegen und sprangen auf ihn zu und umfaßten ihn. Er hob sie auf, küßte sie und nahte sich dann mit herzlicher Miene dem Grafen, ihm ein freundliches Willkommen zu sagen. Der Graf sah ihm starr ins Gesicht und blieb unbeweglich stehen. – Der junge Mann trat näher – schrie laut auf und stürzte – in die Arme seines Vaters!

Es war Moritz. Das freundliche junge Weib war Pauline. Die lieblichen Kinder waren die Früchte ihrer glücklichen Ehe.

Das Unerwartete dieses Wiedersehens, die Stimme der Natur und, mehr als dieses, die Erfahrungen, welche die Begebenheiten der Zeit herbeigeführt hatten, und die Lage, in welcher er seinem Sohne gegenüberstand, stimmten den Grafen milder. Er umarmte seinen Sohn, nannte Paulinen seine Tochter, drückte seine Enkel an sein Herz. Tausend Fragen drängten sich. Endlich erzählte Moritz: er sei ein Maler, habe von dem Erbtheile seiner Mutter diese kleine Meierei gekauft, die ihn hinlänglich ernähre; er lebe mit Paulinen unaussprechlich glücklich und habe keinen andern Wunsch, als sich mit seinem Vater zu versöhnen und von ihm Verzeihung zu erhalten.

Der Graf war gerührt. Rückerinnerungen an alte Zeiten, wo auch er im Arme der Liebe alle Wünsche des Lebens vergessen hatte, wachten in ihm auf. »Ich bleibe bei Euch!« rief er, und machte durch dieses Versprechen Alle glücklich.

Aber Menschen von seiner Art haben nur gute Aufwallungen. Kaum war der Friede und mit ihm die alte Ordnung der Dinge zurückgekehrt, so eilte er wieder an den Hof.

Moritz blieb seinem schönen Leben getreu und überzeugte sich täglich mehr, daß das reinste Glück nur in den Armen der Natur und der Liebe, die seligste Erhebung des Geistes nur in der Kunst und die wahre Ruhe nur in der einsamen Hütte des tugendhaften Menschen wohne.

 

Ende des vierten Bandes.


Druck der Hofbuchdruckerei zu Altenburg.


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