Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Urne

Ich denke noch oft mit Rührung an die letzten Lebenstage meines Vaters. Die immer heitere und ruhige Stimmung seines Charakters verließ ihn auch in der langwierigen Krankheit nicht, die endlich seinem Leben ein Ziel setzte, ja, es gab oft Augenblicke, wo sich sein Geist zu einer jugendlichen Munterkeit erhob, und er benutzte sie, um die Summe seiner Erfahrungen als ein kostbares Unterpfand in die Herzen seiner Kinder niederzulegen. Ich erinnere mich noch lebhaft eines Abends, wo er sehr heiter war. Meine beiden Brüder Robert und Leopold waren von der Universität zu Hause gekommen, und der würdige Greis schien zu ahnen, daß es das letzte Mal sei, daß er seine Kinder um sich versammelt sähe. Diese Ahnung schlug seinen Geist nicht nieder, sie gab ihm vielmehr jene zärtliche Stimmung, die uns bei einem nahen Abschiede zu dem Bestreben hinneigt, in jedem Herzen ein freundliches und liebevolles Andenken zurückzulassen. Da er überdies den größten Theil seines Lebens als praktischer Arzt verlebt hatte, so war er mit dem Gedanken des Vergehens so vertraut geworden, daß er sein eignes Hinwelken mit aller Besonnenheit beobachtete.

Wir saßen um das Kamin herum; mein Vater in seinem Lehnstuhle; er hatte sein vom Schlage gelähmtes Bein vor sich liegen. Robert und Leopold neben ihm, Karoline und ich ihm gegenüber. Aber ich muß erst ein Paar Worte über unsre Familie sagen.

Mein Bruder Robert war ein sehr lieber und zuverlässiger Mensch, aber sein Geist war beschränkt und einseitig, und das Studium der Jurisprudenz schien diese Einseitigkeit täglich zu vermehren. Leopold studierte Theologie, und diese Schule, die von jeher die größten Menschen zog, hatte auch auf ihn, der von Natur feurig und schnell fassend war, ihren wohlthätigen Einfluß geäußert, indem sie seinen Scharfsinn geweckt und ihm Lust an Untersuchungen gegeben hatte. Karoline – der Liebling von uns Allen, das beste und friedlichste Geschöpf auf der Welt, war seit einem Jahre mit dem Amtmann Richter verheirathet, sie ward aber unserm Familienkreis dadurch nicht entrissen, im Gegentheil band sie einen liebenswürdigen Mann, den mein Vater schon lange vorher wie seinen Sohn betrachtete und den wir Alle wie unsern Bruder liebten, noch näher an uns. Ich war frühzeitig aufs Land gekommen, um die Oekonomie zu erlernen, und verwaltete das Gut meines Vaters. Auf die Bildung, die man auf Schulen erwirbt, habe ich daher nie Anspruch machen können, aber mein Vater nannte mich immer sein gesundestes Kind und liebte mich nicht weniger als meine gelehrten Brüder.

Mein Bruder Robert gab sich alle mögliche Mühe, unsern guten Vater eine große Idee von den Fortschritten beizubringen, die er in seiner Wissenschaft gemacht hatte. Unter andern erzählte er einen langweiligen Ehescheidungsprozeß, den er vor Kurzem referirt hatte. Zwei Menschen, ehemals von der leidenschaftlichsten Liebe zusammengeführt, drangen jetzt auf Trennung und konnten keinen andern Grund, als gegenseitigen Widerwillen angeben. Alle gütlichen Versuche, sie zu vereinigen, waren fruchtlos gewesen.

»Und was entschieden die Gesetze?« fragte mein Vater.

Robert. Die Ehescheidung ward Anfangs verweigert, dann verschoben, am Ende mußte sie doch Statt finden.

Vater. Mußte? Warum?

Robert. Weil die Gesetze unversöhnliche Feindschaft als eine giltige Ursache zur Ehescheidung annehmen.

Vater. Die Gesetze drücken sich dann sehr unbestimmt aus, mein lieber Robert. Ich sollte meinen, nur allein die Ursache des Widerwillens sollte in Betracht gezogen werden, nicht der Widerwille selbst. Zu einer unversöhnlichen Feindschaft aber läßt sich wohl nur selten ein vernünftiger Grund denken.

»Ich bin nicht Ihrer Meinung, mein Vater!« sagte Leopold. »Das eheliche Verhältnis setzt Liebe, Zärtlichkeit oder doch wenigstens Angewöhnung voraus; diese Empfindungen kann kein Raisonnement in mir hervorbringen, noch weit weniger der Zwang der Gesetze; es kann also auch der Grund, warum ich eine Person weder lieben, noch mich an sie gewöhnen kann, hier nicht in Betrachtung kommen. Ueberdies, da gegenseitige Zuneigung den Bund der Ehe schließt und die Gesetze ihn bestätigen, ohne nach den Gründen dieser Zuneigung zu fragen, so muß auch gegenseitige Abneigung ihn trennen, und warum sollten die Gesetze das Recht haben, die Ursachen dieser Abneigung zu untersuchen.

Vater. Deine Hitze macht, daß Du das Warum übersiehst, das doch so nahe liegt. Wie Du Dich verheirathetest, vollzogst Du eine gesetzliche, lobenswerthe Handlung; hier hatte man nicht das Recht, Dich zu fragen, aus welchen Ursachen Du sie vollzogest. Wenn Du Deine Verbindung trennen willst, begehest Du eine gesetzwidrige, nur in gewissen Fällen erlaubte Handlung; und hier folgt von selbst, daß Du dem Gesetze Rechenschaft schuldig bist.

Leopold. Und wem soll ich denn Rechenschaft geben? den todten Buchstaben der Gesetze? oder ihren Auslegern? Hier wo es auf Gefühle und Empfindungen ankommt, ist Niemand competenter Richter, als ich selbst, der ich diese Gefühle habe.

Vater. Ueber Deine Empfindungen magst Du immerhin allein competenter Richter sein; wenn sie aber in Handlungen übergehen, so stehen sie auch unter den Augen der Gesetze, und hier entscheidet der Sinn, der in den todten Buchstaben liegt.

Robert. Richtig, lieber Vater! die ratio legis.

Leopold. Ich glaube, man denkt sehr vortheilhaft von den Gesetzen, wenn man ihnen durchgängig eine vernünftige Ration zutraut.

Vater. Sprich immer mit Ehrfurcht von den Gesetzen, mein Sohn! die Erfahrung unzähliger Menschenalter ist in ihnen auf uns fortgeerbt worden.

Leopold. Aber ist meine Selbsterhaltung nicht eine höhere Pflicht, als die Erfüllung der Gesetze? und muß ich nicht zu Grunde gehen, wenn ich mein Leben in einer unglücklichen Ehe hinschleppe?

Vater. Die Fälle, wo meine Selbsterhaltung gesetzwidrige Handlungen entschuldigt, können nur bei der schnellsten und augenscheinlichsten Gefahr meines Untergangs eintreten; außerdem weißt Du ja wohl, wie verzagt das Herz des Menschen ist, und wie es bei jedem unangenehmen Vorfalle sogleich seinen Untergang befürchtet.

Leopold. Ist denn aber unser freier Wille nicht gebunden genug? Sollen denn die Fesseln der bürgerlichen Verfassung auch in den heiligsten und innigsten Verbindungen fühlbar werden?

Vater. Der freie Wille des Menschen, liebe Kinder! ist ein wildes Thier, das ohne Zaum und Zügel über die Welt hingeht, immer veränderlich, immer nach Neuem strebend, flieht er heute, was er gestern suchte, reißt morgen nieder, was er heute baute, zerstört Alles und am Ende sich selbst.

Leopold. Die Vernunft soll ihn bändigen.

Vater. Die Vernunft und durch sie das Gebot der Pflicht, aber gerade in den Jahren, wo der Wille am kräftigsten ist, ist die Vernunft am schwächsten, und nur der Druck der äußern Welt und der Zwang der Gesetze können ihn in den Schranken halten, worin er sich und der Welt nützt.

Leopold. So wäre also die Gegenwart immer eine Sklavin der Vergangenheit, und nichts könnte den Menschen von einer Verbindlichkeit, die er einmal übernommen hat, befreien?

Vater. Das habe ich wohl nie behaupten wollen, mein Sohn. Ich glaube, wir sprachen von der Giltigkeit der Gründe, die er anführt, um sich seiner Verbindlichkeit zu entziehen. Bloßer Widerwille gegen eingegangene Verbindungen kann kein Grund sein.

Karoline mengte sich auch in das Gespräch, das eine ziemlich philosophische Wendung genommen hatte. »Mein Verstand,« sagte sie, »weiß Dir freilich nichts entgegenzusetzen, lieber Vater; aber der Gedanke, daß das allerinnigste Verhältniß der Menschen, welches wir uns bloß unter dem Schutze der Liebe denken, so ganz allein auf der Nothwendigkeit der Pflicht beruhen soll – dieser Gedanke, ich gestehe es Dir, empört mein Herz.«

Unser guter Vater erwiederte lächelnd: »Einem Weibe mag es wohl verziehen werden, wenn sie der Stimme des Herzens lieber folgt, als dem Gebote der Vernunft, aber der Mann muß gerade über das, was ihm am nächsten und innigsten ist, am ernsthaftesten denken.«

Leopold. Sonderbar! die Schwäche ist doch eher dazu bestimmt, in das Joch der Nothwendigkeit gespannt zu werden, als die Stärke!

Vater. Rühme doch nicht so sehr die Stärke des Mannes, mein Sohn. Eben der Nothwendigkeit, die Dir so gehässig erscheint, verdankt er größtentheils seine Kraft. Hast Du noch nie in Deinem Leben die Erfahrung gemacht, daß der Gedanke, es muß sein! Dich über Dich selbst erhob und zu Kraftäußerungen trieb, welche Du dir nie zugetraut hattest und über die Du nachher selbst erstauntest?

Leopold war still – der Vater fuhr fort:

»Segnet die Nothwendigkeit, meine Kinder, ehret die Fesseln, welche die äußere Welt an den unbändigen Willen des Menschen band und ihn nöthigte, seine Umgebungen nach sich, und sich nach seinen Umgebungen zu modificiren.«

Leopold. Aber wo bliebe denn da alles Große?

Vater. Die wahre Größe, lieber Sohn, kann wohl nie außerhalb dem Gebote der Pflicht liegen. Oder, um von einem bestimmten Falle zu reden, glaubst Du nicht, daß es unendlich größer und verdienstlicher ist, eine Person, an welche Dich eine heilige Pflicht bindet, so zu bilden und zu veredeln, daß Dir am Ende die Erfüllung dieser Pflicht angenehm wird, als sie pflicht- und wortbrüchig zu verlassen? Ach! und wen die Erfahrung des Lebens gelehrt hat, auf welchen seichten und nichtswürdigen Gründen so oft das Gefallen und Mißfallen der Menschen beruht, dem wird jene Nothwendigkeit noch mehr einleuchten!

Unser guter Vater ward ernst und still, über sein heiteres Gesicht schien sich eine Wolke von Schwermuth zu verbreiten.

»Was fehlt Dir, Vater?« fragte Karoline mit der süßen Stimme, mit der sie oft des Vaters Herz zu sich zog.

Vater. Mir fehlt, ach Kinder! mir fehlt Beruhigung über eine Handlung meines Lebens, wo ich diese Grundsätze aus den Augen setzte.

Karoline. O liebes Väterchen, wie viel herrliche Handlungen Deines Lebens geben Dir nicht Stoff zur fröhlichen Erinnerung?

Leopold. Es liegt im Charakter des rechtschaffenen Mannes, zu nachsichtig über Andere und zu streng über sich selbst zu urtheilen, und er vergißt, daß der Mensch doch nie giltiger Richter seiner eignen Handlungen sein kann.

Vater. Und warum nicht? ich möchte beinahe fragen, wo giebt es außer mir einen competenten Richter meiner Handlungen? Bin ich es nicht allein, dem sein Bewußtsein sagt, in welcher Absicht und durch welche Gründe geleitet ich Dieses that und Jenes unterließ? O glaube mir, mein Sohn, der Richter in Dir ist der einzige und wahre über Dich selbst!

Leopold. Aber er sieht nur das Einzelne, nur den Punkt, nicht die Linie; und wenn wir gewahr werden, wie in einem thätigen Leben gute und schlechte Handlungen so durcheinandergeschlungen sind, daß die erstern oft die schädlichsten Folgen, die letztern hingegen die wohlthätigsten haben, wie will der Mensch, der kaum einen Schritt vor sich hinsieht, sich anmaßen, Richter zu sein?

Vater. Was Du thust, ist Dein, was das Schicksal an Deine Handlungen für Folgen reiht, kann Dir weder zu Gute kommen, noch zur Last fallen; unter allen Irrthümern des Menschen ist der der gefährlichste, wenn er wähnt, das Einzelne über das Ganze vergessen zu dürfen. – Wenn ich auf mein Leben zurücksehe, finde ich viele Handlungen, die ich nicht für recht halte, aber unter ihnen ist Eine, deren Erinnerung schwer mein Herz belastet, Eine, bei der ich fühle, ich habe Unrecht, wissentlich Unrecht gethan, ein Unrecht, das selbst das Schicksal, das so oft die Wunden heilt, die ein Mensch dem andern schlägt, nie wieder gut gemacht hat. So weh es mir thut, Euch diese Begebenheit meines Lebens zu erzählen, so glaube ich doch, sie wird Euch belehrend sein. Erinnert Ihr Euch der Reise, die ich vor zwölf Jahren nach Freiburg, meinem Geburtsorte, machte?

Robert. O ja! Sie traten sie mit so froher Erwartung an und kamen so niedergeschlagen zurück.

Leopold. Wir hielten Sie Alle für krank.

Karoline. Ich erinnere mich noch ganz genau, Väterchen! wie verändert Du damals warst, Du schlichst einsam und traurig umher, und Deine Kinder konnten Dich nicht erheitern.

Vater. Seht Kinder! so rächt sich noch nach langen Jahren eine ungerechte Handlung. – Ihr wißt es, wie froh ich damals meine Reise antrat, ich war seit vielen Jahren nicht in meiner Vaterstadt gewesen, eine Angelegenheit, bei der ich meine Familie interessirt glaubte, rief mich dahin, und ich freute mich herzlich, wieder einmal die liebe Gegend zu sehen, in der ich meine sorglose Jugend verlebt hatte, und alle die Orte zu besuchen, die mir durch alte Erinnerungen so werth waren. Ich kam an. Niemand kannte mich, und ich hatte das vermuthet, weil außer einer alten Muhme, die mich seit dreißig Jahren nicht gesehen hatte, Niemand von meiner Familie mehr in Freiburg lebte; um so ungestörter konnte ich mich dem Genusse der Vergangenheit widmen. Ich war sehr glücklich. Die Vergleichung meines ehemaligen Lebens mit meinem jetzigen gab mir eine Selbstzufriedenheit, die mein Glück vollendete. Mit diesen Empfindungen besuchte ich das Grab meiner Eltern; »Wenn sie noch lebten,« dachte ich, »wie würden sie sich freuen, dich so geachtet und geliebt zu sehen, dich in so glücklichen Verhältnissen zu wissen! Da sie starben, hielten sie das nicht einmal für möglich, was jetzt wirklich geworden ist.«

Ach diese stolze Selbstzufriedenheit sollte sich der Mensch nie erlauben; sie ist der erste Schritt zu seinem Falle. Aus der meinigen wurde ich auf eine schmerzliche Art gerissen.

Des Wohlstandes wegen mußte ich den Amtmann, mit welchem ich in der bewußten Angelegenheit zu thun hatte, besuchen. Ich fand bei ihm einen alten Universitätsfreund, den Doctor Dalmer. Wir hatten in Pavia zusammen studiert, damals in nahen Verhältnissen mit einander gelebt, und waren nachher durch Entfernung und veränderte Schicksale völlig auseinandergekommen. Dalmer war jetzt ausübender Arzt und Stadtphysikus in Freiburg, und Ihr könnt Euch unsre Freude denken, wie wir so unvermuthet wieder zusammentrafen. Jeder erzählte dem Andern die Schicksale, die ihn betroffen hatten, die Lage, in der er jetzt war, und tausend Fragen nach alten Freunden und Bekannten unterbrachen die Erzählung. Die Gesellschaft bei dem Amtmann war nicht zahlreich, aber für Herzen, die sich gegen einander ausschütten wollen, ist jeder Dritte zu viel. Ich begleitete also Dalmer in seine Wohnung, sein freundliches Weib trug die beste Flasche aus ihrem Keller auf, und schon waren einige Stunden in herzlichen Gesprächen, die sich alle um die Erinnerungen unsers akademischen Lebens herumdrehten, verflossen, als wir unterbrochen wurden. Eine alte Magd trat herein und fragte nach dem Doctor.

»Nun, wie geht's mit der Patientin?« rief ihr Dalmer entgegen.

»Sie wird bald ausgelitten haben,« versetzte die Alte, »wenn Sie nicht schleunige Hülfe wissen.«

Dalmer wendete sich zu mir: »Ich habe,« sagte er, »noch bei keiner meiner Kranken so auffallend bemerkt, wie Kummer und Gram besonders auf den weiblichen Körper wirken, als bei der, die, wie Sie hören, bald enden wird. Ich weiß keine Hülfe,« fuhr er zu der Alten fort, »aber ich werde sogleich hinkommen, vielleicht kann ich ihr einige Erleichterung verschaffen.« – »Ich gehe mit Ihnen,« versetzte ich, »vielleicht sind doch noch einige Versuche anwendbar.« Wir gingen.

Unterwegs erkundigte ich mich nach der Patientin. Mein Freund erzählte mir, sie sei Wittwe, vor ungefähr sechs Jahren an den hiesigen Ort gezogen und habe zwar sehr beschränkt, aber doch gerade nicht dürftig gelebt. »Ein stiller Kummer,« fuhr er fort, »schien sie immer zu begleiten und war unstreitig die Ursache des fieberhaften Zustandes, der sie aufzehrte; sie war sanft, wohlthuend, gefällig gegen Jedermann, aber gegen Niemanden liebevoll oder vertraulich; ihr Herz hing allein an ihrem Sohne, der das hiesige Gymnasium besuchte und vor einigen Monaten auf die Universität ging. Seit seiner Abwesenheit nahm ihre Schwermuth sichtlich zu, sie zog sich von allen Menschen zurück und gab sich ihrem stillen Kummer hin, der nach und nach ihren schwachen Körper zerstörte. Eine unbedeutende Erkältung, die sie sich vor einigen Tagen zuzog, warf sie aufs Krankenlager, und es trat ein Nervenfieber ein, das allen Hilfsmitteln Trotz bot und den Rest ihrer Kräfte hinnahm.«

Während dieses Gesprächs waren wir in das Haus der Kranken getreten. Es herrschte überall eine eigensinnige Ordnung. Mein Freund öffnete die Thür, und die alte Magd winkte uns, leise zum Bette hinzuzutreten. »Sie kennt Niemand mehr,« lispelte sie uns zu; »es wird bald mit ihr aus sein!«

Hier ward der Vater unterbrochen. Es klopfte an der Thür, und Richter, unser Schwager, trat herein.

»Willkommen, lieber Richter!« riefen wir ihm entgegen, »warum heute so spät?«

Der Vater reichte ihm die Hand und sprach bedeutend: »Ich möchte Dich lieber fragen, warum so früh?«

Richter. Sie scherzen, lieber Vater; ich habe mich wirklich heute verspätet. Es war trotz der kalten Herbstluft ein heiterer Abend, und Sie wissen, wie gern ich da noch einen Spatziergang ins Freie mache. Ich ging durch das Hölzchen, das an unsern Garten stößt, nach Hause. Der Bruder Karl läßt fleißig arbeiten, ich fand die Tagelöhner noch beschäftigt.

»So spät noch?« fragte ich.

Richter. Ja! und es war ein Glück, daß ich dazukam; sie hatten sich an eine Arbeit gemacht, die weniger Kraft als Geschicklichkeit erfordert; ohne meine Hilfe wäre vielleicht die schöne Vase, die der Vater bei unsrer Hochzeit ins Wäldchen setzen ließ, nicht unversehrt in die Winterquartiere gekommen.

Vater. Warum wird die Vase weggenommen?

Ich. Sie ist freilich sonst alle Winter draußen geblieben, aber diesmal hielt ich sie nicht für sicher, weil liederliches Gesindel in der Gegend herumschweift und überall seinen boshaften Muthwillen ausläßt.

Robert. Du hast Dich um die Künste verdient gemacht, lieber Richter.

Leopold. Für so ganz rein kann ich das Verdienst wohl nicht erklären, denn war nicht die Vase ein Denkmal auf Dich und Deine Verbindung mit Karolinen?

Richter. So glaubt' ich wenigstens bisher; aber ich habe heut' eine Entdeckung gemacht, die mich zweifeln läßt, ob ich mir das Denkmal ganz zueignen darf.

Karoline. Wie so?

Richter. Sie, lieber Vater, werden wohl die beste Auslegung der mystischen Worte geben können, die ich am Fuße des Denkmals fand.

Karoline. Mystische Worte?

Richter. Als wir das Postament emporhoben, fand ich ganz an der untersten Schwelle, die gewöhnlich von hohem Grase bedeckt wird, die Worte: MANIBUS PLACATIS; und was will diese Inschrift am Fußgestelle eines Denkmals, das auf die glücklichste Begebenheit meines Lebens errichtet ward?

Vater. Sie deutet auf mein Leben, auf die Geschichte, die ich eben im Begriff war, meinen Kindern zu erzählen und die mir in Deiner Gegenwart fortzusetzen sehr schwer wird.

Richter. Ich bemerkte schon bei meinem Eintritt unter Ihnen Allen eine ernstere Stimmung als gewöhnlich. Haben Sie mit Ihren Kindern eine Unterredung, die nur für den engsten Kreis der Familie bestimmt ist, so will ich kein Störer sein.

Der Vater ergriff seine Hand: »Du gehörst zu dem engsten Kreis meiner Familie, Du liebst und achtest mich. Bleibe hier; so schwer es mir wird, ich will fortfahren; ob Du mich noch so achten und lieben wirst, wenn ich geendet habe, weiß ich freilich nicht – Aber …«

Richter. Mein Wohlthäter, mein Freund, mein Vater!

Vater. Ob Du mich dann noch so nennen wirst, weiß ich freilich nicht, aber wenn es auch nicht wäre, so kommt es ja nicht Dir, sondern mir zur Last.

Richter. Welcher Vorfall hat diese seltsame Stimmung bei Ihnen bewirkt?

Vater. Ein Vorfall, der sich vor vielen Jahren zutrug, der aber wie eine frische Wunde in meinem Herzen blutet; setze Dich und höre:

»Wir traten,« fuhr der Vater in der Erzählung fort, »zu dem Bette der Kranken, sie lag in völliger Bewußtlosigkeit, ihr Gesicht war von Krämpfen verzogen, über ihren abgezehrten Körper brannte eine glühende Hitze, das Zeichen der höchsten Schwäche. Ich untersuchte ihren Puls und bestätigte die Meinung meines Freundes, daß hier jede Hilfe zu spät sein dürfte. Dalmer wollte noch ein Bad versuchen. Die Alte machte die nöthigen Besorgungen dazu, indeß mein Freund der Sterbenden einige Mittel beizubringen suchte. Ich bemerkte an ihrer Hand einen kleinen goldnen Ring, der ihren Finger zwängte, ich zog ihn ab und steckte ihn in Gedanken zu mir. Das Bad bewirkte nichts, die Entkräftung hatte so sehr überhand genommen, daß beinahe völlige Leblosigkeit eingetreten war und kein Reizmittel wirken wollte. Wir hoben sie wieder ins Bette, die Hitze stieg bis zum höchsten Grade, und nach einer kleinen Viertelstunde verschied sie.

»Ob mir gleich bei meinen Berufsgeschäften der Anblick eines Sterbenden nichts Neues war, so ward ich doch jetzt mehr als gewöhnlich erschüttert, und ich hatte mich lange nicht so bewegt gefühlt, als bei dem Sterbebette dieser Frau, die ich mich nicht erinnern konnte, je gesehen zu haben.

»Mein Freund sah sich genöthigt, noch da zu bleiben, um bei der Versiegelung der Gerichte gegenwärtig zu sein. Ich sehnte mich aus der Krankenluft herauszukommen und beschloß, da es ein heiterer Sommerabend war, noch einen Spatziergang nach den nahegelegenen Bergen zu machen. Mit der Versicherung, daß ich morgen mit dem Frühesten wieder bei ihm sein würde, trennte ich mich von Dalmer.

»Eine kühle Luft wehte über die Berge herüber. Es war ein schöner, stiller Abend. Der Gedanke, wie doch unser ganzes Wissen so wenig und unser Leben so gar nichts sei, hatte sich mir bei dem Sterbebette dieser Unbekannten so mächtig aufgedrungen, daß ich, in tiefe Träumereien versunken, vor mich hinging und erst spät, da die Stadt sich schon hinter den nächsten Bergen verloren hatte, an die Rückkehr dachte.

»Es war neun Uhr, als ich wieder zu Hause kam. Ich trat in mein Zimmer im Gasthofe und erstaunte nicht wenig, als ich Dalmer darin fand, der auf mich wartete.

»›Sie werden sich wundern,‹ sagte er, ›daß Sie mich noch so spät bei sich sehen; aber ein eben so unerwarteter als sonderbarer Vorfall führt mich zu Ihnen. Die Frau, die wir heute sterben sahen, bat mich vor einigen Tagen, daß ich nach ihrem Tode die Versiegelung ihrer Sachen, zum Besten ihres Sohnes, besorgen und einen Brief, den ich in ihrem Schranke finden würde, sogleich auf die Post senden möchte. Kurz darauf, nachdem Sie mich heute verlassen hatten, kamen die Gerichten, und ich ließ den Schrank noch vor der Versiegelung eröffnen, um den Brief, der, wie ich glaubte, für den Sohn der Verstorbenen bestimmt war, zu erhalten. Denken Sie sich aber mein Erstaunen, als ich die Aufschrift dieses Briefes las und fand, daß er an Sie gerichtet ist. Kannten Sie die unglückliche Frau?‹

»›Sie war mir völlig unbekannt,‹ erwiederte ich mit bebender Stimme und griff nach dem Briefe. Ich las die Aufschrift, sie war an mich, die Hand schien mir nicht unbekannt. ›Ich bitte Sie, lassen Sie mich allein!‹ rief ich meinem Freunde zu, ›der Inhalt dieses Briefes ist vielleicht für mich wichtig, und solche Briefe lese ich gern ohne Zeugen.‹

» Dalmer verließ mich. Ich zitterte und fragte mich selbst, warum? ich hatte nicht den Muth, den Brief zu eröffnen, und doch konnte ich nicht begreifen, was mich so muthlos machte. Endlich gewann ich es über mich, ich erbrach ihn, ich sah nach der Unterschrift, und das Blatt fiel aus meinen zitternden Händen; halb ohnmächtig sank ich in den Lehnstuhl. Lange Zeit lag ich, wie vor mir selbst vernichtet, da und wagte nicht, die Augen zu erheben.

»O Kinder! der Augenblick, wo der Mensch allen Werth von sich selbst verliert, ist der schrecklichste seines ganzes Lebens!

»Endlich hob ich den unglücklichen Brief auf und las ihn. Mein Schmerz ergoß sich in Thränen, meine Thränen in ein Gebet zu dem verzeihenden Gotte; ach! nur der Glaube an die allerbarmende Liebe konnte mir Muth geben, mein Leben ferner zu ertragen.«

Der Vater schwieg lange; still und ängstlich saßen wir um ihn herum; Karoline weinte.

»In meinem zwanzigsten Jahre,« fuhr er endlich fort, »studierte ich in Lausanne auf dem Gymnasium und wohnte im Hause eines Kaufmanns, der mit seiner Frau, einer grämlich alten Matrone, einem Sohne und einer liebenswürdigen Tochter, von aller Welt abgesondert, bloß für seine Familie und seine Geschäfte, welche letzteren eben von keiner sonderlichen Bedeutung waren, lebte. Die Bekanntschaft mit dem Sohne führte mich in diese Familie, und da die heitere Stimmung meines Charakters mehr Lebendigkeit in ihren häuslichen Zirkel brachte, so ward ich ihnen Allen bald unentbehrlich. Ich war noch völlig unbekannt mit der Welt, und weiblicher Umgang war mir fremd. Sophie, so hieß die Tochter des Kaufmanns, war das erste weibliche Wesen, das mir gefiel. Sie war nicht schön, aber blühend, und auf ihrem Gesichte lag jene Güte und Anmuth, die den Jüngling mehr anzieht als Schönheit. Ihr Geist war eben nicht gebildet, aber eine unschuldige Heiterkeit sprach aus allen ihren Worten, in jeder Rücksicht war sie das, was man ein gutes Mädchen nennt. Da meine Gesellschaft der Familie unentbehrlich geworden war, so brachte ich beinahe jeden Abend mit ihr zu; ich saß an der Seite des alten Vaters, las vor oder erzählte, oder ließ mir erzählen. Sophiens Auge hing immer an dem meinigen, wir hatten einander herzlich lieb, ohne es uns zu sagen, ja ohne selbst sonderlich viel Freude oder Kummer darüber zu empfinden.

»Zwei Jahre waren so verflossen, als meine Abreise aus Lausanne herannahte. Ich machte sie der Familie bekannt. Alle waren darüber bestürzt, selbst die alte grämliche Matrone zerdrückte eine emporsteigende Thräne in ihren Augen; aber Niemanden traf diese Nachricht härter als Sophien. Mit einem leichenblassen Gesichte stürzte sie zur Stube hinaus und schlich am andern Tage muthlos und mit geschwollenen Augen im Zimmer umher.

»Das Bewußtsein, daß man geliebt wird, erhöht sehr oft eine gewöhnliche Zuneigung zur leidenschaftlichen Liebe. Bis jetzt hatte ich Sophien wohl eigentlich nicht geliebt; aber kaum ward ich gewahr, wie sehr ihr Herz an mir hing, als ich mit einer Begeisterung, die ich noch nie empfunden hatte, beschloß, die Liebe des Mädchens zu belohnen. Meine beschränkte, fast ärmliche Lage, meine ungewissen Aussichten in die Zukunft, nichts kam bei mir in Anschlag. Die Empfindung, die mich belebte, hob mich über allen Druck der Gegenwart und alle Furcht der Zukunft empor und gab mir einen Muth, der das Gewagteste zu unternehmen im Stande war.

Bis jetzt hatte ich mich zwar gefreut, Sophien zu sehen, und war in ihrer Gegenwart unbefangen und froh gewesen, aber aufgesucht hatte ich sie nicht; von diesem Augenblicke an suchte ich sie, fand tausend Möglichkeiten, sie öfter zu sehen, aber wenn ich bei ihr war, fühlte ich nicht mehr jene frohe Unbefangenheit, und auch sie war unruhig und ernst. Es war etwas zwischen uns Beide getreten, das wir bis dahin noch nicht gekannt hatten. Sophiens Aeltern konnte der Schmerz nicht verborgen bleiben, den mein Abschied ihrer Tochter verursachte. Die guten Leute glaubten, Entfernung sei das beste Mittel, ihn zu lindern, und beschlossen, daß sie nach Schwyz zu einer Tante reisen sollte, die sie schon oft zu einem Besuche eingeladen hatte. So heimlich man auch diese Reise hielt, so erhielt ich doch durch den Bruder Nachricht davon. ›Man will sie dir entreißen,‹ dachte ich, mein Blut kochte, meine Pulse flogen, meine Leidenschaft flammte höher auf, und in dieser tobenden Empfindung setzte ich mich hin und schrieb Sophien einen Brief, in dem ich ihr ewige, grenzenlose Liebe gelobte, ihr mein Herz und meine Hand antrug, und diese Versprechungen mit den heiligsten Versicherungen bekräftigte. Am Schlusse dieses Briefes bat ich sie, wo möglich diesen Abend in den Garten zu kommen und mir die Antwort darauf mündlich zu überbringen.

»Sie kam, der Triumph der beglückten Liebe war über ihr ganzes Wesen verbreitet, mit Freudenthränen stürzte sie an meine Brust, erwiederte meine Versprechungen mit größern und feierlichern und erhob meine Leidenschaft zu der größten Höhe. In dieser seligen Bewußtlosigkeit vergaßen wir Alles; von der höchsten Empfindung begeistert, gaben wir uns die Schwüre einer ewigen, unwandelbaren Treue, und um diesen Schwur auf das Bündigste zu bekräftigen, steckte ich einen kleinen goldnen Ring, ein Erbstück meiner verstorbenen Mutter, an ihre Hand. Wir trennten uns, und am andern Morgen reiste Sophie ruhig und mit völliger Zuversicht auf meine Treue ab. Wenige Tage nachher verließ auch ich Lausanne und ging nach Pavia.

»Die Entfernung machte mir Sophien noch lieber. Meine Phantasie malte mir ihr Bild mit allen Reizen geschmückt, die nur irgend ein Liebender an seiner Geliebten bewunderte, und dieser Enthusiasmus ward auch nicht durch ihre Briefe, die freilich den Mangel an Geistesbildung sehr sichtbar an sich trugen, geschwächt. Nur erst als ich mehr mit der Welt bekannt und durch sie gebildet wurde, da ich Weiber kennen lernte, die mit vielen körperlichen Vorzügen auch seltene Geistestalente verbanden, fing ich an zu wünschen, daß meine Geliebte den engen Kreis ihres Lebens erweitern und sich durch Umgang mehr Bildung erwerben möchte. Die Unmöglichkeit, die sich diesen Wünschen entgegenstellte, machte mich wohl dann und wann mißvergnügt, doch überwog der Gedanke, daß Sophie an Herzensgüte keinem weiblichen Wesen nachstände und daß ein bloß gutes Weib immer mehr werth sei, als ein bloß gebildetes, dieses Mißvergnügen bald.

»Wie ich meine Studien in Pavia vollendet hatte, ward ich, wie ihr wißt, Leibarzt bei dem Prinzen R… Mit diesem durchreiste ich den größten Theil von Europa und ward, was einem unerfahrnen jungen Menschen gewöhnlich begegnet, von dem Scheine und Flitter der großen Welt so geblendet, daß ich nur ungern und mit ängstlicher Besorgniß an die Zukunft dachte, wo ein beschränktes Leben an Sophiens Seite auf mich wartete. Mit Herzklopfen erbrach ich jetzt die Briefe des Mädchens, die zwar seltener, aber doch regelmäßig an mich einliefen. Der Ton dieser Briefe contrastirte zu sehr mit meinen Umgebungen, ich verbarg sie, nicht wie eine Sache, auf die man vielen Werth legt, sondern wie etwas, dessen man sich schämt, und beantwortete sie spät und kurz. Dessen ungeachtet kam der Gedanke, Sophien zu verlassen, nie in mein Herz, ich war noch fest entschlossen, mein Wort zu halten, nur schob ich, ohne daß ich mir es selbst zu gestehen wagte, diese Periode immer weiter hinaus.

»Endlich, nach einer Abwesenheit von sechs Jahren, kam ich nach Lausanne zurück. In Sophiens Familie waren während dieser Zeit viele Veränderungen vorgegangen. Ihr Bruder war auf einer Fahrt auf dem Genfer See verunglückt, und der alte Vater, der den Verlust seines einzigen Sohnes zu tief empfunden hatte, war bald nach ihm gestorben.

»Einsam mit ihrer alten Mutter hatte Sophie die Jahre verlebt, die ich im Geräusch der Welt zugebracht hatte. Nähen und Stricken waren ihre Beschäftigung gewesen, während ich in den größten Städten von Europa, in der Gesellschaft der interessantesten Menschen, mir eine Bildung erwarb, die natürlich von der ihrigen sehr verschieden war. Ihr Frohsinn war überdies durch die Unglücksfälle, die ihre Familie betroffen hatten, größtentheils verloren gegangen, und selbst ihre Gutmüthigkeit schien durch den einförmigen Umgang mit der grämlichen Alten gelitten zu haben. Nur Eins war an ihr unverändert geblieben – ihre Liebe zu mir. Ach! ich Thor ahnete das nicht; die lange Entfernung, glaubte ich, habe mir ihr Herz entfremdet, weil ihr Benehmen gegen mich kälter, zurückgezogner und überlegter schien, und ich sah nicht, daß es nur mein Betragen war, welches diese Kälte und Zurückgezogenheit bei Sophien bewirkte. Ich war ihr fremd geworden, sie erkannte in mir nicht jenen Jüngling wieder, der sich mit einem Herzen voll Unbefangenheit und Liebe von ihr getrennt hatte, mein Aeußeres schien ihr zu vornehm, mein Geist war ihr unverständlich geworden, und das feste Zutrauen, das zuversichtliche Hingeben, welches zwischen zwei Liebenden nur aus dem Bewußtsein der innigsten und genauesten Bekanntschaft entspringt, war verschwunden, und an seine Stelle ein schüchternes Beobachten und lästige Vorwürfe getreten.

»Mein Herz, das von jeher in der Verstellung ungeübt war, fand diesen Zwang unerträglich. Ich konnte mir es nicht länger verbergen, daß ich Sophien nicht liebte, aber doch stand das Bewußtsein meiner Pflicht klar vor mir. – Der Mensch ist erfinderisch, wenn es darauf ankommt, seine Wünsche auf Kosten seiner Pflichten zu befriedigen; ich vermuthete, daß die alte Mutter, die ohnehin unsre Verbindung mit keinem günstigen Auge ansah, sich bestimmt dagegensetzen würde, wenn ich mit Sophien von Lausanne wegziehen wollte, und hielt mich dann für vollkommen berechtigt, eine Verbindung zu trennen, welche – wie ich glaubte – weder mein noch Sophiens Glück bewirkte, das Mißfallen der Mutter hatte und mich überdies dem lästigen Zwange unterwarf, in einer Stadt zu leben, wo gar keine Aussichten für mich waren.

»Meine Vermuthung traf ein; kaum hatte ich der Mutter meinen Plan, mich nach Genf zu wenden, bekannt gemacht, als sie auf die gemeinste Art mir sagte, daß in diesem Falle an keine Verbindung zwischen mir und ihrer Tochter zu denken wäre, und ihr grämlicher Sinn setzte sogar die harten Worte hinzu: ›Ihre Tochter brauche nicht einem armen Menschen nachzuziehen, um ihr Brod in der Fremde zu suchen.‹ Mein kindischer Stolz war beleidigt, und mein Entschluß ward vollends bestimmt, als ich sah, daß Sophie still und leidend sich den unvernünftigen Vorschriften der Mutter unterwarf. Ich glaubte, sie liebe mich nicht, habe mich wohl eigentlich nie geliebt, weil sie mich so gehorsam aufgeben konnte, und dieser Gedanke – wie sonderbar doch die Gefühle des Herzens mit uns spielen – dieser Gedanke, anstatt mir die Trennung von ihr zu erleichtern, machte mich sehr traurig.

»Ich bin gewiß, hätte sie nur mit einem Worte sich ihrer Mutter widersetzt, nur eine Aufwallung der Leidenschaft blicken lassen, mein Herz wäre in diesem Augenblicke ganz wieder für sie gewonnen worden. Aber wo hätte denn die Arme Kraft hernehmen sollen, sich gegen eine Mutter aufzulehnen, deren Uebermacht sie von Kindheit auf drückend empfunden hatte?

»Mit ruhiger Ergebenheit hörte sie mich an, als ich ihr die Nothwendigkeit unserer Trennung vorstellte, sie weinte Thränen an meiner Brust, als ich sie verließ, aber ihre Miene war wie gewöhnlich, keine Spur von der Verzweiflung einer unglücklichen Leidenschaft, kein Seufzer, der aus einem Herzen zu kommen schien, das seinen Kummer in sich verschließen wollte.

»Ich war weit bewegter als sie. Das schönste und liebste Bild meiner Jugend, das Einzige, was mich nie verlassen hatte, sank vor mir hinab und zerfloß in einen Traum, wie alle die andern. Mein Leben war mir fremd, das ganze Gebäude meiner Zukunft zerrissen. Wie gern wäre ich jetzt an Sophiens Herz zurückgeflogen, aber der Gedanke, sie liebt dich nicht, und der beleidigte Stolz, der mir zurief: ›Sie hielt dich nicht einmal einer Bitte an ihre Mutter werth,‹ trieben mich fort und machten mich trotzig gegen die bessere Stimme meines Herzens.

»Ich mußte noch einige Tage in Lausanne bleiben und begegnete ihr einmal zufällig auf der Straße. Ihr Auge blickte schüchtern und ungewiß vor sich hin, mein Herz klopfte heftig, aber ich zwang mich, frei und sorgenlos zu scheinen; ich ging nahe bei ihr vorüber, ohne sie – könnt Ihr mir es wohl zutrauen? – ohne sie zu grüßen!

»Als ich ungefähr ein Jahr in Genf war, hörte ich, sie sei die Braut eines jungen Mannes, der die Handlung ihres Vaters fortsetzen wollte. Diese Nachricht bewegte mich, aber ich suchte das Gefühl zu unterdrücken und warf mich in ein arbeitsames Leben, das mich zerstreute. So vergaß ich sie und mit ihr die Schuld, die ich auf meinem Herzen trug.

»Aber der Tag erschien, der mich fürchterlich an diese Schuld mahnte, erschien zu einer Zeit, wo ich mich ganz glücklich glaubte, und warf mich von der Höhe herab, die ich in meinem stolzen Selbstbewußtsein erstiegen zu haben wähnte.

»Jener Brief – brauche ich Euch nun noch zu sagen, von wem er war? – Ach! die Unglückliche, die ihren letzten Athemzug in meiner Gegenwart verhauchte, deren Tod mich so erschütterte, war niemand Anders als Sophie! die einst so geliebte, so blühende Sophie! Jener goldne Ring, den ich von ihrer Todtenhand abzog, war derselbe, den ich ihr in der feierlichen Stunde gab, wo ich mit den Schwüren meiner Liebe ihr junges Leben vergiftete.

»Kummer und Gram in einer unzufriedenen Ehe, Sehnsucht nach dem Wortbrüchigen, der sie aus Eitelkeit und Stolz so treulos verließ, hatten ihr Leben abgezehrt, ein frühes Grab ihr bereitet, ihren einzigen Sohn seiner Mutter beraubt! Sehet, geliebte Kinder! so schrecklich wuchert eine schlechte Handlung!

»Ihr Herz, das gewohnt war, von Jugend auf ohne Murren zu dulden, war sich bis an das Ende gleich geblieben; sie machte mir keine Vorwürfe, sie verzieh Allen, die ihre Tage mit Kummer überhäuft hatten, sie schrieb mir, sie habe mich ewig und einzig geliebt, sie habe Freiburg zu ihrem Aufenthalte gewählt, weil es mein Geburtsort sei, sie habe immer Nachrichten von mir eingezogen und sich gefreut, daß es mir wohlginge; sie bat mich, ich sollte ihr Andenken ehren und ihren armen Sohn nicht hülflos lassen!

»Ach! Kinder, jedes ihrer freundlichen Worte war ein Dolchstich in mein belastetes Herz; sie war treu geblieben, bis in den Tod, – ohne Lohn und ohne Hoffnung – und ich?«

Thränen erstickten des Vaters Stimme; Karoline schluchzte laut und bückte sich auf seine Hand. Leopold wollte sprechen, aber der Vater winkte ihm, und er schwieg.

Endlich sagte Karoline: »Nenne uns ihren Namen, lieber Vater! wir wollen sie verehren, wie eine Heilige.«

Vater. Ihren Namen? Richter, Deine Thränen sagen mir, daß Du ihren Namen errathen hast.

Richter. Gott! wäre es möglich?

Vater. Ach ja! mein Sohn, es war Deine Mutter!

Richter stürzte sich zu seinen Füßen. »O! Sie haben Alles an mir vergolten, mein Wohlthäter, mein Freund, mein Vater!«

Karoline. O! siehe herab, Vollendete! freue Dich unsres Glückes, wir danken es ihm, verzeih' und segne!

» Manibus placatis!« sagte der würdige Greis und faltete seine Hände, und blickte lächelnd, mit einer Thräne im Auge, gen Himmel.


 << zurück weiter >>