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Das Herz

Apotheker Bierbaum war in Pernau in Estland geboren, in Dorpat in die Lehre gegangen und danach Provisor in einer kleinen nördlichen Flußstadt geworden. In diesem Abschnitt seines Lebens war ihm nichts begegnet, was nicht jedem Lehrling und Provisor begegnet. Er schwenkte Flaschen und rührte Salben, wie alle andern, durchwachte die Nächte, las Rezepte, las dazwischen einmal verkehrt, ebenfalls wie alle andern, und schwebte in Todesängsten, bis festgestellt war, daß das Erdenleben des betreffenden Patienten sein Ende nicht unmittelbar seiner Medizin verdankte.

Mit andern Worten: er führte ein ganz gewöhnliches Provisordasein.

Erst als er ein buckliges aber wohlhabendes Mädchen heiratete und selbst Inhaber der Apotheke wurde, ließ er sich auf mehr außergewöhnliche Dinge ein.

Übrigens ist zu bemerken, daß seine Frau – für eine Bucklige – ein außerordentlich liebenswürdiges weibliches Wesen war, nicht zum mindesten darum, weil sie nach kurzer Zeit krank wurde und starb, ohne Leibeserben zu hinterlassen.

In diesem Fall hatte Bierbaum jedoch das Rezept nicht verkehrt gelesen. Nein, sie erhielt gewissenhaft die Arznei, die der Doktor verordnet hatte, so und so viele Male am Tag; starb aber, wie gesagt, trotzdem. Bierbaum begrub sie so stilvoll, wie eine Leiche der evangelisch-lutherischen Kirche dortzulande überhaupt begraben werden kann, trug ein Jahr lang einen Trauerflor um den Arm und nahm sich außerdem einen Gehilfen für die Apotheke, um mehr Zeit für seine eigenen Betrachtungen zu haben.

Er kam verhältnismäßig rasch mit sich darüber ins reine, daß er kein zweites Mal in den Stand der Ehe treten würde. Alles in allem – es war doch eine gebundene Stellung. Zudem war er, obwohl ziemlich schwärmerisch veranlagt, nicht das, was man einen Frauenblender nennt, und machte sich auch weiter keine Illusionen nach dieser Richtung hin.

Er war eine kleine, vierschrötige Erscheinung, mit O-Beinen, rotblondem Haar und Schnurrbart, fleischiger Nase mit offenen Poren und einem runden rötlichen Kopf. Die wasserblauen Augen zeigten einen Schimmer von Klugheit und Nachdenklichkeit; aber das mochte von seiner Kurzsichtigkeit und dem Reflex der Brillengläser herrühren; er trug nämlich eine Brille und zwar, seitdem er sich's leisten konnte, eine goldene.

Im übrigen ging er solide gekleidet: winters in einem Gehpelz mit Biberkragen und Iltisfutter, sommers in einem Jackettanzug von chinesischem »Tschi-tschun-tscha«; dazu einen Stock mit silbernem Knopf.

Seine Sprache war deutsch, was er auch bevorzugte; aber er hatte daneben doch so allmählich auch fließend russisch sprechen gelernt, mit baltischem Akzent. Estnisch, seine Kindheitssprache, zu sprechen, dazu ließ er sich nur hinreißen, wenn er laut mit sich selbst redete oder wenn in seltenen Fällen einmal ein estnischer Gutsverwalter oder Eisenbahnarbeiter den Weg zu ihm und seiner Apotheke fand.

Während seiner Ehe hatte er ziemlich zurückgezogen gelebt und nur, aus Geschäftsrücksichten, mit den Ärzten der Stadt verkehrt. Seine Frau beteiligte sich nicht am gesellschaftlichen Leben. Sie entschuldigte sich taktvollerweise mit Unpäßlichkeit, obwohl ihr nicht das mindeste fehlte; und nach kurzer Zeit erkundigte man sich nicht einmal mehr nach ihrem Ergehen, als sähe man sie schon bei lebendigem Leibe für tot und nicht mehr vorhanden an. Auf diese Weise vermied sie es, ihres Mannes Eitelkeit zu verletzen. Aber wenn Bierbaum spät in der Nacht, benebelt vom vielen Wein, zum ehelichen Lager zurückkehrte, empfing ihn die kleine Frau wie einen sehnsüchtig erwarteten Geliebten. Nie fiel ein böses Wort zwischen ihnen. War es Sommer, so fand Bierbaum, wenn er zur Ruhe ging, auf seinem Kopfkissen stets eine blutrote Rose, und dicht daneben, auf dem zweiten spitzenbesetzten Kissen, zwei anbetende Augen, zwei wundersame Zwillingsblüten, tauperlend wie die weiße Sommernacht. Und er fand das ganz in der Ordnung; denn seine Frau hatte im Frühjahr hinter der Apotheke einen Rosengarten angelegt, der in diesem Breitegrad nicht eben ganz billig kam. Dafür war es aber auch der einzige Rosengarten in der Stadt; und eine Freude mußte ja auch sie haben.

Der Rosengarten war, abgesehen von Vermögen und Aussteuer, das einzige Nennenswerte, was die kleine Frau ihrem Gatten hinterließ, als sie still und unbemerkt, wie sie gelebt hatte, starb. Es war im zweiten Jahr ihrer Ehe; und Bierbaum hätte sicherlich vergessen, die Rosen gegen den Nachtfrost zu decken, wenn ihm nicht eingefallen wäre, daß Rosen bei einer Beerdigung ganz besondere Anteilnahme bekunden. Als er nachsah, fand er auch wirklich ein paar Büsche, die, durch die Südmauer der Apotheke geschützt, noch blühten. Dadurch ward das Vorhandensein des Rosengartens in weiteren Kreisen bekannt; und von nun an wandte man sich bei allen hervorragenderen Todesfällen in der Stadt an Bierbaum.

So kam es, daß er die Rosen nicht vergaß. Die kleine Frau, die den Rosengarten angelegt hatte, vergaß er fast augenblicklich.

Wenn nun auch Bierbaum keineswegs gesonnen war, sich wieder zu verheiraten, so gab es doch nicht wenige Bürger der Stadt, die da anders über diese Sache dachten. Und es dauerte nicht lange, so erhielt Bierbaum allerhand aufrichtig gemeinte Einladungen von Familien mit heiratsfähigen Töchtern unterschiedlichen Alters. Die Väter suchten den Apotheker in mehr oder minder wichtigen Angelegenheiten auf. Bald war es eine Sammlung für das evangelisch-lutherische Bethaus nebst einem eisernen Gitter darum, bald ein Antrag von seiten der gewerbetreibenden Bürger der Stadt auf Anlegung eines Wasserwerks zum Schutz gegen verheerende Seuchen oder, was noch wichtiger war, eine vertrauliche Anfrage wegen eines sicheren Mittels gegen beginnende Blutarmut, da ja auf die Herren Doktoren doch kein Verlaß war. Gleichzeitig wurden dann die äußeren und inneren Zustände der betreffenden Damen nebst ihren erstaunlichen Vorzügen vor sämtlichen anderen Fräuleins mit oder ohne Blutarmut beschrieben.

Es herrschte nämlich in der Stadt ein fühlbarer und äußerst beklagenswerter Mangel an heiratsfähigen Männern. Aber Bierbaum kam gar nicht auf den Gedanken, daß man ihn in dieser Hinsicht mitrechnen könnte. Und so geschah es, daß er allmählich, ohne Unrat zu wittern, in mehreren Familien mit stark flüggen Töchtern zu verkehren begann, wobei er sich selber als einen älteren, wohlwollenden Onkel betrachtete, der zum Dank für die ihm erwiesene Aufmerksamkeit bei passenden Gelegenheiten kleine Näschereien und hübsche Geschenke mitbrachte. Diese Stellung sollte sich jedoch bald als unhaltbar erweisen. Mit steigender Ungeduld wartete man darauf, daß seine Annäherungen sich als ernst gemeint herausstellen sollten. Aber Bierbaum ließ sich nicht zu Leichtfertigkeiten irgendwelcher Art hinreißen; und die konkurrierenden Familien begannen seine Aufführung recht unpassend, milde gesagt zweideutig zu finden. Es verlautete nämlich, daß er seinem Hausmädchen, einer älteren und ehrbaren Person, die noch aus der Zeit seiner seligen Frau stammte, gekündigt, und an ihrer Stelle ein ganz junges Ding ins Haus genommen hatte, eine Achtzehnjährige mit einem frechen Gesicht, blauen Augen und blonden Haaren. Jetzt galt es handeln, eh' es zu spät war.

Es traf sich so günstig, daß eine der Familien just um diese Zeit den Namenstag der ältesten Tochter feiern konnte; und Bierbaum ward hierüber nicht in Unwissenheit gelassen. Er stellte sich denn auch am Nachmittag pünktlich ein, um seine herzlichsten Glückwünsche darzubringen. Dienstbeflissen nahm das Mädchen im Vorzimmer ihm Hut und Überzieher und den Stock mit dem silbernen Knopf ab; eine in blaues Seidenpapier gehüllte, mit rotseidenem Band umwickelte Schachtel behielt er unterm Arm.

»Das gnädige Fräulein ist im Salon,« sagte das Mädchen und öffnete die Tür.

Bierbaum schritt durch die offene Tür, die hinter ihm sogleich wieder geschlossen wurde, und näherte sich freundlich lächelnd dem gnädigen Fräulein, das blaß und erwartungsvoll sein Lächeln erwiderte, wobei sie die eine Hand gegen die Brust drückte, um den Schlag ihres Herzens zu dämpfen, und sich mit der andern auf einen ovalen Salontisch aus Nußbaumholz stützte.

»Gratuliere! Gratuliere bestens zum Namenstag, Jakaterina Pawlowna!« sagte Bierbaum, nachdem er sich ihr so weit genähert hatte, daß er die Hand auf der Tischplatte ergreifen konnte.

»Vielen Dank, daß Sie gekommen sind, Karl Karlowitsch!« stammelte das Fräulein; und nachdem Bierbaum sein Paket glücklich in der gegen das jungfräuliche Herz gepreßten Hand untergebracht hatte, fuhr sie fort: »O! Aber das ist ja viel zu viel! Viel zu viel! O, Karl Karlowitsch, wie soll ich Ihnen danken!« Und sie begann das rote Seidenband zu lösen.

»Keine Ursache! Die reine Bagatelle! Hätten Sie Ihren Namenstag ein paar Monate früher gefeiert, so hätte ich Ihnen die letzten Rosen gebracht. Jetzt bekommen Sie sie nur auf Flaschen gezogen!«

Jakaterina Pawlowna hob die Schachtel, die sie geöffnet hatte, in die Höhe und atmete den schwachen Rosenduft der zwei geschliffenen Glasflakone ein.

»O, wie ich Rosen liebe!« flüsterte sie und wandte die Augen empor, den Regionen entgegen, wo, menschlichem Vermuten nach, der Garten des Paradieses und die Rosen des Libanon ihren ewigen Wohlgeruch ausstrahlen. Plötzlich holte sie, zu Bierbaums Bestürzung, sehr tief Atem. Einmal, zweimal. Der Arm mit den Rosenflakonen senkte sich matt gegen den Tisch, bis die Schachtel sicher stand. Darauf hob sie ihn hastig, wie von einem Stich ins Herz getroffen, wieder empor, schloß die Augen, wankte und sank Bierbaum in die Arme, der nur noch ihre letzten, hingeatmeten Worte auffing: »Mein Herz ... mein Herz ... die Rosen ... Freund meines Herzens ...«

Bierbaum blinzelte unter seinen Brillengläsern hervor und hielt die Vergehende aus Leibeskräften fest, damit sie nicht zu Boden gleiten sollte. Aber als im selben Augenblick die Tür zum Salon sich öffnete und er eine Stimme sagen hörte: »Großer Gott! Was sehe ich! Welch eine Überraschung! Ich gratuliere! Laß dich küssen, lieber Schwiegersohn!« erschrak er so, daß er seinen Griff lockerte und das junge Mädchen anmutvoll in einen irisgemusterten Lehnsessel gleiten ließ.

»Ich ... ich ...« stammelte er der heranstürmenden Schwiegermutter entgegen, und sein Gesicht war so verzerrt und abwehrend, daß sie unwillkürlich stehen blieb und ihn fragend und äußerst vorwurfsvoll anblickte.

»Sie ... sie ... sie ...« fuhr Bierbaum zu stammeln fort und sah aus, als wolle er vor lauter vergeblichem Bemühen, sich zu erklären, im nächsten Augenblick in Tränen ausbrechen.

»Habt ihr schon ausgemacht, wann die Hochzeit sein soll?« fiel ihm die Schwiegermutter streng ins Wort. »Im übrigen meine ich, die Eltern hätten doch auch ein Wörtchen dabei mitzureden!«

»Hochzeit? Von was für einer Hochzeit, zum Teufel, reden Sie denn, meine Beste? ...« Er schnob vor Erbitterung, und es trug keineswegs zu seiner Beruhigung bei, daß nun auch der Herr des Hauses herzu kam und sofort von seiner Ehehälfte in die Situation eingeweiht wurde.

»Na ja, wir hatten ein derartiges Benehmen ja allerdings von Ihnen nicht erwartet, Karl Karlowitsch! Aber wir begreifen selbstverständlich, daß unter dem Eindruck eines Ereignisses, das über das ganze Leben entscheidet, ein Mann seine Fassung verlieren kann ... Also wir gratulieren von ganzem Herzen!«

Jetzt aber vergaß sich Bierbaum und stieß einen langen und wohlgebauten estnischen Fluch aus. Glücklicherweise verstanden die Anwesenden kein Estnisch; aber der rhythmische Tonfall der Worte verriet den Inhalt nur allzu deutlich; und noch deutlicher ward er, als Bierbaum tief Atem holte und auf Russisch fortfuhr:

»Da komme ich ... Und da steht sie ... Und riecht an den Flaschen ... hol' sie der Teufel!«

Mit jedem Satz markierte er deutlich, wie sich die Dinge zugetragen hatten.

»Plötzlich schreit sie irgendeinen Krimskrams und fällt mir in die Arme ... rein aus Blutarmut! Hab' ich nicht immer gesagt: Schaffen Sie ihr einen Mann, so lang' es noch Zeit ist? Aber nein! Man läßt sie in aller Ruhe laufen und sich um Sinn und Vernunft fabeln und alte Herrn in die unangenehmsten Situationen bringen!«

Und damit riß Bierbaum den gläsernen Stöpsel aus der einen Rosenwasserflasche und schüttete das Parfüm auf Stirn, Hals und Brust der bleichsüchtigen Jungfrau, bis das ganze Zimmer in Rosen blühte. Und da die Ohnmächtige anzunehmen schien, man wolle sie ertränken, stieß sie ein so schrilles und verzweifeltes Gekreische aus, daß Bierbaum die Flucht ergriff und auf die Straße hinaus stürzte; jedoch nicht, ohne zuvor noch zurückzurufen:

»Ich schicke Ihnen gleich den Doktor. Mich brauchen Sie nicht mehr um Rat zu fragen wegen der Blutarmut ...«

Seit dieser Zeit war Bierbaums Ruf in Familien mit Töchtern nicht eben der beste. Und er wurde auch nicht besser, als man erfuhr, er habe seiner Köchin, einer älteren, treuen, hochachtbaren Person, die ebenfalls noch aus den Zeiten seiner seligen Frau stammte, den Laufpaß gegeben und an ihrer Statt eine bedeutend jüngere, wohlgebaute und blitzschwarze Köchin genommen. Mit dem Hausmädchen hatte man sich schließlich noch abgefunden. Aber das war denn doch zu toll!

Bierbaum seinerseits kümmerte sich ganz und gar nicht um sein Renommee. Er fühlte sich höchst befriedigt von den Änderungen, die er in seinem Haushalt vorgenommen hatte, und beschränkte seinen Verkehr lediglich auf Leute, die keine Töchter unterzubringen hatten. Fast jeden Abend gab es ein fröhliches Gelage, entweder auswärts oder bei ihm im Hause, von sorglosen Menschen ohne Familienanhang. Zwischendurch suchte er die Klubs der Stadt heim und ließ sich in den kaufmännischen, den Bürger- und den Adelsklub aufnehmen. Er spielte Karten und Billard, rauchte und trank und legte sich nach keiner Richtung hin drückende Fesseln auf. Er verdarb niemals ein gutes Gelage, wie gewisse andere, denen es mitten in der Nacht plötzlich einfiel, daß es Zeit sei, zu Weib und Kind zurückzukehren, sondern folgte den Zech- und Kartenbrüdern vom Klub ins Freudenhaus, vom Freudenhaus ins Bad und vom Bad – wieder von vorn an.

Und so seltsam es klingen mag: sein Geschäft ging darum nicht schlechter; im Gegenteil, der Umsatz stieg. Die Ingenieure, die die Arbeiten an der neuen Bahnlinie zum Eismeer leiteten, schlugen Bierbaum auf die Achsel, hoben die gefüllten Gläser und schwuren, sie würden ihm ganze Wagenladungen von Medikamenten für die Eisenbahnarbeiter abnehmen. Und sie hielten Wort. Bierbaum hatte bald einen geradezu unerhörten Umsatz in Ölen, Chinin, Karbol, Verbandwatte, Pflastern und Binden, und kümmerte sich ebensowenig wie die Ingenieure darum, wie hoch jeder Kilometer Eisenbahn kam. Der jüdische Drogist auf der andern Seite der Straße setzte seine Preise herab; aber was half das! Es hatte nur zur Folge, daß seine Kunden argwöhnten, er fälsche seine Ware und lasse sich auf unredliche Konkurrenz ein. Sogar als er Klubmitglied wurde, um den Kampf mit Bierbaum aufzunehmen, zog er den kürzeren. Er war im Handumdrehen betrunken, konnte nichts vertragen und gönnte auch andern nichts. Er verspielte sein Geld und verspielte doch nie genug, und – was am meisten gegen ihn sprach – er ging weder mit ins Freudenhaus noch ins Bad. Er mußte es aufgeben, an die neue Bahn zu verkaufen, und stand Tag für Tag in seinem Laden und sah zu, wie ganze Wagenladungen von Medikamenten aus Bierbaums Apotheke versandt wurden. Ab und zu sah er auch, wie Bierbaum am hellen Vormittag im benebelten Zustand nach Hause gefahren kam; und dann nickte der kleine Drogist bedeutungsvoll vor sich hin und sagte zu seiner Frau, die an der Kasse saß: »Lang' treibt er's nicht mehr! Nein, lang' treibt er's nicht mehr! So wahr ich lebe! Lange kann er es nicht mehr treiben!«

Aber Bierbaum sah ganz und gar nicht so aus, als wolle er das Zeitliche segnen. Er vertrug fast das Unmögliche und strahlte vor Gesundheit. Er trank sich, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, zu schwindelnden Höhen empor, bestieg die Zinnen des Lebensgenusses und stieg ohne ein Zittern der Nerven wieder hinab. Und je intensiver er lebte, desto mehr verdiente er. Lebensmüde Menschen, die bewundernd seine Leistungen verfolgten, wandten sich an ihn, und allmählich gewann er einen bedeutenden Umsatz in Arkana verschiedenster Art, probierte sie auch dann und wann selbst aus, um sich zu vergewissern, daß sie nach Beschreibung wirkten und überhaupt zweckdienlich waren. Außerdem erweiterte er seine Tätigkeit auch noch in anderer Weise, indem er vor der Stadt ein kleines Haus mit dazugehörigem Grund und Boden kaufte und dasselbe gegen günstige Bedingungen einem estnischen Gärtner überließ, der gleichzeitig auch sein Hausmädchen mit den blauen Augen und den blonden Haaren heiratete und kurz darauf Vater eines gesunden, jedoch rothaarigen Knaben wurde.

Dieser Estländer, Ruppert mit Namen, hatte ein Jahr lang als Hausknecht in der Apotheke gedient, bis Bierbaum, wie gesagt, anderweitige Verwendung für ihn fand. Er war ein äußerst vielseitiger Mensch, der sich neben der Gärtnerei noch auf eine Menge anderer nützlicher Dinge verstand und überhaupt für so ziemlich alles Handgeschick hatte. Er war fleißig, nüchtern und willig und hatte nur eine Leidenschaft. Aber diese Leidenschaft wurzelte so tief in ihm, daß er zeitweise Haus und Heim vergaß, um ihr zu frönen. Er war Jäger, Jäger bis in die dunkelste Falte seiner Estenseele. Wäre er günstiger gestellt gewesen im Leben, hätte er nicht an sein tägliches Auskommen denken müssen, es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, etwas anderes zu betreiben als Jagen. Jagen zur Zeit und zur Unzeit. So mußte er sich damit begnügen, allwöchentlich ein paar Tage mit Hund und Büchse umherzustreifen, abgerechnet die Perioden, in denen seine Passion ihn überwältigte und er auf längere Zeit spurlos verschwand. Für gewöhnlich geschah dies aber nur im Frühjahr, zum Schnepfenstrich, im Sommer, wenn die Enten kamen, und im Spätjahr, wenn die richtige Jagd begann. Im übrigen nahm er es nicht so genau mit dem Jagdgesetz und legte seine Friedensbedingungen auf eigene Faust fest, so wie sie ihm zweckmäßig erschienen, indem er nämlich von dem Grundsatz ausging, daß die Jagd den Jäger ernähren soll. Traf es sich aber, daß überhaupt keine Jagd war, so trieb er sich auf dem Fluß herum und fischte. Schon während er in der Apotheke angestellt war, versah er Bierbaums Haushalt mit dem notwendigen Wildbret; und das tat er auch fernerhin; nur daß er, was übrig blieb, jetzt an Fremde verkaufte, da er nun doch einmal gewissermaßen selbständig geworden war. Seine Frau mit den blauen Augen und blonden Haaren legte ihm keine Hindernisse in den Weg bei der Ausübung seines Jägerhandwerks. Sie besorgte während seiner Abwesenheit die Gärtnerei, heizte im Winter die Treibhäuser und verkaufte schon um Weihnachten duftende Hyazinthen und Narzissen. Daneben empfing sie die Besuche Bierbaums. Er kam übrigens auch, wenn der Mann, oder richtiger gesagt, Ruppert, da war, und ging aus und ein, ganz wie es ihm beliebte. Manchmal konnte er dasitzen und auf den kleinen rothaarigen Jungen starren, während die Mutter ihm die Brust gab; und einmal sagte er, ohne sich an jemand Bestimmtes zu wenden – obgleich Ruppert bei dieser Gelegenheit zum Tee hereingerufen worden und also ebenfalls anwesend war –:

»Merkwürdig, daß er so rothaarig ist, trotzdem der Vater doch eine ganz anständige Haarfarbe hat ... Ich meine,« unterbrach er sich, indem er sich über sein eigenes rotblondes, etwas gelichtetes Kopfhaar strich und dabei nach Ruppert hinüberschielte, der ruhig dasaß und aus seiner Untertasse trank, ohne daß sein gegerbtes Gesicht das geringste Anzeichen von Gemütsbewegung verraten hätte – »ich meine, es ist merkwürdig, da doch der Vater so schwarzes Haar hat.«

Ruppert führte jetzt ebenfalls prüfend die linke Hand, die er bis jetzt unter einem seiner hervorspringenden Backenknochen gehalten hatte, durch sein widerborstiges schwarzes Haar und blickte mit seinen kleinen, ein bißchen schrägen, rußfarbenen Augen auf das Kind:

»Es ist, wie wenn ein roter Hengst zu einer schwarzen Stute kommt; da fällt das Fohlen falb aus.«

Mehr sagte er nicht; denn die Mutter mit den blauen Augen und den blonden Haaren sah ihn mitleidig an, während Bierbaum anerkennend nickte und von anderen Dingen zu sprechen anfing, bis er fand, nun sei der Zeitpunkt gekommen, da er sich mit Anstand zurückziehen konnte ...

So gingen Tage, Monate und Jahre für Bierbaum hin. Er zählte die Tage nicht und ließ Zeit und Zeiten schwinden und wechseln, als stehe er selbst außerhalb des ständigen Wandels der Zeit. Sorglos und unbekümmert lebte er das Leben hin, erwachte des Morgens, ohne des entschwundenen Gestern zu denken, und schlief ein ohne Sorge für den kommenden Tag. Statt des Hausmädchens, das jetzt die Mutter des rothaarigen Kindes war, hatte er sich ein anderes eingetan, diesmal mit aschblondem Haar und grauen Augen. Rupperts Stelle bekleidete ein neuer Estländer, der sich auf Sodawasserfabrikation, Rosenzucht, Anstreicherarbeit und Gärtnerei verstand, wenn er auch kein Jäger war. Die sorglosen, fröhlichen Freunde wechselten, traten neue Ämter und Würden an, verzogen nach anderen Städten oder traten aus der Reihe des Tanzes zurück und verloren Stellung und Leben. Aber jeder, der aus dem Kreis ausschied, sei es nun so oder so, ward allsogleich von einem Neuen ersetzt und vergessen, eh' noch seine Spur erkaltet war.

Bierbaum war der nie abweichende Mittelpunkt. Kleine und große Himmelskörper zogen sich diesem Mittelpunkt zu, umkreisten ihn längere oder kürzere Zeit und wurden wieder hinausgeschleudert ins große Dunkel, um ihre Lebensbahnen um neue und unbekannte Mittelpunkte zu vollenden.

Das große Pyramidbillard im Adelsklub erhielt eine neue Bespannung; eine Kaiserbüste ward als Ergänzung des bereits vorhandenen lebensgroßen Porträts aufgestellt. Der Wirt starb und seine üppige Witwe übernahm, unter einstimmiger Anerkennung des gesamten Vorstandes, Büfett und Weinkeller und trug den Busen noch um ein paar Zoll höher in der ausgeschnittenen Bluse. Bierbaum verschrieb eine neue Sorte marinierter Heringe für sie, direkt von den Lofoten, via Weißes Meer. Er war immer voll neuer Ideen. Er fabrizierte eine neue Himbeerlimonade mit einem Schuß Likör darin, konnte immer essen und trinken, fühlte sich niemals einsam. Wurde ihm eine Sache langweilig, so konnte er sich stets etwas Neues verschaffen, und, wenn das Neue ihm nicht mehr behagte, zum Alten zurückkehren. Wem es einmal eingefallen wäre, Betrachtungen über derartige Dinge anzustellen, der hätte bemerken können, daß Bierbaum allmählich in seinem Geschmack einigermaßen wankelmütig, ja, geradezu flüchtig und unbeständig in seinen Neigungen wurde, so, als ob ihm nichts so recht mehr schmecke, wenn er nicht häufig den Gegenstand wechselte. Eine Zeitlang hatte er Sekt, vermischt mit Mâcon, getrunken. Jetzt fing er an, Porter und Branntwein in den perlenden Röderer zu mischen. Er trank niemals eine Sorte Likör, sondern mischte drei, vier Sorten im Glas, wobei er sich nach Farbe und spezifischem Gewicht richtete und mit großer Virtuosität Farbenkombinationen herstellte, die den Flaggen der verschiedenen Nationen entsprachen.

»Prosit!« konnte er zum Beispiel sagen ... »jetzt hisse ich die deutsche Flagge! ... Hurra! Da fällt die Trikolore! ...« Er hatte nämlich Sympathien für Deutschland, weniger darum, weil er Estländer war, als weil er in Dorpat studiert hatte.

So saß er eines Abends im Mai mit ein paar Freunden im Klub und experimentierte an einer neuen Farbenmischung herum. Vor ihm auf dem Tisch standen ein Dutzend Flaschen mit verschiedenen weißen, roten, blauen und gelbgrünen Likören, und dazwischen eine Flasche Riga-Balsam, die mit ihrem dunkeln, geteerten Inhalt der einzige Repräsentant des Schwarzen war. Es war tief in der Nacht, und die Unterhaltung begann zu stocken. Man hatte Verlust und Gewinn des abendlichen Spiels erwogen, sich in den letzten Neuheiten auf erotischem Gebiet ergangen und überlegte nun, wie man den Rest der Nacht auf die passendste Art verbringen sollte. Einige waren schon ziemlich schläfrig und saßen und starrten wie in einem Anfall von Zerknirschung vor sich hin.

Es näherte sich der Zeitpunkt, da man irgend etwas Neues ausfindig machen mußte, um die Stimmung aufrecht zu erhalten. Entweder man mußte eine Ortsveränderung vornehmen, Lokal und Umgebung wechseln, oder aber im Ernst trinken. Jedoch die Stimmung war bereits so tief gesunken, daß jeder einzelne nur noch dasaß und wartete, daß die erlösende Eingebung im Hirn eines anderen auftauchen sollte.

Bierbaum, der stumm zwischen seinen Flaschen dagesessen hatte, streifte nachdenklich die Asche von seiner dicken und sehr dunkeln Zigarre, hob sein hohes, geräumiges Likörglas und nickte ein paarmal wie zur Bekräftigung von etwas, das er soeben bei sich selber gedacht hatte.

»Prosit!« sagte er, und die Freunde sahen, wie der Inhalt des Glases in allen Farben des Spektrums schillerte.

»Prosit! Jetzt nehm' ich sie alle auf einmal, sämtliche Mädels von sämtlichen Farben!«

Bierbaum hob sein Glas hoch, mit ausgestrecktem Arm, und die Freunde sahen deutlich, wie die in Schichten abgesonderten und scharf getrennten Farben plötzlich am Rande unklar wurden, zusammenflossen und sich auflösten, mit Abtönungen von Blaßrot zu Lila und Grün, bis alle Vertönungen ausgelöst waren und das Glas nur noch eine fleckige, graugrüne Flüssigkeit enthielt.

Der Oberst der Eisenbahngendarmerie streckte unerwartet und hastig den Arm aus und deutete auf das Glas, noch ehe Bierbaum Zeit gehabt hatte, daraus zu trinken.

»Sie sind alle ineinandergelaufen!« rief er. »Die reinste babylonische Verwirrung herrscht unter Ihren Mädels!

»Sie sind ineinandergelaufen!« riefen jetzt alle anderen und erhoben sich von ihren Sitzen, als sei es eine ungeheuer wichtige und interessante Begebenheit, die da vor sich gegangen war.

Bierbaum hielt das Glas vor sein eines Brillenauge und besah sich aufmerksam untersuchend die graugrüne, fleckige Flüssigkeit im Glas. Seine Hand zitterte leicht und plötzlich verzog er das Gesicht und setzte das Glas so heftig auf den Tisch, daß der Fuß abbrach und das Getränk über die Decke floß.

»Ist es nicht verdammt!« rief er zornig. »Grade hatte ich sie gemischt, um sie alle auf einmal zu kosten, und da laufen sie mir alle ineinander, just im entscheidenden Augenblick!«

»Tja, es will eben jede für sich genommen sein, und ob man sich auf den Kopf stellt! ...« warf der Oberst dazwischen. »Sogar im Glas wollen sie nicht in einer höheren Einheit aufgehen!«

»Höhere Einheit!« wiederholte Bierbaum und nickte, wie schon vorher einige Male, mit dem Kopf, wie zur Bekräftigung von etwas, das er bei sich selber gedacht hatte. »Mit Verstand und Übung kann man es ja wohl zuwege bringen, sämtliche Getränke unseres Herrgotts so zusammenzumischen, daß sie Auge und Zunge ergötzen; aber sobald es sich um Weiber handelt, ist jedes Zusammenmischen unmöglich, vollständig ausgeschlossen ... Die wollen – ganz richtig – jede für sich genommen sein. Und wenn man sich zu Tode langweilt dabei! Und sogar wenn man sie in ein Glas hineinhext, wollen sie nicht in einer höheren Einheit aufgehen, Teufelsgezücht, das sie sind!«

»Hallo! Wo ist denn unser Spiritist geblieben?« rief einer der Ingenieure; und alle mit Ausnahme von Bierbaum, sahen sich um nach dem, der allgemein »der Spiritist« genannt wurde, als erwarteten sie sämtlich von ihm höchst wertvolle Aufschlüsse über das Verhältnis des Weibes zur höheren Einheit. Der Spiritist befaßte sich nämlich neben seinem Spiritismus auch mit Studien über das Gefühlsleben der altindischen Kulturvölker und behauptete, daß er auf diesem Wege die tiefsten Rätsel des Daseins gelöst habe. Als die Freunde um Beistand zu ihm kamen, lag er zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen, in einem schweren Lehnstuhl, den er in der Ecke des Lokals für sich hatte aufstellen lassen, um nicht gestört zu werden. Als er jedoch hörte, daß man nach ihm fragte, tat er, als hätte er nicht etwa geschlafen, sondern in wachem Zustand die unheimlichen Dinge gesehen, von denen ihm soeben geträumt hatte. Vorsichtig zog er seine langen Beine unter sich, hob den Kopf mit dem spitzen Bocksbart und beugte sich vornüber, mit aufgerissenen Augen unter Tische und Stühle spähend, während er zugleich den Freunden Zeichen machte, sie möchten sich ruhig verhalten. Als er das, wonach er so eifrig ausgespäht hatte, nicht zu entdecken schien, erhob er sich und ging vor bis an den Tisch der Freunde. Er ging aber seltsam leicht und lautlos, fast auf den Zehenspitzen huschend, und als er am Ende des Tisches angelangt war, beugte er den Oberkörper und steckte den Kopf schief vor, bis er eine Stellung einnahm, die ihm erlaubte, unter Bierbaums Stuhl zu blicken.

Bierbaum hob, unangenehm berührt von diesem höchst auffallenden Gebaren, die Brauen und fragte tadelnd:

»Nach was sehen Sie, wenn ich so frei sein darf?«

»Ja, da mögen Sie wohl danach fragen,« erwiderte der Angeredete und richtete sich auf, »puh! da mögen Sie wohl danach fragen, Karl Karlowitsch! ...« Er war in diesem Augenblick vollkommen fest davon überzeugt, daß er nicht geschlafen, sondern in wachem Zustand etwas höchst Eigentümliches gesehen hatte ... »Also wissen Sie,« erklärte er eingehend, »wie ich so recht ruhig dort im Sessel sitze, seh' ich ganz zufällig durch die offene Tür ins Billardzimmer; und da sehe ich zu meiner Verwunderung eine große schwarze Katze, die mit dem roten Karolinball spielt. Erst streckt sie die Pfote aus und gibt dem Ball einen Puff, daß er ein paar Schritt weit über den Teppich kollert; darauf springt sie selber hinterher und packt im Sprung den rollenden Ball, als sei es eine rote Ratte, die sie gefangen hätte. Und so ein paarmal hintereinander. Was ist denn das? frag' ich mich und will aufstehen; aber im selben Augenblick kommt die Katze durch die Tür gerade auf mich zu, mit dem roten Karolinball im Maul. Und jetzt sehe ich erst, daß sie noch einmal so groß ist wie eine gewöhnliche Katze, langhaarig wie ein Bär und funkelnd schwarz, mit langem, buschigem Schwanz. Ich ziehe die Beine an, und im selben Moment huscht das Biest wie der Blitz unter euren Tisch und schnuppert von Stuhl zu Stuhl, bis es unter Karl Karlowitsch verschwindet. Wahrhaftiger Gott, so war es!«

»Delirium tremens!« sagte Doktor Gorlanow trocken. Er hatte lang mit in die Hand gestützter Stirn dagesessen und vor sich hingestarrt. Jetzt strich er sich das lange, kastanienbraune Haar zurück und blickte den Spiritisten aufmerksam an: »Ja, es ist klar wie Tinte! Du hast dein Teil intus!«

Der Spiritist war höchst aufgebracht über diese Bemerkung und erklärte, wie das Tier hereingekommen wäre, wie das Ganze sich zugetragen und wie er mit eigenen Augen, hellwach und nüchtern wie ein neugeborenes Kind, den Spuk mit angesehen hätte.

Aber je mehr er erklärte, desto ungläubiger wurden die Freunde. Sie lachten und warfen sich in ihren Stühlen hin und her. Einer sprang auf und deutete auf den Fußboden: »Uha! Seht doch den roten Rattenkönig mit blauen Schnurrbärten und weißen Schwänzen!« Ein anderer fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und rief: »Seht ihr den Schwarm von gesprenkelten Wanzen?« ... Alle fanden sie irgend etwas, und dabei lachten sie, daß ihnen die Tränen in den Augen standen, am lautesten über ihre eigenen Einfälle. Nur Bierbaum und Doktor Gorlanow beteiligten sich nicht an der lärmenden Heiterkeit; ja, und dann noch der Bezirkskommandeur; aber der sagte überhaupt beinah nie einen Ton, außer wenn er beim Spiel anmeldete.

Der Spiritist machte eine resignierte Handbewegung und zog sich einen Stuhl unterm Tisch hervor.

»Mir ist es einerlei, ob ihr mir glaubt oder nicht,« sagte er und lächelte geheimnisvoll; »aber dem Doktor sag' ich bloß das Eine: Arzt, hilf dir selber! Jawohl, das sag' ich!« bekräftigte er, als Gorlanow ihn ruhig und forschend anblickte. »Und im übrigen will ich euch nur sagen: wenn ich mich genauer besinne, so war es ein himalajischer Katzenbär – allem nach, was ich neulich auf meinem Abreißkalender gesehen habe.«

»Hi–ma–lajisch?« wiederholte der Bezirkskommandeur und strich sich würdevoll über seinen weißen Gurkobart. »Wie meinen Sie? Ein hi–ma–lajischer Katzenbär? ...« Er sprach jede Silbe für sich aus, unsicher und fragend, weil er noch nie von einem derartigen Tier hatte reden hören und über das Rekrutenfach hinaus sich keiner sonderlichen Kenntnisse rühmen konnte.

»Das ist es ja grade, da liegt ja der Hase im Pfeffer!« warf der Gendarmerieoberst dazwischen; und zum Spiritisten gewendet, der jetzt am Tisch Platz genommen hatte, fuhr er fort: »Wir möchten nämlich gern durch Sie einen Einblick in gewisse rätselhafte Umstände gewinnen, und anbetracht Ihrer tiefgründigen Kenntnisse des indisch-himalajischen Gefühlslebens nehmen wir an, daß Sie die vorliegenden Fragen mit Leichtigkeit zu beantworten vermögen.«

Der Gendarmerieoberst sprach spielerisch, als hätte er einen politischen Arrestanten vor sich. »Die Sache ist nämlich – wie Sie in Ihrem hellseherischen Zustand ja bemerkt haben werden – die: Karl Karlowitsch hat einen höchst interessanten, wenn auch nicht ganz geglückten Versuch mit einer Farbensinfonie angestellt, in der sämtliche weibliche Töne als Ganzes und doch jeder für sich zu einer höheren Einheit zusammenwirken sollten ...«

Der Spiritist warf einen hastigen Blick auf die vor Bierbaum aufgereihten Flaschen, bemerkte auch das abgeknickte Glas und den Fleck auf dem Tischtuch, und ließ den Gendarmerieoberst nicht weiter in seiner Rede fortfahren.

»Gewiß, das habe ich wohl bemerkt. Es war just, eh' das andere sich ereignete. Ich verfolgte, wie stets, Karl Karlowitschs Experiment mit großer Aufmerksamkeit, bis das Glas zerbrach und ich unwillkürlich zur Seite blickte und, wie gesagt, ins Billardzimmer sah ...« Er hatte sich jetzt so tief hineingelogen, daß er selber nicht mehr wußte, wohin es führen würde; und noch mehr, er glaubte selbst jedes einzige Wort, das er sagte; eine psychologische Volte, die ihm sein erstes kleines Abweichen von der Wahrheit, als er sein unschuldiges und völlig berechtigtes Schlafbedürfnis verleugnet hatte, abzwang. »Gewiß, es ist sehr richtig,« fuhr er eilig, um nicht unterbrochen zu werden, fort: »Sobald es sich um weibliche Farben handelt, um die Mehrstimmigkeit, die Vieltonigkeit des einzelnen Wesens, die mystische Fähigkeit eines Weibes, in der Opalschale ihrer Seele die Seelen und Farben, den Charme aller andern Frauen zu vereinigen und ... und ... ja, wie soll ich es nennen ... ein Karma auszustrahlen, allseitig, als stamme es von vielen, von einer ganzen Legion verschiedener Frauen, ist das Resultat häufig ein zweideutiges ...«

»Ha–ha–ha! O heilige Jungfrau!« lachten die Freunde; aber der Spiritist ließ sich nicht irre machen und nahm jetzt seine Zuflucht zu Bildern aus dem wirklichen Leben:

»So war ich zum Beispiel unlängst draußen bei Ruppert, dem Gärtner; Sie kennen ihn ja alle – mit dem verteufelt schönen Weib –, um Blumen zu kaufen für eine reizend schöne Dame. Die Frau hielt ein kleines Kind auf dem Arm, ein zweites führte sie an der Hand. ›Sagen Sie doch‹, sag' ich zu Ruppert (ich stelle nämlich immer so meine Beobachtungen an), ›sagen Sie doch, wie soll man es sich nun erklären, daß das eine Kind rote Haare und blaue Augen hat, und das andere –‹«

»Blaue Haare und rote Augen,« warf der Doktor auf die ruhigste Weise von der Welt dazwischen.

»Nein, zum Teufel – weiße Haare und schwarze Augen!« rief der Spiritist wütend.

»Weiß?« ertönte es von den Lippen der Freunde. »Kreideweiß? Schneeweiß?«

»Jawohl, weiß, ganz hell, ausgebleicht – wie Sie es nennen wollen ...« Der Spiritist zog den Atem ein, eh' er fortfuhr: »›Ja, sehen Sie,‹ antwortete mir Ruppert auf meine Frage, ›das ist so, wie wenn ein schwarzer Hengst zu einer roten Stute kommt; da fällt das Fohlen falb aus ...‹ Der Spiritist hielt plötzlich inne; denn diejenigen der Freunde, die bisher am lautesten gelacht hatten, wurden mit einemmal merkwürdig schweigsam. Sie sagten gar nichts mehr, saßen mäuschenstille. Der Gendarmerieoberst lachte ein paarmal kurz auf und schlug mit der geballten Hand gegen die strammsitzende blaue Uniformhose, daß der Sporn an dem betreffenden Bein mit einem spröden, rieselnden Ton durch das Schweigen klirrte.

Der Bezirkskommandeur räusperte sich wiederholt, wechselte unruhig die übereinandergeschlagenen Beine und strich sich sorgfältig über seinen weißen Gurkobart. Bloß Doktor Gorlanow sagte ebenso ruhig wie bisher:

»Du hättest dich an meine Auslegung halten sollen, Freundchen.«

Bierbaum, der steif und verwirrt durch seine Brillengläser gestarrt hatte, als sähe er nicht richtig, was im Zimmer vor sich ging, nahm jetzt die Brille ab, hauchte sie an, steckte die rechte Hand in die Rocktasche, um sein Taschentuch herauszuholen, blieb aber sitzen, als wäre ihm die Hand plötzlich in der Tasche festgewachsen. Seine kurzsichtigen, entblößten Augen erweiterten sich hilflos, als hätte er die Sehkraft ganz und gar eingebüßt. Aus den kleinen, kreisenden Bewegungen des Arms ging hervor, daß seine Hand an irgend etwas auf dem Grund der Tasche umhertastete, unsicher, ängstlich ...

»Was ist los, Karl Karlowitsch?« fragte der Spiritist und schob seinen Stuhl zurück. Seine Stimme zitterte und er stand schwankend auf seinen Beinen, nachdem er zuvor ein paar Schritte vom Tisch zurückgetreten war. Er hatte nämlich auf Grund des unglücklichen Abschlusses seines Vortrags zwei große Gläser grüner Chartreuse unmittelbar hintereinander getrunken.

»Ja, was ist los?« fragte der Gendarmerieoberst streng und schob die Brust vor, als hege er den Argwohn, Bierbaum habe etwas Verbrecherisches in der Tasche.

Aber Bierbaum antwortete nicht. Langsam und bedächtig zog er die Hand aus der Tasche, hielt sie sich dicht vor die blinzelnden Augen und spreizte die Finger; auf der offenen Fläche lag der rote Karolinball.

Niemand sprach ein Wort. Der Spiritist verabschiedete sich nicht einmal; er verschwand, so rasch ihn seine Beine trugen. Als die andern seine eiligen, flüchtigen Schritte vernahmen, verspürten sie fast alle eine unbezwingliche Lust, seinem Beispiel zu folgen. Mehrere von ihnen hatten schon beide Hände gegen die Tischplatte gestemmt, bereit, im nächsten Moment aufzuspringen, zögerten aber doch, als hätten sie nicht die Kraft, sich zu erheben. Mittlerweile legte Bierbaum den Karolinball vor sich auf den Tisch, zog sein Taschentuch hervor und putzte sorgfältig seine Brille, eh' er sie wieder aufsetzte. Darauf blickte er von einem zum andern, als ob er bei jedem einzelnen die Erklärung für das, was vorgegangen war, suche; aber niemand schien geneigt, sich auf eine nähere Auseinandersetzung einzulassen. Bloß Doktor Gorlanow lächelte, als ob der Fall ihn in hohem Grade belustige. Der Gendarmerieoberst hielt die ganze Zeit über seine Augen unbeweglich auf die rote Billardkugel geheftet; jetzt streckte er resolut die Hand aus und griff nach dem Ball, ließ ihn aber sogleich wieder fallen, als hätte er sich verbrannt. Der Ball rollte über das Tuch und stieß unterwegs ein paar Gläser um. Und als die Freunde die rote Kugel über den Tisch rollen hörten, gewannen sie plötzlich die Herrschaft über ihre Beine wieder. Sie erhoben sich alle gleichzeitig, wie auf Kommando, alle, mit Ausnahme von Bierbaum und Gorlanow. Ein paar von ihnen öffneten, den Mund, als wollten sie etwas sagen, eh' sie sich umdrehten und mit schlenkernden Armen durchs Zimmer und zur Tür hinaus eilten. Der Gendarmerieoberst war der letzte, und seinen Schritten folgte ein spröder, rieselnder Ton von klirrenden Sporen. Eine halbe Minute später hörten Bierbaum und Gorlanow, wie die Freunde davon fuhren. Und als die Pferdehufe und Räder nur noch wie ein ferner Ton erklangen, der immer undeutlicher und ferner ward, bis er zuletzt in der weißen Mainacht erstarb, klingelte Gorlanow dem Kellner und bestellte zwei Flaschen Sekt.

»Prosit!« sagte er, als eingeschenkt war und der Kellner sich entfernt hatte, »prosit, Karl Karlowitsch!«

Bierbaum hob sein Glas und blickte in Gorlanows ruhige und unbekümmerte Augen, die ihn zwar sogleich über den jähen Aufbruch der Freunde beruhigten, aber doch nicht ein dumpfes und unbestimmtes Gefühl einer Demütigung, die ihm im Lauf des Abends zugefügt worden war, auszulöschen vermochten. Und selbst als Gorlanow fortfuhr zu sprechen, ja, sogar unter dem Einfluß des besänftigenden, ungemischten Getränks nagte dies Gefühl in ihm weiter als etwas Peinigendes und Bitteres, das er sich nicht erklären konnte, ja, nicht einmal den Versuch machte, sich zu erklären, weil augenscheinlich keinerlei Zusammenhang bestand zwischen diesem Unbestimmbaren und der Tatsache, daß er und Gorlanow allein an einem Tisch voll umgestürzter Gläser und halbgeleerter Flaschen Sekt tranken.

»Ja,« sagte Gorlanow, »ich habe ja selbst gesehen, wie Sie den Ball – im hellen Eifer, als Sie die letzte Partie gewannen – in die Tasche schoben ... Es ist ja wohl so, daß diese Art zufälliger Umstände sich so aneinanderketten, daß man Mund und Nase drüber verlieren könnte, wenn man nicht, wie ich, die natürliche Erklärung im Hinterhalt hätte ... Haben Sie gesehen, wie der Oberst den Ball fallen ließ? Fast erstickt bin ich innerlich vor Lachen; denn ich wollte doch sehen, wie die Sache weiter ging ...« Gorlanow lachte, daß er sich immer wieder die Augen wischen mußte. Jedesmal, wenn er fertig war, überkam ihn ein neuer Lachanfall, obgleich Bierbaum sich nicht an der Heiterkeit beteiligte. Immerhin begann auch auf ihn der Champagner zu wirken.

»Haben Sie den Bezirkskommandeur gesehen? Ha–ha–ha! Und wenn ich an einem Totenbett steh', ... wenn ich daran denke, krieg' ich einen Lachkrampf! ... Haben Sie gehört, was er sagte, als er aufstand und mit den andern davonrannte? ... ›Ich passe!‹ sagte er. ›Ich passe ...‹ Bei meiner Seelen Seligkeit! ›Ich passe!‹ Und dabei faßte er sich an seinen blauen Bart und die roten Augen ... Dieser Satansspiritist! ...« Gorlanow hielt plötzlich inne und blickte hastig zu Bierbaum hin. Der jedoch schien nichts Auffallendes bemerkt zu haben und wiederholte bloß: »So? ›Ich passe!‹ hat er gesagt? ... Hm ... Also ›Ich passe‹ hat er gesagt.«

»Die Sache ist ganz einfach die,« beeilte sich Gorlanow fortzufahren – »sie haben sich alle samt und sonders glatt von Sinn und Verstand getrunken. Sie haben ihre Nerven nicht mehr in der Gewalt. Eine Zufälligkeit genügt, um die unberechenbarsten Auftritte herbeizuführen. Heute haben sie Halluzinationen, morgen schlagen sie sich, übermorgen begehen sie Selbstmord. Ja, wir sind bald alle miteinander reif fürs Narrenhaus! Endet es nicht auf die eine Art, so endet's auf die andere Art. Was mich selber betrifft, so bin ich genau so weit wie die andern. Es ist gehüpft wie gesprungen. Nur daß ich mir nicht einbilde, ich sei unentbehrlich für Staat und Gesellschaft, wie der Oberst und der Bezirkskommandeur, die obendrein noch Kinder haben, Kinder von allerlei Farbe ...«

»Von allerlei Farbe?« fragte Bierbaum, als verstehe er nicht, was der Doktor meinte. Dabei mußte er gleichzeitig an das zerbrochene Likörglas denken, und ihm war, als ob ein unbestimmter Schmerz in seiner Brust schärfer und örtlicher würde, sich gleichsam um den hastigen und unruhigen Schlag seines Herzens zusammenzöge.

»Freilich!« erklärte Gorlanow. »Sie können ja doch nicht per Telephon zeugen! Nachts sind sie ja nie zu Hause. Und tagsüber haben sie ihren Dienst. Der spielt jedenfalls auch in allerhand Farben! ... Aber Kinder haben sie, wo Teufels sie nun auch herstammen mögen, und Falben sind es auch, wie der Mann von den Kindern seiner Frau sagte. Falben sind es, wie der Mann ...«

Gorlanow hatte seine Flasche so ziemlich geleert und war augenscheinlich mit einem Mal stockbetrunken. Er war an der Grenze angelangt, wo ein einziger Tropfen zuviel seinen Mann zu Boden wirft. Unaufhörlich wiederholte er den letzten Satz, wobei er jedesmal kindisch lachte und sich auf seinem Stuhl hin und her wiegte. Sein kastanienbraunes Haar hing ihm in die Stirn. Die Augen waren groß und stumpf und blieben so, auch als Bierbaum mit der geballten Hand auf die Tischplatte hieb, daß Gläser und Flaschen klirrten. Gorlanows Augen blieben gleich rund und betrunken, sein Lachen blieb gleich kindisch, sogar als Bierbaum ihm, über den Tisch gebeugt, mit beiden Fäusten drohte und schrie: »Ich will aber nicht! Ich will nicht!«

Gorlanow beachtete das gar nicht. Er fuhr fort, denselben Satz zu lallen, immer undeutlicher und undeutlicher, während sein Kopf immer tiefer gegen den Tisch sank. Er schwieg erst still, als er ganz vornüber gefallen war und mit dem Oberkörper auf der Tischplatte lag. Bierbaums Zorn machte nicht den mindesten Eindruck auf ihn; er blieb liegen, unbeweglich, mit ausgestreckten Armen, mochte Bierbaum noch so laut schreien, er wolle nicht!

Der alte, weißhaarige Kellner, der stets bis zuletzt aushielt, erschien unter der Tür und fragte mit untertänig-beflissener Stimme:

»Haben die Herren gerufen?« Und blieb wartend unter der Tür stehen.

Bierbaum antwortete nicht. Er schenkte den Rest aus der Flasche in sein Glas und leerte es in einem langen Zug, erhob sich darauf und ging schwankend durchs Zimmer, wobei er fortwährend mit der geballten Faust drohte. Der alte Kellner näherte sich rasch und faßte ihn respektvoll am linken Ellenbogen. Bierbaum ließ sich ohne Widerstand hinausführen. Als er angezogen war und auf die Straße hinaustrat, war die weiße Nacht bereits in den lichten Tag übergegangen, obwohl es nicht viel über drei Uhr war. Aber Bierbaum dachte an ganz andere Dinge als an die hellen Nächte und langen Tage im Mai. Man half ihm in eine offene Droschke, und er setzte sich schwer im Sitz zurecht.

Im selben Augenblick gab der Kutscher dem Pferd die Peitsche, ohne zu fragen, wohin er fahren solle, in der Meinung, sein Fahrgast wolle nach Hause und nicht noch anderswohin. Bierbaum saß mit dem silberbeknopften Stock zwischen den Knien und schaukelte rückwärts und vorwärts und zur Seite, im Takt mit den Schwingungen des Wagens; er schien auch wirklich nirgend anderswohin zu wollen. Auf einmal aber ward er aufmerksam und rief dem Kutscher zu:

»Wo fährst du denn hin? Wo steuerst du denn hin, du Kanaille? Hab' ich dir nicht gesagt, ich will nicht?«

Der Kutscher hielt das Pferd an und wandte sich nach seinem Passagier um:

»Wohin befiehlt der Herr?«

»Zu Ruppert hab' ich doch gesagt! Zu Ruppert, sag' ich!«

»Ruppert ist nicht daheim, Herr. Als ich vor einer Stunde den Grauen zur Tränke führte, sah ich, daß er zum Fischen ausging.«

Bierbaum zog seinen Stock vor und hieb wütend nach dem Kutscher, der jetzt ohne weitere Erklärung nach der angegebenen Richtung zuhielt, so schnell sein Pferd laufen konnte.

Außerhalb von Rupperts Gärtnerei stieg Bierbaum aus dem Wagen, kratzte in seiner Tasche ein paar Silbermünzen für den Kutscher zusammen und hieß ihn seiner Wege fahren. Darauf versuchte er, das Gartentor zu öffnen, vermochte aber lange nicht den Holzriegel zurückzuschieben und mußte sich dann und wann mit beiden Händen festhalten, um nicht umzufallen. Schließlich gelang es doch, und nun fing er an, gegen die verschlossene Tür des Hauses zu wettern, das er selbst Ruppert als Mitgift geschenkt hatte. Mit der einen Hand stützte er sich, mit der andern hieb er gegen die Tür und bemerkte nicht, daß ein Fenster sich auftat und daß ein weiblicher Kopf mit blonden offenen Haaren sichtbar wurde und hastig wieder verschwand. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, vorsichtig, damit er nicht vornüber stürzen sollte, und als er langsam der zurückweichenden Tür folgte und zuletzt drinnen war, fühlte er sich von zwei runden, kräftigen Frauenarmen umfaßt und behutsam zu einer Ruhebank geführt, auf der er sitzen blieb, bis Hut und Überzieher ihm abgenommen waren. Er wollte etwas sagen, das ihm sehr am Herzen lag; aber er brachte es nicht heraus; und so oft er es sagen wollte, stöhnte er:

»Ah! Ich bin betrunken ... betrunken ... Meiner Lebtag bin ich nicht so betrunken gewesen ...«

Die Frau kniete vor ihm nieder, um ihm die Stiefel auszuziehen, während er seine Hände gegen ihre nackten Schultern stemmte. Er versuchte, mit der einen Hand unter das weiße Leinenhemd zu greifen, um nach der schwellenden Mutterbrust der jungen Frau zu tasten, und röchelte vor Erregung bei diesen Versuchen, bis sie sich aufrichtete, seine Beine auf die Bank hob und er völlig untersank in seinem Rausch.

Spät am Vormittag erwachte Bierbaum. Er lag einen Augenblick still und besann sich, eh er sich erinnerte, wie es zugegangen war, daß er sich in seinen Kleidern auf der Bank im Gärtnerhaus befand. Sein Kopf war so schwer, daß er ihn nur mit Mühe seitwärts bewegen konnte, um einem Sonnenstrahl auszuweichen, der durch die blau- und rotgemusterten Zuggardinen drang. Aber der Sonnenstrahl ließ ihn nicht los; und er richtete sich darum halb auf und stützte sich auf den Ellbogen. Dabei fiel ihm ein zusammengefaltetes Handtuch von der Stirn, das man darauf gelegt hatte, um ihn zu beruhigen und zu kühlen. Als er es nahm, um es wegzulegen, spürte er, daß es heiß und trocken war, und dadurch steigerte sich noch das Gefühl der Trockenheit und Hitze, das ihn gleich beim Erwachen so unbehaglich berührt hatte. Unwillkürlich mußte er an kalte Getränke denken, an seine eigene Himbeerlimonade mit einem Spritzer Likör und Eis; aber als er an Likör dachte, verzog er das Gesicht. Ihm ward ganz schwindlig und übel zu Mut, und er schloß die Augen. Er öffnete sie jedoch sogleich wieder; denn er hörte, wie auf dem Fußboden der Stube sich etwas regte. Er blickte nach unten und bemerkte dabei, daß er, wie immer, wenn er daheim schlief, keine Brille auf hatte, weshalb er sich vornüberbeugte, um besser seine Hand verfolgen zu können, die vorsichtig über den hölzernen Stuhl tastete, auf dem sein Überzieher hing. Und als er die Brille gefunden hatte und wieder sehend geworden war gleich andern Menschen, entdeckte er den rothaarigen und blauäugigen kleinen Jungen, der sich eifrig damit beschäftigte, Häuser aus kleinen Backsteinstücken zu bauen. Bierbaum verhielt sich ganz ruhig, um das Kind in seinem Spiel nicht zu stören. Er verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit alles, was das Kind tat, und versuchte, sich auszudenken, was die einzelnen Gebäude, die da aufgeführt und wieder eingerissen wurden, um neuen architektonischen Improvisationen Platz zu machen, vorstellen sollten. Ein paarmal war er drauf und dran, selbst einzugreifen, wenn er sah, daß der begonnene Bau eine schwache Stelle hatte, die notwendigerweise noch vor der Vollendung zum Zusammenbruch führen mußte. Aber er begnügte sich damit, mißbilligend den Kopf zu schütteln, um den Knaben rechtzeitig zu warnen. Dieser jedoch beachtete ihn gar nicht, dachte überhaupt nicht an den Mann auf der Bank. Es kam Bierbaum sonderbar vor, daß der Kleine nicht aufstand und zu ihm herkam, um ihn zum Mitspielen aufzufordern; es wäre doch nur natürlich gewesen; Kinder mögen doch meist gern Gesellschaft. Bierbaum überlegte, ob er nicht selber aufstehen und seine Uhr hervorholen sollte, damit der Junge sie ticken hören konnte. Aber er beherrschte sich. Und außerdem – das konnte er sich ausrechnen – hatte er die Uhr gestern abend gar nicht aufgezogen. Wie spät mochte es übrigens sein? Er blickte seitwärts durchs Fenster, um aus dem Stand der Sonne am Himmel sich darüber klar zu werden, wie weit der Vormittag vorgeschritten war, und lächelte nachsichtig, weil er begriff, daß er sich zu einer immerhin ziemlich ungewöhnlichen Zeit hier im Gärtnerhause aufhielt. Aber er vergaß gleich wieder, an die Zeit zu denken; denn das Kind hatte jetzt sämtliche Ziegelsteinbrocken auf einen Haufen geworfen und schaufelte sie mit den kleinen Händen von allen Seiten her zusammen, um sie so hoch wie möglich aufzutürmen. Und als ihm auch das keinen Spaß mehr machte, stand der Kleine auf, nahm ein Stück Backstein und ging bedächtig davon. Bierbaum folgte ihm mit den Blicken, während er um den Tisch herumging, der mit einer weißen Decke und blankpoliertem Samowar mitten in der Stube stand, und richtete sich vorsichtig auf, um zu sehen, was da weiter vor sich ging; denn der Tisch versperrte ihm die Aussicht. Da sah er, wie der Kleine den Ziegelsteinbrocken unter ein kleines, weißes Laken schob, das über einen Gegenstand in der einen Ecke des Zimmers gebreitet war. Bierbaum begriff ganz gut, daß dieser Gegenstand eine ganz gewöhnliche hölzerne Wiege mit einem Kind darin war; aber er beeilte sich keineswegs, diese Tatsache, mochte sie nun sein, was sie wollte, zu konstatieren; sei es nun, weil er sich überhaupt einigermaßen matt und unwohl fühlte, oder auch, weil diese hölzerne Wiege nebst Inhalt ihm gewisse Erlebnisse der vorhergehenden Nacht ins Gedächtnis zurückrief. Er starrte geistesabwesend auf die Wiege und hatte das Interesse für den rothaarigen, blauäugigen Jungen, der mittlerweile noch ein paar weitere Backsteinbrocken unter dem kleinen weißen Laken anbrachte, gänzlich verloren. Plötzlich setzte Bierbaum seine Füße auf den Boden und ging lautlos, auf Socken, zu der Wiege hin. Der rothaarige Junge war so erstaunt, als er den fremden Mann mitten in der Stube sah, daß er eiligst unter den Tisch kroch und sich unter der herabhängenden Decke versteckte. Zu weiterer Sicherheit begann er auch zu weinen.

»Schweig still, du Kuckucksei!« sagte Bierbaum zornig und hob das Laken von der Wiege, um das, was darunter lag, anzusehen. Aber was er sehen wollte, sah er dennoch nicht; denn das hellhaarige Kind schlief mit fest geschlossenen Augenlidern ruhig weiter. Er faßte deshalb mit zwei Fingern die Nase des Kindes, bis es das Gesicht zu einer weinerlichen, kläglichen Grimasse verzog und die Augen aufschlug. Bierbaum beugte sich tief hinunter und starrte das Kind an. Er drehte die Wiege und hob sie ein wenig empor, daß das Licht unmittelbar in die Augen des Kleinen fiel; und nachdem er sich dergestalt überzeugt hatte, daß sie schwarz waren, ließ er die Wiege Wiege sein und ging wieder zur Schlafbank zurück, lautlos, auf Socken, wie er gekommen war. Hastig zog er seine frischgewichsten Stiefel an. Er hatte es augenscheinlich sehr eilig, dachte aber weiter nicht über den Grund dieser Eile nach, murmelte bloß ab und zu: Es kam mir so vor, als hätte es blondes Haar und dunkelblaue Augen ... kam mir ganz bestimmt so vor ...

Als er seinen Überzieher an hatte und seinen Stock mit dem silbernen Knopf in der Hand hielt, trat er zur Tür hinaus, ohne sich umzublicken, und ging, so rasch seine kleine krummbeinige Gestalt sich bewegen konnte, nach der Richtung der Gartentür zu. Unterwegs hörte er eine wohlbekannte weibliche Stimme, die ihn zurückzurufen versuchte:

»Karl Karlowitsch! So gehen Sie doch nicht! Hier bin ich. Ich war bloß im Gewächshaus, habe die Blumen begossen ...«

Aber Bierbaum antwortete nicht, wandte sich nicht einmal um, winkte bloß mit der Hand nach rückwärts, was so viel heißen sollte, als daß er trotzdem gehen und sich nicht aufhalten lassen würde. Er ließ die Gartentür hinter sich offen und schritt in einem Tempo den Weg entlang, als sei in ihm plötzlich die Vorstellung aufgetaucht, er brauche aus Gesundheitsrücksichten reichliche Bewegung. Aber während er ging, mußte er, ohne daß er es wollte, fortwährend an das Kind mit den hellen Haaren und den schwarzen Augen denken. Und nachdem er sich völlig ins Klare gedacht hatte und einsah, daß es nur eine glaubhafte Erklärung für dieses Phänomen gab und daß er sich den Tatsachen beugen müsse, versuchte er auch schon sofort das Ganze weg zu erklären: Sieht man nicht häufig, so überlegte er, daß Eltern Kinder haben, die ihnen ganz und gar nicht gleichen. So gab es einmal einen weißen Mann und eine weiße Frau, die ein farbiges Kind hatten, trotzdem sie alle beide niemals einen Neger mit Augen gesehen hatten. Diese Art Merkwürdigkeiten kommen ab und zu vor ... Bierbaum begann langsamer zu gehen. Er hatte den Boulevard erreicht, so genannt, weil zwei Reihen von Birken einen breiten, kiesbelegten Spazierweg einhegten. Da und dort unter den Birken standen Bänke, die unter der wechselnden Witterung der Zeit abgeblaßt waren. Bierbaum schlug im Vorübergehen mit seinem Stock dagegen. Er war ziemlich durstig und vermochte bereits wieder an Himbeerlimonade und Likör zu denken, wobei er noch obendrein, so gut er es konnte, ein paar Strophen vom wunderschönen Monat Mai vor sich hinsummte. Die Sonne fiel durch das frisch aufgebrochene Birkenlaub auf den gelben Kies des Wegs, und es machte Bierbaum Spaß, in die leuchtenden Sonnenzeichnungen zu treten, die sich ständig und launisch wandelten, so oft die feinen Birkenzweige in der warmen Maibrise auf und nieder schaukelten.

Aber während er so den sonnenflimmernden Weg unter dem zitternden Smaragdlaub der Birken dahinging, wohl zufrieden und beinah ganz wieder er selbst, fühlte er plötzlich, wie etwas die linke Seite seiner Brust berührte, ganz sacht und vorsichtig, wie die Spitze eines Fingers, die leise kitzelnd an einer ganz bestimmten Stelle der linken Brusthöhle über seine Haut strich. Bierbaum machte ein paar rasche, nervöse Bewegungen mit den Schultern; denn er glaubte, es sei sein Unterzeug, das dies kribbelnde Kitzeln verursachte. Jedoch es verzog sich nicht, ward im Gegenteil stärker, fast schmerzhaft eindringlich, schlief unter ein paar kurzen, schnappenden Atemzügen sachte ein, um sich gleich darauf noch tiefer und beunruhigender fühlbar zu machen. Und noch ehe Bierbaum sich hatte fragen können, was dies Beunruhigende eigentlich war, packte eine Hand jäh sein Herz und preßte es zusammen. Ein glühender Stich durchzuckte es. Er wankte, beugte sich, die Hand in der Seite, vornüber und nach links, als beuge er sich über die schmerzgetroffene Stelle. Und durch diese Bewegung, so schien es ihm, rettete er sich das Leben; denn der Schmerz verzog sich langsam und hinterließ nur noch ein siedendes Sprudeln, als ob das Herz in hastigen und unregelmäßigen Schlägen nachholen wolle, was es in den paar kurzen Augenblicken versäumt hatte. Er richtete sich ängstlich auf und atmete vorsichtig; denn der Raum in der Brust war seltsam eng geworden. Er stand und stützte sich auf seinen Stock. Die Beine getraute er sich nicht zu bewegen. Ihm deuchte, als wären sie von einer merkwürdigen Abgestorbenheit befallen, einer Schwere fremdartigen Ursprungs in den Knien, die er nicht zu überwinden und auf gewohnte Art seinem Willen unterzuordnen vermochte. Auch die Umgebung war fremd und anders als zuvor, so fremd, daß er seine Gedanken anspannen mußte, um sich zu überzeugen, daß er sich nicht in eine fremde Stadt verirrt hatte, sondern auf dem Boulevard, gar nicht weit von der Stelle, wo seine Apotheke war, stand. Sogar die Sonne schien anders als zuvor. Der Tag hatte einen matten, fahlen Ton, als ob der Abend hereinbräche. Die dunkeln Flecken und Striche in den weißen Birkenstämmen zeichneten sich so ungewöhnlich scharf aufdringlich in die weiße Rinde, daß Bierbaum die Veränderung gar nicht begriff; die Baumstämme waren ihm doch bisher immer leuchtend weiß erschienen. Eine Weile stand er so und wagte nicht, sich zu rühren, weil er das Gefühl nicht zu überwinden vermochte, daß alles anders war als vorher und daß er selbst außerhalb aller Dinge stand und sie nicht kannte, so, wie er sie bis zu diesem Tag gekannt hatte. Aber allmählich bewegte er sich doch vorwärts, um zu einer Bank zu gelangen. Er wollte erst ein bißchen sitzen und sich erholen, eh er weiter ging. Es konnte auch jemand kommen und ihn da hilflos und verloren auf dem Boulevard stehen sehen. Bedachtsam setzte er die Beine vor sich, als müsse er sich bei jedem Schritt überredend und erklärend an jedes einzelne Bein wenden, damit es geruhte, ihn in der gewünschten Richtung vorwärts zu tragen. Und als er endlich auf einer der ausgebleichten Bänke saß, empfand er es als eine große Erleichterung, daß er weder auf seinen Beinen zu stehen, noch sie zu bewegen brauchte. Er saß schwer auf der Bank, mit schlaffen Gliedern, um sich die mindeste Anstrengung zu ersparen. Es erschien ihm nämlich von Wichtigkeit, jeglichen Verbrauch an Kraft zu vermeiden. Er versuchte an etwas anderes zu denken und begann den silbernen Knopf seines Stockes zu untersuchen. Ihm war, als hätte er eigentlich nie so recht gewußt, wie er in Wirklichkeit aussah, obgleich er ihn so viele Jahre lang in der Hand getragen hatte. Der Stock stand zwischen seinen Knien, wie er ihn hingestellt hatte, als er sich setzte, und er brauchte den Blick bloß ein klein bißchen nach abwärts zu wenden, um die blankgescheuerte und wie ihn deuchte ganz außergewöhnliche Rundung der Linien zu betrachten. Und als er mit diesen Betrachtungen zu Ende war, suchte er unwillkürlich einen andern Gegenstand, um seine Gedanken von dem abzuleiten, woran er doch die ganze Zeit über dachte. Dabei fiel ihm zufällig die alte Festungs- und Klostermauer hinter dem Boulevard ins Auge, und er wunderte sich darüber, daß sie noch stand, wo sie stand. Selbstverständlich wußte er ja gut, daß sie da sein mußte; aber nie zuvor war es ihm so aufgefallen, wie deutlich sie in der Landschaft hervortrat, wie gerade jetzt. Es war, wenn man sie richtig betrachtete, eine sehr hohe Mauer, mit nicht wenigen Schießscharten darin, überhaupt eine Mauer, die ganz anders war, als Mauern für gewöhnlich sind. Wer mag sie wohl gebaut haben? dachte Bierbaum. War es nicht Iwan der Schreckliche, als die Tataren im Lande hausten? Freilich, daher stammen jedenfalls die Schießscharten! Fast hätte er lächeln müssen, als er in einer der Schießscharten zwei Dohlen sitzen sah. Schau, schau! also da haben die Kanaillen ihre Schlupflöcher! dachte er und verfolgte mit den Augen den einen der schwarzen Vögel, der mit heiserem Schrei aus der Schießscharte fuhr und sich über die Mauer schwang.

Bierbaum sah durch das lichtgrüne Spitzenwerk der Birkenkronen, wie er höher und höher stieg, mit Sonnenstreifen über den dunkeln Schwingen. Er schwang sich aufwärts in die blaue Luft, die Bierbaum jetzt genau so blau und klar erschien, wie sie die ganze Zeit über gewesen war. Er dachte nicht mehr an den fahlen Schein von Abend und Tod, der noch vor einem Augenblick über allen Dingen geruht hatte, folgte dem schwarzen Vogel mit den Augen, bis er nur noch als kleiner schwarzer Punkt zu sehen war, der um die höchste Kuppel der Klosterkirchen kreiste und zwischen den goldenen, himmelanstrebenden Kreuzen verschwand. Bierbaum begann jetzt die Kuppeln zu zählen, zählte und fing wieder von vorne an, weil er immer nicht behalten konnte, mit welcher er angefangen hatte. Zuletzt sah er sie alle als ein Ganzes, silberweiß und golden, in der Sonne funkelnd, zusammen gestimmt wie zu einem gewaltigen, auf die blaue Himmelsleinwand gemalten Bild. Er blieb mit emporgewandten Blicken sitzen, als hätte er nie zuvor den blauen Himmel sich über der Erde wölben sehen, und ihn deuchte, während er so saß, als erinnere er sich an irgend etwas aus einem fernen und unfaßbaren Zustand her, in dem er nicht gewußt hatte, lebte er oder träumte er nur, daß er lebe.

Bierbaum blickte zur Seite; er hörte, wie dicht nebenan auf dem Boulevard sich etwas bewegte. Es war eine Bettlerin auf Krücken, mit einem nackten Fuß, der unter dem zerlumpten Rock hervorsah. Bierbaum beobachtete, wie sie sich abwechslungsweise auf einen Fuß und die Krücken stützte. Die Bewegungen wurden dadurch gleichzeitig steif und weich abgerundet, und es schien nicht, als ob diese ungewöhnliche Art der Fortbewegung ihr irgendwelche Beschwerde verursache. Sie streckte die Krücken steif vor sich aus, stieß sie in den Kies des Boulevards und folgte weich und schwebend, in den Achselhöhlen schwingend, hinterher, bis der nackte Fuß wieder festen Boden unter sich hatte. Sie ging sehr rasch, deuchte es Bierbaum, und ob er wollte oder nicht – er mußte sie beobachten, obgleich er sich sonst nie bei Krüppeln und Bettlern aufhielt. Es gab deren so viele in der Stadt, daß man nirgends ungerupft durchkam, wenn man sich wohltätig erwies. Nichtsdestoweniger war es Bierbaum diesmal ganz unmöglich, sich gleichgültig zu stellen. Er entsann sich sehr wohl, daß er dieses Krückenmädchen schon öfter gesehen hatte, genau so wie er sich jetzt verschiedener anderer auffallender Individuen vom selben Schlag entsann, die sein Blick im Lauf der Jahre teilnahmlos gestreift hatte; und ihm war, als empfinde er plötzlich großes Interesse an diesem zerlumpten Mädchen mit dem nackten, wetterbraunen Fuß. Es war ihm geradezu eine Erleichterung, wie er da auf seiner Bank saß und nicht wagte, sich zu rühren, daß keiner von seinen Bekannten vorüber kam, sondern nur ein Krüppel, ein Geschöpf unter dem Maß des Gewöhnlichen, dem gegenüber er sich immerhin noch überlegen fühlte.

»In Jesu Christi Namen, schenken Sie mir eine Kopeke, Herr!« bat das Mädchen mit wimmernder Stimme, als sie dicht vor Bierbaum stand. Sie streckte die Hand aus und blieb, auf die grob zugehauenen Krücken gelehnt, stehen. Die dunkeln Augen funkelten mit einem trockenen, stechenden Glanz in ihrem abgezehrten Gesicht. Arme und Hände waren dünn und mager wie bei einem kranken Kind, und Bierbaum dachte bei sich, wie alt wohl dies Mädchen sein mochte, und ob sie immer an Krücken gegangen war und sich durchs Leben gebettelt hatte. Da er sich jedoch nicht sogleich überwinden konnte, etwas zu sagen, wiederholte das Mädchen fast weinend:

»In Jesu Christi Namen, schenken Sie einem armen Krüppel eine Kopeke, Herr!«

»Wie alt bist du?« fragte Bierbaum vorsichtig; und es bereitete ihm eine nie gekannte Freude, den Klang seiner eigenen Stimme zu vernehmen. Er lauschte auf jedes der Worte, wie sie nacheinander aus seinem Munde kamen, und ihm war, als hätte er seit endloser Zeit nicht mehr gesprochen, sei von Geburt an stumm gewesen und könne nun plötzlich mit einem Mal sprechen wie alle anderen Menschen.

»Zwanzig Jahre, Herr, grade,« antwortete das Mädchen und machte einen Krückenschritt näher auf Bierbaum zu. »Ich bin gleichaltrig mit Anna, die bei Ihnen in der Apotheke als Hausmädchen dient. Wir sind aus demselben Dorf, sie und ich, und haben miteinander gespielt, als ich noch auf zwei Beinen ging.«

Bierbaum lag nicht viel daran, an sein Hausmädchen erinnert zu werden; aber er tat, als wäre nichts, und sagte nur:

»So, so.«

»Ja, und ich war immer die Flinkere von uns beiden und sah viel besser aus als sie. Der Gutsherr wollte mich als Kleinmagd nehmen; aber dann kam das mit dem Bein.«

»Was kam mit dem Bein? Ich meine, wie ist es zugegangen, daß dein Bein so schlimm geworden ist, daß du nicht mehr gehen konntest?«

»Ja, sehen Sie, Herr, im Knie hat es angefangen, und ist dann bis an die Hüfte heraufgestiegen, bis das Bein kürzer wurde als das andere und allmählich auch immer dünner, gleichsam eingeschrumpft. Der Feldscher hat gesagt: wir müssen das Bein abschneiden. Aber Vater hat mir statt dessen die Krücken geschnitzt und gesagt: Geh in die Stadt und verdien' dir dein Brot! Ich kann dich zu nichts gebrauchen mit einem Bein.«

»So hast du also noch beide Beine,« bemerkte Bierbaum, um etwas zu sagen. Er verspürte nur noch geringe Freude beim Anhören seiner eigenen Stimme.

»Ja, Herr, da sehen Sie ...« Das Mädchen hob rasch den zerlumpten Rock in die Höhe, und Bierbaum sah bis übers Knie ein verwachsenes, verkümmertes Bein, das nackt und kraftlos unter dem Leib des Mädchens herabhing. Er wandte den Kopf ab und schloß die Augen; denn an den Anblick derartiger Beine war er nicht gewöhnt. »Die weise Frau hat gesagt,« fuhr das Mädchen fort und lächelte hoffnungsvoll, »wenn ich einen jungen Mann finden könnte, der mich zwei Nächte lang bei sich behielte, so würde mein Bein wieder, wie es war; und ich bin ja noch jung und sehe gut aus, trotz des Beines; also ...«

Bierbaum fiel ihr ins Wort, und jetzt sprach er hastig und angestrengt, als fürchte er, er könne nicht alles sagen, was er doch sagen wollte.

»Komm morgen früh in die Apotheke ... jede Woche einmal ... Du sollst von jetzt ab jede Woche einen Rubel haben ... Aber jetzt geh und hol' mir schnell eine Droschke. Ich habe mir vorhin den Fuß übertreten ... Mach' fix! ...«

Er vernahm undeutlich, wie das verkrüppelte Mädchen sich bedankte und Gottes Segen auf ihn herabrief, hörte, wie ihre Krücken eifrig durch den Kies des Boulevards arbeiteten, während sie sich eiligst entfernte, um seinen Auftrag auszurichten. Aber er blickte ihr nicht nach und blieb unbeweglich sitzen, bis er draußen auf der Straße die Droschke halten hörte. Langsam und bedächtig ging er die paar Schritte über den Boulevard, wobei er mit dem linken Fuß ein wenig hinkte, nachdem er nun doch einmal gesagt hatte, er müsse seines Beines wegen fahren. Dabei dachte er mehr an sein verstelltes Hinken als an das andere, die eigentliche Ursache, weshalb er nicht wagte, sich zu bewegen. Und selbst als er aus dem Wagen und die Treppe zu seiner Apotheke emporstieg, schleppte er das linke Bein nach, als argwöhne er, der kleine jüdische Drogist, der auf der andern Seite der Straße unter seiner Ladentür stand, könne bereits gehört haben, er, Bierbaum, habe sich auf dem Boulevard den Fuß übertreten und habe darum – und aus keinem andern Grund – eine Droschke nehmen müssen.

Sobald er glücklich in seiner Wohnung angelangt war, schickte er nach Doktor Gorlanow. In der Zwischenzeit half ihm Anna, das Hausmädchen, beim Auskleiden und brachte ihm seinen Schlafrock und ein Paar warme Pantoffeln aus Renntierfell. Um allen unnützen Erklärungen auszuweichen klagte er, während sie ihm die Stiefel auszog, über sein Bein und äußerte etwas von warmen Umschlägen und Salbe, falls es nicht vielleicht auch die Nerven wären, mit denen irgend etwas nicht stimmte. Er ließ sich in einen Lehnsessel nieder und legte das Bein auf einen Stuhl vor sich hin. So saß er, bis Doktor Gorlanow gemeldet wurde. Noch immer hinkend, ging er dem Arzt entgegen.

»Guten Tag, Doktor!« sagte er, und streckte eine matte und etwas feuchte Hand aus. »Irgend etwas ist bei mir nicht in Ordnung. Ich fühle mich, offen gestanden, recht schlecht ...«

»Ich glaube, Sie hinken?« erkundigte sich der Doktor, als Bierbaum zu seinem Lehnstuhl zurückkehrte, damit er nicht länger als notwendig zu stehen brauchte.

»Ach, das ist mehr Spielerei! Aber mit den Nerven auf der linken Seite ist irgend etwas nicht in Ordnung – so von oben nach abwärts ...«

»Sie werden doch den Blödsinn von gestern abend nicht ernst genommen haben, Karl Karlowitsch? Das fehlte grade!« Gorlanow blickte seinen Patienten vorwurfsvoll an.

»Was für einen Blödsinn?«

»Na, das mit dem roten Karolinball und ... Übrigens habe ich eben vorhin den Bezirkskommandeur getroffen ...«

Gorlanow kam nicht weiter. Ein Zucken lief über sein Gesicht, als hätte er eigentlich nur einfach lächeln wollen; aber das Lächeln verbreiterte sich immer mehr, bis er zuletzt kurz und stoßweise durch die Nase lachen mußte. Er gab sich die größte Mühe, wieder aufzuhören; aber es gelang ihm nicht. Er mußte den Mund aufreißen, um nicht zu ersticken, und im selben Augenblick fing er auch an, geradezu zu brüllen vor Lachen, lauter und immer lauter, bis es seine breite Brust fast zersprengte. Er sank auf einen Stuhl und hielt sich mit beiden Armen an den Seitenlehnen fest.

Bierbaum blieb ruhig, das linke Bein von sich gestreckt, im Lehnstuhl liegen. Teilnahmsvoll, ohne eine Spur von Ärger, blickte er auf den Doktor. Ihm war, als hätte er sich bisher ein ganz anderes Bild von Gorlanow gemacht als das, was sich ihm jetzt enthüllte. Nicht weil Gorlanow so unbeherrscht lachte, sondern weil in seinem Gesichtsausdruck plötzlich etwas lag, was er zuvor noch nie beobachtet hatte. Als sei mit einem Male die Jugend daraus entwichen und hätte mit ihrer Flucht eine nackte Verzweiflung, ein hilfloses Lebensgrauen aufgedeckt und entblößt, die keiner bisher gesehen, an die keiner bisher gedacht hatte, außer Gorlanow selbst. Und je mehr Gorlanow lachte, desto deutlicher sah Bierbaum diese tiefen Spuren der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit auf seinem Antlitz. Und damit Gorlanow nicht merken sollte, was er dachte, lächelte er, als belustige auch ihn der Gedanke an den Bezirkskommandeur.

»Gut, daß ich nicht auf den Tod liege!« sagte Bierbaum, um zu zeigen, daß er vollständig auf dem Laufenden war. Er fing nämlich an, sich verschiedener Aussprüche und Begebenheiten der vorhergehenden Nacht zu entsinnen. »Oder soll ich es etwa als eine Art Warnung auffassen, daß Sie just an die Geschichte von gestern abend denken müssen?«

»Gott bewahre!« erwiderte der Doktor und trocknete sich die Augen. »Viel eher glaub' ich, die Geschichte kostet mich noch das Leben! Ich ersticke ja einfach vor Lachen!« Er gluckste noch ein paarmal auf, während er sein Hörrohr hervorzog.

»Na also, was meinen Sie, daß Ihnen fehlen soll, Karl Karlowitsch?« sagte er mit seiner gewöhnlichen ruhigen Stimme, und sein Gesichtsausdruck wurde wieder beobachtend und vertraulich wie immer. »Wollen einmal hören, wie es arbeitet?«

Bierbaum entblößte, ohne weiter zu fragen, seine Brust, und Gorlanow beugte sich, aufmerksam in sein Stethoskop horchend, über ihn.

»Haben Sie ein Gefühl, als ob sonst noch irgend etwas nicht in Ordnung sei?« fragte er, indem er sich wieder aufrichtete und vor Bierbaum stehen blieb.

»Nein, das kann ich nicht sagen. Aber es hat mich ein bißchen beunruhigt – beim Spazierengehen. Es war nämlich drauf und dran, still zu stehen.«

»Das ist kein Grund, um sich zu beunruhigen. Das Herz ist ganz gut. Nur die Tätigkeit ist ein bißchen unregelmäßig; das ist das Ganze. Anders kann es ja auch kaum sein. Wenn Sie Familienvater wären und Kinder hätten, würd' ich Ihnen raten, die Zügel ein bißchen straffer zu nehmen; aber alleinstehende Junggesellen wie Sie und ich brauchen ja nicht weiter vorsichtig zu sein, meine ich.«

Bierbaum nickte zweifelnd; und plötzlich blickte er den Doktor scharf an:

»Wenn ich nun aber einfach nicht mehr weiter kann, merke, daß ich sachte tun muß, wenn es nicht schief gehen soll?«

»Tja, dann müssen Sie den Lüsten dieser Welt entsagen, und das je früher, je besser ... Falls es für Sie einen Sinn hat, solange wie möglich zu leben ...«

Bierbaum räusperte sich verlegen und blickte zu Boden:

»Sinn? Sinn? ... Darüber hab' ich noch nicht nachgedacht. Sagen Sie mir lieber, was ich tun soll, damit die Sache wieder ins Gleichgewicht kommt.«

Gorlanow ging ein paarmal mit kurzen Schritten im Zimmer auf und ab.

»Ins Gleichgewicht? ... Hm ... Geben Sie nicht mehr aus, als Sie haben ... am besten weniger ... Trinken Sie Milch und Mineralwasser ... Rauchen Sie weniger und leichtere Zigarren! Schränken Sie sich überhaupt möglichst ein! Gehen Sie zeitig zu Bett und stehen Sie zeitig auf! Sorgen Sie für die nötige Bewegung – ohne Überanstrengung! Vermeiden Sie Gemütserregungen. Treiben Sie Jagd und Fischfang und ähnliche unschuldige Vergnügungen! Sollten die Symptome wiederkehren, so können Sie einen Eisbeutel auflegen und Äther-Baldrian nehmen; im übrigen können Sie das, wenn Sie Lust haben, auch gleich tun. Auch Massage ist gut ... Ich sage das, weil Sie, als Apotheker, ja wissen, was Medikamente taugen. Massage in der Herzgrube und an den Fußsohlen ...« Bierbaum starrte verloren vor sich hin, während der Doktor diese Skizze seines zukünftigen Lebens entwarf.

»So sehen wir uns also vorläufig nicht mehr im Klub!« schloß Gorlanow und drückte seinem bisherigen Zechbruder die schlaffe und willenlose Hand. »Aber ich sehe zu Ihnen herein, so oft ich vorüber komme oder sonst bei Zeit und Gelegenheit. Im übrigen sollen Sie sehen – Sie sind morgen frischer als je!«

Bierbaums Augen wurden feucht, und er flüsterte etwas Undeutliches und Zusammenhangsloses, das Gorlanow sich gar nicht die Mühe gab zu verstehen, da er sich ungefähr denken konnte, was es sagen wollte, und außerdem eine eingehendere Erörterung für unzweckmäßig und schädlich für seinen Patienten hielt.

Bierbaum blieb lange im Lehnstuhl sitzen und starrte vor sich hin. Ihm war die ganze Zeit über, als sähe er Gorlanow noch vor sich, wie er mit einem entschlossenen und lebenslustigen Schwung in dem breiten Rücken zum Zimmer hinaus ging. Er hatte ihm aufmunternd und wohlwollend die Hand gedrückt und war gegangen, ohne sich noch einmal umzublicken, als sei ihm wenig daran gelegen, ob er das, was er da zurückließ, wiedersah oder nicht. Und diesen Abschied, der unter andern Verhältnissen in keiner Weise bemerkenswert gewesen wäre, empfand Bierbaum jetzt mit einem erdrückenden Gefühl der Verlassenheit, als wäre er ein Verurteilter, den man auf einer einsamen Insel aussetzt. Er verschmeckte diese bittere Einsamkeit, ohne weiter über den Ort, an dem er sich eben befand, oder über das, was er die langen Tage und Nächte hindurch anfangen würde, nachzudenken. So unendlich fern lag die Welt, in der er bisher gelebt hatte, so fern, daß alles, was gestern, ja, noch heute morgen geschehen war, ihm wie ein Erleben in einem ganz andern Dasein vorkam. Was war die Ursache, und war es überhaupt etwas, worüber man sich aufzuhalten brauchte? Konnte er nicht einfach aufstehen und sich anziehen und wieder hinausgehen zu Freunden und Bekannten, sich eine Zigarre anzünden, trinken und das Leben genießen wie bisher, unbekümmert, sorglos und in bestem Wohlsein? Was war das für ein Gefühl von Abstand und Öde, das Gestern und Heute mit seiner weglosen Tiefe schied? ...

Bierbaum schloß die Augen und streckte sich im Lehnstuhl aus, um genauer nachzudenken. Ihm war, als sei etwas sehr Trauriges geschehen; als habe er lange geweint und könne nun nicht mehr vor Müdigkeit und Ermattung. Die Zeit stand still, und alles um ihn ward dunkel. Seine Brust hob und senkte sich einschläfernd und beruhigend. Er atmete regelmäßig und langgezogen durch die Nase. Der Pantoffel aus Renntierfell drehte sich, gleichzeitig mit der Zehenspitze, langsam an seinem ausgestreckten linken Fuß und fiel hinunter, ohne daß Bierbaum es merkte oder darüber aufwachte ... Er schlief fest und erwachte erst spät am Nachmittag; und im selben Augenblick erinnerte er sich auch wieder an alles, was in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war, und empfand in seiner Brust dieselbe Unruhe, dieselbe Angst, das Leben könne jäh und unvermittelt ein Ende nehmen, eh er darauf vorbereitet war, es zu lassen. Nichtsdestoweniger verspürte er dabei deutlich, daß er hungrig und durstig war, weshalb er klingelte und eine Flasche Mineralwasser, zwei weiche Eier und ein Stück kalten Stör mit Meerrettig bestellte. Und er fand – allem zum Trotz – daß das Essen vorzüglich mundete. Als er fertig war und zufällig an Tabak dachte, schnitt er von einer Zigarre die Spitze ab und steckte sie in den Mund, um die Entbehrung nicht schmerzlicher zu empfinden, als just nötig war. Aber nachdem er ein bißchen gesogen hatte und der Tabakgeschmack sich über seine Zunge verbreitete, spuckte er die Zigarrenspitze mit einem Ausdruck des Ekels aus und sagte sich, Nikotin sei äußerst schädlich, sowohl für ihn wie überhaupt für alle Menschen ohne Ausnahme. Alkohol war ebenfalls ein Gift, das zu genießen kein vernünftiger Mensch sich einfallen ließ. In Wirklichkeit schmeckte Mineralwasser weit besser, gar nicht zu reden von Milch. Und überhaupt war es die Pflicht jedes Menschen, auf seine Gesundheit zu achten und sie nicht leichtsinnigerweise zu vergeuden, wie z. B. durch Kneipereien und anderweitig im Klub und sonstigen Lokalen durchtollte Nächte. In Zukunft würde er schlafen, wenn Schlafenszeit war, und nicht die Nacht zum Tag machen. Draußen ist's gut, aber daheim ist's besser; und wenn er auch nicht Familienvater war, so konnte man doch auch nicht behaupten, er stehe ganz allein. Er hatte doch Anna, die ihm seine Zimmer in Ordnung hielt, und eine tüchtige Köchin, ganz abgesehen von den Angestellten in seiner Apotheke, auf die man wirklich einmal ein scharfes Auge haben mußte ... Nein, er beneidete die alten Freunde vom Klub nicht! Wenn er in ein paar Tagen wieder gesund war, würde er anfangen, mit Ruppert auf die Jagd zu gehen, und sich an der frischen Luft und der Schönheit der Natur erlaben ...

So tröstete Bierbaum sich selbst, um seine Unruhe und Angst zu verbergen, und je länger er sich dergestalt tröstete, desto mehr deuchte ihn, als habe er immer so gefühlt und niemals Geschmack gefunden an den Dingen, die ihn noch vor knapp vierundzwanzig Stunden völlig ausgefüllt hatten.

Als Anna kam, um den Tisch abzudecken, blickte er sie an, wohlwollend und zufrieden, weil sie einen so leichten Gang und aschblondes Haar und graue Augen hatte; aber darauf wandte er doch den Kopf mit einem halb verlegenen, fast schüchternen Lächeln ab und fing an, in den Papieren und Briefschaften auf seinem Schreibtisch zu blättern. Es waren, wie er sah, ziemlich viele Briefe, teilweise älteren Datums, zu beantworten; aber da er im einzelnen den Tagesbetrieb der Apotheke nicht verfolgt hatte, ließ er seinen Provisor kommen und ging mit ihm die verschiedenen Schreiben und Rechnungen durch. Mit einem Bleistift machte er sich auf jedes Schriftstück, bei dem es etwas zu bemerken gab, Notizen und beauftragte den Gehilfen, die Briefe zu beantworten. Damit brachte er eine halbe Stunde Zeit herum; und als er wieder allein war, begann er im Zimmer auf- und abzugehen, um sich die nötige Bewegung zu verschaffen. Ab und zu blieb er vor dem offenen Fenster stehen und sah auf die Straße hinaus. Er betrachtete aufmerksam die Vorübergehenden, vertiefte sich in die Mystik, die einen von einem Bauern gelenkten und einem Pferd gezogenen Wagen mit vier Rädern umgibt, vertiefte sich so eingehend in die Bewegungen dieses zusammengesetzten Wesens, daß ihn die Empfindung überkam, als bestehe es nicht aus einzelnen toten und lebenden Teilen, die zufällig zusammengekoppelt sind, sondern hätte ein selbständiges Leben und sei in der Form, wie er sie hier vor Augen hatte, zur Welt gekommen. Überhaupt begann ihm das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mensch und Tier und den leblosen Gegenständen, eine gewisse Wechselwirkung zwischen den Dingen, an die er früher nie gedacht hatte, aufzufallen. Es schien ihm, als seien die Grenzen zwischen den Dingen, die seine Sinne umfaßten, dehnbarer, verschwommener, als er bisher angenommen hatte, und als stehe also auch er selber in einem näheren Verhältnis zu den Erscheinungen, als er das noch vor einem Tag erst empfunden hatte.

Bierbaum seufzte, ohne recht zu wissen weshalb, und setzte seine Wanderung hin und her im Zimmer fort. Er ging lautlos auf seinen Fellpantoffeln und hielt mit der Linken den Schlafrock um sich zusammen. Die Rechte ruhte auf dem Rücken, und während er auf und ab ging, öffnete und schloß er sie wechselweise, je nachdem seine Gedanken ungehindert dahin strömten oder vor etwas, das sie hemmte, halt machten. Auf einmal aber fuhr er mit der Hand nach der Brust und begann mit einer leisen, kreisenden Bewegung die Stelle zu kneten, unter der sein Herz unruhig und beängstigend schlug. Wenn er müde war, setzte er sich in den Lehnstuhl, um eine Weile darauf wieder in seinem ruhelosen Gang fortzufahren.

Allmählich wurde es Abend. Das klare Licht des Mittags verblaßte. Die Goldtöne des Sonnenuntergangsschimmers klangen über den Himmel, bis auch sie erstürben und die weiße Nacht ihr mondenkrankes Antlitz in die Stille hob. Und je tiefer die Stille ward, desto näher kam die Nacht. Gaukelnd stahl sie sich auf die Erde. Sie löste ihre milchweißen Schleier und offenbarte die wonnevollen Wunden ihres Leibes, aller Seelen Begehr und Brunst, wenn sie sie anrufen, die weiße Nacht.

Ein Schauer des Schmerzes und Grauens drang durch das offene Fenster, vor dem Bierbaum lange gestanden hatte. Hastig schloß er es, als wolle er etwas hinausschließen. Mit tastender Hand zündete er die Lampe an und zog die dicken Gardinen vor. Seine Lippen bewegten sich, flüsterten, so leise, daß sein Ohr nicht zu hören vermochte, was er zu der weißen Nacht sagte, die er nun aus seinem Herzen ausschloß ...

Bierbaum kam sich mit einem Male sehr alt und hinfällig vor; aber als er nachrechnete, mußte er sich selber sagen, daß es nicht die Jahre sein konnten, die auf ihm lasteten; und wenn er zurück dachte, begriff er gar nicht, daß überhaupt irgend etwas Bemerkenswertes sich ereignet haben sollte, seit man ihn als Junge nach Dorpat in die Lehre gebracht hatte, weil daheim in seinem Vaterhaus in Estland hinter dem Peipussee kein Platz für ihn war ... »Prügel müßtest du haben, Prügel!« hörte er seine Mutter sagen, so oft er um etwas bat oder weinte, weil immer alles so anders für ihn kam, als er es gern gehabt hätte. Er hörte, wie sie rastlos umherlief und über alles und alle schalt: niemand rege die Arme! Sie allein könne den Haushalt nicht bewältigen! Und doch stand das Essen stets zur Zeit auf dem Tisch, wenn sie krank war oder nach Dorpat fuhr, um bunte Kleidungsstücke und geschmacklosen, billigen Schmuck einzukaufen. Vater war fast immer zu Hause. Er war ein Mann von wenig Worten. Bierbaum entsann sich, daß sein Vater, immer ganz anders gewesen war, wenn die Mutter nicht da war. Dann konnten sie beide, der große und der einzige kleine Bierbaum, miteinander tollen, Pferdchen spielen, oder zusammen hinausgehen zu den richtigen Pruh-Pferden und Muh-Kühen, und sie unter sich verteilen, jedem eine Hälfte, als wären die lebenden Tiere richtige Spielzeugtiere. Aber wenn die Mutter wieder zu Hause war und mit Silbermünzen um Hals und Handgelenk rasselte und den ganzen Tag lang jammerte, wie verunrechtet sie sei von allen, da konnte der Vater beim geringsten Anlaß einen hochroten Kopf bekommen und plötzlich auf seinen Sohn losdreschen, obgleich er das einzige Kind war und nichts weiter getan hatte, als daß er von einer rast- und ruhelosen Mutter zur Welt geboren war ...

Eines Tages starb der Vater. Er lag im Bett und konnte nicht mehr aufstehen; weiße Tücher wurden über ihn gebreitet und ein Gesangbuch auf seine Brust vor die gefalteten Hände gelegt. Bierbaum entsann sich noch, daß er damals nicht hatte begreifen können, weshalb der Vater immerzu die Hände gefaltet hielt. Und während er jetzt so stand und dachte, faltete er unwillkürlich selber die Hände, löste sie aber hastig wieder, wie um ja nicht die Gefahr heraufzubeschwören, daß auch er sie nicht mehr auseinander tun könnte, wie der tote Vater ... Er bog den Kopf ein wenig zur Seite, um besser zu hören, wie es in den dunkeln Tannen vor dem Hof gerauscht hatte, als Vaters Sarg auf einen Schlitten geladen und zum Kirchhof gefahren wurde. Viele Schlitten von den Kolonisten- und Pachthöfen der Nachbarschaft waren gekommen; die Pferde stampften in die Tannenzweige, die über den weißen Schnee gestreut waren. Die alte Köchin weinte die ganze Zeit und ihr Gesicht, war ganz rot und verschwollen. Die Mutter weinte ebenfalls zeitweise, schluchzte und jammerte laut; aber die Anfälle dauerten meist nicht lange, weil sie alle Augenblicke für die Bewirtung des Trauergefolges und für eine Menge anderer Dinge draußen und drinnen zu sorgen hatte. »Hier habe ich zu befehlen!« hatte sie zu dem Knecht gesagt, der den braunen Hengst nicht hatte vor den Schlitten spannen wollen, mit dem sie fuhr, weil der Herr es verboten hätte ... »Hier habe ich zu befehlen!« hatte sie gesagt; und Bierbaum entsann sich, daß er schon damals, als Kind, wohl begriffen hatte, wie wenig betrübt sie im Grunde darüber war, daß man Vaters Sarg zum Kirchhof führte und in ein tiefes Loch versenkte, das in die gefrorene Erde gegraben war. Nein, sie war nicht so betrübt darüber gewesen, als sie sich gern den Anschein gegeben hätte; obgleich sie es auch schon vorher verstanden hatte, ihren Willen durchzusetzen ... Jedenfalls, Vater war jetzt tot und nicht mehr da, und sie nahm sich einen neuen Mann ins Haus, viel jünger, aber bei weitem nicht so gut wie Vater, dem er auch gar nicht ähnlich sah, obschon er seine Uhr trug und in seinem Pelz ausfuhr.

Es war kein Raum mehr gewesen für den kleinen Bierbaum; und doch hatte Vater gesagt, er solle den Hof in Estland hinter dem Peipussee haben, wo die dunklen Tannen rauschten ...

Aber weder Hof noch Erbe war ihm geworden. Nichts war für ihn übrig geblieben. In alle Winde verweht war es, während er Flaschen schwenkte und Salben rieb ...

Und nun brauchte er es auch nicht mehr, nun, da er nicht mehr jung und das Leben für ihn so ganz anders geworden war, als er es sich gewünscht hatte. Nun war es einerlei. Nun waren sie alle tot.

Bierbaum wandte sich um und ging auf sein Bett zu, blieb aber unterwegs stehen, um es seinem Bewußtsein noch deutlicher einzuprägen, daß er ein einsamer Mann ohne Familie und Freunde war und daß sein Leben keinem zu Nutz gewesen, weder ihm selber noch irgendeinem andern Menschen. Und nachdem er sich dies endlich vollständig klar gemacht hatte, nahm er die Decke vom Bett, zog Schlafrock und Pantoffeln aus und legte sich in seinen Unterkleidern zur Ruhe; denn schlafen, meinte er, könne er so früh am Abend doch nicht. Sonst half ihm immer Anna, das Hausmädchen, zu Bett, zu welcher Stunde er sich auch niederlegte; aber heute verspürte er kein Bedürfnis, sie zu sehen, mochte nur allein sein mit sich selbst und ungestört. Wer hätte auch denken können, er wolle schlafen, zu einer Tageszeit, da er sonst stets auszugehen pflegte? Nein, schlafen wollte er nicht. Bloß still liegen und ausruhen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

Aber als Bierbaum sich auf die rechte Seite gelegt und so gedreht hatte, daß er die Hand außen auf die Brust legen konnte, da, wo er sein Herz noch immer in gleicher Weise klopfen fühlte, wie es diesen ganzen langen Tag über geklopft hatte, überwältigte ihn ein Verlangen, zu schlafen und zu vergessen. Er schloß die Augen und fing an zu zählen, zählte sehr lange, ohne daß es ihm doch gelang, zu vergessen, wie weit er gezählt hatte. Dann fiel ihm ein, daß es wirksamer sei, die Zahlen mit etwas Lebendem zu verbinden, das eine und dieselbe Bewegung wiederholte, und er dachte einen Augenblick lang an sein Herz, dessen hastige Schläge er unter seiner Hand fühlte. Aber er beeilte sich, an etwas anderes zu denken, z. B. an eine Schafherde vor einem Steinriegel. Ja, vor einer Mauer. Das war ausgezeichnet! In der Mauer ist ein schmaler Ausschnitt mit einer Tränkquelle. Die Schafe nähern sich zum Trinken. Die hintersten drängen vor, so daß die vordersten über die Mauer springen müssen, und manche kommen überhaupt nicht bis zur Tränke. Sie springen über die Mauer, eins hinter dem andern, zweitausend und einundzwanzig alles in allem ... Als Bierbaum nach der andern Seite hinüberschaut, wundert er sich, daß die Hälfte von ihnen schwarz geworden ist. Er hatte gar nicht bemerkt, daß schwarze Schafe darunter waren; aber so war es. Die schwarzen stampfen mit den Vorderbeinen die Erde, und die weißen springen wieder zurück über die Mauer, eintausend und elf. Als sie drüben sind, machen sie Front gegen die Mauer und stampfen ebenfalls mit den Vorderbeinen auf die Erde, wie die schwarzen. Als aber diese nicht nachfolgen, breitet sich Ruhe über alle; als stünden sie ganz still und dächten über etwas nach. Mittlerweile wagt sich ein kleines weißes Schaf aus der Herde hervor und geht bis zur Quelle hin; aber es kann nur ein einziges kleines Maulvoll trinken; denn im selben Augenblick streicht ein Rabe flügelrauschend darüber hin. Erschreckt flüchtet es zur weißen Herde zurück. Und dabei bemerkt Bierbaum, daß das kleine weiße Schaf schwarzscheckig geworden ist; weiß, mit schwarzen Flecken. Aha! denkt er. Also daher kommt es, daß sie schwarz geworden sind! Noch ein paar Maulvoll, und es wäre ebenfalls ganz schwarz geworden. Aber es ist recht gut so; denn jetzt kenn' ich es ein andermal doch wieder ... Die weißen Schafe bemerken ebenfalls, was mit ihrem kleinen Gefährten vorgegangen ist, und wollen ihn nicht mehr kennen. Sie puffen ihn und stoßen ihn und jagen ihn über die Mauer zu den schwarzen. Aber auch die wollen von dem scheckigen kleinen Schaf nichts wissen. Denn sie selber sind kohlschwarz und dichtgelockt, echte Persianer. Sie drängen ihm mit gesenkten Stirnen entgegen und treiben es zurück über die Mauer, dahin, woher es gekommen ist. Die weißen Schafe, die jetzt blendend weiß aussehen wie wundervolle Seidenschafe, senken gleichfalls ihre schneeweißen Stirnen und werfen es über die Mauer zurück zu den schwarzen. Hin und her muß das kleine scheckige Schaf springen, um bald den teuflisch-schwarzen Persianern, bald den himmlisch-weißen Seidenschafen zu entfliehen. Keins will mehr etwas von ihm wissen. Schneller und schneller flüchtet es von der einen zur andern Seite. Und Bierbaum sieht, daß die weißen Flecken in seinem Fell anfangen, eine blaßrote Färbung zu zeigen, als bluteten sie von den Stößen ... Wollt ihr wohl aufhören, das kleine Lamm zu stoßen! ruft Bierbaum der weißen und schwarzen Herde zu; und er läuft so schnell er kann, um das totgehetzte Schaf zu fangen. Aber er kann es nicht erwischen, wie sehr er sich auch anstrengt. Er pustet, kurzatmig, das Herz hämmert ihm in der Brust. Und zuletzt sinkt er auf der Mauer um. Und nun beginnen sämtliche Schafe, die schwarzen und die weißen, über ihn weg oder an ihm vorbei zu springen. Alle wollen sie das kleine, friedlose Lamm stoßen. Es berührt fast nicht mehr die Erde, schwingt sich vogelschnell hin und her über die Mauer. Die Verfolger versuchen, es in der Luft zu erreichen. Höher und höher springen sie, und Bierbaum sieht sie über sich, während er mit hämmerndem Herzen und schnappenden Atemzügen an der Quelle liegt. Aber plötzlich bemerkt er, daß von der einen Seite her eine Koppel roter Hunde und von der andern Seite eine Koppel blauer Hunde kommt. Sie geben Laut und beginnen hinter den Schafen her zu springen, um die zwei aufrührerischen Herden zu sammeln und sie heimzutreiben in die Hürde, in die sie gehören. Aber die Schafe wollen sich nicht sammeln lassen. Höher und höher springen sie, die Hunde hinter ihnen drein. Die Luft über Bierbaum flimmert. Er sieht schwarz und rot und weiß und blau in Streifen und Kreisen, höher und höher, undeutlicher und immer undeutlicher, bis alle die bunten Tiere vor seinen Augen in eins verfließen und gleich einer wolkenumhüllten Herde fern über die dämmernden Himmelsgründe ziehen. »Jetzt sind sie wieder eingepfercht,« dachte Bierbaum bei sich selbst; »und ich muß sehen, daß ich weiterkomme.« Er erhob sich, um zu gehen, bemerkte aber im selben Augenblick den Raben von vorhin. Er saß mitten in der Quelle und platschte mit den Flügeln, daß ihm die Wassertropfen perlend über Rücken und Schwingen flossen.

»Was tust du wieder hier?« fragte Bierbaum. »Du bist mir ein netter Bursche! Erst machst du meine Schafe wild, und hinterher badest du dich in der Quelle!«

»Solltest es auch tun!« antwortete der Rabe und blickte Bierbaum schief an. »Solltest es auch tun! Vielleicht gingen dir dann die Augen besser auf!«

Bierbaum bückte sich und schöpfte Wasser in seine hohle Hand, um sich die Stirn zu kühlen. Er hatte nämlich noch sehr warm. Ihm ward so leicht und frisch und eine Lust überkam ihn, weit durch die Welt zu wandern und neue Dinge zu erleben. Er straffte entschlossen den Rücken, um sich sogleich auf den Weg zu machen. Da fiel ihm der Rabe ein, der noch eben in der Quelle gesessen und mit den Flügeln geschlagen hatte. Erst wollte er doch den Vogel wegjagen. Aber der war nicht mehr da. Statt seiner saß eine große schwarze Katze auf der Mauer und leckte ihre Pfoten. »Hat man je so was gesehen?« murmelte Bierbaum. »Eben war hier noch ein Rabe, und jetzt sitzt eine schwarze Katze da! Dich hab' ich übrigens nicht gerufen!« sagte Bierbaum laut zu der Katze. »Leck' du nur deine Pfoten; und nimm dich wohl in acht. Sonst ruf' ich meine roten und blauen Hunde! ...«

Aber die Katze ließ sich nicht bange machen; sie nieste bloß in die Pfote und betrachtete Bierbaum so forschend und listig, daß er unwillkürlich an sich selber hinunter sah und zu seiner Verwunderung entdeckte, daß er ein Hochzeitgewand so weiß wie der Tag und einen Kranz von schwarzen Trauben über den Schultern trug. Rasch wandte er sich, um zu sehen, wo er war. Er erkannte das Land sogleich: das war die neue, weite Welt mit all den neuen Dingen! Er blickte nicht mehr zurück, sondern machte sich sogleich auf den Weg nach den zwei rosenroten Berggipfeln, die plötzlich am äußersten Rand des Horizonts auftauchten. Die wollte er besteigen! Eiligst wanderte er vorwärts über eine gleichmäßige, baumlose Ebene und dachte an nichts weiter, als daran, sein Ziel zu erreichen, eh' es Abend wurde. Und allmählich, wie er so dahinschritt, hoben sich die beiden Zinnen lockend vor seinen Augen, immer näher und näher, bis er am Fuß des einen Berges stand. »Die Sonne steht noch hoch am Himmel!« dachte er. »Ich komme leicht noch hinauf, eh sie untergeht; und nachher steige ich auf den Zwillingsberg nebenan!« Und er begann sogleich die Anhöhe emporzusteigen. Sie rundete sich nach oben zu in einer feinen und zärtlichen Linie, und er stieg mit leichten Tritten, ohne irgendwelche Anstrengung zu verspüren. Der Berghang war so glatt und weiß, als wäre er mit dem zartesten Seidenstoff überkleidet. Hätte er nicht durch seine Schuhsohlen hindurch gefühlt, daß der Berg warm und sonndurchsättigt war, er hätte geglaubt, in frischgefallenen Schnee zu treten. Weißer und weißer ward es, je höher er stieg. Aber als er sich dem Gipfel näherte, fiel ein rosiger Schimmer über die Weiße, ein hingehauchter Ton, verschleiert und ungreifbar wie ein rubinduftender Tau. »Ah! jetzt seh' ich, woher das kommt!« dachte er, als er ganz oben angelangt war und vor einem Kreis stand, der rund um die rubinstrahlende Spitze des Berges gezogen war. »Ah! Jetzt sehe ich!« wiederholte Bierbaum, löste seine Schuhriemen und stellte seine Schuhe außerhalb des nadelpunktierten Kreises nieder, eh er baren Fußes darüber wegschritt. »Ach, jetzt sehe ich!« fuhr er fort, als er die köstliche Stätte berührte und in dem klaren Rubingrund sein eigenes Spiegelbild erblickte, »daß ich ein König und ein Gott bin, und daß diese Stätte für mich geweiht ist von aller Ewigkeiten Morgen her!« Und er fühlte, daß er ein König und ein Gott war, gekleidet in das Hochzeitskleid der Könige und das Gewand der Götter. Die schwarzen Trauben über seinen Schultern schwollen und schlugen in ein rubinblutendes Laubgeranke aus, das sich um sein Haupt wand und es krönte und erhöhte über alles Wissen und Verstehen. Sein Wesen ward erfüllt von einer Vollkommenheit des Höchsten, und sein Leib ward vollkommen in einer Schönheit, die unantastbar war wie der Höchste selbst. »Ja, seht!« sagte er, als er auf der obersten Stätte der Rubinzinne stand, »alles ist mir untertan, und nichts ist über mir! Mein Wille geschehe in allen Dingen! Jeder Wunsch sei mir erfüllt, sobald ich ihn ausgesprochen habe! Zu mir komme alle Schönheit und Lust und Labe der Welt, wenn ich ihrer begehre, auf daß ich nicht müde werde der göttlichen Höhe meiner Einsamkeit! Jedwedes Wunder geschehe, wenn ich gebiete! Tot soll lebend werden und lebend tot! Krumm soll sich aufrichten und grade soll sich krümmen! Ja, Lahme sollen gehen, wenn ich es gebiete, und sollen ihre Krücken von sich werfen und mich lobpreisen! Das schwöre ich bei meiner Unantastbarkeit und gelobe es dir, du antastbare Welt! Und zum Zeichen will ich mich beugen und niederknien in meinem eigenen Heiligtum und mit meinem Mund meinen Willen besiegeln! ...« Und er kniete nieder und berührte mit seinen Lippen die heilige Zinne des Berges. Lange blieb er so in Gebet und Andacht liegen, seinen eigenen Gedanken lauschend, die fern in der Rubintiefe widerhallten gleich einer strömenden Tonflut, und im Perlmuttertanz der Quelle emporstiegen zu seinem Ohr. Endlich erhob er sich, und im selben Augenblick schoß aus der Stelle, die seine Lippen berührt hatte, ein silberklarer Blütenstengel auf, der sich zart und wundervoll reckte, bis er sich schmachtend neigte und eine milchweiße Blüte voll rieselnden Perlenstaubs entfaltete ...

»Das ist das Zeichen meiner Kraft und meines Willens!« sagte er und hielt seine Hand unter den rieselnden Perlenstaub. »Und da nun alles vollkommen ist hier, will ich mein zweites Reich in Besitz nehmen, wie es von Anbeginn meine Absicht war! ...« Er schaute über das Tal weg zur Rubinzinne des Zwillingsberges hinüber: »Und um nie wieder andere Erde zu betreten, als die mir geweiht ist, will ich hinüberschreiten durch das luftige Meer, das meine Zinnen umwogt!«

»Das kannst du wohl!« ertönte eine heisere Stimme, und vor ihm stand flügelrauschend der Rabe in der Luft. »Das kannst du wohl! Tritt auf mich! Ich trage dich hinüber!«

Und Bierbaum, der seine kleine, unansehnliche irdische Hülle weit hinter sich gelassen hatte und nur von einer königlichen Schönheit und göttlichen Machtvollkommenheit erfüllt war, trat auf des Raben Rücken und ließ sich erhobenen Hauptes, ohne Schwindel zu verspüren, über den Abgrund tragen.

»Was ist das für ein Tal tief zwischen meinen Gipfeln?« fragte er den Raben.

»Es ist die Brust der Erde, Herr!« erwiderte der Rabe.

»Ich kenne sie nicht. Ich kenne nur meine Zinnen, und meine Füße berühren nichts anderes als sie!«

»Jetzt bist du da!« sagte der Rabe und ließ sich auf dem andern Rubingipfel nieder.

»Au!« sagte Bierbaum beim ersten Schritt, den er machte, nachdem er vom Rücken des Raben abgestiegen war. »Ich hinke ja auf dem linken Bein!«

»Du bist fehl getreten,« entgegnete der Rabe. »Sieh dich vor, wohin du die Füße setzest! Der Boden ist etwas uneben, fast ein bißchen verwittert. Der Gipfel hier ist nämlich älteren Datums als der, von dem wir kommen. Hier hast du übrigens einen Stab, auf den du dich stützen kannst; denn ich sehe schon, daß du sonst nicht über die Risse weg kommst. Außerdem hast du ja deine Trauben. Bei deinem gegenwärtigen Standpunkt sind sie kein schlechter Trost.« Der Rabe riß sich mit dem Schnabel eine Feder aus dem Flügel und steckte sie Bierbaum in die Hand: »Nimm die! So werden dir die Augen schon besser aufgehen!«

»Soviel sehe ich schon, daß dieser Gipfel mir nicht behagt,« erklärte Bierbaum zornig. »Führe mich zurück zu dem, von dem wir gekommen sind! Ich fühle, daß das strahlende Laub um meine Stirn an dieser unfruchtbaren Stätte welkt.«

»Dich zurückführen kann ich beim besten Willen nicht. Jener Gipfel gehörte deiner Jugend an; und über die bist du jetzt hinaus, was dir auch das welke Laub um deine Stirne sagt. Jetzt mußt du mit diesem Ort vorlieb nehmen. Allen ist es so ergangen vor dir, Menschen und Königen und auch Göttern – von Apothekern gar nicht zu reden. Früher oder später komme ich und hole dich, nämlich wenn du zurück mußt zu deinem Ursprung, wo wir uns am Beginn deines Tages begegneten; aber es kann immerhin noch eine Weile dauern!« Damit verschwand der Rabe, eh Bierbaum Zeit fand, noch etwas zu sagen.

»Na ja, so wart' ich eben so lange,« dachte Bierbaum. »Inzwischen will ich mich auf diesem ältlichen und verwitterten Gipfel umsehen, obgleich er mir, wie gesagt, nicht behagt. Rot ist er, mit einem Stich ins Bräunliche, und die Farbe wäre soweit ganz gut, wenn bloß nicht alle diese Runzeln wären und ich nicht hinkte. Aber ich habe ja einen Stock, auf den ich mich stützen kann; und die Trauben sind noch nicht ganz verschrumpelt, wenn auch das Laub welk ist ...« Bierbaum pflückte ein paar Trauben aus dem Kranz, der um seine Schultern hing, und je länger er ihren bittersüßen Saft einsog, desto mehr schwand sein Mißmut über die trostlose Stätte, an der er sich nun befand. Ja, er vergaß, daß er es je besser gehabt hatte, fand es ganz natürlich, daß er hinkte und daß der Berg kühl zum Berühren und von Zeiten und entschwundenen Freuden gefurcht war. Und obgleich er langsam und mit Mühe, auf seinen Stab gestützt, dahin ging, schien es ihm dennoch, als käme er rasch voran auf dem unebenen Boden, und als wäre es der Mühe wert, sich eingehender über die Verhältnisse an diesem Ort zu erkundigen. Er war noch nicht besonders weit gelangt, als er einen Laut vernahm, wie wenn jemand ganz in seiner Nähe gegen das Gestein haue. Lauschend und spähend hinkte er vorsichtig weiter, bis er erschrocken stehen blieb vor dem Anblick eines rothaarigen Kindes, das in einer Grube saß und Steine klopfte.

»Wer bist du?« fragte er ängstlich und hob seinen Stock.

»Ich bin eins von den scheckigen Kindern,« antwortete das Kind in der Grube und sah von seiner Arbeit auf.

»Aber was tust du denn da?«

»Ich breche Brot für meine Brüder dort drüben!« Und das Kind deutete mit dem Finger; Bierbaum jedoch sah nichts in der angegebenen Richtung.

»Ich sehe nichts.«

Das rothaarige Kind nahm einen Steinsplitter und warf ihn in derselben Richtung, nach der es soeben gedeutet hatte. Aber Bierbaum sah noch immer nichts. Das Kind warf darum noch ein paar Steinsplitter gegen den Berggipfel zu. Jetzt entdeckte Bierbaum einen weiß-und-schwarzen Kopf, der aus einer andern Grube auftauchte. »Ist das dein Bruder?« fragte er; denn ihn deuchte, der Kopf sähe so sonderbar aus.

»Ja, das ist das kleine Lamm, das keiner anerkennen will, weil es zwei Väter hat!«

»Gott behüte! Was redest du da, Kind! Komm', wir wollen es uns ansehen. Vielleicht, daß ich es anerkenne!«

»Jetzt ist es zu spät! Es läßt sich nicht mehr ändern. Rühr' es nicht an, sonst läuft es uns wieder davon und wird hin- und hergehetzt zwischen Tag und Nacht, bis es ganz daran verblutet!«

»Ja, ja,« beeilte sich Bierbaum zu sagen und hob seinen Stock, um dem Kind Schweigen zu gebieten. »Erschreck' es nur nicht, das kleine Lamm! Ich habe selber vorhin gesehen, wie es zwischen Tag und Nacht hin- und hergehetzt wurde ...« Er starrte nachdenklich vor sich hin und strich dem Kind über das rote Haar: »Sag' mir, mein Kind,« fragte er zögernd, »wie ist es zugegangen, daß du an diesen Ort gekommen bist?«

»Nun,« sagte das Kind, »mein Vater war nicht mein Vater, verstehst du ...«

»Aber du hast doch einen Vater gehabt!«

»Ja, aber einen andern, einen, dem sein Herz abhanden gekommen war.«

Bierbaum griff hastig nach des Kindes Hand und preßte sie gegen seine Brust, da, wo das Herz stark und bewegt klopfte: »Fühlst du es? Kannst du es merken? Fühlst du deines Vaters Herz, mein Kind! ...« Er drückte das Kind eng an sich.

»Still! Da kommt die Wärterin!« flüsterte das Kind, riß sich los und kroch in seine Grube hinunter.

Bierbaum blickte zur Seite; denn er hörte, wie etwas sich bewegte. Es war ein altes, runzliges Weib auf Krücken, mit einem nackten Fuß, der unter den zerlumpten Röcken hervorhing. Sie näherte sich rasch, streckte die Krücken steif vor sich her und folgte weich und schwebend, in den Achselhöhlen schwingend, hinterher. Er erinnerte sich ganz genau, daß er dies Krückenweib schon einmal gesehen hatte, und wollte sie fragen, ob es besser geworden sei mit ihrem welken Bein; aber sie kam ihm zuvor:

»O Herr, ich habe schon so lang auf dich gewartet und hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben. Aber ich dachte mir, daß du gehen würdest, nach den Kindern zu sehen. Darum habe ich sie mit mir genommen an diesen Ort, wo ich wußte, daß du vorüberkommen mußtest, weil es keinen andern Weg gibt. O, Herr, du mußt mir helfen; denn ich habe sonst niemand finden können. Sieh', ich bin jung und schön noch auf viele Nächte hinaus, geschweige denn auf zwei! Sieh mich an und bleibe bei mir, damit ich nicht vergebens gehofft habe! Bleibe bei mir, mein Herr und herrlicher König!«

»Die weise Frau hat dich betrogen,« antwortete Bierbaum unwillig und blickte zur Seite. »Und wenn ich dich zweimal tausend Nächte bei mir behielte, so würdest du ebensowenig deine Rüstigkeit wieder erlangen wie eine Bucklige, deren Rücken auch nicht in zweimal tausend Nächten grade wird! Ich weiß das besser als jeder andere! Aber damit du nicht beschämt von mir gehen sollst, will ich dich auf andere Weise meiner Kraft teilhaftig werden lassen. Siehe, ein Wunder wird geschehen, und du wirst frei und ohne Krücken gehen auf diesem Gipfel, wohin es dich lüstet ... Sieh', ich hebe meinen Zauberstab ...« er hob seinen Stab und sprach mit lauter Stimme: »und gebiete: wirf deine Krücken von dir!«

Aber als er das sagte, zerbrachen die Krücken des Weibes, und sie sank mit einem Schrei zur Erde und blieb hilflos und außerstande, wieder aufzustehen, liegen.

»Ein böser alter Mann bist du und kein König!« schrie das Weib. »Du willst ein Wunder an mir tun, der du selbst lahm und kahl bist und befleckt von faulen Trauben und beschmutzt vom Speichel des Lebens! Du hast mich zu Boden geworfen, richte mich auch wieder auf!«

»Das kann ich nicht. Die Kraft, die im Stabe wohnt, ist nun einmal nicht anders,« entschuldigte sich Bierbaum.

»Du schuldest es mir, daß du mich aufrichtest! Willst du mich hier liegen lassen und dich von mir wenden? Gib mir deine letzte Kraft! Richte mich wieder auf! Gib mir dein Herz!«

»Das ist mir leider abhanden gekommen,« sagte Bierbaum kalt.

»Betrüger!« rief das Weib außer sich, »Betrüger! Sieh' nach in deiner Tasche!«

Bierbaum steckte unwillkürlich die Hand in die Tasche und schloß die Finger um etwas, das darin lag; was, wußte er nicht. Bedächtig zog er die Hand heraus, hielt sie sich vor die Augen, spreizte die Finger und schrie so laut und entsetzt auf, daß er daran erwachte:

»Mein Herz! Ah ... mein Herz!«

Im Erwachen hatte er sich im Bett aufgerichtet und saß nun und wiegte sich hin und her, als hätte er eine Wunde, die ihn schmerzte.

»Ah, mein Herz! Ah, mein Herz!« wiederholte er immer wieder und rieb die kranke Stelle. »Was war das für wirres Zeug, das mir geträumt hat! Ich glaube, ich fange an zu spinnen!«

Er versuchte, sich das, was er geträumt hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen, sprang aber statt dessen auf den Boden, weil er mit unabweisbarer Sicherheit fühlte: wenn er sich daran erinnerte, so mußte er in ein Dunkel versinken, aus dem er nie wieder das Licht des Tages erblicken würde. Er versuchte im Zimmer auf und ab zu gehen, verspürte aber wieder dieselbe Schwere in den Knien wie am Vormittag auf dem Boulevard und ward von derselben Angst gepackt, sein Leben plötzlich zerbrochen zu fühlen. Er sah sich um, als sei etwas Unsichtbares und Feindliches um ihn, das, gedeckt vom rastlosen Gang der Uhr über die Sekunden, ihm nachschlich, sich an ihn drängte, seinen Rücken mit einem kälteschauernden Tasten berührte. Vielleicht sind es die alten Einbildungen von der Mitternachtsstunde, dachte er, um sich zu beruhigen und blickte nach dem Zifferblatt der Wanduhr, das in dem gedämpften Schein des Lampenschirms grünlich schimmerte. Aber er wußte, daß es etwas anderes war als die Mitternachtsstunde, und er lauschte angestrengt auf den unerbittlich eiligen Gang der Uhr über die Zeit hin, um zu ergründen, was es war, das schleichend damit Schritt hielt und so stumm und staubleicht wie rinnende Sandkörner in die Fußspuren der Sekunden fiel ... Und plötzlich überkam ihn ein unüberwindliches Grauen davor, allein zu sein mit sich selbst. Er preßte die Hand gegen den Knopf des Läutapparats, preßte so fest, als hänge sein Leben davon ab, daß er diesen Knopf nicht losließ, bis jemand kam, um ihn aus seiner Einsamkeit zu erlösen. Er dachte nicht mehr daran, sich zu verstellen, spürte überhaupt nichts anderes mehr in seinem Bewußtsein als ein verzehrendes Verlangen, einen gesunden und lebendigen Menschen dicht neben sich zu fühlen. Seine Augen hingen an der Tür wie die eines zum Tode Verurteilten, der auf Begnadigung hofft und fürchtet, sie möchte zu spät kommen und das Beil könne zu früh fallen. Und erst als sich leise die Tür auftat und Anna in ihr erschien, nahm er die Hand vom Knopf und legte sich unter dem Eindruck einer unendlichen Erleichterung wieder in sein Bett. Er achtete nicht auf Annas offenes, aschblondes Haar, das, noch gekräuselt vom Flechten, über ihre nackten Schultern und ihr ausgeschnittenes Hemd fiel. Er sah nicht das verborgene Lächeln um ihren lüsternen Mund, nicht die Funken in ihren grauen Augen, die jetzt, wie immer, wenn sie zur Nachtzeit über seine Schwelle trat, zwischen Scham und Bereitwilligkeit flackerten; er sah nicht, daß sie erschrocken stutzte, als sie ihm nah genug war, daß sie sein verzerrtes Gesicht und seine erloschenen Augen bemerkte.

»Ich bin nicht wohl, Anna,« flüsterte er und wiederholte es lauter, als tue es ihm gut, es zu sagen.

»Was fehlt Ihnen, Herr?« fragte Anna und sah bekümmert aus, weil sie im Hemd da stand und von hierzu so gar nicht gehörigen Dingen reden sollte.

»Hier tut es mir weh!« Er legte die Hand auf die Brust. »Setz' dich zu mir und reibe mich vorsichtig. Deine Hand ist so leicht und ich selber kann nicht dazu kommen. So mußt du reiben!« Er nahm ihre Hand und führte sie über sein schmerzendes Herz: »So! Das hilft! Hör' nicht auf, sonst, glaube ich, zerbricht es.«

»So, Herr? So?« fragte Anna und begann langsam und unsicher das Herz ihres Herrn zu reiben.

»Ja, ja!« bekräftigte Bierbaum, indem er seinen rechten Arm um Annas Leib legte und sich, während sie halb über ihn gebeugt auf dem Bettrand saß, eng an sie drückte.

Es erweckte eine kindliche Ruhe und Sicherheit in ihm, daß er ihrem jungen warmen Körper so nahe war, und ihm schien, als ströme durch den Arm, der sie so fest umschloß, ihre Gesundheit und Jugend stärkend in ihn über und breite sich durch sein ganzes Sein. Er dachte an nichts als an die Nähe eines gesunden und lebendigen Menschen, der ihn mit der lebensvollen Weichheit seines Körpers gegen Einsamkeit und Verlorenheit schützte. Er fühlte sich behaglich, matt und müde, wie nach einer langen Wanderung, und lag still, mit geschlossenen Augen, während die Hand des jungen Weibes lindernd über sein Herz strich. Allmählich folgte er den stetig kreisenden Bewegungen der Hand, bis er in einen Halbschlummer sank und schließlich so fest einschlief, daß er nicht merkte, wie Anna sich aus seinem Arm los machte und fortging ...

Als er aufwachte, sah er, daß ein neuer Tag vor den Fenstern stand. Kleine, dünne Sonnenstrahlen bohrten sich nadelspitz durch die dichten Gardinen und fielen leuchtend über den Fußboden. Bierbaum sah nach der Uhr. Es war schon spät. Er lag noch eine Weile still und dachte nach; denn es war ihm nicht ganz klar, ob er eingeschlafen war, eh Anna ihn verlassen hatte oder erst nachher. Immerhin – er hatte geschlafen und fühlte sich bedeutend besser als in der Nacht, obschon er bei weitem nicht hätte behaupten können, daß er sich wohl fühlte. Unter allen Umständen wollte er aber aufstehen und ein bißchen hinaus an die Sonne gehen, wenn er gefrühstückt hatte. Also erhob er sich aus dem Bett und wusch sich sorgfältig; denn er entsann sich, daß er sich zwei Tage und zwei Nächte lang kaum ordentlich gewaschen hatte. Als er damit fertig war, begann er sich zum Ausgehen anzukleiden, zog reine Wäsche und ein reines Hemd an, schlüpfte in die gestreiften Beinkleider aus englischem Stoff, die er sonst für den alltäglichen Gebrauch nicht trug, und band eine frischgeplättete weiße Krawatte um; denn die alte schwarze war zerknüllt, und heute wollte er eine weiße haben. Ehe er Weste und Gehrock anzog, klingelte er nach seinem Frühstück.

»Guten Morgen, Anna!« sagte er, als Anna hereinkam und mit niedergeschlagenen Augen stehen blieb, ungewiß, was der Herr wohl dazu sagen würde, daß sie ihn in der Nacht so ohne weiteres verlassen hatte.

»Es geht mir heute viel besser,« fuhr Bierbaum fort; »es hat prächtig geholfen, Anna! Du sollst auch eine neue Bluse haben!«

»Danke, Herr!« erwiderte Anna und sah auf.

»Ja, es geht mir besser, wenn auch – das weiß der liebe Gott – lange nicht so gut, wie es sollte. Aber ich möchte doch versuchen, ein bißchen gekochte Milch mit Kakao zu trinken und ein paar Schnitten Brot und ein weiches Ei zu essen, eh ich ausgehe. Bring' es mir auf einem Tablett hier herein!«

»Sogleich, Herr!« sagte Anna und eilte hinaus, um dem Wunsch ihres Herrn nachzukommen.

Als sie zurückkam, war Bierbaum vollständig angekleidet und begann sofort mit gutem Appetit zu essen und zu trinken.

»Du brauchst nicht zu warten,« sagte er zu Anna. »Ich brauche nichts weiter.«

Als er fertig war, stand er auf und öffnete das Fenster. Er blieb lange stehen und blickte hinaus in den Sonnenschein, als freue es ihn ganz besonders, daß Sonnenschein war und daß er vollständig angekleidet und gewaschen und immerhin ziemlich frisch und wohl nach den Prüfungen der letzten Tage hier stand und darauf hinausschaute. Dann wandte er sich um, denn er hörte Anna kommen:

»Herr,« sagte sie, »die Krücken-Olga ist in der Küche und sagt, Sie hätten ihr einen Rubel versprochen; für heute einen, und von jetzt ab jede Woche einen.«

»Das ist auch wahr, das hab' ich ihr versprochen!« gab Bierbaum zu und fühlte sich dabei von irgendeiner dunkeln Vorstellung, die spukhaft in ihm auftauchte, peinlich berührt. »Das hab' ich ihr versprochen!« wiederholte er und gab Anna einen Rubel. »Und will es auch halten,« fügte er hinzu, indem Anna sich entfernte. Er blieb stehen und sah vor sich hin, während er darüber nachgrübelte, was es wohl sein mochte, an das Krücken-Olga ihn erinnerte. Aber es wollte ihm nicht einfallen. Er hatte bloß ein unklares Empfinden, daß es etwas war, das irgendwie mit seinem Zustand zusammenhing, und daß es am besten war, wenn er gar nicht daran dachte. Aber just deshalb konnte er es nicht lassen; und je mehr er dachte, desto mehr empfand er diesen geheimnisvollen und unheimlichen Zusammenhang zwischen sich selber und Krücken-Olga. Es erschien ihm von äußerster Wichtigkeit, daß sie bekam, was er ihr versprochen hatte, weil sie ihm am vorhergehenden Tag die Droschke besorgt hatte. Sie hatte ihm geholfen in einer Situation, in der er der Hilfe bedurfte; und er wollte nicht, daß sie in der Stadt herumlief und ihn schlecht machte. Das würde ihm sehr unangenehm sein; namentlich, wenn er in Betracht zog, daß er sich nicht mehr darauf besinnen konnte, was sonst noch zwischen ihnen beiden war. »Was war es doch gleich, was sie zu mir sagte?« murmelte Bierbaum und preßte die Hand gegen die Stirn. »Wo hab' ich sie nur gesehen?«

Er wurde unterbrochen von Anna, die zurückkam.

»Einen schönen Gruß und sie läßt danken und fragen, ob der Herr nicht ein paar alte Kleider für sie hätte?«

»Alte Kleider?« wiederholte Bierbaum und sah fragend über seine Brillengläser weg.

»Ja. Sie sagt, sie wolle heiraten,« erklärte Anna mitleidig und lächelte.

»Ach so! Jawohl, sie will heiraten!« rief Bierbaum, als wisse er genau Bescheid um die Heiratspläne des verkrüppelten Mädchens und fühle sich verpflichtet, sie nach bestem Vermögen zu fördern. »Na ja, laß sehen: hängen nicht noch ein paar Kleider drinnen im Schrank, von früher her? Wo sind meine Schlüssel?«

»Hier!« erwiderte Anna und reichte ihm die Schlüssel, die auf dem Schreibtisch lagen.

»Wart' einen Augenblick!« sagte Bierbaum und eilte in das Zimmer nebenan. Es war seinerzeit das Ankleidezimmer seiner seligen Frau gewesen, und alles stand noch am selben Platz, wie es zu ihren Lebzeiten gestanden hatte. Ganz gewiß gedachte Bierbaum niemals der Verstorbenen; aber ihre kleinen Besitztümer hatte er unverändert stehen lassen, wie sie standen; sie waren ihm nicht im Weg. Außerdem fand er auch, es sähe nicht gut aus, wenn er Änderungen vornähme oder dies oder jenes weggäbe, bloß weil er keine Verwendung mehr dafür hatte. Man hätte das als Mangel an Pietät der Verstorbenen gegenüber auslegen können; und dem wollte er sich nicht aussetzen.

Heute jedoch schien Bierbaum keinerlei derartige Bedenken mehr zu hegen. Er probierte ungeduldig einen Schlüssel um den andern in dem großen Mahagonischrank, bis er endlich den fand, der ins Schloß paßte. Als die Türen sich in den Angeln drehten, schlug eine eingeschlossene Luft von getragenen Kleidern ins Zimmer heraus, und einen einzigen Augenblick lang hatte Bierbaum die eindringliche und verwirrende Empfindung, als hätte die Tote sich soeben erst umgekleidet und sei, einen gewürzigen, leibhaftigen Duft ihres mißgestalteten Körpers zurücklassend, zur Tür hinausgegangen. Aber er hatte nicht Zeit, sich eingehender in diese Eindrücke zu vertiefen; denn weit wichtiger erschien es ihm, einen passenden Anzug für das lahme Mädchen auszusuchen, das drunten in der Küche saß und wartete. Er blätterte eifrig in den Kleidern, die in Reih und Glied im Schrank hingen, schob sie auf der Querstange hin und her, musterte sie kritisch und abmessend, als hätte er einen Ausverkauf fertiger Anzüge vor sich und müsse einen Kunden von schwierigem Geschmack bedienen. Zweimal ging er die ganze Reihe durch, eh' er sich für ein weißes Sommerkleid mit Spitzen am Hals entschied. Als er es heraus nahm, fielen aus dem obersten Fach des Schranks ein grauer Strohhut mit rotkariertem Seidenband und ein paar cremefarbener Handschuhe auf den Boden. Rasch bückte er sich nach dem Hut und den Handschuhen und schob beides zusammen mit dem Sommerkleid unter den linken Arm, während er mit der Rechten den Schrank sorgfältig zumachte und abschloß.

»Da, sieh her,« sagte er, als er wieder zu Anna hinauskam. »Das wird ihr passen, denke ich.«

»Du lieber Gott! Die schönen Sachen soll sie haben?«

»Allerdings! Bring' es ihr gleich!« befahl Bierbaum. »Sie will ja doch heiraten.«

»Das sagt sie doch nur so, Herr! Sie ist nicht recht im Kopf ...«

»Einerlei. Tu, wie ich dir sage!« schnitt Bierbaum das Gespräch ab und wandte sich um. »Ja, und sag' ihr auch, sie könne jede Woche kommen und sich einen Rubel holen!« rief er hinter Anna her.

Aber wenn sie mich nun überlebt! durchfuhr es ihn mit einem Mal. Wozu ja freilich keine Aussicht vorhanden ist, bei der Auszehrung, die sie hat. Was dann? Wer gibt ihr den Rubel, wenn sie mich tatsächlich überleben sollte trotz alledem? Überhaupt, zum Teufel – wer soll einmal erben, was ich hinterlasse, wenn es soweit ist? Er ward rot bis über die Stirn, so fühlte er sich überwältigt von dieser ganz unerwarteten Frage, die er bisher nie an sich gestellt hatte, ausgenommen das eine Mal, als er und seine verstorbene Frau gegenseitig ein Testament zu Gunsten des Überlebenden gemacht hatten. »Das muß ich sagen!« fuhr er fort, »gesetzt den Fall, ich wäre nun einfach gestorben, ohne etwas Schriftliches zu hinterlassen! Das wäre ein gefundenes Fressen gewesen für den Staat oder möglicherweise auch für ein paar Vettern von irgendwelchen unbekannten Halbvettern in Estland, wo kein Platz für mich war! Nein, da wird nichts daraus!«

Seine Hände zitterten vor Aufregung, während er seine Schreibtischschieblade herauszog und nach einem großen Bogen Papier suchte. Als er ihn gefunden und vor sich ausgebreitet hatte, tauchte er die Feder ein und begann zu schreiben:

»Alles, was ich nach meinem Tode hinterlasse, gehört den aus der Ehe der Gärtnersleute Ruppert, hiesiger Stadt, hervorgegangenen zwei ...« Er überlegte: »Zwei? Ja; denn das zweite Kind ist ja wohl ebenfalls das meine, wenn es auch ein bißchen scheckig ausgefallen ist ... Jedenfalls erkenne ich es an!«

Er wollte fortfahren zu schreiben, setzte die Feder aufs Papier und kreiste suchend mit ihr umher, bis er es aufgab und sie aufs Schreibzeug zurücklegte. »Nein! Der Sicherheit wegen werd' ich heut' nachmittag zum Notar gehen und es aufsetzen lassen, wie es sich gehört!«

Er stand auf und schnupperte gedankenvoll in die Luft hinaus: »Was war es doch, woran ich dachte, vorhin, als ich im andern Zimmer war? Ach ja – ich wollte hinuntergehen und nach den Rosen sehen. Ich bin dies Jahr noch gar nicht dortgewesen, und die Sonne scheint so warm auf die Bank an der Südmauer.«

Draußen im Flur nahm er Hut und Stock und stieg die Treppe hinab. Er ging vorsichtig und stützte sich auf den Stock, während er sich mit der andern Hand am Geländer festhielt, da er fortwährend die Empfindung hatte, als sei sein Oberkörper schwerer geworden, und als folgten die Beine, vor allem das linke Bein, nicht so willig mit wie ehedem.

Als er in den Hof kam, begegnete er Ruppert, der mit einem großen Hecht über den Nacken durch die Pforte von der Straße her kam. Ruppert zog tief die Mütze:

»Guten Tag, Karl Karlowitsch! Hier bring' ich Ihnen einen Hecht! Ich war ein bißchen drunten am Fluß!«

»Das ist ja großartig, Ruppert, ganz großartig! Just heut' morgen dachte ich noch an Fisch. Warte nur, bis ich mich wieder frischer fühle; ich meine, bis das Wetter besser wird und die Jagd anfängt; dann komm' ich selber mit hinaus und seh' mich in Gottes freier Natur um!«

Ruppert schaute seinen ehemaligen Herrn und immerwährenden Beschützer zweifelnd an und nickte darauf vor sich hin, wie um zu erkennen zu geben, daß von seiner Seite kein Hindernis im Weg stand.

»Jawohl, verlaß dich drauf, Ruppert! Ich geh' mit dir auf die Jagd. Gleich morgen wollen wir zusammen nach der Stadt und Gewehr und Jagdtasche kaufen. Auch um einen guten Hund für mich kannst du dich umtun!«

Ruppert nickte wieder, diesmal bestimmter, weil er einsah, wenn man schon morgen eine Jagdflinte einkaufen wollte, so war es ernst gemeint. Und wieder zog er die Mütze tief, während Bierbaum sich umwandte und in der Richtung nach dem Rosengarten weiterging.

Bierbaum öffnete die Pforte und schloß sie sorgsam hinter sich zu, eh er den Weg zwischen den Rosenbeeten hinabschritt. Als er ein paar Schritte gegangen war, stand er still und betrachtete aufmerksam die Knospen einer hochstämmigen Rose, befühlte sie darauf vorsichtig, als wäre in ihm ein plötzliches Interesse an ihrer Entfaltung und Blüte aufgegangen. So näherte er sich allmählich der Südmauer, wo die Bank stand, auf der es sich, allem nach, was er gehört hatte, so gut und warm saß. Aber indem er weiterging, blieb er ab und zu stehen, sog die Luft durch die Nase ein, schnupperte wiederholt, als verspüre er die Nähe von etwas Bekanntem und Vertrautem und könne sich doch nicht darauf besinnen, was es war. Er sah sich nach allen Seiten um, wandte sich hin und her, konnte aber nichts bemerken, das ihm hätte erklären können, woher dieser schwach-würzige Duft kam, der geisterhaft über sein Erinnern lief und ungreifbar und flüchtig wie ein Ahnen seinen Faden durch die stillstehende, sonnendurchtränkte Mailuft spann. Er tat ein paar zögernde, unsichere Schritte nach vorwärts, blieb aber jählings stehen und riß die Augen unnatürlich weit auf, weil es ihm vorkam, als schimmere etwas hinter den Rosenbüschen an der Südmauer, als rege sich dort etwas, lautlos und geheimnisvoll.

Er machte noch ein paar hastige Schritte vorwärts, beugte sich zur Seite, um besser zu sehen, hob sich auf die Zehen, und plötzlich streckte er die Arme aus, öffnete den Mund und schrie laut auf, wie in Todesangst. Er sank, zusammenbrechend vornüber, richtete sich jedoch wieder auf, wandte sich um und lief taumelnd den Weg zurück, bis er vornüber stürzte und, das Antlitz dicht gegen die weiße Erde zwischen den Rosenbüschen gedrückt, liegen blieb. So blieb er liegen, ganz still, ohne sich auch nur einmal noch zu bewegen, wie auf der Stelle überwältigt von einem tiefen Schlaf. Im Rosengarten war ebenfalls alles still. Nur derselbe würzhafte Duft von vorhin spann seinen Faden, ungreifbar und flüchtig wie ein Ahnen, durch die stillstehende, sonndurchtränkte Mailuft. Aber als die Stille ein Weilchen gewährt hatte, erhob sich eine kleine Gestalt im weißen Sommerkleid und grauen Strohhut mit rotkariertem Seidenband hinter den Rosenbüschen an der Südmauer; erhob sich und spähte vorsichtig den Gartenweg hinab. Kam darauf völlig zum Vorschein, streckte ein paar Krücken steif vor sich hin und folgte selbst, weich und schwebend, in den Achselhöhlen schwingend, hinterher, immer rascher und rascher, wie ein Uhrperpendikel, der zu stark geht.

»Herr!« rief die kleine Gestalt weinend und blieb atemlos neben Bierbaums ausgestrecktem und regungslosem Körper stehen, »ich war es doch bloß! Wollte nur eine Rose pflücken, um sie in den Halsausschnitt des feinen Kleides zu stecken, wenn ich jetzt gleich einen finde ...« Sie legte die Rose neben Bierbaums Antlitz, das unbeweglich fest gegen die weiche Erde zwischen den Rosenbüschen gepreßt liegen blieb.

»Verzeihen Sie mir doch bloß, Herr! Es war ja nur die eine einzige Rose! Ich will es auch nie wieder tun!«

Aber Bierbaum antwortete nicht. Und plötzlich begriff das kleine, verkrüppelte Mädchen, daß er nicht aufstehen konnte, vielleicht nie wieder aufstehen würde von der Stätte, an der er lag.

»Hilfe! Hilfe!« rief sie und arbeitete sich mit ihren Krücken den Weg entlang, während sie unablässig um Hilfe schrie.

In der Apotheke hörte man sie rufen; und einen Augenblick später war Bierbaums ganzer Hausstand um ihn versammelt. Der älteste Gehilfe riß ihm den Kragen und die weiße Krawatte auf; aber es half nichts. Und sie mußten ihn so, wie er war, ins Haus tragen. Das krüppelhafte Mädchen ging auf ihren Krücken hinterdrein und hielt die Rose im Mund, daß sie nicht zerdrückt werden sollte, falls sie sie mitsamt der Krücke in der Hand trüge.

Sie legten ihn in den Kleidern aufs Bett und schickten eiligst zu Doktor Gorlanow. Er kam augenblicklich. Als er ans Bett trat, atmete er noch sehr hastig, vom Lauf die Treppe hinauf. Einen Augenblick hielt er Bierbaums Hand in der seinen; dann ließ er sie behutsam los, so, daß sie ausgestreckt neben dem Körper zu liegen kam, zu dem sie von Ursprung an gehört hatte.

»Karl Karlowitsch ist tot!« sagte er und blickte die Umstehenden verständnislos an. »Also muß die Sklerose doch viel weiter vorgeschritten gewesen sein, als ich dachte ... Und es sind also nicht nur die Nerven gewesen ... Gestern saß ich noch hier und hab' mit ihm gesprochen ...« Gorlanow wandte sich um und griff nach dem Schreibtischsessel ... »Gestern saß ich noch und redete mit ihm von ...« Ein Lächeln flog über Gorlanows Gesicht. Aber im selben Augenblick fielen seine Blicke auf die paar Worte, die Bierbaum als letzten Willen niedergeschrieben, aber nicht vollendet hatte.

»Nein, jetzt freut einen nichts mehr!« murmelte er halblaut vor sich hin, wandte sich darauf um zu dem Toten und drückte die Lider über die gebrochenen Augen.

Und wenn Bierbaum ihn in diesem Augenblick hätte sehen können, so wäre ihm eine Veränderung aufgefallen im Ausdruck, eine Veränderung, die plötzlich eine nackte Verzweiflung, ein hilfloses Lebensgrauen bloßlegte, die vordem keiner gesehen, keiner beachtet hatte – außer Gorlanow selbst.

Aber Bierbaum sah nichts mehr von alle dem, das tief unter ihm lag. Er hatte seine kleine, unansehnliche, irdische Hülle weit hinter sich gelassen und schwebte, ohne daß ihn schwindelte, hoch über der Brust der Erde, erfüllt von einer Jugend, die unendlich jünger war als die Erde, und unendlich viel älter als sie und ihre bunten Kinder.

 

Ende

 


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