John Henry Mackay
Die Anarchisten
John Henry Mackay

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Zehntes Kapitel

Anarchie

Die Wochen vergingen.

Der » bloody Sunday« auf Trafalgar Square erregte die Gemüter nicht mehr zu leidenschaftlichen Auseinandersetzungen. Zwar hatte sich am folgenden Sonntag zur Unterstützung der Polizei eine Schaar freiwilliger Vaterlandsverteidiger eingefunden, aber sie hatten, nachdem sie ein paar Stunden lang auf dem Platz dem Gespött und dem Hohn der neugierigen Menge, die keinen Versuch machte, ein verlorenes Recht zurückzuerobern, ausgesetzt gewesen waren, von Regen durchnäßt und ohne die frisch gedrechselten Knüttel geschwungen zu haben, nach Hause ziehen müssen.

Nach dem großen Schauspiel die Komik freiwilliger Selbsterniedrigung, nach dem » bloody Sunday« die » laughing stocks«! ...

Der Square war und blieb leer.

Die Frage der ›Arbeitslosen‹ war natürlich nicht gelöst, aber sie war in den Hintergrund getreten und sie schrie nicht mehr in den gellenden Tönen des Hungers nach Antwort.

In Chicago waren die Leichen der Gemordeten unter beispielloser Teilnahme der Bevölkerung zu Grabe getragen worden. Es war gewesen, als habe man eine Schuld wieder gut machen wollen.

*

Die Zeit der großen Geschehnisse war vorüber. Alles ging wieder seinen gewohnten Gang. Die Tage waren um so kälter und feuchter geworden, je schneller der Monat zu Ende ging.

Auban hatte weder Trupp, noch irgendeinen anderen seiner gewohnten Freunde wiedergesehen. Nur Dr. Hurt war zuweilen gekommen, seine ›Füße zu wärmen‹ und seine Pfeife bei ihm zu rauchen. Sie lebten sich geistig mehr und mehr ineinander ein und verstanden sich besser und besser.

Die Sonntagnachmittag-Zusammenkünfte schienen nicht nur unterbrochen zu sein, sondern gänzlich aufgehört zu haben. Auban dachte auch nicht daran, sie wieder aufleben zu lassen. Er war nun von ihrer Zwecklosigkeit überzeugt.

Auch die Klubs hatte er nicht mehr besucht seit dem Abend seiner Auseinandersetzung mit Trupp. Und – was die größte Veränderung in seinem Leben war – auch seine Wanderungen durch die Bezirke des Hungers hatte er aufgegeben.

Er hatte Viel zu tun. Er begann jetzt mit der Arbeit seines Lebens, gegen die Alles, was er bisher gethan, nur Vorbereitung gewesen war.

Für sich selbst hatte er in dieser Zeit einen kleinen Sieg erfochten.

Die Leitung des französischen Sammelwerkes, zu dessen Mitarbeiterschaft er vor drei Jahren nach London berufen war, war nach und nach ganz in seine Hände übergegangen. Dank seiner Gewissenhaftigkeit, seiner Umsicht, seiner Selbstständigkeit hatte das Unternehmen, das dem Abschluß entgegenging, einen glänzenden Erfolg erzielt. Trotzdem er der buchhändlerischen Firma, einer der größten Englands, unentbehrlich geworden war, hatte diese es unterlassen, seine Dienste angemessen zu honorieren und seine Besoldung nur Wenig erhöht.

Er hatte Lange auf die freiwillige Erfüllung dieser Pflicht gehofft. Er wartete, bis er alle Trümpfe in seiner Hand hielt. Dann hatte er sie eines Tages ausgespielt und seine Entlassung für das Ende des Jahres angezeigt.

Eine lange Unterredung mit den beiden Inhabern der Firma war daraufhin gefolgt. Bei dem Ausbruch ihrer moralischen Entrüstung über den Bruch des Kontraktes, der zwar weder schriftlich, noch durch irgendein Wort Aubans, sondern von ihrer Seite, wie sie sagten, nur auf ›Treu' und Glauben‹ eingegangen war, waren sie von Auban gebeten worden, doch jede Sentimentalität in einer geschäftlichen Auseinandersetzung bei Seite zu lassen. Dann bewies er ihnen mit Zahlen, daß das einzige Verdienst, das sie sich bei der Herausgabe des Werkes erworben, das Herleihen des Kapitals gewesen war, daß dieses Verdienst sich aber so belohnt hatte, ihnen etwa vier Fünftel des Ertrages seiner Arbeit zu sichern.

Daraufhin seine Forderungen, als die Bitte an ihn gestellt wurde, noch ein Vierteljahr zu bleiben, bis zum Abschluß des Werkes: zunächst das Dreifache des Monatsgehaltes als bisher.

– Noch nie hätten sie einem ihrer Angestellten ein solches Salär gezahlt ...

– Noch nie seien ihnen wohl auch von einem Angestellten solche Dienste geleistet worden ...

Ferner, und das war Aubans Hauptschlag gewesen, mit dem er sich seine Zukunft wenigstens in Etwas sicherstellen wollte: einen Gewinnanteil an jeder Auflage des Werkes.

– Ob eine solche Forderung wohl schon je gestellt worden sei?

– Das sei ihm ganz gleichgültig. Es stünde in ihrem Belieben, sie anzunehmen oder zu verwerfen.

Sie thaten das Erstere.

Endlich Aubans dritte Forderung: eine Entschädigung, im Verhältniß zu dem Erfolge seiner Arbeit stehend, für die bisher geleistete Arbeit, sofort auszahlbar.

– Das sähe verdammt einer Erpressung ähnlich ...

– Mochten sie es nennen, wie sie es wollten. Er habe von ihnen gelernt. Ob sie das wundere? Drückten sie nicht auch etwa die Löhne ihrer Arbeiter nieder, so tief wie es nur ging? Er stemmte sich dagegen und drückte wieder ...

Als er gegangen war, knirschten die Kompagnons mit den Zähnen. Als gewiegte Geschäftsleute aber gestanden sie sich stillschweigend ein, daß sie nie eine größere Hochachtung für Auban empfunden hatten, als in diesem Augenblick ...

Den Kontrakt, den beide Parteien daraufhin aufsetzten, ließ Auban von einem der ersten Rechtsanwälte prüfen und für richtig befinden, ehe er ihn unterschrieb und sich für weitere drei Monate band.

Dann war er frei für einige Zeit; und nie hatte er mit solcher Deutlichkeit gefühlt, wie nöthig diese pekunäre Unabhängigkeit war für Das, was er thun wollte ... Noch ein Vierteljahr, und er war in der Lage, nach Paris zurückzukehren. Nach Paris! Sein Herz schlug höher bei diesem Gedanken.

Er liebte London und bewunderte es, dieses wunderbare, mächtige London, und er liebte Paris. Aber dieses liebte er doch Anders ...

London begann auf ihm zu lasten mit seinem ewig grauen Himmel, seinem fahlen Nebel, seiner traurigen Dämmerniß.

Eine Sonne stieg ihm auf. Und diese Sonne hieß Paris. Bald würde er wieder beschienen sein von ihren Strahlen, die so warm waren, so belebend, so schön ...

*

Aubans Schreibtisch waren die Stöße mit Zeitungen und Broschüren über Chicago verschwunden und neue Arbeiten bedeckten ihn, die seine spärlichen freien Stunden erfüllten.

Er war sich klar über Das, was er wollte.

Er stand allein: keiner seiner zahlreichen Freunde war in den letzten Jahren mit ihm gegangen; keiner unter ihnen war im Stande gewesen, mit ihm die letzten Konsequenzen zu ziehen.

So hatte er sie hinter sich zurücklassen müssen, er, der rastlos vorgeschritten war, der Freiheit zu.

Aber er hatte neue Verbindungen angeknüpft und oft und immer wieder richtete sich sein Auge nach Amerika, wo von einer kleinen, aber stetig und sicher wachsenden Schaar ausgezeichneter Männer seit Jahren bereits die Arbeit gethan wurde, die in der alten Welt noch nicht angefangen war.

Alles drängte dahin, auch hier mit ihr zu beginnen.

*

Zwei Umstände erschwerten vor Allem die Ausbreitung der Idee der Anarchie in Europa:

Entweder sah man in einem Anarchisten einen Dynamitarden; oder, hatte man einen Blick in den Ideenkreis der neuen Partei geworfen, einen Kommunisten.

Während in Amerika bereits einige Lichtstrahlen die trüben Blicke des Vorurtheils und der Voreingenommenheit zu treffen begonnen hatten, waren in Europa noch alle verschleiert.

Zuvor mußte der überall mißverstandene Sinn des Wortes neugeprüft, erkannt und erklärt werden.

Die Einen, die, welche Alles nehmen, wie man es ihnen gibt, und in der Anarchie nur das Chaos und in dem Anarchisten nur den gewaltsamen Umstürzler sahen, mußten belehrt werden, daß Anarchie im Gegenteil das Ziel der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ist und jenen Zustand bezeichnet, in dem die Freiheit des Individuums und seiner Arbeit Bürge ist für sein Wohl, wie für den Wohlstand der Allgemeinheit.

Und den Anderen, Jenen, die mit Recht an das Ideal der Freiheit im brüderlichen Kommunismus nicht glaubten, mußte gezeigt werden, daß die Anarchie die Freiheit des Individuums, weit entfernt, sie in Gütergemeinschaft und Aufopferung zu sehen, sie im Gegentheil durch Bekämpfung und Beseitigung ganz bestimmter, gewaltsamer Hemmungen und künstlicher Schranken zu erreichen sucht.

War diese erste, roheste und undankbarste Vorarbeit geschehen und hatte sich, wenn auch vorerst nur unter Wenigen, die Erkenntniß Bahn gebrochen, daß die Anarchie kein Himmel auf Erden ist, und daß die Menschen nur ihre wahre Natur und deren Bedürfnisse zu erkennen, nicht aber diese »von Grund aus zu ändern« brauchen, um die Freiheit zu ermöglichen, so war die nächste Aufgabe gegeben: die Institution des Staates zu kennzeichnen als großes und einziges Hemmniß der Menschheit auf ihrem Wege der Entwickelung zur Kultur.

Es galt zu zeigen: daß der Staat die privilegierte Gewalt ist und daß Gewalt es ist, die ihn erhält; daß er es ist, der die Harmonie der Natur in die Unordnung des Zwanges verwandelt; daß seine Verbrechen es sind, die die Verbrechen schaffen; daß er hier unnatürliche Vorrechte verleiht, während er dort natürliche Rechte schmälert; daß er die wetteifernde Entfaltung der Kräfte auf allen Gebieten lähmt, den fruchtbaren Handel unterbindet und damit den Wohlstand des ganzen Volkes untergräbt; daß er in Allem die Mittelmäßigkeit vertritt und daß Alles, was er zu thun unternimmt, weit besser, allgemein zufriedenstellender, vortheilhafter ohne ihn ausgeführt werden könnte, wenn es der freien Konkurrenz der Privaten überlassen bliebe; daß eine Nation je reicher und glücklicher ist, desto weniger sie regiert wird; daß der Staat, geschweige je der Ausdruck des Willens der Gesamtheit zu sein, vielmehr immer und immer nur der Wille Derjenigen ist, die an ihrer Spitze stehen; und daß Die, welche an der Spitze stehen, zwar immer für sich und die ›Ihrigen‹, nie aber für Die sorgen, welche ihnen ihre Sorge anzuvertrauen töricht genug sind; daß der Staat nur geben kann, was er zuvor genommen hat, da er unproduktiv ist, und daß er immer weniger zurückgiebt, als er erhalten – kurzum, es galt zu zeigen, daß er, Alles in Allem genommen, nichts Anderes ist, als ein ungeheurer, fortgesetzter, schamloser Betrug, vermittels dessen die Einen auf Kosten der Anderen leben, mag er sich nun genannt haben oder nennen, wie er will ...

War so auf einigen Punkten der Glaube an das allein seligmachende Idol des Staates erschüttert und damit das Vertrauen in die eigene Kraft der Initiative gestärkt, so mußte jenen Gesetzen nachgegangen werden, die das wirthschaftliche Leben beherrschen. Es mußte die Wahrheit zur Erkenntniß gebracht werden, daß die Interessen der Menschen sich nicht feindlich gegenüberstehen, sondern daß sie sich harmonisch vereinen, wenn ihnen nur der freie Spielraum zu ihrer Entfaltung nicht genommen oder geschmälert wird.

Die Freiheit der Arbeit – errungen durch den Fall des Staates, der das Geld nicht mehr monopolosieren, den Kredit nicht mehr lähmen, das Kapital nicht mehr vorenthalten, die Zirkulation der Werthe nicht mehr hemmen, mit einem Wort: die Angelegenheiten der Einzelnen nicht mehr kontrollieren kann – war sie zur Thatsache geworden, so war die Sonne der Anarchie aufgegangen.

Ihr Segen – man würde ihn wie Wärme fühlen, nach der langen Nacht voll Kälte und Noth ...

Aber versprechen sollte man Nichts. Nur Die, welche nicht wissen, was sie wollen, versprachen. Es galt zu überzeugen, nicht zu überreden.

Das erforderte andere Kräfte, als die der geschwätzigen Zunge, welche die Massen beredet, gegen ihren Willen zu handeln, statt dem Einzelnen die Wahl seiner Entschlüsse zu lassen und seiner Einsicht zu vertrauen.

Die verschiedensten Wissensgebiete mußten herangezogen werden, um die Theorie der neuerwachenden Lehre zu beweisen: die Geschichte, um die Irrthümer der Vergangenheit in der Zukunft zu vermeiden; die Psychologie, um zu erkennen, wie die Seele den Bedingungen unterworfen ist, die der Körper ihr vorschreibt; die Philosophie, damit sie zeige, wie alles Denken nur vom Individuum ausgeht, damit es zu ihm zurückkehre ...

Nachdem so Alles getan war, um die Freiheit des Individuums als Gipfelpunkt der Entwicklung zu beweisen, blieb noch eine Aufgabe übrig.

Nicht nur die Ziele mußten gezeigt, sondern auch die besten und sichersten Wege gesucht werden, auf denen dieselben zu erreichen waren. In der Gewalt die größte Feindin erblickend, galt es, die Gewalt zu vernichten. Auf welche Weise?

Auch sie war gefunden. Nicht zu einem Kampfe galt es den bis an die Zähne bewaffneten und in allen Machtmitteln noch weit überlegenen Staat herauszufordern. Er wäre entschieden, noch ehe er begonnen hätte. Nein, dieses Ungeheuer, das sich von dem Blute unserer Arbeit nährt und erhält, mußte ausgehungert werden, indem man ihm den Tribut vorenthielt, den es als selbstverständlich forderte. Es mußte an Erschöpfung sterben, verhungern, langsam zwar, ohne Zweifel, aber sicher. Noch hatte es die Macht und das Ansehen, seinen Raub unweigerlich einzufordern oder den Verweigerer zu vernichten. Eines Tages aber würde es einer Anzahl von Männern, von besonnenen, ruhigen, unerschütterlichen Männern begegnen, die mit verschränkten Armen seinen Angriff mit der Frage zurückschlagen würden: Was willst Du von uns? – Wir wollen Nichts von Dir. Wir verweigern Dir jeden Gehorsam. Laß Dich von Denen ernähren, die Dich brauchen. Uns aber laß in Ruhe! –

An diesem Tage würde die Freiheit ihren ersten Sieg erfechten, einen unblutigen Sieg, dessen Ruhm die Erde mit der Eile des Windes durchfliegen und überall die Stimme der Vernunft zur Antwort erwecken würde.

Was waren die Streiks, vor welchen die Ausbeuter zitterten, Anderes, als passiver Widerstand? Mußten die Arbeiter mit ihnen nicht Erfolge ohne Gleichen erzielen können? Erfolge, auf die sie vergeblich warten würden, vertrauten sie weiter dem ruchlosen Spiel politischer Gaukler.

Bisher in der Geschichte des Jahrhunderts nur in vereinzelten Fällen hier und da und nur zeitweilig zur Erzwingung gewisser politischer Forderungen benützt, mußte einst der prinzipiell angewandte passive Widerstand gegen die Regierung – vor Allem in der Form der Steuerverweigerung – zur vorgehaltenen Waffe werden, an welcher der Staat langsam verbluten würde ...

Bis dahin aber? ...

Bis dahin galt es zu wachen und zu warten.

Es gab keinen anderen Weg, das Ziel endlich zu erreichen, als den der ruhigen, unermüdlichen, sichern Aufklärung und den des selbst gegebenen Beispiels, das eines Tages Wunder wirken würde. lag vor Auban in ihrem ganzen Umfange die Arbeit, der er sein Leben zu widmen entschlossen war. Er überschätzte seine Kraft nicht. Aber er vertraute ihr. Denn sie hatte ihn geführt durch die Irrtümer seiner Jugend. So konnte sie keine gewöhnliche Kraft sein.

Noch stand er allein. Bald würde er Freunde und Mitkämpfer haben. Schon begann sich in Paris unter den Kommunisten eine stark individualistisch-anarchistische Strömung bemerkbar zu machen, die das Privateigenthum in Schutz nahm.

In diesen Tagen waren ihm die ersten Hefte einer neuen Zeitschrift – offenbar mit den bescheidensten Mitteln gegründet – zugeflogen, die ein glänzender Beweis für die in gewissen Arbeiterkreisen seines Landes herrschende Intelligenz war. Die »L'Autonomie individuelle« hatte sich frei gemacht vom Kommunismus und wurde nun von ihm ebenso angegriffen, wie dieser einst von den Sozialdemokraten. Auban vertiefte sich in die Lektüre der wenigen Blätter, aus denen ihm ein Geist der Freiheit entgegenwehte, der ihn entzückte ...

Ein Klopfen an der Thür unterbrach ihn.

Ein Brief wurde ihm überbracht. Sein Inhalt bat um ein Rendezvous noch für diesen Abend und trug keine Unterschrift. Auban wollte ihn zuerst bei Seite werfen. Dann aber, als er ihn zum zweiten Male las, nahm sein Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck an. In der Art und Weise, wie der Brief abgefaßt war, mußte Etwas liegen, das seinen Entschluß änderte, denn er sah nach der Uhr und blickte auf den großen Stadtplan von London, der an der Wand hing.

Mit der unterirdischen Eisenbahn fuhr er über Blackfriars von Kings Croß nach London Bridge. Er mußte umsteigen und wurde dadurch aufgehalten. Dennoch erreichte er noch vor der angegebenen Stunde die Straße und das bezeichnete Haus. Als er an der verschlossenen Thür klopfte, wurde diese sofort geöffnet.

Auban brauchte den Namen nicht zu nennen, der ihm angegeben war. Er erstarb auf seinem Munde in einem unwillkürlichen Ausruf des Erkennens und des Erschreckens, als er den Oeffnenden erkannte. Vor ihm stand ein Mann, der einst eine der gefürchtetsten und gefeiertsten Persönlichkeiten in der revolutionären Bewegung Europas gewesen war, dessen Name nun aber von den Meisten nur noch mit Haß und Verachtung genannt wurde. Jeden Anderen hätte Auban jemals eher wiederzusehen geglaubt, als diesen Mann, der ihn schweigend empfing und jetzt schweigend die Treppe hinauf in ein kleines, niedriges Zimmer führte.

Dort an dem einzigen Fenster standen sie sich gegenüber und Aubans Erkennen wich dem Gefühl innerster Erschütterung, als er sah, was die wenigen Jahre, in denen er ihn nicht mehr gesehen, aus seinem einstigen Bekannten gemacht hatten. Damals war er aufrecht und stolz gegangen; jetzt stand er vor ihm wie gebückt unter der Last eines furchtbaren Schicksals. Noch konnte er das fünfunddreißigste Jahr nicht erreicht haben und schon waren seine Haare grau wie die eines Fünfzigjährigen; einst war sein Lächeln so siegesgewiß und zwingend gewesen, daß Keiner ihm widerstehen konnte – heute war es traurig und schmerzlich, als er sah, wie wenig Auban sein Erschrecken und seine Erschütterung bei seinem veränderten Anblick zu verbergen vermochte.

Da nannte ihn Auban leise, als fürchte er, die Wände könnten ihn hören, bei seinem wirklichen Namen, diesem einst so viel genannten, heute fast vergessenen Namen.

– Ja, ich bin es, sagte der Andere, ohne daß das traurige Lächeln von seinen Lippen verschwand. – Sie hätten mich wohl nicht einmal wiedererkannt, Auban?

Auban schüttelte gewaltsam seine Erregung ab.

– Wo kommen Sie her? Wissen Sie nicht –

– Ja, ich weiß, man ist mir überall auf den Fersen, selbst hier in England. In Frankreich würde man mich ausliefern und in Deutschland begraben für Lebenszeit, wenn man mich hätte. Auch hier bin ich nicht sicher. Aber ich mußte noch einmal hierher, ehe ich untertauche für immer. Sie wissen, weshalb –

Gewiß, Auban wußte es. Auf diesem Manne lag der furchtbare Verdacht, einen Genossen verraten zu haben. Wie viel, wie wenig Wahrheit an diesem Verdacht war, Auban konnte es nicht entscheiden. Von sozialdemokratischer Seite war er zuerst ausgesprochen worden.

Aber von dort waren schon so viele geflissentliche Lügen über die Kommunisten ausgegangen, daß auch diese aus der Luft gegriffen sein konnte. Dann war er wiederholt worden von einer feindlichen Richtung im eigenen Lager. Der Beklagte hatte darauf geantwortet. Aber wollte oder konnte er nicht: kurz, die Sache war, trotz vieler Worte, nie ganz aufgeklärt worden. Sicherlich war das überhaupt in der Öffentlichkeit unmöglich – über zu Vieles mußte geschwiegen werden, was der Feind nicht erfahren durfte, zu viele Namen mußten ungenannt, die genannt, zu viele Verhältnisse unberührt bleiben, welche von Grund aus hätten erörtert werden müssen, als daß der so Angeschuldigte je hoffen durfte, in Aller Augen wieder unantastbar dazustehen.

Das war der Fluch der Knechtschaft, mit dem die falsche Taktik Einen an den Andern band, so daß Keiner sich rühren und regen konnte, wie er wollte.

Noch immer hätte der von allen Seiten bereits Angegriffene aufrecht weiter wirken können in dem alten Kreise der Genossen, wenn diese selbst nicht auch wankend geworden wären. Da hatte er eines Tages Alles hinter sich abgebrochen und war verschwunden. Sein Name wurde vergessen; vergessen wurde, was er gethan hatte, nachdem mit seiner Person ihr großer Einfluß, der bezaubernd gewesen war, wo er sich geltend gemacht hatte, gewichen war.

Auban wußte es und er sagte daher:

– Ihre Reise war nutzlos.

– Ja, war die Antwort, und die Stimme war so trüb, wie die Augen Dessen, der sie gab, sie war nutzlos.

Er ließ wie völlig gebrochen die Stirn sinken, als er noch leiser fortfuhr, als schäme er sich seines Wiederkommens, wie einer Feigheit:

– Ich konnte es nicht mehr aushalten. Zwei Jahre bin ich allein gewesen. Da entschloß ich mich, wiederzukehren und einen letzten Versuch zu wagen, mich zu rechtfertigen. Man glaubt mir nicht. Keiner glaubt mir ...

– So glauben Sie an sich selbst! sagte Auban fest.

– Heute dachte ich an Sie. Man hat mir von Ihnen gesprochen. Man warf Ihnen vor, daß Sie Ihre eigenen Wege gehen. Nun ja, Sie sind noch der Einzige, der sich in der Wirrniß den freien Blick bewahrt hat. Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.

Er schien wie erschöpft, als hätten ihn schon diese wenigen Worte ermüdet. Vor drei Jahren war er ein glänzender Redner gewesen, welcher drei Stunden lang gesprochen hatte, ohne Ermattung zu zeigen.

Auban war tief erschüttert. Er hätte ihm gern gesagt, daß er ihm glaube. Aber wie konnte er Das, ohne unehrlich zu sein? – Ihm war jene ganze Angelegenheit fast fremd geblieben, so Viel er auch über sie gehört hatte. Der Andere schien es zu fühlen.

– Ich müßte Ihnen die ganze Geschichte erzählen, um Ihnen ein Urteil zu ermöglichen. Aber Das würde Stunden dauern und vielleicht wäre es dann doch nutzlos gewesen. Nur so Viel, und das können Sie mir glauben: ich habe einen Irrtum begangen, aber an dem Verbrechen, das man mir zur Last legt, bin ich unschuldig. Außerdem habe ich Vieles versäumt, was ich zu meiner Vertheidigung gleich hätte thun müssen. Das Alles ist jetzt zu spät.

Er sah nach der Uhr.

– Ja, es würde Stunden dauern und ich habe keine halbe mehr. Ich will noch Heute fort.

– Wohin? fragte Auban.

– Zunächst die Themse hinauf mit einem Schiff. Und dann – und traurig lächelnd machte er eine Bewegung mit der Hand in die Weite – und dann weiter – irgendwohin ... Er griff nach einer kleinen Reisetasche, die fertig gepackt neben ihm lag.

– Ich habe Nichts mehr hier zu thun, lassen Sie uns gehen, Auban. Begleiten Sie mich bis zur Brücke, wenn es kein Umweg für Sie ist.

Sie verließen das Zimmer und das Haus, ohne daß ihnen Jemand nachsah. Bis zur London Bridge gingen sie schweigend nebeneinander her.

Aber als sie die Brücke überschritten, brach der niedergekämpfte Groll des Ausgestoßenen doch los:

– Ich habe der Sache Alles gegeben, was ich besaß: meine ganze Jugend und mein halbes Leben. Nachdem sie mir Alles genommen, hat sie mir Nichts zurückgelassen, nicht einmal den Glauben an sie selbst.

– Es bleibt Ihnen noch ein halbes Leben, um den Glauben an sich dafür zurückzugewinnen, diesen einzigen Glauben, der nie enttäuscht.

Aber der Andere schüttelte den Kopf.

– Sehen Sie mich an, ich bin nicht mehr, der ich war. Allen Verfolgungen habe ich Trotz geboten, dem Hunger, dem Haß, dem Gefängniß, dem Tod – aber von Denen, die ich mehr geliebt habe, als mich selbst, davongejagt zu werden wie ein räudiger Hund, das hat mich getroffen! – Ach, ich bin so müde! – so müde! – so müde! ...

Er trat in einen der Ruhepunkte der Brücke und ließ sich auf eine der Bänke fallen, während der Menschenstrom weiterbrauste. Auban setzte sich neben ihn. Der Ton, mit dem der unglückliche Mann die letzten Worte wiederholte, erschütterte ihn von Neuem aufs Tiefste. Und während hinter ihnen das grandiose Leben die Brücke überspülte, erzählte er ihm, um ihm Zeit zu lassen, sich zu fassen, von seinen eigenen trüben Erfahrungen und Erkenntnissen, und wie dennoch seine Kraft unerschüttert und sein Muth ungelähmt sei, seit er sich wiedergefunden habe und nun – auf eigenen Füßen stehend – thuend und lassend, was er wolle – von keiner Partei, keiner Klique, keiner Richtung mehr abhängig – keinem mehr Eingriffe in sein eigenes Leben gestatte ...

Aber der Andere saß teilnahmslos. Er schüttelte den Kopf und sah vor sich hin.

Plötzlich sprang er auf, griff nach seinem Gepäck, zeigte auf das Chaos von Schiffen und murmelte einige unverständliche Worte.

Dann, noch ehe Auban ihm antworten konnte, umarmte er den Ueberraschten mit Heftigkeit und eilte, mit der Hand ein Zeichen gebend, er wolle nicht weiter begleitet sein, davon ...

Auban sah ihm lange nach.

Opfer über Opfer, und alle umsonst, dachte er. – Lange noch sah er vor sich das gealterte Gesicht und die ergrauten Haare des Verfolgten, der – ein ruheloser Verbannter – einer neuen Welt voll Geschicken entgegen zog, ohne Kraft mehr und ohne Muth, ein Leben noch weiter zu bestehen, das ihn betrogen hatte ... Der Abend begann. Die Sonne ging unter.

Ueber London Bridge fluteten zwei unermeßliche Menschenströme, herüber und hinüber zogen in zwei ununterbrochenen Reihen rasselnd und dröhnend die Wagen.

Das schwarze Gewässer der Themse floß träge.

Auban stand an dem Brückenrand und nahm, gegen Osten gewendet, das große Bild auf, das sich ihm bot. Ueberall über die Häusermassen zu beiden Seiten der Fluth erhoben sich Thürme, Säulen, Schornsteine, Kirchthurmspitzen ... Unten aber ein Wald von Masten, Stangen, Segeln ... links Billingsgate: Londons großer, berühmter Fischmarkt ... Weiter, dort, wo die vier Türme ragen, das dunkle, unheimliche Gebäude des Tower. Röthlich lag die untergehende Sonne, die blasse, müde Sonne Londons, minutenlang auf seinen Fenstern: dann war auch ihr Schein plötzlich erloschen und grauhelle Dämmerung zog ihre Streifen um die dunklen Massen der Waarenhäuser, die Riesenleiber der Schiffe, um die Pfeiler der Brücke ...

Schon zeigte die Zifferuhr an den Adelaide Buildings auf die siebente Stunde, aber noch immer war das Ausladen des mächtigen Ueberseesteamers zu Aubans Füßen nicht beendet. Starke Männer trugen Kisten und Ballen in langen Reihen über schwankende Bretterstege ans Ufer. Die Stirn, den Kopf und den Nacken mit eigenthümlich geformten Polstern gegen den zermalmenden Druck der schweren Last geschützt, sahen sie, wie sie gebückt unter ihrer Bürde einherschritten, aus, wie Stiere im Joche ...

Eine große, wunderbare Stimmung überkam Auban. Das war London, das riesige London, welches mit seinen fünf Millionen menschlicher Wesen siebenhundert Meilen Erde bedeckte; das war das London, wo jede fünfte Minute ein Mensch geboren wurde, jede achte ein Mensch starb ... Das war das London, welches wuchs und wuchs, und, bereits unermeßlich, das Grenzenlose erstreben zu wollen schien ...

Ungeheure Stadt! Unbegreiflich und unerfaßlich lag sie da zu beiden Seiten des Flusses und die Wolken von Rauch, Dunst, Lärm, die sie ausspie, lagen wie Schleier über ihrem schnaufenden Leibe ... Lichter um Lichter erflammten und vermengten der Feuchtigkeit der Nebel die Wärme der Gluth. Ihre röthlichen Reflexe durchzitterten die Dämmerung.

London Bridge donnerte und dröhnte unter den Lasten, welche sie trug.

Tag so für Tag, Woche für Woche, Jahr auf Jahr raste so dieses gewaltige Leben, das nie ermüdete. Immer fieberhafter wurden die Schläge seines Herzens, immer gewaltiger die Thaten seines Armes, immer kühner die Pläne seines Gehirns.

Wann erreichte es den Höhepunkt seiner Ziele? – Wann würde es ruhen?! –

War es unsterblich? –

Und wieder sah Auban sie nahen, die Wolken des Verderbens, die den Blitz senden würden, der diese ungeheure Masse von Zündstoff entladen würde.

London, auch du bist nicht unsterblich! ... Du bist groß. Aber die Zeit ist größer ..

Es wurde dunkler und dunkler.

Da wandte er sich dem Norden zu, und wie er mit seinen schweren, langen Schritten dahinging, fest auf den Stock gestützt, sah, wie immer, mancher Vorübereilende der hohen, hageren und stolzen Gestalt nach, die der weite Mantel umflatterte.

*

Und wie Auban Straße um Straße kreuzte und sich mit jeder seiner Wohnung näherte, hatte er bereits die Erschütterung dieser letzten Stunden überwunden, und schon kreisten wieder mit unruhigen Schlägen die Flügel seiner Gedanken um das ersehnte Licht der Freiheit.

Wie würde sich entwickeln und gestalten, was noch als eben erst befruchteter Keim im Schoß der Zeit ruhte?

Eines war ihm sicher:

Schmerzlos mußte sie sich vollziehen, die Geburt der neuen Welt, sollte sie lebensfähig sein.

Die soziale Frage war eine wirtschaftliche Frage.

So und nicht Anders konnte sie sich lösen:

Mit der Schwächung der staatlichen Gewalt stellt sich mehr und mehr das Individuum auf die eigenen Füße. Dem Gängelbande des Paternalismus entfliehend, gewinnt es die Selbstständigkeit eigenen Wollens und Handelns. Das Recht der Selbstbestimmung uneingeschränkt in Anspruch nehmend, zielt es zunächst dahin, alle bisherigen Vorrechte null und nichtig zu machen. Nichts durfte von denselben übrig bleiben, als ein ungeheurer Haufe modernden Papiers. Das unbenutzte Land, nicht länger mehr beschlagnahmt von Denen, die es nicht bewohnen, wird bebaut und bevölkert von Jenen, die es okkupieren. Bisher brach gelegt, trägt es nun Frucht und Saat und reichlich nährt es die befreiten Geschlechter. Das Kapital, unfähig, länger sich zu mästen von dem Schweiße fremder Arbeit, sieht sich genöthigt, sich selbst aufzuzehren: ernährt es den Vater und den Sohn noch, ohne daß sie die Hand zu rühren brauchen, so steht doch schon der Enkel vor der Alternative, den ›Ruhm der Väter‹ zu schänden und zu arbeiten, oder zu verhungern. Denn mit dem Schwinden aller Privilegien ist die Pflicht der Selbstverantwortlichkeit auf die Schultern des Individuums gelegt. Ob es an ihr schwerer tragen wird, als an den tausend Nächstenpflichten, mit denen bis dahin der Staat seinen Bürger, die Kirche ihr Mitglied, die Moral den Gerechten belud? –

Nur eine Lösung der sozialen Frage, nur die eine gab es: sich nicht länger in gegenseitiger Abhängigkeit zu erhalten – sich und damit den Andern den Weg zur Unabhängigkeit zu öffnen! –; nicht länger mehr an die Starken die lächerliche Anforderung zu stellen: »Werdet schwach!« – nein, den Schwachen endlich zuzurufen: »Werdet stark!« –; nicht länger mehr der Hilfe »von Oben her« zu vertrauen, sondern endlich sich ermannen zu eigener That.

Das neunzehnte Jahrhundert hat den »Vater im Himmel« abgesetzt. Es glaubt an keine göttliche Kraft mehr, der es unterthan ist.

Die Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts aber erst würden die echten Atheisten sein. Zweifler an der göttlichen Machtvollkommenheit, mußten sie beginnen, die unerbittliche Kritik ihrer Vernunft auch an die Berechtigung jeder menschlichen Autorität zu legen.

Das Bewußtsein der eigenen Würde mußte sie durchdringen. Statt wie bisher in der Unterwürfigkeit, der Hundetreue, der Hingabe ihren Stolz zu suchen, würden sie erkennen, das Befehlen eine Anmaaßung, Gehorchen ein Entäußern, beides aber eine Selbstentehrung ist, die der Freie verachtet ...

Das in den Uniformierungen verkrüppelte Geschlecht mochte lange Zeit brauchen, um den natürlichen Wuchs und die aufrechte Haltung des Stolzes wieder zu erlangen.

Auban war kein Träumer. Während er die Forderungen der Freiheit stellte, verlangte er von der Zeit nicht deren sofortige Einlösung. Die großen Verschiebungen der sozialen Organe würden vielleicht Jahrhunderte erfordern, ehe sie den normalen Zustand gleicher Lebensbedingungen für Alle erreicht hatten.

Desto länger würde der Prozeß der Entwicklung zur Freiheit dauern, je mächtiger und siegreicher die große Gegenströmung der Autorität werden würde.

Gewaltsame Ereignisse würden den friedlichen Gang der Entwicklung überall unterbrechen. Sie waren unvermeidlich. Zu groß war der Haß, die Blindheit, die Unsicherheit auf beiden Seiten geworden, als daß nicht Zusammenstöße erfolgen mußten, unter denen die Erde in Schauern erbeben würde.

Die Natur der Dinge mußte ihren Lauf nehmen.

Die Logik der Thatsachen zerstörte die Wünsche der Unmöglichkeit.

Immer müssen sämtliche Thorheiten ihren Zoll der Erfahrung gezahlt haben, ehe sich diese an das Licht nöthigen läßt.

Der Sozialismus war die letzte Universal-Dummheit der Menschheit. Auch diese letzte Leidensstation auf dem Wege zur Freiheit mußte zurückgelegt werden.

Dann erst konnte der Gott des Wahnes ans Kreuz geschlagen werden.

Dann erst, wenn aller Glaube mit zerbrochenem Genick zu Boden lag und keiner Hoffnung mehr – um in die Himmel zu enteilen – die Flügel leihen konnte, dann erst war die Zeit gekommen für das wahre Reich auf Erden, das Reich des Glücks, der Freude und des Lebensgefühls, welches die Freiheit war ...

Aber die Freiheit hatte auch einen mächtigen Helfer: die Zwietracht im Lager ihrer Feinde.

Ueberall Zerrissenheit, überall Unruhe; überall Angst und überall der Ruf nach mehr Gewalt! Gewalt, Gewalt – sie sollte alle Schäden heilen. Und die Armeen wuchsen aus der Erde, die Völker starrten in Waffen und die Angst vor der blutigen Zukunft scheuchte den Schlaf aus den Augen der Sehenden.

Die Gewalthaber wußten nicht mehr ein und aus. Gleich jenem Feldherrn des Alterthums riefen sie, man solle das Meer peitschen, das mit seiner Woge das Deck überschwemmte und Mann und Maus zu verschlingen drohte.

Kriege, mit deren Blutströmen die Inhaber der Macht die Flammen der Empörung ihrer Völker zu löschen versuchen würden, waren unvermeidlich, Kriege, wie die Welt sie nie gesehen ...

Zu groß war die begangene Schuld geworden und furchtbare Sühne würde genommen werden!

Dann, nach dem Chaos der Revolutionen und den Metzeleien der Schlachten, wenn die verwüstete Erde in Erschöpfung zusammengebrochen war, wenn die bitterste Erfahrung den letzten Glauben an die Autorität vernichtet haben würde, dann würde vielleicht verstanden, wer sie waren und was sie wollten, sie, die Einzigen, welche ruhig und gefaßt in dem Taumel um sich her der Freiheit vertrauten, die sie nannten mit dem Namen: Anarchie! ...

*

Wie es wogte und brauste, dieses London! Wie mit dem Sinken des Abends seine Pulse schneller und schneller schlugen! – Was deuteten diese tausendfachen Stimmen?

Weiter und weiter war Auban gegangen, bis er seine Wohnung erreichte.

Nun war er wieder in der erst vor Stunden verlassenen Stille seines Zimmers.

Noch glühte das Feuer im Kamin. Aber bevor er seine Arbeit wieder aufnahm, rückte er einen Stuhl heran und saß so kurze Zeit: die Hände gegen die Wärme gestreckt und, vornüber gebeugt, die Blicke in die Gluth gerichtet.

Eine große, fast gewaltige Freude überkam ihn, wie er sie nie gefühlt.

Die Mauern dieses Zimmers, die Nebel Londons, das Dunkel des Abends – Alles versank vor dem Bilde, welches er sah:

Eine lange Nacht ist vergangen. Langsam erhebt sich die Sonne über die schlafenden Dächer und die ruhenden Felder.

Ein einsamer Wanderer durchschreitet die Weite.

Auf den Gräsern am Wegrande zittert noch der Thau der Nacht. Aus den Hainen am Hügelrande erklingen die ersten Stimmen der Vögel. Ueber die Gipfel der Berge kreist der erste Aar.

Allein geht der Wanderer. Aber er fühlt seine Einsamkeit nicht. Die keusche Frische der Natur theilt sich ihm mit.

Er fühlt: es ist der Morgen eines neuen Tages.

Dann begegnet ihm ein zweiter Wanderer. Und ein dritter. Und sie verstehen sich mit ihren Blicken, während sie aneinander vorüberziehen.

Das Licht steigt und steigt. Und der Morgen-Waller breitet weit seine Arme und begrüßt es mit dem befreienden Schrei der Freude.

So war Auban.

Ein Frühroth-Gänger bei Anbruch des neuen Tages war er.

Nach einer langen Nacht voll Irrthum und Wahn ging er durch einen Morgen voll Licht.

Die Sonne der Erkenntniß war ihm aufgegangen und sie stieg höher und höher.

Viele Jahrtausende mußten vergehen, ehe die Idee der Anarchie erwachen konnte.

Alle Formen der Knechtschaft mußten durchgangen werden. Immer die Freiheit suchend, um in der gewechselten Form nur dieselbe Unfreiheit zu finden, waren die Völker durch sie hin getaumelt.

Nun war die Wahrheit gefunden: alle Formen zu verwerfen, welche Zwang waren. Die Gewalt begann zu unterliegen.

Die wilde Jagd nahte sich dem Ende. Noch aber galt es zu kämpfen, zu kämpfen, zu kämpfen – nicht zu ermüden und niemals zu verzweifeln!

Nicht um nichtige Ziele handelte es sich. Das Glück der Freiheit, das erstritten werden sollte, war unverwelklich.

*

Wie der Wanderer war Auban.

Und wie der Frühlicht-Gänger breitete auch er die Arme, grüßte die Zukunft mit dem Rufe der Freude und nannte sie mit dem unsterblichen Namen: Anarchie! ...

*

Dann ging er an seine Arbeit.

Auf seinen hageren, herben Zügen lag ein ruhiges, großes, sicheres Lächeln.

Es war das Lächeln der Unbesiegbarkeit.

Ende


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