John Henry Mackay
Die Anarchisten
John Henry Mackay

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Drittes Kapitel

Die Arbeitslosen

Nun hatte die Weltstadt an der Themse, die »größte Warze der Erde«, wieder ihr alljährliches Schauspiel: den unheimlichen Anblick jener Schaaren, welche nur ein Uebermaaß von Elend – das Schreckgespenst des Hungertodes – aus ihren Höhlen zu treiben vermochte, um sich im Herzen der Stadt, auf jenem weltberühmten Platze, welcher der Erinnerung an vergangene Tage »des Ruhms und der Größe« geweiht ist, mit der Frage zu beschäftigen: »Was thun, um Morgen noch zu leben? Wie diesen langen Winter ohne Arbeit und ohne Brot überstehen?«...

Denn diese Unglücklichen, die längst gelernt hatten, daß es für sie keine Rechte auf der Erde gab: weder auf einen Fußbreit ihres Bodens, noch auf das geringste ihrer Güter – sie hatten jetzt auch ihr letztes »Recht«: das Recht, sich für Andere totschinden zu dürfen, verloren, und standen Gesicht an Gesicht mit jenem Schreckbild, welches der treueste Begleiter der Armuth durch ihr ganzes Leben ist: dem Hunger.

Die Verzweiflung war es, die diese Menschen, deren Bescheidenheit und Genügsamkeit so groß war, daß sie aufhörte, begreiflich zu sein, hinaustrieb unter die Augen des öffentlichen Lebens.

Der feuchte, unfreundliche Oktober ging zu Ende. Die Tage wurden kürzer und die wilden Stunden des nächtlichen Lebens länger.

Schon in den Morgenstunden füllte sich die weite, kalte Fläche von Trafalgar Square mit den Gestalten des Elends.

Aus allen Theilen der Stadt kamen sie her: glücklich, wen die Noth noch nicht zur Aufgabe der eigenen Wohnung, des Schmutzloches im Keller oder im fünften Stock, und des Winkels von Zimmer gezwungen hatte; glücklich auch Der noch, welcher im Laufe des Tages mit Hilfe eines guten Zufalls so Viel hatte auftreiben können, um in einem der Lodginghäuser Unterkunft zu finden – aber auf den meisten dieser kranken, bleichen und müden Gesichter war nur zu deutlich erkennbar, daß sie die kalte Nacht durch auf einer Bank am Themse Embankment oder in einem Thorweg oder Durchgang von Covent Garden ›geruht‹ hatten.

Die » Unemployed!« Ja, sie machten wieder Viel von sich reden in diesem Jahr der Gnade! Seit 35 Jahren traten sie nun schon so Jahr für Jahr bei Beginn des Winters vor das Antlitz des Reichthums hin. Und jedes Jahr wurde ihre Zahl größer, jedes Jahr ihr Auftreten sicherer, jedes Jahr ihre Forderung bestimmter! Noch standen in wacher Erinnerung die Februar-Riots von 1886, bei denen es ohne Eigenthumsberaubungen nicht abgegangen war. Sie hatten Nichts gemein mit irgendeiner Partei; sie hatten keine erklärten Führer im Parliament House, welche ihre Rechte »vertraten« – der Hunger war ihr Leiter und Treiber; keine Organisation schloß sie zusammen, doch das Elend schweißte sie aneinander. Woher kommen in den Tagen politischer und sozialer Empörungen plötzlich die unbekannten Mitkämpfer, wie Ratten aus ihren Löchern – ah, es sind die Rekruten der großen Armee des Schweigens, welche nie mitgezählt wurden und doch so oft die Entscheidung herbeiführten ... Es sind die Glieder jener großen Masse, welche sich Volk nennt: die Rechtlosen, die Ausgestoßenen, die Namenlosen, jene, die nie waren und nun plötzlich sind, ein enthülltes Geheimniß und ein wesenwerdender Schatten, ein zum Leben erwachter Scheintoter, ein jählings zum Mann gereiftes, nie beachtetes Kind – das ist das Volk!

Man rechnete nie mit ihm, da es keine Rechte besaß; nun rechnet es sich selbst mit und seine Zahlen zermalmen ...

Ihr Lügner, die Ihr in seinem Namen groß geworden seid, unter seinem Deckmantel die Verbrechen Eurer Gewalt begangen habt, wie seid Ihr plötzlich zu Nichte geworden! Ihr habt es betrogen, verrathen und verkauft – ein Wort, ein Gespenst, ein Nichts war es, mit dem Ihr hantiertet nach Lust und Gefallen – und nun tritt es plötzlich vor Euch hin! Leibhaftig vor Euch hin! ... Gleichgültig, verständnißlos und hartherzig, wie immer, stand die Bourgeoisie und ihre Regierung den Arbeitslosen auch in diesem Jahre gegenüber. Als ihr täglicher Anblick unangenehm zu werden begann, rief sie nach der Polizei, und ließ sie vom Square vertreiben. Sie gingen in den Hyde Park; man ließ sie auf den Square zurückkehren, um sie von Neuem brutal zu verjagen.

Man reizte sie, um sie verhaften zu können; und wenn sie vor dem Richter standen, erklärte dieser ihre Aufzüge für ›theatralisch‹ und keine Hand erhob sich, diesem Buben ins Gesicht zu schlagen; sie wandten sich an den Staat, mit der demüthigen Bitte um Arbeit, und der Staat gab ihnen die Antwort, daß er nicht im Stande sei, ihnen zu helfen – aber ihr Blick reichte natürlich nicht weit genug, um zu sehen, daß gerade dieser Staat es war, der sie verdarb; nur müder, hungriger und verbitterter noch als vorher kehrten sie von ihren fruchtlosen Bittgängen um – Arbeit bei den Behörden zurück: und wenn der frühe Morgen graute, standen Schaaren von ihnen hungernd und furchtbar erregt an den Gittern der Docks, wo alltäglich eine nicht geringe Anzahl kräftiger Hände zum Aus- und Einladen der Dampfer gebraucht wurde. Wem es gelang, sich durch stundenlanges Warten und rücksichtslosen Gebrauch der Fäuste und Ellbogen vorzudrängen und angenommen zu werden, dem war für einen Tag geholfen. Aber verhältnißmäßig – wie Wenige waren das! Die Meisten kehrten, Verzweiflung im Herzen und einen Fluch über dies elende Leben auf den Lippen, zurück zu ihren Leidensgenossen, um zu hören, wozu diese nun riethen – sie hatten ja »Nichts zu thun« ...

Seit Wochen schon dauerten ihre Zusammenkünfte; und seit Wochen brachten die Londoner Tageszeitungen, froh, einen neuen Stoff zu haben, um ihre endlosen Spalten zu füllen, lange Aufsätze zu der Frage der » Unemployed«: viel weise Lehren – und keine Spur von Verständniß für die eigentlichen Gründe dieses Elends; viel schöne Worte – und kein einziger Weg der Rettung für die Unglücklichen. Jede unter ihnen wußte ein anderes Heilmittel gegen das Uebel und brachte es vor mit dem lächerlichen Ton der Unfehlbarkeit – darin aber waren alle einig, daß es eine Schmach für »ein geordnetes Gemeinwesen« sei, daß dieses verkommene Gesindel sich unterstehe, sein Elend auch noch öffentlich zu zeigen. Mochten sie doch verhungern bei Tag und erfrieren bei Nacht, schweigend da draußen in ihren Winkeln und Löchern, wo man Nichts davon sah und hörte, aber so die ästhetischen, zarten Gefühle der guten Gesellschaft durch den nahen Anblick all dieses Jammers und Schmutzes zu verletzen, welche Frechheit! –

*

Es war an einem Sonntag – dem vorletzten Sonntag dieses unerfreulichen und trüben Monats – als Trupp sich entschlossen hatte, seinen freien Nachmittag zu verwenden, um sich von der Ausdehnung und der Bedeutung dieser Zusammenkünfte ein richtigeres Bild zu machen, als er dies aus den Erzählungen seiner Genossen und seiner Mitarbeiter in der Werkstatt zu gewinnen vermochte. Er war in Clarkenwell Green, dem altbekannten Versammlungsort so vieler Parteien und Jahre, um die Mittagsstunde gewesen, hatte dort mit Ingrimm noch einen Theil der Reden mit angehört, und zog nun in einem ungewöhnlich starken Zuge von Arbeitslosen, dem eine rothe Fahne vorangetragen wurde, den Strand hinunter und auf Trafalgar Square zu. Er hatte noch keinen Bekannten getroffen, war aber mit einem der neben ihm Gehenden in ein Gespräch gerathen, als dieser, welcher ihn rauchen sah, ihn um etwas Tabak gebeten hatte, »um den Hunger nicht so zu fühlen«; und ihr Gespräch war, trotzdem Trupp sich nur schwer in Englisch ausdrücken konnte und kaum die eine Hälfte ordentlich verstand und die andere sich errathen mußte, von Dem, was ihm erzählt wurde, schnell lebhaft geworden, als er dem krank und verwacht Aussehenden in dem Nächstliegenden von Lockhardts Cocoa Shops mit seinen letzten Geldstücken einige Sandwiches gekauft hatte. Er hatte ja noch Arbeit – wie lange noch, das wußte er freilich auch nicht. Es war eine lange, alltägliche Geschichte des Leidens, die Jener ihm erzählte: elend bezahlte Arbeit den ganzen Sommer hindurch; plötzliches Aufhören derselben; Stück für Stück des kleinen Hausraths zum Pfandhaus; das Fehlen bald auch des nötigsten Lebensunterhaltes; sein kleines Kind gestorben aus Mangel an Nahrung; die Frau im Arbeitshaus – und er selbst: »ich hänge mich lieber auf, als auch dahin zu gehen«, schloß er.

Trupp betrachtete ihn – es war ein intelligent aussehender, schon älterer Mann – und fragte dann:

– Wieviel Unbeschäftigte, glaubt Ihr, giebt es augenblicklich in London?

– Sehr viele! sagte der andere. – Sehr viele! – Sicher mehr als Hunderttausend, und wenn Ihr die Frauen und Kinder hinzuzählt, noch viel mehr! Eine halbe Million! Was auf Trafalgar Square zusammenkommt, das ist nur ein kleiner Theil, und von dem besteht ein Fünftel dazu noch aus gewerbsmäßigen Bettlern und Herumtreibern, Taschendieben und Tagtotschlägern, und hat Nichts zu thun mit den Unemployed, welche nur ehrliche Arbeit haben wollen. Aber sie geben uns keine und lassen uns hungern. Wir sind gestern auch wieder zu dem Board of Works gegangen.

– Was ist das? unterbrach ihn Trupp, der wenig wußte von den verzweigten Einrichtungen der Stadt.

– Es ist die Behörde, welche die großen Stadtbauten ausführt ihre Office ist ganz nah dem Square – und da war Einer unter den Sprechern, der legte klar, daß sie die Themsearbeiten, von denen schon so viel geredet ist, in Angriff nehmen und so sehr Vielen von uns Arbeit geben könnten, und ein Anderer, der sprach von der Anlegung von Abzugskanälen und der Gründung von Armendörfern in der Nähe von London –, aber sie wollen nicht, sie wollen nicht!

Trupp hatte aufmerksam zugehört.

– Und dabei werden in London jährlich zweieinhalb Millionen Pfund Sterling für Armenabgaben aufgebracht; zwei Millionen allein aus freiwilligen Beiträgen. Wo das Geld hinkommt? – Ich wünschte, es zu wissen! –

– Ja, sagte Trupp, – das sind Eure Diener, die Diener des Volkes und die Verwalter seiner Angelegenheiten –

– Und auf dem Polizeiamt sind wir auch gewesen, und haben die Antwort erhalten, daß Jeder, der beschäftigungs- und obdachlos angetroffen werde und sich weigere, zum Arbeitshaus zu gehen, mit Gefängniß, mit harter Arbeit bestraft werden würde ...

– Was seid Ihr?

– Ach, ich habe schon Viel gethan, wenn ich Hunger hatte und meine Arbeit nicht fand. Jetzt war ich bis vor zwei Monaten in einer Konservenfabrik, machte Blechbüchsen – jeden Tag zwölf Stunden, nie weniger, oft aber vierzehn –

– Und wieviel?

Well, wenn es gut ging, 8 sh., meistens 7 sh., oft nur 6 sh. die Woche.

Trupp lebte seit einiger Zeit im East End. Er kannte die Löhne der englischen Arbeiter. Er kannte Familien von acht Personen, welche zusammen nicht mehr als 12 sh. in der Woche verdienten, von denen sie vier für ihr Loch von Zimmer zahlen mußten ... Er wußte, daß unter den Streichhölzerschachtel- und Sackverfertigerinnen und in hundert andern Branchen die Hungersnoth beständig grassierte.

Die Hungersnoth in der reichsten Stadt der Erde! Er ballte die Fäuste.

Er selbst verdiente mehr. Er war ein sehr kenntnißreicher und befähigter Mechaniker, dessen Arbeit eigenes Nachdenken erforderte. – Er war vom Kind zum Mann geworden in diesem unermeßlichen Elend, dessen Anblick ihn nie, in keinem Lande, in keiner Stadt verlassen hatte. Aber was er in London sah an wahnsinnigem Luxus auf der einen und hoffnungslosem Jammer auf der andern Seite, das übertraf Alles.

Er zog einen zerknitterten Zettel aus der Tasche, dessen er sich jetzt wieder erinnerte und überflog ihn beim Weiterschreiten. Es war das » Jubilee Manitfesto« der Socialdemocratic Federation.

Er überflog die folgenden Zahlen:

Vier Millionen Menschen in Großbritannien abhängig von Mildthätigkeit ... die Arbeiter nicht im Stande, mehr als den vierten Theil dessen, was sie hervorbringen, zu erhalten ... 30% der Kinder der Board Schools halbverhungert ... 54 Personen in einem Jahre an Hunger gestorben in London ... 80 000 Frauen zehn auf hundert – Prostituierte ... Bilder aus den »fünfzig Jahren des Fortschritts«!

– Es ist Eure eigene Schuld, sagte er zu seinem Begleiter, während sie Fleet Street durchschritten, die Straße der großen Zeitungen, deren Namen von allen Giebeln und von allen Wänden herniederriefen, – Es ist Eure eigene Schuld – (und das Gebrause des immer mehr und mehr anschwellenden Zuges, welcher sich ernst und drohend nach dem Strand zuwälzte, schien die Wucht seiner Worte unterstützen zu wollen –) es ist Eure eigene Schuld, wenn die Erde, die Euch gehört, nicht Euer ist. Eure eigene Gedankenlosigkeit und Feigheit – das sind Eure schlimmsten Feinde. Nicht die Handvoll elender Geldsäcke und Nichtsthuer, sagte er verächtlich.

– Ah, Ihr seid ein Sozialist? meinte der Andere lächelnd. Trupp zuckte die Achseln.

– Da seht hin, rief er laut in seinem schlechten und fehlerhaften Englisch, – diese Läden, die Ihr gefüllt habt mit Brot, und an denen Ihr hungernd vorbeigeht; diese Magazine, die Ihr bis zum Brechen gefüllt habt mit Kleidern, wem gehören sie, wenn nicht Euch und Euren frierenden Kindern?

Es war Keiner unter Denen, die aus dem unaufhaltsam dahinfluthenden Zuge diese einfachen Worte gehört und verstanden hatten, der ihnen nicht beigestimmt hätte, aber schweigend, ermattet und willenlos trugen sie Alle ihren nagenden Hunger an dem zur Schau gestellten Ueberfluß vorüber. Keine dieser Hände, welche immer nur für Andere gearbeitet hatten, immer nur die Taschen Anderer gefüllt, um selbst leer, immer leer zu bleiben, streckte sich jetzt aus, um einen kleinen, verschwindend kleinen Theil von dem wiederzunehmen, was ihnen vorenthalten war – –

Schweigend und unsicher zogen sie dahin, die langen Straßen des Reichthums hinunter, sie, denen man Alles genommen und Nichts gelassen hatte: keinen Fußbreit Erde, keines jener vielgepriesenen Menschenrechte, keines auch der nöthigsten Existenzmittel, als eine furchtbare Anklage gegen sämmtliche Institutionen einer irdischen Gerechtigkeit, als ein unabweisbarer, unwiderlegbarer Beweis gegen die Existenz einer göttlichen – und sie, sie wurden als eine Schmach der Zeit bezeichnet, sie, welche nur die Opfer der Schmach ihrer Zeit waren. So wirrten am Ende des 19. Jahrhunderts überall die Begriffe unerkennbar durch einander, und die Schuldigen glaubten ihrer Schuld zu entrinnen, wenn sie Ursache und Wirkung der bestehenden Verhältnisse miteinander sophistisch zu vertauschen suchten. – Das waren Trupps Gedanken, als er schweigend in dem schweigenden Zuge die unabsehbar lange Straße hinunterschritt. – Die Schaar schien immer größer zu werden, je mehr sie sich dem Trafalgar Square näherte. Trupp und der Arbeiter, mit dem er gesprochen hatte, gingen immer noch nebeneinander her. Aber sie sprachen nun nicht mehr. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Man hatte des Ersteren Worte vernommen, und dieser hörte, wie sie darüber diskutierten.

– Diese verdammten Deutschen, rief ein junger Mensch, – sind an allem Schuld. Sie drücken unsere Löhne. Und er sah sich drohend nach Trupp um.

Trupp wußte gleich, was Jener meinte. Er hatte schon zu oft von den »bloody Germans« gehört, als daß er diese alte Anschuldigung, welche den Ausbeutern so prächtig zu Statten kam, um die Augen ihrer Arbeiter von den wirklichen Ursachen ihres Elends abzulenken, nicht verstehen sollte.

Seine feste Gestalt, sein düsteres, bärtiges Gesicht, seine ganze Haltung schienen dem jungen Menschen indessen zu wenig vertrauenerweckend zu sein, als daß er versucht hätte, mit ihm Händel anzufangen; und Trupp ließ ihn und die Andern bei ihrem Glauben über die Niederträchtigkeit der deutschen Arbeiter, welche »nur nach England kommen, um den englischen ihr Brot zu stehlen«.

Aber es verminderte seinen Schmerz und seine Bitterkeit nicht, wenn er sich vergegenwärtigte, wer es wirklich war, der von Deutschland nach England kam. Er kannte jene Schaaren, welche nicht nur die Hoffnung auf einen besseren Verdienst, sondern auch auf freieres und menschenwürdigeres Dasein zum Verlassen der Heimat trieb: denn wie war es möglich für sie zu leben unter dem beständigen Druck eines wahnsinnigen Gesetzes – das Schandgesetz, so nannte es der Volksmund –, welches den Gedanken zu morden, das Wort zu ersticken, jeden Schritt und Tritt zu bewachen sich vermaaß? ...

Als der Zug auf dem Square anlangte, war Trupp überrascht, zu sehen, wie stark bereits die Menschenansammlung auf ihm war. Die große, weite Fläche des Innenraumes war fast gefüllt mit einer hin- und hertreibenden Menge und in sämmtlichen umliegenden Straßen schien der Wagen- und Menschenverkehr nicht schwächer, wie an Wochentagen zu sein.

Der ankommende Zug wurde mit stürmischen Rufen empfangen. Trupp trat aus und blieb in der Nähe von Morleys Hotel stehen. Er sah die Reihen den Square betreten, den Mann, der die rote Flagge getragen hatte, mit mehreren anderen den Fuß der Nelsonsäule besteigen, und er sah, wie sich dort im nächsten Augenblick eine tausendköpfige, aufmerksam den Worten eines Redners lauschende Menge ansammelte.

Er stand erhöht auf dem nach St. Martins Church sich hinaufziehenden Wege. So konnte er den Fuß der Säule überblicken, der dicht besetzt war. Er sah die heftigen Gestikulationen der Redner, das Wehen der rothen Fahne, und die schwarzen Helme der Polizeimannschaft, welche sich in großer Anzahl unmittelbar unter den Redenden aufgestellt hatte.

Zuweilen wurde ihm der Ausblick durch ein vorüberfahrendes Cab oder einen dichtbeladenen Omnibus genommen.

*

Plötzlich sah er, wie eine ungeheure Bewegung in die Masse kam, welche den Square besetzt hielt – ein Aufschrei des Schreckens und der Entrüstung gleichzeitig aus tausend Kehlen brach in die Luft und gleich einer mächtigen dunklen Woge fluthete die Menge zurück, sich weit über die Treppen an der Nordseite und die Straßen ergießend. ... Die Polizei hatte plötzlich und gänzlich unvermittelt in ihrer ganzen aufgestellten Stärke einen Angriff auf die ruhig Zuhörenden gemacht und trieb nun die Schreienden rücksichtslos vor ihren geschlossenen Reihen her.

Trupp fühlte, wie eine entsetzliche Wuth in ihm emporquoll. Diese überlegte und absichtliche Rohheit machte ihm das Blut kochen. Er drängte sich über die Straße und stand an der steinernen Einfassung des Platzes; unter ihm lag der schon zur Hälfte geleerte Square. Mit Faustschlägen und Fußtritten jagten die Büttel die Wehrlosen vor sich her. Wer nur die geringste Miene machte, sich zur Wehr zu sehen, wurde niedergeworfen und fortgeführt.

Ein junger Mensch hatte sich ihren Händen entrissen. In fliegendem Lauf suchte er den Ausgang des Platzes zu gewinnen. Aber die dort Aufgestellten rissen ihn sofort nieder, während die nach Außen getriebene Menge diesen Akt widerlicher Brutalität mit Ausrufen der Verachtung und Wuth begleitete.

Mit einem Satze sprang Trupp, als er Dies sah, über die Brüstung, welche hier – sie senkt sich langsam von Norden nach Süden – noch meterhoch war. Er eilte dem Fuße der Säule zu, auf dem noch immer einige der Redner standen.

Der Fahnenträger hatte sich gegen die Säule gestemmt und hielt die Fahne mit beiden Händen. Er stand ganz allein. Aber er war augenscheinlich entschlossen, nur der äußersten Gewalt zu weichen.

Jetzt zog sich die Polizei wieder langsam an den Fuß der Säule zurück, wo sie sich von Neuem aufstellte; und auf dem Fuße folgte ihr von allen Seiten und von allen Eingängen wieder die Menge. In wenigen Minuten war die ganze Fläche wieder bedeckt mit einer dunklen Fluth von Menschen, deren Empörung gewachsen, deren Rufe nach der Fortsetzung der Rede ungeduldiger, deren Aufregung gewaltiger geworden war.

Wieder füllte sich der Fuß der Säule: man hob und zog sich gegenseitig hinauf. Vor der Fahne stand ein junger Mann von etwa dreißig Jahren. Er war einer der besten Redner und unter den Arbeitslosen sehr bekannt. Er war totenbleich vor Erregung und blickte mit dem Ausdruck unversöhnlichen Hasses auf die Gestalten der Polizisten zu seinen Füßen nieder.

Einer der Konstabler rief zu den Rednern hinauf, daß er bei dem ersten aufrührerischen Wort jeden von ihnen auf der Stelle verhaften lassen würde.

Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck der Geringschätzung sah der junge Mensch auf ihn herab.

Trupp stand dicht vor der Reihe der Polizisten. So dicht, daß er von der nachdrängenden Menge fast gezwungen wurde, sie zu berühren. Aber trotzdem hob er seinen Arm in die Höhe und rief den Obenstehendes ein lautes »Go on!« zu. Sofort wurde sein Ruf den Umstehenden zum Zeichen eines lauten Beifallklatschens und zu unzähligen Rufen ähnlicher Art.

Es schien erst, als wolle die Polizei bei diesem Ausbruch des Gefühls der Menge einen neuen Angriff machen. Aber sie unterließ es und der Redner begann. Er sprach über das Recht der Redefreiheit in England und über die versuchte Unterdrückung desselben, welche bis jetzt erfolglos geblieben sei. Vor sich sehe er eine Menge, wie sie in diesem Jahre Trafalgar Square noch nicht getragen. – Hierher, unter die Augen der ganzen Welt, hätten sie sich gestellt mit ihrer Forderung: »Brod oder Arbeit«. Und hier, im Angesicht dieser verschwenderischen Reichthümer, welche sie selbst erschaffen, würden sie sich so lange versammeln, bis diese Forderung erfüllt worden sei. – Sie hätten kein Fenster gebrochen, und kein Stück Brod an sich genommen, um ihren Hunger zu stillen – ein Lügner sei, wer Das behaupte. Es wäre ihnen sehr angenehm gewesen, wenn wir es gethan hätten – dann hätte die Polizei einen bequemen Entschuldigungsgrund dafür, daß sie unsere friedlichen Versammlungen gestört und uns in brutalster Weise zu Ausschreitungen zu reizen gesucht hat. –

Neben Trupp stand der Reporter einer Zeitung, welcher mühsam im Stehen Chiffrenotizen machte. Er hätte dem gleichgültigen Manne das Papier aus der Hand reißen mögen. Angeekelt suchte er sich einen Weg durch das ihn umgebende Gewühl zu bahnen. Er kam nur Schritt für Schritt vorwärts. Die Zuhörer bestanden nicht nur aus Arbeitslosen mehr: viel verdächtiges Gesindel, welches in London bei jedem Anlaß sich in unglaublich großer Anzahl ansammelt, viele Neugierige, welche sehen wollten, was es gäbe, sowie eine Anzahl wirklich Interessierter hatte sich unter sie gemischt. Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm, müde und hungrig, standen dicht neben den aufgedonnerten Kleiderpuppen des Westends, von denen die eine oder andere sich auf den Square gedrängt hatte, nachdem ihr versichert worden war, es sei »noch nicht gefährlich«; und unter der Menge sah Trupp ein Gesicht, welches ihn empörte: das freche, höhnisch-lächelnde Gesicht eines Gentleman in hohem Hut, der unweit der Säule stand und jetzt in die Worte des Redners ein »Nonsense!« hineinrief – offenbar ein hochgestellter Beamter, welcher – der Geduld und der Langmuth des Volkes ebenso vertrauend, wie den Revolvern seiner Polizisten – sich diese Frechheit heraus nahm. Ein unwilliges Gemurmel entstand, während er ruhig mit seinem unverschämten Lächeln über die ihn umstehende Menge hinwegsah.

– Du Bursche, dachte Trupp bei sich, – Dir wird das Lächeln eines Tages schon vergehen –; aber fast gleichzeitig stimmte er in das Gelächter ein, welches ausbrach, als dem Langen durch einen kräftigen Faustschlag von hinten her der Zylinder über Augen und Ohren getrieben wurde. Die Menge stob auseinander, und es entstand um den so Gezüchtigten, dem das Lächeln vergangen war, schnell ein leerer Raum. Die Polizei rückte vor, obwohl sie Nichts von dem Vorfall gesehen hatte. Trupp wurde von der Menge fortgerissen. Er stand nun an der Ostseite des Squares.

*

Unterdessen hatten sich auch die anderen drei Seiten des Fußes der Säule mit Menschen bedeckt und auch von ihnen wurde zu den Versammelten hinuntergeredet. Nicht Alles, was gesprochen wurde, stand im Zusammenhang mit dem Zweck der Versammlung, und aus der Stimme manches Redners klang mehr die Selbstgefälligkeit und die kindliche Freude an den eigenen Worten, als die Empörung über die Zustände, welche er geißeln sollte, und das Bestreben, diese selbe Empörung auch in den Herzen seiner Zuhörer zu wecken und zur Flamme zu entfachen.

Trupp sah mit einem bösen Lächeln einem dieser heftig gestikulierenden geschäftsmäßigen Volksredner zu, der mit ermüdender Weitschweifigkeit den hungernden Londonern von ihren hungernden Leidensgenossen in Indien sprach und die Schändlichkeiten, die von der englischen Regierung in diesem unglücklichen Lande verübt sind und verübt werden, aufzählte, statt ihnen die ebenso großen Willkürlichkeiten derselben Regierung zu enthüllen, unter denen sie zu leiden und langsam zu sterben verdammt waren.

Lautes Gelächter und höhnische Zurufe ließen ihn indessen gleich darauf von dem Schwätzer ab- und sich einem jener bemitleidenswerten Fanatiker zuwenden, welche bei allen solchen Versammlungen ihre Mission erfüllen zu müssen glauben, das verirrte Volk in die Arme und den Schooß der alleinseligmachenden Kirche zurückzuführen: die Armen in ihrem Dulden und Leiden, und die Reichen in ihren Genüssen zu stärken. Trupp sah sich den schwarzgekleideten Mann neugierig an. Das glattrasierte fahle Gesicht, der scheue Blick der Augen und der süßliche Ton der leiernden Stimme wären ihm zuwider gewesen, auch wenn der Mann nicht im Dienste Dessen gestanden hätte, das er haßte, weil er in ihm das Hauptmittel zur Verdummung und geistigen Unterdrückung des Volkes sah.

Aber nur mit Hohngelächter wurden die Worte des Missionars aufgenommen. Er wurde überschrieen von allen Seiten. Drohrufe wurden laut, sich zu entfernen. Dann flogen Apfelsinen- und Nußschaalen nach ihm. Er ließ Alles ruhig über sich ergehen und leierte so ruhig und monoton seine eingelernten Phrasen herunter, auf welche Niemand hörte, als ginge ihn das Ganze gar Nichts an. Man drängte ihn fort von der Stelle, wo er stand. Kaum konnte er wieder Fuß fassen, als er in seiner Rede fortfuhr. Das Gebahren dieses neuen Christus war lächerlich und jämmerlich zugleich. Plötzlich flog ein bewundernswerth sicher gezieltes Ei auf den Sprecher zu – eine faule, breiige Masse schloß ihm klatschend den Mund. Das war zu Viel, sogar für diesen Märtyrer. Er hielt nicht mehr Stand. Beschmutzt von oben bis unten, spuckend und sich blitzschnell duckend, schlüpfte er zwischen den Umstehenden durch, gefolgt von dem rohen Gelächter der aufgeregten und schreienden Menge.

Trupp zuckte die Achseln. Er wünschte, daß jedem Volksverderber und Wahrheitsfälscher der Mund auf gleich drastische Weise geschlossen werden möchte.

Er wandte sich ab und ließ sich von dem Schwarm vorüber an den Fontänen, deren schmutzige Wasserbecken übersät waren mit Abfällen aller Art, wieder zurück nach der Nordseite des Platzes treiben. Auch dort, an den Laternenpfählen des breiten Geländers sich haltend, standen jetzt Redner und riefen auf die tief unter ihnen im Square Stehenden ihre aufgeregten, abgehackten und aufregenden Sätze hinunter.

Einer von ihnen schien Trupp bekannt. Er erinnerte sich, ihn bei den Versammlungen der Socialdemocratic Federation gesehen zu haben. Es war ein Parteisozialist. Trupp hörte zu. Er verstand wieder nicht Alles, konnte aber doch aus einzelnen Schlagworten entnehmen, daß Jener über die rasende Entwicklung der großkapitalistischen Ausbeutung, die immer drohender werdenden, durch sie bedingten Hungerrevolten, die Vergeßlichkeit der zu ihrer Unterdrückung angewandten Mittel sprach, und wie er jenes alte, durch einen voreingenommenen Kopf hingeworfene und seitdem so fest eingenistete Vorurtheil angriff: es sei der Mangel an Lebensgütern, welcher das Elend gewisser Schichten bedinge. Dann ging er auf die bekannten – zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Ideen die Wage haltenden – Theorien der Vertheilung im Ueberfluß vorhandener Güter über und Alles in Sätzen, von deren einzelnen Worten die Wiederholung langer Jahre jedes wie in Erz gegossen zu haben schien und – zur Phrase gemacht hatte.

Die Wirkung war indessen gering. Es waren wohl nur Wenige, welche jedem Worte folgten und überhaupt zu folgen vermochten. Die Meisten ließen sich in der unaufhörlichen Bewegung, welche sie – wie der Wind die Halme eines weiten Feldes – hin und her riß, von einem Fleck zum andern treiben. Meist versuchte die Stimme der Redenden vergeblich gegen ihren Schwall anzukämpfen.

Um die Bänke an der Nordseite des Square hatte sich eine laut lärmende Zahl von Kindern geschaart: von jenen Straßenarabern, welche zu jeder Tageszeit zu Hunderten die Hauptstraßen Londons überschwemmen – hinausgestoßen von den Eltern, wenn sie noch solche haben, und weitergestoßen von der gefürchteten Faust der Polizisten. Von jenen Kindern, welche nie eine Jugend haben; welche in ihrem Leben keine andere Natur, als die bestaubte von Hyde Park gesehen haben, wo sie an einem Sommerabende mit Hunderten ihrer Altersgenossen in der Serpentine baden; welche sich nie in ihrem Leben satt gegessen und nie ein nicht zerfetztes und reinliches Kleidungsstück auf dem Leibe haben; welche nie verdorben worden sind, da sie nie unverdorben waren.

Lachend und schreiend standen und sprangen sie auf den schmutzigen und abgetretenen Bänken herum. Eines unter ihnen behauptete sich eine Minute lang auf der Lehne einer derselben: mit komischer Grandezza ahmte es die Bewegungen der Redner nach und schrie sinnlose Worte in das Gewühl hinein. Sein schmutziges, früh altes Gesicht strahlte vor Vergnügen. Dann wurde es hinabgerissen von den jauchzenden Kameraden.

Trupp lächelte wieder, aber herb. Es war diese kleine Szene wie die bitterste Satire auf den bittersten Ernst. Er sah in die schmutzigen lasterhaften Gesichter der um ihn Stehenden – wohin sein Blick fiel: Elend, Hunger und Verkommenheit. Und es waren seine Brüder; er fühlte sich zugehörig zu ihnen Allen; untrennbar mit ihnen verbunden durch ein gleiches Schicksal.

Ueber Trafalgar Square hing ein monoton-grauer, schwermüthiger, sonnenloser Himmel. Höher schien sich diese kalte Kuppel gewölbt zu haben als sonst.

Wieder ging von dem Fuß der Nelsonsäule aus eine große Bewegung durch die Massen. Man sah ihn sich leeren. Man sah die rothe Fahne – über dem dunklen Meer von Köpfen – in der Richtung nach Westminster hinunter schwenken. Und ohne daß eine Parole ausgegeben worden wäre, folgten ihr ganz von selbst die Tausende. Zu einer ungeheuren Schlange reihten und verdichteten sich die einzelnen Glieder. So wälzte sie sich Whitehall hinunter, vorbei an den Spitzen so vieler Behörden, vorbei an den Erinnerungen der Geschichte, deren blutige Spuren von den Steinen dieser berühmten Straße von der Zeit fortgewaschen waren, vorbei an den beiden Wachen der Horse Guards, welche in ihren prahlerischen Uniformen auf ihren wohlgenährten Pferden die Eingänge jenes niedrigen Gebäudes bewachten ... Und hinauf durch die spalierbildende Zuschauermenge, welche dem seltsamen Zuge nachströmte, sobald er vorbeigezogen war... Mitten in den Reihen ging Trupp. Etwas schneller schlugen seine Pulse, während er sich fortgezogen und hinuntergeschwemmt fühlte von der Bewegung dieses Tages.

Die Türme von Parliament House tauchten immer klarer und ragender aus dem feinen Nebel auf. Dann lag Westminster Abbey plötzlich vor der unübersehbaren Schaar, die sich unaufhaltsam auf ihre Pforten ergoß. Trupp versuchte es, über die schwarzen Hüte, welche ihn umgaben, einen Blick auf die Spitze des Zuges zu werfen. Wenn es doch zu einem Zusammenstoß käme! – war sein glühender Wunsch.

Aber ruhig sah er die rothe Fahne sich von dem Haupteingang fort um die Ecke schwenken; der Zug strömte ihr in geschlossener Ordnung nach.

Die mannigfachsten Ausrufe umtönten ihn. Er wußte nicht, was das Alles zu bedeuten hatte. Und plötzlich befand er sich – der Zug hatte seinen Eintritt durch den östlichen Eingang nehmen müssen – in dem großen Schweigen der herrlichen Hallen, welche Jahrhunderte mit ihrem Duft gefüllt und mit ihrem Ruhme geweiht hatten.

Er stand im Poets Corner der Westminster Abbey, eingepreßt in der Menge, welche in den engen Bänken keinen Platz fand. Er sah die Büsten und las die Namen, welche er nicht kannte. Was waren sie? Und was waren sie ihm? – Er kannte nur einen englischen Dichter, und seinen Namen fand er nicht... Percy Bysshe Shelley. Der hatte die Freiheit geliebt. Darum liebte er ihn und las ihn, auch da, wo er ihn nicht verstand. Er wußte nicht, daß englische Engherzigkeit und Beschränktheit ihn, wie Byron dadurch ausgezeichnet hatten, daß sie ihm die Ehre eines Platzes in dieser halbhellen Ecke unter so viel echtem Genie und so viel falscher Größe bis jetzt hartnäckig verweigert hatte. Es war Gottesdienst. Von der Mitte der Halle her, wie aus einer großen Entfernung, drang die dunkle, monotone, halb singende Stimme des Geistlichen, welcher nach einer unmerklich kurzen Unterbrechung bei dem so unverhofften Eindringen seine Vorlesung fortsetzte, so auch die Gemeinde, seine erschreckten Hörer, wieder beruhigend... Trupp verstand kein Wort. Die Menge um ihn herum strömte einen starken Duft von Schweiß und Staub aus. Sie ward aufgeregter, nachdem das große Gefühl, welches sie übermächtig beim Eintritt ergriffen hatte, wieder geschwunden war. Einige hatten ihre Hüte aufbehalten; wenige Andere setzten sie wieder auf. Mehrere bestiegen die Bänke und sahen über die Andern hinweg. Nur wenige halblaute Worte fielen in die großartige Erhabenheit dieses Schweigens hinein. Trupp setzte sich. Gegen seinen Willen war er erfaßt von einem seltsamen, unerklärlichen Gefühl, wie er es seit langer Zeit – seit unendlich langer Zeit – nicht mehr empfunden... Je mehr der Raum uns umengt, desto mehr empfinden wir ihn, wenn die Flügel unserer Gedanken an seinen Wänden sich blutig schlagen; je weiter er uns umwölbt, desto mehr vergessen wir ihn und seine Schranken. Trupp blickte nieder und vergaß für die Zeit einer halben Stunde völlig, wo er war. – –

Sein ganzes Leben stieg ihm wieder auf. Aber die Umarmung dieser Erinnerung war nicht sanft und tröstend, wie die einer Mutter, zu welcher der Sohn zurückkehrt, sondern gewaltsam, unentrinnbar, zermalmend wie der tödliche Kuß eines Vampyrs es sein muß! Sein ganzes Leben. Er war jetzt ein Mann von 35 Jahren, auf der Mittagshöhe seines Lebens, im Vollbesitz der Kraft seines Körpers.

Er sieht seine Kindheit wieder, die durchhungerten, zerschlagenen Jahre seiner Kindheit, als Sohn eines Tagelöhners in einem schmutzigen Flecken des sächsischen Flachlandes; der Vater ein Schwachkopf; die Mutter eine streitsüchtige, ewig unzufriedene Frau, von welcher er die eiserne Energie und die unbändige Leidenschaft geerbt hatte; mit der er in beständigem Kampf lag, bis er ihr – denn der Vater kam nie in Betracht – eines Tages nach einer entsetzlichen Szene, in welcher sich sein reifendes Gerechtigkeitsgefühl gegen ihre grundlosen Vorwürfe und Klagen aufgebäumt hatte, davonlief...

Er sieht sich wieder als fünfzehnjährigen, verwahrlosten Knaben, ohne einen Pfennig Geld, zwei Tage lang von Flecken zu Flecken irren; er fühlt den wüthenden Hunger wieder, der ihm endlich nach zwei Tagen den Muth gab, auf einem Bauernhof sich ein Stück Brod zu erbetteln; und wieder die muthlose Verzweiflung, die ihn endlich dazu trieb – es war am Morgen des dritten Tages, einem naßkalten Herbstmorgen (wie er sich dieses Morgens erinnerte!), an dem er sich frostzitternd und gänzlich erschöpft von der Erde erhob – im nächsten Dorf nach Arbeit zu fragen. Das war in der Nähe von Chemnitz. Er tritt in eine Schmiede. Der Meister lacht und prüft die Muskeln seiner Arme. Er kann dableiben, er darf sich mit zum Frühstück setzen, einer dicken, schmacklosen Suppe, welche von den Gesellen mürrisch genossen, von ihm gierig heruntergeschlungen wird. Die Andern spotten über seinen Hunger; aber nie hat ihn ein Lachen weniger gestört. – Dann arbeitet er und lernt, mit rasendem Eifer, mit brennender Luft und Liebe an Allem. Die Tage, Wochen, Monate vergehen... Keiner kümmert sich um ihn. Am Längsten erscheinen ihm die Abendstunden nach beendeter Arbeit. Er weiß da nicht, was er thun soll. Einmal erwischt er ein Buch und nun buchstabiert er Satz für Satz. Es ist zufälligerweise das »Arbeiterprogramm« von Lassalle. Er hat es in einem Winkel seiner Dachkammer gefunden. Irgend Jemand mußte es dort vergessen haben. Er versteht kein Wort. Aber als der Meister ihn einmal über die schmutzigen Blätter gebeugt sieht, reißt er sie ihm aus der Hand und schlägt sie ihm hinter die Ohren. »Verfluchte Sozialdemokraten«, schreit er, »wollen sie das Kind auch schon verderben!« – Der Junge versteht Das wieder nicht. Er weiß nicht, was er Böses gethan haben soll. Aber er hat das Wort »Sozialdemokratie« zum erstenmal gehört. Das ist nun zwanzig Jahre her.

So schließt er seine erste Freundschaft. Denn seit dieser Stunde interessiert sich einer der Arbeiter, ein strenggläubiger Anhänger des emporblühenden Allgemeinen deutschen Arbeitervereins, welcher damals noch in unversöhntem Gegensatz zu der Eisenacher Richtung der Arbeiterpartei stand, für ihn und statt der schweren, wissenschaftlichen Arbeit jenes geistreichen Vorkämpfers des deutschen Sozialismus steckte er ihm eine auf dünnes Oelpapier gedruckte Zeitung zu, welche an der Hand von Tagesereignissen dem erwachenden Geiste die sozialen Schäden der Gegenwart besser illustrierte, als dies auch die leichtestgefaßte volkswirthschaftliche Abhandlung vermocht hätte. Er las da die zusammengetragenen Schilderungen der verderblichen Gegensätze: die haßerfüllten Schilderungen der frechen Schwelgereien, der brutalen Herzlosigkeit, des schamlosen Uebermuths auf der einen, die leidenschaftlichen Darstellungen der verzweifelten Armuth, der verkauften Arbeit, der zertretenen Schwachheit auf der andern, schroff gegenübergestellten Seite und sein junges Herz wallte über vor Schmerz und Empörung. Der Haß und die Liebe spalteten es für immer: der Haß gegen Jene; die Liebe für sie, welche gleich ihm litten. Die Menschen zerfielen ihm bald in Bourgeois und Arbeiter, und bald sah er in jenen nichts als berechnende Schurken und arbeitsscheue Ausbeuter, in diesen lauter Opfer, je edler, desto unglücklicher sie waren...

Die Jahre vergehen. Als er mit neunzehn Jahren die trübe, unfreundliche Stadt verläßt, hat er es durch eisernen Fleiß in den Abendstunden dahin gebracht, daß er fließend lesen, schwerfällig, aber richtig schreiben kann. Er ist Geselle. Sein Lehrzeugniß ist vorzüglich.

Es treibt ihn hinaus mit allen Fasern. Der große Krieg hat ausgewüthet. Während in Paris der Flammenbrand des Aufruhrs die Himmel röthet, bis er in Strömen von Blut erlischt, wandert er, den Thüringer Wald durchkreuzend, Nürnberg und München zu, wo er ein Jahr lang in einer großen Fabrik günstige Gelegenheit zur Ausbreitung seiner Berufskenntnisse findet.

Noch immer ein begeisterter Anhänger der »vorgeschrittensten« Partei, regt sich doch hier schon in ihm das instinktive Gefühl des Widerstrebens gegen ihre autoritativen Grundsätze, welche auch das geringste Abweichen von der sanktionierten Form nicht erlauben...

Es drängt ihn hinaus, dem Ausland zu. Er wendet sich nach der Schweiz. In Unterbrechungen erreicht er Zürich, dann Genf. Und hier ist es, wo er zum erstenmal das Wort »Anarchismus« hört. Nie hatte er es bisher in Deutschland vernommen.

Es wird noch Nirgends ausgesprochen. Nur hier und da hört man es flüstern. Noch weiß wohl Keiner, was es besagen will. Noch wagt Keiner sich an seine Erklärung. Noch ahnt Keiner seine Bedeutung für die Zukunft...

Mit 22 Jahren ist er Revolutionär!

Bis dahin war er Reformer gewesen.

Zum ersten Mal verkehrte er in den Kreisen von Menschen aller Nationen, welche ein seltsames Geschick hierher zusammengetrieben: Emigranten, Konspirateure, Minierer – Männer, Frauen, Jünglinge der europäischen Revolution, die Einen noch blutend aus frischen Wunden, die Andern bedeckt bereits mit Narben. Alle erfüllt von jener fieberhaften Ungeduld, jener zitternden Leidenschaft, jener schmerzhaften Sehnsucht, »etwas zu thun«, aber hier mehr und mehr den Kontakt mit den heimathlichen Verhältnissen verlierend.

Sie erzählen ihm: die Jungen von ihren Hoffnungen, die Alten von ihren Enttäuschungen und – ihren Hoffnungen. Zuweilen verschwindet Einer von ihnen: er hat eine »Mission« zu erfüllen. Ein Anderer kommt. Ihre Namen werden kaum genannt, nie behalten.

Es ist eine seltsame Zeit für Trupp.

1864 hatte Marx in London die »Internationale« begründet. Ihre großen Erfolge gingen Hand in Hand mit einer immer größer werdenden Ideenzersplitterung der Mitglieder, welche hier das Privateigenthum vertheidigten, dort es negierten; hier den Kollektivismus vertraten, dort sich bereits immer mehr in die Nebelregionen des Kommunismus verloren. Auf den Kongressen zeigten sich die Risse.

Da stemmt sich eine eiserne Faust in die Spalten und reißt sie tiefer und klaffender. Bakunin, der russische Offizier, der Schüler Hegels, der Leiter des Dresdener Aufstandes, auf drei Tage »König von Sachsen« der sibirische Verbannte, der rastlose Verschwörer, ewige Revolutionär, der Prophet und der Schwärmer, tritt dem eisernen Tyrannen, dem genialen Gelehrten, dem berühmten Schöpfer der Bibel des Kommunismus entgegen. Der Kampf zweier Löwen, die sich gegenseitig zerfleischen!

1868 entsteht die »Allianz der sozialistischen Demokratie«. Und kurz ein Jahr, bevor Otto Trupp die Schweiz betreten, die Jurakonföderation, die »Wiege der Anarchie«. Fast drei Jahre bleibt er in der Schweiz; er lernt französisch.

Als er noch einmal nach Bern kommt, bevor er das Land auf Jahre verläßt, schließt sich dort der Vorhang langsam über dem letzten Akte jenes ungeheuerlichen Lebens... Der Tod hatte bereits seine Thore für Michael Bakunin geöffnet. Noch immer macht der sterbende Riese krampfhafte Anstrengungen der Verzweiflung, nachdem ihn doch fast Alle schon verlassen, neue Schaaren um sich zu sammeln und sie hinaus zu senden in den hoffnungslosen Kampf... Es ist vorbei. Nur Thoren noch schwören zu einer Fahne, die der Sturm von Jahrzehnten zerfetzt... Nie hat ihr Träger erreicht, was er wollte: die Welt zu stürzen. Aber gelungen ist es ihm, die Fackel der Zwietracht in die stolze Hochburg der »Internationale« zu schleudern...

Otto Trupp ist einer seiner letzten Schüler.

Mit 24 Jahren ist er Terrorist! Er hat sie auswendig gelernt: jene wahnsinnigen elf Grundsätze »über die Pflichten des Revolutionärs gegen sich selbst und gegen seine Revolutionsgenossen«, welche mit den entsetzlichen Worten der größten Unfreiheit beginnen: »Der Revolutionär ist ein selbstgeopferter Mensch. Er hat keine gewöhnlichen Interessen, Gefühle oder Neigungen, kein Eigenthum, nicht einmal einen Namen. Alles in ihm wird verschlungen von einem einzigen ausschließlichen Interesse, einem einzigen Gedanken, einer einzigen Leidenschaft – der Revolution.« –

Erfüllt von diesem einzigen Interesse, diesem einzigen Gedanken, dieser einzigen Leidenschaft betrat der dreiundzwanzigjährige Trupp sein Vaterland wieder. Es durchwandernd von Süd nach Nord, wuchs seine Bitterkeit mit der Größe des Elends, welches er überall sah, wohin er kam.

Es war das Jahr, in dem sich die beiden Richtungen des Sozialismus auf jenem Grund vereinigten, welcher bestimmt war, eine der bestorganisierten, thätigsten und geschlossensten Parteien zu tragen, jene, welcher vielleicht die nächste Zukunft gehört...

Von Stadt zu Stadt zieht er. Ueberall versucht er, seine Minen in das »Bestehende« zu legen. Er reizt die Arbeiter auf, den Schneckengang der Reformen zu verlassen; er zeigt ihnen den Weg der Gewalt als Erretter und Befreier. Und Mancher, welcher nicht versteht, die ungeduldigen Wünsche seines leidenschaftlichen Herzens mit den Zügeln der Vernunft zu bändigen, fällt ihm zu.

Jetzt nennt er sich Anarchist!

Nun wirkt er unter diesem Zeichen. Das Wort scheint ihm treffend genug zu bezeichnen, was er erstrebt: er will keine Herrschaft, weder die des Einzelnen, noch die einer Mehrheit. Indem er mit eiserner Willenskraft sich an alle möglichen Wissenschaften heranwagt, zimmert er sich das formlose Gebäude einer Weltanschauung zusammen, in dessen lichtlosen Räumen er sich verirrt hätte, sähe er nicht durch das schlechtgefügte Dach den blauen Himmel eines Ideals der Brüderlichkeit verheißend schimmern...

Er vertraut nur noch der Revolution. Mit einem Schlage wird sie das Paradies des friedlichen Beisammenseins schaffen. Daher strebt jeder Flug seiner Sehnsucht zu ihr. Für sie wirbt er: für die große Revolution seines Standes, nach welcher keine mehr sein wird.

So zieht er von Stadt zu Stadt. Unter wieviel falschen Namen, mit wie oft ausgetauschten Papieren, er weiß es nicht mehr... Immer ist er flüchtig: kein Tag vergeht, an dem er die Augen nicht offen, die Lippen nicht geschlossen halten muß, den Verfolgungen zu entgehen. Oft nimmt ihn das Gefängniß auf. Aber immer entläßt es ihn wieder nach kurzen Zeiträumen: man hat ihm Nichts nachweisen können.

Da fallen in Berlin schnell hintereinander die Schüsse auf den Kaiser. Er jubelt den Attentätern zu, welche beide Fanatiker waren, der eine obendrein ein Idiot, der andere zudem ein Wahnsinniger. Die Reaktion siegt. Ihre schreckliche Zeit der Verkommenheit beginnt: die niedrigsten Gefühle wagen sich zu Tage. Verfolgungstrieb, Denunzierungssucht, Gehässigkeit erfüllen die Herzen.

Als Trupp – einer der Ersten – verhaftet wird, glaubt er das Gefängniß nie mehr verlassen zu können. Die Fäden ziehen sich über seinem Haupte zusammen. Ein wunderbarer Zufall rettet ihn. Während man noch auf den Hochverräther und Verschwörer fahndet, verurtheilte man den Majestätsbeleidiger zu einem halben Jahre, ahnungslos, wer es ist, den man in Händen hat. Jeden Tag sah er in diesem halben Jahre über sich das Schwert gezückt, bereit, niederzufallen ... Aber es fällt nicht. Er ist wieder frei. Unter harten Entbehrungen erreicht er die Grenze, erreicht er Paris. Die andere Periode seines Lebens beginnt: die des Flüchtlings im Auslande. Er weiß, er kann keinen Schritt mehr nach Deutschland hinein thun, der nicht todbringend werden müßte...

Aus dem versteckten Schürer und Wühler, der schweigsam überallhin seine gärende Saat verstreut, wird nun überall der offen auftretende Propagandist, der Debattierer in den Klubs, der Redner an der Straßenecke und im Versammlungslokal.

Die französischen Anarchisten haben das erste anarchistisch-kommunistische Organ gegründet: »Le Révolté!« – Die Anhänger der neuen Lehre, welche sich langsam, aber sicher weiter und weiter auszubreiten beginnt, machen den Anfang mit der anarchistischen Organisation »freier Gruppen«, wobei sie zum ersten Mal von dem Prinzip der Dezentralisation ausgehen. Der Arbeiterkongreß von Marseille 1879 ist kommunistisch; seine Bedeutung ist noch nicht zu ermessen... die Spaltung zwischen Kommunismus und Kollektivismus ist äußerlich noch kaum bemerkbar – innerlich bereits vollzogen.

Trupp ist überall. Sein durstendes Herz hat nie rastloser geschlagen, wie in diesen Jahren der großen, erwachenden, mit sich fortreißenden neuen Bewegung. Was er bei den Franzosen hört, trägt er in den noch kleinen, aber bereits wachsenden Kreis seiner deutschen Genossen.

Da lernt er Carrard Auban kennen. Er sieht diese reine, fast kindliche Begeisterung auf der Stirn des Fünfundzwanzigjährigen, diesen unverständigen Muth, der ihn entzückt, und diese Alles vergessende Hingabe, welche sich mit jedem Tag zu vermehren scheint. Aber kaum, daß er ihn kennen gelernt und ihn zum Freunde gewonnen, verliert er ihn auf Lange wieder: Auban wird verurtheilt. Die klingenden Worte seiner großen Rede vor den Richtern begleiten Trupp durch die beiden Jahre, welche sie getrennt sind...

Als sie sich 1884 in London wieder sehen – beide Flüchtlinge – ist Auban ein anderer geworden, Trupp derselbe geblieben. Nur die Erinnerung an die unvergeßlichen großen Tage der Empörung verbindet sie noch – –

Auban versteht ihn jetzt erst; aber er, Trupp, vermag ihn nicht mehr zu verstehen.

In Deutschland ist die Lehre zur That geworden. Plötzlich hat sich der aufgeschreckten Welt ein Haupt des Entsetzens gezeigt: Wien, Straßburg, Stuttgart, der Niederwald und die Ermordung Rumpfs – alle diese Thaten sind geschehen, welche der Ausbreitung der Idee der Freiheit so unendlich geschadet, den Feinden so manche neue mörderische Waffe in die Hand gegeben haben, so daß von nun an – auf unabsehbare Zeit hinaus – das Wort »Anarchismus« gleichbedeutend mit »Mörder« geworden ist. Kann es sich hier je klären? Ist es nicht verloren für Europa: preisgegeben dem ewigen Mißverständniß, der unersättlichen Verfolgung, dem wachgeweckten Haß?

Trupp ist in London – – in den aufreibenden und kleinlichen Kämpfen der Zwietracht des Tages sind seine Kräfte vergeudet bis heute – – –

Jäh wachte Trupp auf. Er kam wieder zu sich. Er rückte an seinem Hut. Er sah sich um und hinauf zu den schwindelnden Wölbungen.

Die schleppenden Worte des Priesters verhallten noch immer in klagenden Klängen, kaum verständlich in der ungeheuren Weite des Raumes. Voller und schöner antwortete der Gesang der Knabenstimmen im Chore. Noch ein Mal, dann warfen die Wände – zitternd die erklingenden Wellen des Schalles zu tiefer Schönheit ineinanderschmelzend – die Laute nieder auf die schweigsamen Menschen...

Trupp sah sich wieder eng in die Menge gepreßt, aus deren Kleidern immer stärker der feuchtdunstige Geruch aufstieg, der sich mit dem staubigen Moderduft zu einer trüben Schwüle vermengte.

Nun waren sie alle still geworden, die Arbeitslosen. Ermüdet waren die Einen, betäubt die Andern; fast alle gefangen genommen von der Seltsamkeit der Situation. Die Meisten wohl seit ihrer Jugendzeit in keiner Kirche mehr gewesen. Nun wurden sie gegen ihren Willen gefangen von Erinnerungen, die sie längst begraben hatten.

Manche lehnten in unruhigem Halbschlummer dicht aneinandergerückt an den Wänden der Bänke; Andere flüsterten sich in gedrücktem Tone, kaum athmend, Fragen zu: sie wollten wissen, wer diese marmornen Gestalten, in den Trachten ferner Zeiten, dem wunderbaren Haarputz, mit den ernsten Mienen, in den herausfordernden Stellungen seien... Waren das Jene, welche die Macht hatten, sie glücklich zu machen, sie zu verderben? –

Von dem kecken Muth der Auflehnung, mit welchem sie vor noch nicht einer Stunde vom Trafalgar Square fortgezogen waren, war Wenig mehr zu spüren, Nichts mehr zu sehen. Ineinandergekeilt standen sie da – wie lange sollten sie denn noch so stehen? Weshalb gingen sie nicht? – Was sollten sie hier? Hier würde ihnen doch keine Hilfe werden. Hier gab es doch keinen andern Trost als Worte! Sie aber wollten Arbeit, Arbeit und Brod.

Bitterkeit verbreitete sich unter den Harrenden. In Trupp wallte sie auf wie Feuer. Von der Kanzel her drangen so einförmig und so regelmäßig langsam, wie niedersickernde Tropfen, die Worte des Priesters. Er verstand sie nicht. Keiner vielleicht verstand sie. Sie erzählten von Dingen, welche nicht von der Erde sind ...

– Setzt all Euer Vertrauen auf Gott! lamentierte die klagende Stimme.

– Auf Gott! – tönten weich, in wundervollen Klängen der Hoffnung und des Jubels, die jugendlichen Stimmen zurück.

– Er allein kann Euch erretten! wieder der Priester.

Ahnten die Hungernden den unbewußten Hohn dieses schrecklichen Glaubens, der Lüge war vom Anfang an bis an das Ende? – Eine Bewegung der Unruhe entstand unter ihnen. Alle waren erwacht; Alle schüttelten den Schlummer der Betäubung von sich ab.

Da tönte ein schrilles Lachen von den Lippen Trupps, in welchem sich Unglaube, Haß und Verbitterung vermengten. Rufe antworteten ihm von verschiedenen Seiten. Mehrere lachten ebenfalls. – Dann stoßweises Gelächter, hier und da. Verwirrte Rufe.

Man bedeckte die widerwillig und mechanisch entblößten Köpfe. Ein Stoßen und ein Drängen entstand.

Die Meisten schoben dem Ausgange zu. Schnell ergossen sich die Reihen in die frische Luft. Die Andächtigen athmeten auf. Gott, der Herr, ohne dessen Willen kein Haar zu Boden fällt, hatte die Gefahr von seinen Kindern gewandt. Sie waren befreit von den Ruchlosen. Sie waren wieder unter sich. Der Priester, welcher einen Augenblick gestockt hatte bei dem ausbrechenden Lärm, setzte wieder ein, und die Augen der Zurückbleibenden wendeten sich voll Vertrauen und heiterer Ruhe wieder ihm, ihrem Hirten, zu.

Trupp grollte. Nichts wäre ihm lieber gewesen, als ein Skandal an diesem Orte.

*

Die eintönige Helle des feuchtkalten Oktober-Nachmittags umfloß wieder die aus dem Dämmerlicht von Westminster Abbey, aus ihrem »heiligen Schweigen«, in den Lärm des Tages Hinaustretenden. Der größte Theil der Arbeitslosen hatte draußen warten müssen. Er hatte mürrisch und zweifelnd die besänftigenden Worte eines Großwürdenträgers der Kirche vernommen; oder er hatte den bitteren Wahrheiten des christlich-sozialen Abtrünnigen beifallspendend gelauscht.

Man einte sich wieder zum Zuge nach dem vor kaum einer Stunde verlassenen Square. Man folgte dem Flattern der rothen Fahne. Man engte sich zusammen in geschlossene Reihen, wie um den Hunger so weniger, die eigene Stärke so besser zu fühlen.

Trupp wurde fortgeschoben.

In taktmäßigen Schritten schlugen die schweren Füße den harten Boden. Man faßte sich unter. Ein unabsehbarer Zug schob sich durch die Enge von Parliament Street...

Und aus diesem Zug stieg wie auf gemeinsame Verabredung ein Gesang auf. Tief, düster, schwermüthig und grollend zugleich, klang er aus tausend Kehlen zum Himmel empor, wie die Rauchwolke, welche den Ausbruch des Brandes verkündet...

Sie sangen das uralte, unsterbliche Lied der »starving poor of Old England«.

Let them bray until in the face they are black,
That over oceans they hold their sway,
Of the Flag of Old England, the Union Jack,
About which it floats something to say:
'Tis said that it floats o'er the free, but it waves
Over thousands of hard-worked ill-paid British slaves,
Who are driven to pauper and suicide graves –
The starving poor of Old England!

Und in mächtigem Chor den Refrain, in welchen jede Stimme einfiel:

'Tis the poor, the poor the taxes have to pay,
The poor who are starving every day,
Who starve and die on the Queen's highway –
The starving poor of Old England!

Noch ein Vers und noch einer –

'Tis dear to the rich, but too dear for the poor,
When hunger stalks in at every door –

Und schließend mit furchtbarer, hoffnungdurchjauchzter, sich ermannender Drohung:

But not much longer these evils we'll endure,
We the workingmen of Old England!

Trupp stieß sich mit Gewalt aus seiner Reihe und bog in eine Nebenstraße ein.

Hinter ihm versank in den immer tiefer fallenden Schatten Westminster Abbey. In seinem Ohr verhallten die trüben, wehmüthigen Töne, in welchen die Hungernden ihre Leiden ausklagten ...

Tis the pool, the poor the taxes have to pay,
The poor who are starving every day,
Who starve and die on the Queen's highway –
The starving poor of Old England!

Kein Richter, weder im Himmel, noch auf Erden, vernahm die furchtbare Anklage dieser Elenden, welche noch immer auf Gerechtigkeit warteten.

Mit gesenktem Kopf, die Lippen fest aufeinandergepreßt, hin und wieder einen scharfen Blick um sich werfend, um sich über die Richtung des Weges zu vergewissern, schritt Trupp dahin, wohl eine Stunde lang, dem Norden Londons zu.


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