Pierre Loti
Die letzten Tage von Peking
Pierre Loti

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Ankunft im Gelben Meer

Montag, 24. September 1900

Morgengrauen bei stiller See unter dem Sternenhimmel. Ein schwacher Schein im Osten kündet das Nahen des Tages, noch aber ist es Nacht. Die Luft ist lau und leicht . . . Sind wir im nordischen Sommer oder im Winter der warmen Zonen? Nichts in Sicht, kein Land, kein Leuchtfeuer, kein Segel; nirgends ein Anhaltspunkt für die Örtlichkeit: eine Meereseinsamkeit bei idealem Wetter, in geheimnisvoll unbestimmter Dämmerung.

Lautlos fährt der große Panzer dahin, mit absichtlicher Langsamkeit, mit kaum laufender Maschine – wie ein Leviathan, der sich verstellt, um zu überlisten.

Etwa fünftausend Seemeilen hat er zurückgelegt, beinahe ohne zu verschnaufen. Stets hat seine Schraube achtundvierzig Drehungen in der Minute ausgeführt, und ohne irgendwelche Havarien und Schäden an seinem kräftigen Räderwerk hat er in einem Zuge die längste und schnellste Fahrt gemacht, die je ein Ungeheuer seines Umfanges vollbrachte, und mit dieser Kraftprobe andere, wegen ihrer Schnelligkeit berühmte Schiffe geschlagen, die man auf den ersten Blick für überlegen gehalten hätte.

Heute morgen langt er am Ziel seiner Reise an. Er ist im Begriff, einen Punkt der Erde zu erreichen, dessen Name gestern noch gleichgültig war, auf den jetzt aber die Augen ganz Europas gerichtet sind. Dies Meer, das sich so ruhig aufzuhellen beginnt, ist das Gelbe Meer, der Golf von Petschili, der Zugang nach Peking. Und eine ungeheure, schon versammelte Kriegsflotte muß hier ganz nahe ankern, wenn auch noch nichts ihre Nähe verrät.

Seit zwei bis drei Tagen fahren wir bei schönstem Septemberwetter durch dies Gelbe Meer. Gestern und vorgestern kreuzten Dschunken mit geflochtenen Segeln auf der Fahrt nach Korea unseren Kurs; auch Küsten und Inseln sind näher oder ferner aufgetaucht; im Augenblick aber ist der Himmelskreis ringsum leer.

Seit Mitternacht fahren wir mit verminderter Geschwindigkeit, damit unsere Ankunft bei dem Geschwader, das uns mit dem üblichen militärischen Gepränge empfangen wird, nicht in zu früher Morgenstunde erfolgt.

 

Fünf Uhr. In der noch herrschenden Dämmerung erschallt die Reveille, der helle Klang der Trompeten, die allmorgendlich die Matrosen wecken. Es ist eine Stunde früher als sonst, damit genug Zeit für das Reinigen des Panzerschiffes bleibt, dessen Aussehen durch die fünfundvierzig Tage Seefahrt etwas gelitten hat. Noch immer ist nichts zu sehen, als der weite leere Raum; aber die Wache hoch oben im Mastkorb meldet schwarze Rauchstreifen am Horizont – und diese kleine, von unten kaum bemerkbare Wolke zeigt die Gegenwart gewaltiger Wesen an; sie entströmt großen Panzerschiffen; sie ist gleichsam der Atem dieses Geschwaders ohnegleichen, dem wir uns anschließen sollen.

Erst das Waschen der Mannschaft vor der des Fahrzeuges: barfuß, mit entblößtem Oberkörper, übergießen sich die Matrosen mit Wasser in dem aufgehenden Morgen. Trotz der dauernden Überanstrengung sind sie gar nicht ermüdet, ebensowenig wie das Schiff, das sie trägt. Der »Redoutable« ist übrigens von all den über Hals und Kopf abgegangenen Schiffen das einzige, das während seiner Fahrt durch die erstickende Schwüle des Roten Meeres weder Tote noch Schwerkranke gehabt hat.

Jetzt geht die Sonne über dem Meeresrand auf, eine gelbe Scheibe, die langsam hinter den leblosen Gewässern aufsteigt. Für uns, die soeben die Äquatorialgegend verließen, hat dieser Sonnenaufgang, so strahlend er ist, etwas Schwermütiges und schon Trübes, das an den Herbst und die nordischen Himmelsstriche gemahnt. Wirklich, die Sonne ist während der letzten zwei bis drei Tage verändert, sie brennt nicht mehr, sie ist nicht mehr gefährlich, man braucht sie nicht mehr zu fürchten.

Dort vor uns, in äußerster Ferne, hinter der rußigen Wolke, tauchen jetzt Dinge auf, die nur das Auge des Seemannes erkennt: es ist gleichsam ein Wald von Stangen, am Ende, ganz am Ende des weiten Raumes, beinahe noch jenseits des Gesichtskreises. Und wir wissen, was das ist: riesige Schlote, schweres Kriegsmastwerk, die furchtbare eiserne Rüstung, die nebst dem Rauch schon von weitem ein modernes Geschwader verrät.

Wir haben unsere große Morgenwäsche beendet, und die mit Seewasser gefüllten, von kräftigen Armen geschwungenen Eimer überschwemmen nicht mehr das ganze Deck. Der »Redoutable« ist jetzt wieder in voller Fahrt (die mittlere Geschwindigkeit von 11½ Knoten, die er seit seiner Abfahrt von Frankreich gehabt hat). Und während die Matrosen emsig seinen Stahl und Messing putzen, zieht er von neuem seine tiefe Furche durch das ruhige Meer.

Aus den Rauchwolken am Horizont lösen sich Gegenstände ab und nehmen bestimmte Gestalt an; unterhalb der zahllosen Maste erscheinen Massen von jeder Form und Farbe – die Schiffe. Zwischen dem ruhigen Wasser und dem bleichen Himmel taucht die ganz furchtbare Gesellschaft auf, eine Vereinigung seltsamer Ungetüme, die einen weiß und gelb, die anderen schwarz und weiß, wieder andere schlamm- oder nebelfarben, um weniger aufzufallen; runde Buckel, halb ins Wasser tauchende tückische Flanken, unheimliche Schildkrötenschalen von wechselnder Bauart, je nach der Art, wie die verschiedenen Staaten ihre Zerstörungsmaschinen konstruieren, aber alle speien gleichmäßig den abscheulichen Steinkohlenrauch aus, der das Morgenlicht trübt.

Noch immer sieht man nichts von der chinesischen Küste, als wären wir von ihr noch tausend Meilen entfernt, oder als wäre sie gar nicht vorhanden. Und doch liegt hier Taku, der Sammelpunkt, auf den sich seit so vielen Tagen unsere Gedanken richten. Und da liegt ganz nahe, wenn auch unsichtbar, China, das durch seine ungeheure Nachbarschaft diese Herde von Beutetieren anzieht und sie auf diesem bestimmten, bedeutungslosen Punkte des Meeres festhält.

Hier, wo das Meer schon weniger tief ist, hat es auch sein schönes Blau verloren, an das wir uns so lange gewöhnt hatten. Es wird trüb, gelblich, und der Himmel, wenn auch ohne Wolken, ist entschieden trübe. Übrigens geht dieser düstere Eindruck beim ersten Anblick von der ganzen Umgebung aus, in der wir jetzt gewiß für lange Zeit bleiben werden . . .

Doch beim Näherkommen verändert sich alles, je höher die Sonne steigt, je deutlicher die schönen glänzenden Panzer mit den vielfarbigen Kriegsflaggen hervortreten. Fürwahr, es ist ein großartiges Geschwader, das hier Europa repräsentiert, Europa in Waffen gegen das alte finstere China. Es nimmt einen unendlichen Raum ein; wo man hinblickt, scheint der Horizont von Schiffen erfüllt. Boote und Dampfbarkassen tummeln sich wie ein kleines geschäftiges Volk zwischen den großen, unbeweglich daliegenden Schiffen.

Jetzt ertönen von allen Seiten Kanonenschüsse als militärischer Willkommensgruß für unsern Admiral; unter dem Schleier des dunklen Rauches sieht man den lichten Pulverdampf in hellen Garben aufsteigen und sich in weiße Flocken lösen; uns zu Ehren steigen und sinken dreifarbige Flaggen an all den eisernen Masten hinauf und hinab; überall schmettern Trompeten, und die fremden Musikkapellen spielen unsere Marseillaise. Ja, man berauscht sich ein wenig an diesem Zeremoniell, das stets das gleiche ist, aber stets imposant, und das hier angesichts der Entfaltung dieser Flotten ungewohnt prächtig wirkt.

Endlich ist die Sonne völlig erwacht. Sie strahlt und gibt uns für unseren Ankunftstag zum letztenmal die Illusion des vollen Sommers, in diesem Lande mit seinem schroffen Gegensatz der Jahreszeiten, das in kaum zwei Monaten für einen langen Winter zu Eis erstarren wird.

Als es Abend wird, ergötzen sich unsere Augen zum erstenmal an dem feenhaften Schauspiel, das die Geschwader bieten. Von allen Seiten flammen plötzlich elektrische Lichter auf, weiß, grün, rot, blitzend oder von blendendem Glanz; die Panzer halten durch spielende Lichter Zwiesprache miteinander, und das Wasser strahlt tausende von Signalen, tausende von Feuern zurück, indes die langen Garben der Scheinwerfer den Horizont bestreichen oder wie toll gewordene Kometen zum Himmel steigen. Unter diesen Phantasmagorien vergißt man alles, was die schreckensvollen Flanken an Zerstörung und Mord brüten; man glaubt sich für einen Augenblick in eine riesengroße, wunderbare Stadt versetzt, mit Türmen, Minaretten und Palästen, die aus Laune für kurze Zeit in dieser Meeresgegend errichtet wäre, um ein ungeheures Nachtfest zu feiern.

 
25. September

Es ist erst der zweite Tag, und doch gleicht schon nichts mehr dem Gestern. Seit dem Morgen weht eine Brise – kaum eine Brise, gerade stark genug, um die großen, dunklen Rauchstreifen auf das Meer zu drücken, und schon kräuseln sich die Wellen auf dieser offenen, wenig tiefen Reede, und die kleinen Fahrzeuge tanzen in fortwährendem Hin und Her, von Staubregen übersprüht.

Da naht langsam aus der Tiefe des Horizonts ein Riesenschiff in deutschen Farben, geradeso wie wir gestern: sofort erkennt man die »Hertha«, die den letzten der zu diesem Treffpunkt der verbündeten Mächte erwarteten Befehlshaber, den Feldmarschall Graf Waldersee, an Bord hat. Für ihn beginnen von neuem die Salven, die uns gestern empfangen hatten, und das ganze prunkhafte Zeremoniell; wieder speien die Kanonen ihre Wolken, mischen weiße Watteflocken in den schwarzen Rauch, und die deutsche Nationalhymne, von sämtlichen Kapellen wiederholt, verfliegt in dem auffrischenden Winde.

Immer stärker weht er, stärker und kälter, ein garstiger Herbstwind, der die Schaluppen und Barkassen umherwirft, die gestern so gemächlich zwischen den Gruppen des Geschwaders dahinfuhren.

Und das kündet uns traurige und schwierige Tage, denn auf dieser unsicheren Reede, die in einer einzigen Stunde gefahrbringend wird, müssen wir tausende von Soldaten und tausende Tonnen von Kriegsmaterial ausschiffen; so viele Menschen und Dinge müssen bei dieser bewegten See in Booten und Kähnen, bei eisigem Wetter, selbst bei dunkler Nacht gesteuert und über die wechselnde Sandbank nach Taku gebracht werden.

Diese ganze gefahrvolle und endlose Beförderung zu organisieren, wird besonders während der nächsten Monate unsere, der Seeleute, Aufgabe sein – eine harte, erschöpfende Arbeit, die im Verborgenen bleibt, ohne sichtbaren Ruhm . . .

 


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