Pierre Loti
Auf fernen Meeren
Pierre Loti

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Annecy, 30. Juni 1875.

An einem wundervollen Sommermorgen schlenderten wir zu dritt das Ufer des Sees von Annecy entlang. Still und klar blaute das Wasser zu unseren Füßen und spiegelte die hohen Berge auf seiner Oberfläche. Das Ufer war es, von dem Töpffer schrieb: »Es ist still, einsam, schattig und zauberhaft!«

Meine beiden Weggenossen waren mein treuer Freund Ermillet und die kleine Fratine, die seit kurzem wieder im Lande war. Sie trug noch immer Kleid und Hut, die sie nach meinen Angaben in Joinville verfertigt hatte. Und sie trippelte dahin, halb fröhlich, halb zum Weinen bereit, und auch ein wenig befangen, mit uns beiden allein zu sein.

Es schien als hätte sie lange schon diesen Weg vorausgeträumt, und als wäre das Wetter eigens für sie gemacht. Um sie summten fröhlich die Mücken, und auf den Bergwiesen glühte bunter Blumenflor ... Ich aber ahnte, was in dem Herzen meiner kleinen Freundin vorging, und es bekümmerte mich. Ich versuchte, ihr von Delguet zu sprechen, um ihre Gedanken abzulenken, von Delguet, den sie liebte, und der bald wiederkehren sollte ... Doch ihr Denken schweifte anderwärts, sie hörte nicht auf mich ...

Da ich Annecy nicht verlassen wollte, ohne der armen Kleinen Lebewohl gesagt zu haben, bat ich Ermillet am selben Abend, mir behilflich zu sein, ihre Wohnung zu ermitteln. Und so haben wir sie an diesem Abend von Tür zu Tür gesucht. Eine elende Schenke im alten Stadtviertel, den Kasernen benachbart, – das war die Residenz der Mutter der Fratine, eine unsagbar schmutzige Behausung voll betrunkener Soldaten, und auch den Hof füllten eine Menge zweifelhafter Gestalten. In einem raucherfüllten Raum kauerte die arme Fratine schamglühend in einer Ecke. Ihr Aussehen, ihre bescheidene Miene und ihre Pariser Kleidung stachen seltsam von ihrer elenden Umgebung ab. Hier im mütterlichen Stall mutete sie wie eine Blüte auf einem Düngerhaufen an.

Wir beide waren wie Arbeiter verkleidet. Als sie mich erkannte, spielte ihr Antlitz alle Farben, sie wagte weder vorzutreten, noch die Augen aufzuschlagen.

»Wollen Sie den morgigen Tag mit uns in Sévrier verbringen?« fragte ich sie. »Delguet erlaubt es, und mein Freund hier wird Sie abholen kommen ...«

Heiß brannte die Sonne trotz der schattenspendenden Eichen und Kastanienbäume, als wir in Sevrier ankamen. Wir verbrachten dort einen schönen Tag, und allem Anschein nach war unsere Fröhlichkeit echt. Wir tafelten in einem Landhaus bei savoyardischen Bauern. Dann liefen wir bergan ...

Trauriger war der Rückweg. Die Fratine preßte meinen Arm, zitterte zuweilen und hatte die Tränen sehr nahe ...

»Loti, werde ich Sie jemals wiedersehen?« fragte sie.

»Ich glaube kaum.«

Wir gingen noch weiter, bis der Weg kam, den sie einschlagen mußte, um unbemerkt in ihren Stall zurückzugelangen.

»Hier will ich von Ihnen Abschied nehmen, Fratine« ...

Da ließ sie sich sanft zu Boden gleiten. Wir setzten sie auf einen Stein, ich küßte sie und wir gingen ...

Doch im Weiterschreiten konnten mein Freund und ich sie noch lange sehen. Sie saß immer noch auf demselben Fleck, und ihre Brust hob sich von Zeit zu Zeit, als ob sie von Schluchzen geschüttelt würde ... Dann schob sich eine Baumgruppe wie ein Vorhang zwischen sie und uns ...

 

Rochefort, Januar 1876.

Ich verdiene wohl ein wenig den Vorwurf, den man mir wegen »nächtlicher Ruhestörung« macht, aber ich brauche notwendig eine mich betäubende Ablenkung. In Joinville war mein Tag zu sehr ausgefüllt, als daß mir Zeit zum Nachdenken geblieben wäre, und ich war fast so weit gekommen, meinen Schmerz vergessen zu können, doch hier, in meinem alten Hause, wo jedes Ding mich an Vergangenes gemahnt, steht die furchtbare Wirklichkeit in seiner Ganzheit vor mir auf, Sterbensbangigkeit hält mich umfaßt, und ich fühle, daß mein Leben hoffnungslos zerbrochen ward.

Wie sehr hat es mich in der Fremde nach meinem alten Haus in Rochefort gezogen! Seine Stille bedrückt mich jetzt, und wäre nicht mein liebes Mütterlein, ich wäre längst davongezogen, um nicht wiederzukehren.

Ich male nicht mehr, musiziere auch nicht. Und habe ich in einer gewissen Zeit meines Lebens gewähnt, ein Künstler zu sein, und hatte ich damals sogar einige Geistesblitze, so ward dies alles wieder sehr verdunkelt, und mehr als je empfinde ich heute mein Unvermögen, dem Ideal nahezukommen, das mir zuweilen noch vorschwebt...

Darum verbringe ich meine Abende in Schenken ...

Dies Übel ist weniger groß, als es vielleicht den Anschein hat. Die Kameraden, die ich mir wählte, haben, das ist wohl wahr, ein jedes Handwerk gelernt und sind durch viele Meere gefahren. Doch nie haben sie gestohlen, noch gemordet. Brave Seeleute sind es, mit einer genügend großen Dosis Rechtschaffenheit im Herzen. Es ist eine Handvoll Männer, die in meine Hand gegeben ist, und die bereit wäre, für mich durchs Feuer zu gehen.

Im Verein mit ihnen gibt es manchmal wohl Lärm, das gestehe ich, auch Plünderungen und Faustschläge. Aber unsere Schläge fallen immer nur auf Leute, die sie verdient haben. –

Seitdem Jean nicht mehr mein Freund ist, kommt mir in jeder Nacht der gleiche spukhafte Traum: ich träume, daß er starb. Immer spielt dieser Traum in Magellan. Zweifellos weil dies der Ort ist, an dem wir beide tief unglücklich waren und uns infolgedessen brüderlich aneinandergeschlossen hatten.

Ich träume, daß man ihn im Moos ausgestreckt findet, dort in den unheimlich schweigenden Wäldern, die wir so oft zusammen durchstreift haben ...

Und alle Nacht kommt dieser Traum zur gleichen Stunde in unheilvoller Regelmäßigkeit ...

 

Toulon, März 1876.

An einem Sonntag im Januar ist meine Einschiffungsordre in Rochfort eingetroffen. Ich fand sie am Abend zu Hause vor, als ich aus Rohan kam, wo ich Onkel Gustav Lebewohl gesagt hatte. Mutter und Tante Claire, die mich im Salon erwarteten, händigten sie mir ein.

In Rohan war ich mit meinem guten alten Onkel lange spazieren gegangen. Und die helle Wintersonne, das blaue Meer, der reine Himmel hatten mir Mut gegeben, so daß ich wieder hoffte, es sei noch nicht alles für mich zu Ende, so daß leise Lebensfreude wieder in mir zu keimen begann.

Lange noch werde ich dieses letzten Januartages gedenken. Mehr und mehr verflog mein Schmerz, ich hatte nur mehr den Eindruck eines seltsamen Erwecktwordenseins, ein Gefühl des Schwindels und der Leere.

Schöne Wintertage kamen, trockenes, kaltes Wetter. Meine Schwester war daheim, und jeder verwöhnte mich nach Kräften. Man brachte mir Blumen, – Christrosen aus Fontbruant. Winterzauber hüllte mich ein, Familienzauber, und der Zauber des häuslichen Herdes. Unsere gute Nachbarin, Madame Besnard, hatte mir nie zuvor so viel Freundschaft erwiesen. Herrlichen Wein sandte sie mir und sogar Süßigkeiten. Es sah gewiß komisch aus, wenn ich so viel aß und trank, und oft mußte ich selbst darüber lachen. Dann schien mir immer, als sei ich von langer Krankheit genesen. Es hieß nun, schleunigst Vorbereitungen für meine Abreise zu treffen, denn mein Befehl war befristet.

Meine Kameraden besuchten mich häufig, meine Matrosenfreunde desgleichen. Sie alle mußten sich bald einschiffen, und meine Schar war daran, sich über alle Meere zu zerstreuen.

Dann kam der Tag, der mein Gepäck entführte, und eines schönen Abends reiste ich nach Toulon.

Hier fand ich, außer der scharfen Seeluft des Mittelmeers und dem strahlenden Himmel des Südens, eine Menge von Freunden, die sich die Aufgabe stellten, mich zu zerstreuen. Und so beginne ich wirklich zu leben ...

Ich ließ mich sogar für einen Verein anwerben, der »Lyrischer Verein« heißt und unter dem Präsidium einer alten Seemannsgattin steht. Wir geben Konzerte in den Nachbarstädten, deren Erträgnis der Armenhilfe zufließt, und zuweilen wird uns von den dankbaren Behörden ein Champagnersouper geboten.

Die fröhliche Schar reist gewöhnlich in zwei Omnibussen, die Zeit vergeht unter heiteren Spielen, die alte Dame und ihre Tochter führen an.

Ich aber habe Freundschaft mit Clowns und Spaßmachern geschlossen, und meine Mußestunden verbringe ich meistens im Zirkus.

 

Brief Pierre Lotis an seinen Freund Plumkett.

An Bord der »Couronne«.
Toulon, 24. April 1876.

Lieber Freund!

Ich wollte, ich könnte gleich Ihnen mich Christus zu Füßen werfen; noch jetzt gäbe ich gern alles, was ich besitze, darum, nur eine Stunde lang den bewunderungswürdigen Irrwahn der Gläubigen zu besitzen, und wie sie in seligem Frieden sterben zu können ... Doch da mir dies versagt ist, mache ich gymnastische Übungen. Das Mittel ist gut, ich versichere es Ihnen. Versuchen Sie auch ein wenig, es anzuwenden. Ich bin den ganzen Tag im Zirkus, in der Gesellschaft von Clowns und schönen Mädchen, die durch Papierräder springen. Ich lerne Possen reißen, erlerne, auf dem Rücken eines Pferdes zu stehen und springe durch Reifen.

An Bord habe ich mein Zimmer im Stil des beginnenden vorigen Jahrhunderts eingerichtet. Die Wände sind mit roter Seide bespannt, über das Bett ist eine schwere Stickereidecke aus dem XVII. Jahrhundert gebreitet. Ich habe alte Spiegel in erlesenen Goldrahmen, Waffen und antike Vasen aus Fayence, in denen immer Rosen stehen.

Dies Zimmer der »Couronne« liegt neben der Pulverkammer, ist ein schier luftloser Raum. Doch sein Düster mißfällt mir nicht, es legt sich um alle Dinge und läßt sie reich und geheimnisvoll aus dem Halbdunkel treten. Die Ausschmückung erscheint mir gut gewählt. Als ich eines Tages keine zehn Franken mehr hatte, ging ich hin und habe gespielt. Und all der Luxus ist das Ergebnis jener Nacht, in der das Glück mir hold gewesen ist.

 

Vom selben an denselben.

Ohne Datum.

Mein lieber Plumkett!

Die Etablissements, die Sie mir nennen, Bicêtre oder Charenton, bieten ihren Pensionären nur relatives Wohlbefinden bei nicht genügender Zerstreuung und Ablenkung. Hingegen ist »The Lunatic Asylum« in Halifax (Neu-Schottland), das lieblich zwischen lachenden grünen Hügeln liegt, ein Ort, der Pensionären dank seiner ausgezeichneten Leitung echt englische Behaglichkeit zu bieten vermag. Das »Lunatic Asylum« habe ich vor sechs Jahren gemeinsam mit meinem Kollegen A... J... feierlichst zur Zufluchtsstätte für unsere alten Tage erwählt. Erwarten Sie uns dort, lieber Freund! Ich bin so frei, Ihnen diesen Ort zu nennen und aufs wärmste zu empfehlen. –

 

Brief Pierre Lotis an Madame d'A.

An Bord der »Couronne«.
Toulon, April 1876.

Gnädige Frau!

Morgen trete ich im »Cirque Etrusque« als Clown in Maske auf, mit einem grüngelben Trikot bekleidet. Ich denke, ich werde bestimmt nicht hervorragend sein, weil mich das immerhin Ungewohnte der Rolle ein wenig einschüchtern wird. Ich habe aber Ihrem Fräulein Tochter versprochen, sie zu benachrichtigen, bis es so weit ist und Sie selbst waren so freundlich, mir Ihre Vermittlung dieser Botschaft zuzusagen.

Sind Sie so gütig, gnädige Frau, mein verwegenes Beginnen geheimhalten zu wollen und genehmigen Sie die Versicherung meiner ergebenen Verehrung.

Pierre Loti.

Die Vorstellung beginnt um ½ 8 Uhr. Die besten Plätze sind in den Logen linker Hand, von wo aus man das Auftreten der »Künstler« übersieht.

 

An Bord der »Couronne«.
Toulon, April 1876.

Heute nacht ist mein Zimmer ganz angefüllt mit mächtigen, süß duftenden Blumensträußen. Die sind mir gestern Abend im Zirkus zugeworfen worden, wo ich als Clown aufgetreten bin und vor einem begeisterten Auditorium halsbrecherische Purzelbäume schlug.

Einige Freunde, die ich ins Vertrauen gezogen hatte, wohnten der Vorstellung bei, um mir einen Erfolg zu sichern. Und einige Damen der Gesellschaft, die gekommen waren, mir Beifall zu spenden, waren äußerst betreten, sich neben anderen zu sehen, die nicht der Gesellschaft angehörten, mir aber doch Blumen zuwarfen.

Das gab eine urdrollige Zusammenstellung und wir belachten sie in den Kulissen mit den Kunstreiterinnen, – mit meiner Freundin Pasqualine, genannt »der Stern des Nordens, der unerreicht ist im Salto mortale«.

Es war ein prickelndes Erleben, das dieses Auftreten gewährte. Um sieben Uhr kam ich an, als gerade die großen Bogenlampen entzündet wurden.

»Herr Regisseur,« sagte ich, »ich fühle mich schwach werden.«

»Aber der Herr steht doch auf dem Plakat,« erwidert diese Persönlichkeit, die mich seit zwei Monaten wie zur Familie gehörig betrachtet.

Die Vorstellung wird von einer wilden Nummer eingeleitet, die Madame Hortensia auf ungesatteltem Pferd exekutiert. Und gräßlich füllen sich die Reihen. Da sind meine Geladenen, da der »Lyrische Verein« und Marineoffiziere mit ihren Frauen und all ihrem Anhang, und jetzt kommen Damen der Halbwelt in glänzender Kleidung. Unter den Mänteln werden Blumen versteckt gehalten, eine Menge sehr umfangreicher Gebinde, doch bemerke ich auch Pfeifchen und Kasserollen, kurz, all die notwendigen Utensilien, die man braucht, um im Bedarfsfall furchtbare Katzenmusik zu machen.

Die alte Vorsteherin vom »Lyrischen Verein« macht beim Kommen ein etwas saueres Gesicht. Bald aber erfaßt sie die Situation und lacht aus vollem Herzen. Ihre Tochter ist die einzige Person im Publikum, deren Anwesenheit mir ein wenig Unbehagen verursacht, denn sie ist reizend und wir sind sehr gute Freunde. Ist meine Leistung nur mittelmäßig, so muß ich ihr ungeheuer lächerlich erscheinen.

Die Kulisse des Zirkus steht auf einem weiten Kapernaum, das einst die Arena eines Amphitheaters war, – kleine dunkle Gänge, Leitern, Falltüren und hohe Gerüste. Es ist schwer zu beschreiben, wie lustig manches ist, was sich hier begibt; die Clowns der Truppe sind auch hinter dem Vorhang Spaßmacher und komisch bis jenseits aller Möglichkeiten.

Die schöne Pasqualine (sechzehn Jahre alt), die Verlobte des Kunstreiters Massi, wird von einer alten Statistin beschuldigt, mit mir im besten Einverständnis zu sein. Eifersuchtsszene, Nervenkrise, Ohnmachtsanfall ... Rührung, Versöhnung bei einer Tasse Tee.

In ihrer Verwirrung stürzt die junge Primadonna angesichts des gesamten Publikums, als ihr Salto mortale kaum begonnen hat. So folgt eine Katastrophe der anderen.

Jetzt ist es Zeit, mich anzukleiden, was heftige Ergriffenheit in mir auslöst. Hier ist mein Trikot, es ist gelb und grün und kommt geraden Weges aus Mailand, von Carolo Lorenzi, dem Erbauer aller fashionablen Akrobatengewänder. Ich weiß nicht, wie in das Ding hineinkommen, – zwei Clowns streifen es mir feierlich über. Es ist zum Platzen eng, doch so will es die erlesenste Eleganz. Noch eine Badehose aus schwarzem Samt, von einer Einfachheit, die mich schaudern macht, mächtige Spitzenmanschetten, Spitzenkrause, eine grüne Troddelperücke und eine Handvoll Mehl, – dann bin ich fertig.

Die Vettern (Zirkusleute sagen »Vetter« zueinander), behaupten, ich sei prachtvoll.

»Vielleicht ein wenig zu dünn, Vetter?« fragte ich besorgt.

»O, Monsieur, wo denken Sie hin, so gut gebaut wie Sie sind, mit gewölbter Brust und geraden Schultern! Wie schade, daß Monsieur nicht einer der Unsern sind!«

Da muß ich voll Selbstgefälligkeit diesen Körper betrachten, den meine Übungen geformt und umgeformt haben. Überall springen die Muskeln hervor und sind durch das enge Trikot im Relief wahrnehmbar. Ein alter Seiltänzer, der mit allen koketten Geheimnissen des Handwerks vertraut ist, verstärkt diese Wirkung noch, indem er die Konturen meiner Muskeln mit Spindelbaumzweigen leicht verwischt. Diese anatomische Toilette dauert zwanzig Minuten.

Der Regisseur kommt uns holen. – »Die Reihe ist an den Herren,« sagt er. Ich bin bestimmt nicht schüchtern, doch diese neue Rolle flößt mir Bangen ein.

Jetzt beginnt die Musik ein munteres Präludium, das packt und mitreißt. Ich betrete die Szene. Stürmischer Applaus. Ich grüße dreimal. Acht Vettern folgen mir Schritt für Schritt. Doch meine Füße berühren den Boden kaum. Meine Muskeln schnellen wie stählerne Federn: gleich eingangs ist der Erfolg gesichert.

Seiltanz, halsbrecherische Sprünge herüber und hinüber, Menschenpyramide, schwindelerregende Balancierübungen, alles in allem eine Vorstellung, deren Nummern so zusammengestellt wurden, daß mein Können sich im hellsten Lichte zeigen muß ...

Das wirkliche Publikum, das einen Moment lang durch diese Kabbala irregeführt war, ist nun seinerseits hingerissen und klatscht wie toll Beifall. Es ist ein richtiger Erfolg, Blumen, Orangen und Kinderspielzeug prasseln unausgesetzt auf mich nieder. Drei Hervorrufe, wüstes Getrampel, Triumph durch eine ganze Viertelstunde. Selbst die Kunstreiterinnen verlassen ihre Logen, um mir zuzujubeln. Die Situation hat ihren Höhepunkt erreicht ...

Aus der Rede, die der Herr Regisseur hält, während man mich entkleidet, und die einer tragisch-pathetischen Apostrophierung gleichkommt:

»Was hat Sie zu uns verschlagen, Herr Offizier, und was suchen Sie bei uns? Nun sind Sie unseresgleichen, die wir nichts anderes haben als diese unsere Kunst. Doch nach der Vorstellung sind wir arme Tröpfe, die im elenden Reisewagen übernachten. Wie glücklich wäre ich, Herr, könnte ich heute abend an Ihrer Stelle in das seidentapezierte Zimmer an Bord der Fregatte zurück, wo Sie mir die Ehre erwiesen, mich zu empfangen! O schöner Traum, dann morgen früh als Marineoffizier zu erwachen!«

Einer meiner Freunde vom Schiff und seine Freundin Rose erwarten mich um Mitternacht am Bühnentürchen. Hinter uns schleppt ein Dienstmann meine Blumensträuße.

»Meine liebe Rose,« sage ich, »Sie sind ebenso für Ihr häßliches Handwerk geschaffen wie ich für den Magistratsdienst oder für den Stuhl Petri.«

Hierauf schwenkt unsere Unterhaltung in traurige Bahn und schließlich sind wir alle drei in einer Stimmung, als wären wir bei einem Begräbnis erster Klasse.

»Amen,« sagt Rose.

»Das walte Gott,« fügt der Dienstmann hinzu.

 

Toulon, 10. April 1876.

Als mein Freund in Annecy von meiner Abreise nach dem OrientDie »Couronne« wurde nach Saloniki entsendet, als die Konsuln von Frankreich und Deutschland dort ermordet worden waren. erfuhr, schrieb er mir einen mutlosen Brief des Inhalts, daß er mir um jeden Preis zu folgen bereit wäre und sich als Heizer an Bord verdingen wolle. Mit gleicher Post jedoch erhielt ich einen fast unleserlichen Brief seiner Mutter, die mich anflehte, ihr den Sohn nicht zu nehmen, und da schrieb ich an Ermillet, er möge nicht kommen. Es hat mich viel Überwindung gekostet, um so mehr als die alte Savoyardin mich beschworen hatte, ihren Brief nicht zu erwähnen, und jetzt denkt ihr Sohn vielleicht, daß ich ihn im Stich lasse. Aber die Dankbarkeit und die Segenswünsche einer alten Frau sind hinreichende Belohnung, selbst dort, wo es gilt, ein großes Opfer zu bringen.

 

An Bord der »Couronne«.
Piräus, Mai 1871.

Athen ist die Stadt des Orients, die meine Wünsche schon lange suchten: Nun ist es mir gelungen, bis dorthin vorzustoßen, gemeinsam mit meinem Kameraden, dem Ingenieur. Allerdings blieb uns nur eine Stunde für Athen und noch dazu bei Nacht. Zwei Pferde trugen uns in sausendem Galopp durch die Stadt, über die eine der hellen Nächte Griechenlands ihr zauberisches Licht ergoß. Da weckten wir denn in Eile all unser Erinnern an klassische Zeit, und wie im Traum ließen wir während einer Stunde die Zeugen solcher Zeit vor unseren Blicken defilieren: Die Tempel aus pentheleischem Marmor, die Akropolis, die Propyläen, der Parthenon. Rings in den Gärten hauchten blühende Myrthen und Lorbeerbäume balsamische Düfte aus.

Dieser sprunghaft kurze Ausflug hinterließ uns einen bleibenden, köstlichen Eindruck, den wir weit weniger mächtig empfangen hätten, hätten wir Athen in Ruhe und am hellen Tag betrachtet, wie es die englischen Touristen tun. –

 

Brief von Pierre Lotis Mutter an den Sohn.

Rochefort, Montag, am 1. Mai 1876.

Warum, liebes Kind (wenn ich's auch gern sehe, daß Du rechnest), warum nahmst Du Dir die Mühe, mir die Liste Deiner Ausgaben einzusenden? Ich beanstande keine, versichere ich Dir. Ich glaube sogar, daß es wenig junge Leute gibt, die draußen in der Welt so wenig brauchen, wie Du, und ich beklage nur immer wieder, daß so schwere Lasten auf Dich gelegt worden sind.

Dabei kann ich mich doch der Sorge nicht erwehren, wenn ich sehe, daß Du mir manches verbirgst, aber andererseits tut es mir wohl, zu wissen, daß Du Dich Deiner Schwester mitteilst. Es scheint mir ein so gutes Zeichen, daß Du ihr wieder Dein Vertrauen schenkst, daß es mir fern liegt, glaub' es mir, mich über diese Separatbriefe zu beklagen. Nur kann ich Dir nicht oft genug ans Herz legen, Deine Briefe sorgfältigst verschlossen zu senden, besonders wenn Du Deiner Schwester von neuen Sorgen, die Dich drücken, sprichst, oder wenn Du ihr sonst ein Geheimnis anzuvertrauen hast. Wohl weiß ich, daß Du Lehrgeld zahlen mußtest, dafür, daß Du zu vertrauensselig warst. Hat dies Dein Lehrgeld Dich vorsichtiger gemacht? Hüte Dich wohl so zu sein, wie Du es diesbezüglich hier gewesen bist.

Es ist mir unmöglich, mein armer Liebling, mich der Erfolge zu freuen, die Du im Zirkus errungen hast ... Das sind nicht jene, muß ich Dir sagen, die meine Träume für Dich hofften ...

Der April war hier scheußlich, und der Mai kündigt sich nicht gerade herrlich an. Es regnet noch, und heute ist es bitter kalt. Nichts sprießt rasch, alles ist im Rückstand. Und was wir nie vorher gesehen haben: Hungrige Spatzen haben all unsere Glyzinienknospen abgeweidet, selbst jene, wo noch keine Blätter waren. Hoffentlich wachsen noch welche nach. Die abscheulichen kleinen Fresser haben sogar einen Teil unserer Rosenknospen vertilgt, und alle wären ihnen anheimgefallen, hätten wir nicht eine weiße Fahne gehißt, die jetzt über den Rosen flattert – eine Fahne, die nichts Aufrührerisches an sich hat.

Claire und ich bitten Dich, uns endlich mitzuteilen, was mit den Giraffenfellen geschehen soll, die Du aus dem Senegal brachtest. Sie sind fast ganz verfault und sind durchaus kein Schmuck für unseren Hof.

Leb wohl, geliebter Junge, all Deine armen Alten umarmen Dich von Herzen.

NadineNadine ist die Abkürzung für Renaudine, welcher Vorname sich in Pierre Lotis Familie häufig findet in Erinnerung an die Urväter, Renaudin genannt, die nach Holland emigrieren mußten, als das Edikt von Nantes widerrufen wurde. Auch der Kommandant des »Vengeur« hieß Renaudin und entstammte der gleichen Familie.

 

An Bord der »Couronne«.
Saloniki, Mai 1876.

In Saloniki erwartete man uns, um uns mehreren Hinrichtungen beiwohnen zulassen. Diese wurden von den Mächten des Abendlandes gefordert und waren die Folge davon, daß der französische und der deutsche Konsul hier hingemordet worden waren.

Heute nacht Spazierfahrt auf einem Boot im offenen Meer, in Begleitung eines Toten, der in einen Sack eingenäht war. Befehl, ihn zu versenken, ohne von den Türken bemerkt zu werden, und vor Tagesanbruch zurück zu sein. Um vier Uhr morgens bin ich heimgekehrt, mein Boot war mit Wasser gefüllt, ich selbst völlig durchnäßt und tief verstimmt von solcher Fahrt und solchem Tête-à-tête.

 

An Bord der »Couronne«.
In der Reede von Salonique, Mai 1876.

Die drei Tage, die auf die Hinrichtung der Mörder von Frankreichs und Deutschlands Konsuln folgen, sind eine Wartezeit. Rauschendes Lärmen füllt die Reede: Die Admirale und Kommandanten besuchen einander ununterbrochen. Kanonenschüsse werden mit Recht und Fug zu vielen Hunderten im Tag abgegeben, und durch die Ankunft des Großfürsten Alexis von Rußland erfährt dies lärmende Zeremoniell noch eine Verschärfung.

Offiziere und Mannschaft gehen nur bewaffnet, nur dienstlich ans Land. In Salonique herrscht Explosionsstimmung, und der neue Pascha ist in arger Bedrängnis. In den Kapellen der Stadt werden die Leichname der ermordeten Konsuln auf Eis aufbewahrt, und man weiß nicht, wann sie beigesetzt werden sollen, da diese Feierlichkeit leicht der Anlaß zu einem allgemeinen Aufstand werden könnte.

Endlich, am 19. abends, als alle Vorbereitungen von der türkischen Regierung getroffen waren, wurden die Generalstäbe von den Behörden für den nächsten Morgen zur Leichenfeier geladen.

Am 20., um sechs Uhr, setzen zahlreiche Boote Offiziere in großer Gala ans Land. Abordnungen französischer, deutscher, englischer, russischer, italienischer und österreichischer Matrosen kommen in Waffen. Ungeheure Menschenmengen bedecken die Kais, die Straßen, die Fenster und die Dächer. Ein Kordon türkischer Soldaten bezeichnet den Weg, den der Zug nehmen soll, und schließt zugleich vorsichtig die Straßeneingänge ab. Die schweigende Menge scheint nicht sehr befriedigt zu sein, wird aber durch Gewalt niedergehalten. Doch würde ein Nichts genügen, um all dies künstliche Gleichgewicht ins Schwanken zu bringen und ganz unberechenbaren Wirrwarr herbeizuführen.

Man begibt sich zuerst zum Trauergottesdienst in die Kapelle der Französischen Schwestern, woselbst unseres Konsuls Leiche aufgebahrt ist. Die griechischen Priester füllen das linke Chorschiff, die Marineseelsorger das rechte. Vorn in der ersten Reihe die Admiräle, der Pascha, die türkischen Würdenträger. Links vom Sarge eine Abordnung deutscher Matrosen. Rechts, gerade gegenüber, die französische Matrosendeputation. Alle mit aufgepflanztem Bajonett und Freunde für heute; doch messen sie sich gegenseitig mit einer Neugier, der das Wohlwollen mangelt.

Dann heben Männer der Panzerfregatte »Gaulois« den Sarg auf ihre Schultern und tragen ihn einen langen Weg zum Kai hinab, vor dem die Kähne des Geschwaders warten. Der Klerus, die Stäbe und eine große Schar hoher Beamter wohnen seiner Einbootung bei, die Geschütze donnern den Salut. Dann bringt der Kahn den Sarg an Bord des »Gaulois«, wo er verbleibt, bis das Paketboot nach Marseille abgeht.

Und wieder setzt der Zug sich in Bewegung quer durch die krummen Gassen des Judenviertels. Die Franzosen, die bis jetzt an der Spitze geschritten sind, lassen nun den deutschen Offizieren den Vortritt. Auch die Matrosen tauschen jetzt die Rollen, die Franzosen gehen zur Linken, die Deutschen zur Rechten, und so gelangen alle zur griechischen Kapelle der Lazaristenbrüder. –

Den Hintergrund dieser Kapelle füllt antike vergoldete Holzschnitzerei, die auf Goldgrund byzantinische Malereien trägt. Vom Plafond hängen geflügelte Heilige und prächtige Kronleuchter nieder.

Die Leiche des Konsuls von Deutschland ruht lorbeergeschmückt auf Blumen in einem offenen Sarg. Das Antlitz ist wund und zerrissen.

Rund um den Leichnam stehen Popen mit langen, ein wenig schmutzigen Bärten, aber ihre sehr prunkvollen Mäntel sind mit Seide und Gold gestickt. Etwas abseits hält sich der »Despot« (der Erzbischof), in blendender Gewandung. All diese feierlichen Männer tragen brennende Fackeln und Laternen an bändergeschmückten Stangen. Und sie singen lange Litaneien auf eine heitere Melodie und sind selbst voll näselnder Fröhlichkeit.

Nach der Einsegnung wird der Leichnam von Männern der »Medusa« (der deutschen Korvette), gehoben, und nun beginnt ein endloses Wandern durch die Stadt, unter dem Vorantritt von Fahnen und Popen. Es ist griechischer Brauch, die Toten so offen durch die Straßen zu führen, und Frauen sollen weinen, wenn sie vorüberziehen.

Der lange Zug bewegt sich ungefähr eine Stunde lang durch unmögliche Stadtteile, deren Straßen zuweilen so eng sind, daß kaum zwei Männer nebeneinander Platz haben. Überall seltsame Dinge, wackelnde Terrassen, versengte Fensterrahmen, vorspringende Balkone, und alles erfüllt von Orientalen, die ihre schreiende Farbenpracht schier scheckig wirken läßt.. Die Dächer, die Bäume, jeder Winkel an den Häusern, alles ist zum Brechen voll von neugierigen Türken, Juden und Griechen. Alte Turbanträger wiegen sich auf den Zweigen der Platanen. Wenn die Menge sich auf unsere Köpfe niederfallen ließe, es würde vollständig genügen, uns alle zu vernichten. Zweimal gibt es auch Panik: das Ende des Zuges wird von Neugierigen eingeengt, es setzt Fußstöße und Faustschläge. Die Matrosen ziehen die Bajonette und schon wähnt man, daß dies der Funke sei, die große Feuersbrunst zu entzünden: Doch dank der Polizei des Sultans wird die Gefahr abgewendet.

Maueranschläge geben einen Erlaß des Pascha kund. Hier seine Übersetzung:

1. Jedes Haus, aus dem, und sei es selbst durch Zufall, ein Gegenstand zur Erde fällt, wird sofort dem Erdboden gleichgemacht und die Bewohner gehängt.

2. Wer immer es wagt, in der Menge eine Waffe zu tragen, wird sofort nach Betretung aufgeknüpft.

Im Hof der griechischen Metropolitankirche wird der Leichnam der Erde wiedergegeben. Fernher donnert eine Salve von sämtlichen Geschützen der Reede.

Dann löst der Zug sich auf, man besteigt die Barken, und ein Seufzer der Erleichterung weitet des Pascha Brust: Die große Vorstellung ist zu Ende, und kein unliebsamer Zwischenfall hat sie gestört.

 

An Bord der »Couronne«.
Salonique, Mai 1876.

Eben hat der Sultan Mourad V. den Thron bestiegen und seit drei Tagen prangt Salonique im Festesglanz. Die Reede hat Flaggenschmuck angelegt und illuminiert jeden Abend. Beim Einbruch der Nacht erstrahlen die türkischen Schiffe in bengalischem Licht. Unter allen anderen sind sie diejenigen, die die prächtigste Beleuchtung und das stärkste Artilleriefeuer haben.

Am Land trägt jedes Minarett einen Feuerkranz, und lange Lichtschnüre säumen die Kais, auf denen erst kürzlich Galgen gestanden haben.

In der Stadt gibt es viel Lärm, in allen Moscheen wird inbrünstig zu Ehren Allahs gesungen. Besonders die türkischen Stadtteile sind sehr belebt, die Bewohner ergehen sich in ihren glänzendsten Gewändern, die fürstlichen Goldbesatz tragen, und die Straßen sind, wie bei unseren ländlichen Festen daheim, voller Reisiggirlanden und vielfarbiger Lampions.

Heute, am dritten Freudentag, bricht am frühen Morgen plötzlich Feuer in einem Winkel des Bazars aus. Die alten finstern Gäßchen mit ihrer Holzpflasterung, die alten Häuschen aus Holz flammen wie Stroh, und die türkischen Händler, welche die Feuersbrunst vertrieben hat, breiten nun kunterbunt auf dem Boden all ihre kostbare orientalische Ware, Teppiche und Gewürze, aus. Bei Tagesanbruch steht ein ganzer großer Stadtteil in roter Glut, von ungeheueren Rauchsäulen umgeben.

Französische und fremde Schiffe entsenden in Eile ihre Mannschaft mit Löschapparaten. Eine Griechenbande, die das Durcheinander zu Diebstählen benützen will, wird von den Matrosen braun und blau geschlagen. Letztere erklimmen die Dächer und beginnen sie abzutragen; so gelingt es ihnen rasch, den Brand einzuschränken und ihn schließlich ganz zu meistern.

Um zehn Uhr gibt es nur mehr Rauch und erloschene Glut.

Morgen Trauermesse für den Konsul von Frankreich. Übermorgen Seelenamt für den Konsul von Deutschland in der griechischen Kirche. Schwarzgeränderte Maueranschläge an allen Enden der Stadt bringen dies zur allgemeinen Kenntnis.

 

Brief von Pierre Lotis Schwester.

Fontbruant 1876.

Lieber guter Bruder!

Ich hoffe, daß Du Dich nach und nach auf dem »Gladiateur« eingewöhnen wirst, wie Dir Dein Kellerloch auf der »Couronne« auch langsam zur Gewohnheit geworden war. Du weißt, daß solches fast immer rasch geht. Doch auf phantasiereiche Menschen üben die Dinge der Außenwelt so starken Einfluß aus! Dein theoretischer Humor der Häßlichkeit Deiner Gefährten gegenüber ließ mich erst herzlich lachen. Dann aber mußte ich an Deine Worte eine Fülle praktischer Erwägungen knüpfen. Ich für mein Teil bin ja auch immer stark beeindruckt von physischer Häßlichkeit, die mich ganz seltsam gefangen nimmt, und ich erachte es als eine Wohltat, daß ich in meiner Umgebung nur hübsche Gesichter sehe; denn unter jenen, die wir lieben, sind einige von strenger Schönheit, und andere haben wieder die schönen Augen voll kluger Tiefe, die wir an keinem geliebten Antlitz gern missen würden ...

Wie verschönt sich aber physische Häßlichkeit, wenn Schönheit der Seele sie wunderbar von innen heraus belebt! Wie herrlich wurden nicht die Gemälde der alten Meister, wenn sie Häßlichkeit zum Vorwurf hatten, die sich selbst veredelte, sei es durch den Funken des Geistes, der Inspiration oder der Güte. Es scheint, daß sie oft mit Vorliebe nach solchem Vorwurf suchten, besonders Tizian, wenn mein Gedächtnis nicht trügt. Und welche Größe liegt dann stets darin.

Hand in Hand damit geht die Schönheit des Himmels. Die Diener Gottes strahlen, ich weiß nicht welches innere Licht aus, das ihnen göttlich im Antlitz leuchtet. Zeuge des ist Tante Adele und andere ihrer Wesensart. Könntest Du Dir Tante Adele als alte schwatzhafte Ungläubige vorstellen?

So erbitte ich denn Deine Nachsicht für die armen Leute, die Du mir »voll bleicher Häßlichkeit und mit Krokodilaugen« schilderst. Gib acht, es kommt ein Tag, an dem sie Dich lieben, und dann werden sie Dir auch gefallen, und ich glaube, mit all meinen klugen Reden sage ich Dir doch nur Dinge, die Du längst schon weißt.

Marie.

 

Brief von Pierre Lotis Mutter.

Rochefort, Mittwoch, 20. Oktober 1876.

Mein lieber Sohn!

Vor mir liegt Dein Brief, den die Katze Deines Nachbarn mit Tinte beschüttet hat, wie Du schreibst, und das veranlaßt mich, Dir ein wenig von der Deinen zu erzählen, von der armen Moumoute, die Dir wohl immer noch ein wenig lieb ist, trotz aller zur Schau getragenen Gleichgültigkeit. So magst Du denn wissen, daß besagte Moumoute, die wirklich eine schöne Katze genannt werden muß, nun auch zu vorbildlicher Weisheit herangereift ist; seit mehr als sechs Monaten hat sie uns nicht mehr die Ungelegenheit bereitet, Junge zu bekommen, und es hat auch nicht den Anschein, als ob sie Verlangen danach trüge. Darum erwirbt sie sich auch immer mehr die Zuneigung ihrer gütigen Herrschaft, und oft findet man sie auf den Knien unserer armen alten Tante, die, voller Schwäche für sie, es nicht immer zuwege bringt, sie fortzuschicken, wenn sie ihr auch oft durch ihr Gewicht und ihre Ungeniertheit unbequem wird. Gegen ihresgleichen aber ist Moumoute durchaus nicht wohlwollend, und besonders schwer reizt es sie, wenn eine andere Katze unseren Hof zu betreten wagt. So verfolgte sie kürzlich das arme Kätzchen der Madame Besnard fauchend, kratzend und mit Schlägen bis nach Hause, und wurde von des geängstigten Tieres ergrimmter Herrin mit Schimpf und Schande heimgeschickt ...

Man erkundigt sich vielfach nach Dir und fast immer werde ich gefragt, was Du zu den Vorgängen im Orient sagst, wie man dort im Lande von den Dingen denkt, – und nie weiß ich darauf zu antworten. Könntest Du uns nicht einiges darüber schreiben, ohne Geheimnisse preisgeben zu müssen?

Erzähle uns doch auch ein wenig von Deinem Kapitän und von den Offizieren des »Gladiateur«. Lebst Du so wenig außerhalb des Schiffes, daß Du auch davon nichts zu berichten weißt?

Meine liebe Tochter kommt wohl nicht so bald, und so werde ich heuer Weihnachten, das schöne Fest, ohne einen von Euch feiern müssen. Doch ob Ihr, meine geliebten Kinder, bei mir weilt oder in der Ferne, ich kann doch immer für Euch beten, und hierin liegt ein großer Trost.

Ich küsse Dich, mein liebes Kind, aus vollem Mutterherzen.

Nadine

 

Brief von Pierre Lotis Schwester.

Fontbruant, 27. März 1877.

Liebes Brüderlein!

Zu jeder Stunde des Tages denke ich Dein. Ich nehme teil an allen Deinen Schmerzen. Ich weiß und ich verstehe, daß Du sehr leiden mußt. Oft habe ich Tränen vergossen, als ich Aziyadés Geschichte las, denn ich ahne, daß sie wahr ist in allen Einzelheiten. Das arme Kind ist nicht verantwortlich zu machen für Fehler, die es beging, Du aber bist es, und Dir fehlt die Kraft ... So kommt es, daß der große türkische Fatalitätsgedanke Deine Phantasie gefangen nimmt ... Wohl liegt Bestimmung in allen Tatsachen. Doch wir müssen fähig sein, ihre Härten zu mildern und Versuchungen abzuwehren. Der Gedanke der Reinheit, das Gesetz der christlichen Liebe zieht über all diesen Dingen seine ewigen Kreise. Gottes Gnade erleuchtet und läutert. Sie lehrt, nicht zu verzweifeln an allem, was groß und gut und edel ist. Mög' unser guter Gott Dich führen, liebes Brüderlein. Du hast seit einiger Zeit ihm öfter den Blick zugewandt. Du wirst noch mehr nach ihm schauen. Leb wohl und tausend Küsse.

Marie.

 

Rochefort, November 1877.

An einem Februarabend dieses Jahres war es, in der Rue Sultan Selim, auf der Höhe von Stambul ...

In eisigen Stößen strich der Wind über die osmanische Erde, die alten brüchigen Häuser erzitterten, und kahle Zweige neigten sich stöhnend über Grabstätten aus Marmorstein.

Eine enge, menschenleere Straße war es, und rechts und links ward sie begrenzt von alten Säulen längstvergessener maurischer Architektur, einer langen Folge von Arkaden, die der Jahrhunderte Spur im zerbröckelnden Gestein wiesen und unter denen sich niedere, geheimnisvolle Pförtchen auftaten. Alle diese Häuser hatten nur ein Erdgeschoß, und das gemahnte beim Anblick der langen öden Straße ein wenig an Alt-Bagdad.

Zwei Männer hockten auf Bastmatten hinter der bleigefaßten Fensterscheibe eines türkischen Cafés, das im Souterrain gelegen und hauptsächlich von Derwischen besucht war. Die beiden jungen Leute entboten den Anwesenden einen guten Abend, erhoben sich und traten in die Nacht hinaus. Von Kälte erfaßt, hüllten sie sich fester in ihre Röcke, aus grober Wolle, die mit schwarzen Zeichen bemalt waren.

Sie trugen beide die gleiche Kleidung, braune eingefaßte Beinkleider, die am Knie mit Seidentressen in schreienden Farben gehalten wurden, rote gestickte Gürtel, orangefarbene Seidenhemden. Und jeder trug einen leichten weißen Turban um die Stirn gewunden.

Die beiden waren die einzige Spur von Jugend in diesem baufälligen geheimnisvollen Stadtteil. Die Nacht sank nieder in trockener, stechender Kälte, der Wind sang schauerlich, und fahlgelbes Dämmerlicht erlosch am Himmel.

Die beiden Männer sprachen die Sprache des Dschingis-Khan. Und plötzlich begannen sie zu lachen, und dies Lachen war so laut, so zügellos, daß drei alte Türken, die eben vorübergingen, sich entrüstet nach ihnen umsahen.

Tatsache ist, daß ein solches Lachen in so trübseliger Umgebung befremden mußte. Aber da die Haltung der beiden Burschen vornehme Muselmänner in ihnen vermuten ließ, begnügten sich die Greise damit, schließlich wohlwollend in den Bart zu murmeln: »Tchoudjouk« (das sind Kinder).

Dann verschwanden sie im Hause von Selim des Tigers Großwesir und aufs neue erscholl das Lachen der jungen Leute.

Diese beiden Jünglinge waren Achmet und ich ... Und Achmet lachte derart in seiner frischen herzlichen Art, daß er sich vorsichtshalber an eine Mauer lehnen ging. Er konnte vor Lachen einfach nicht weiter.

Ein Wortspiel, das mir eben ganz unfreiwillig entfahren war, hatte uns beide in solche Lustigkeit versetzt. Es war, ich muß es sagen, ein ganz harmloser Spaß, aber damals brauchten wir nicht mehr, um uns zu unterhalten, und Achmet erzählte ihn noch am selben Abend Eriknaz, seiner Schwester ...

Noch oft haben wir seither darüber gelacht, und die kleine Alemshah grüßte mich nie mehr, ohne mich an mein Wortspiel zu erinnern.

Und, so er daran denkt, muß Achmet sogar in dieser Stunde darüber lachen, fern am Fuß des Balkans, unter dem Feuer der Russen ...

 

Rochefort, November 1877.

Ich bin in Rochefort, und das Wetter ist trüb. Aber alle Liebe meiner Kinderjahre lebt nach wie vor in meinem Herzen. Ich bete meine Mutter an, ich habe ihr zuliebe mein Leben im Orient aufgegeben, und ich glaube, sie wird das nie wissen.

Ich habe mein Zimmer in nahezu türkischer Weise eingerichtet, und es ist angefüllt mit Kissen aus asiatischer Seide und all den kleinen Nichtigkeiten, die mir der Brand meines Hauses in Eyoub und die jüdischen Wucherer übriggelassen haben. Ein wenig gemahnt es nun an den kleinen Raum, dessen Wände mit blauer Seide bespannt waren und der nach Rosenwasser duftete, – fern dort, am Goldenen Horn ...

Ich lebe viel in meinen vier Wänden, und das sind die stillen Stunden meines Lebens. Umhüllt von den Rauchschwaden meiner langen Pfeife, träume ich dann von Stambul und von den schönen durchsichtig grünen Augen meiner lieben kleinen Aziyadé.

Ich habe niemanden mehr hier, mit dem ich die Sprache des Islam sprechen kann, und langsam, langsam beginne ich, sie zu vergessen ...

 

Lorient, November 1877.

Ein jedes Leben hat Zeiten voller Verdrießlichkeiten, die schlecht und recht überwunden werden müssen, indem man der Wirklichkeit ins Auge schaut. Ein solcher Zeitraum ist mir angebrochen: seit meiner Wiederkehr nach Frankreich rings Schwierigkeiten und Verdruß. Ich hatte geplant, nach Paris zu fahren und diese Reise ist aufs Ungewisse vertagt. Ich hoffte, in Ruhe mich meiner Lieben freuen zu dürfen, meines alten Hauses, meiner Kindheitserinnerungen. Nun ward mir in Rochefort militärischer Dienst ohne Ende, Einschiffungen und unfreiwillige Spazierfahrten durch die Reede der Insel von Aix. Nur ganz wenig streifte ich bisher durch meine lieben Wälder von Fontbruant und La Limoise, die mir nun, und für lange wohl, entrückt sind. Ich habe zwei gute Kameraden aus der Marineschule verloren, und jeder von ihnen läßt eine kleine Leere in meinem Dasein zurück. Und noch einen Verlust beklage ich: In der Ecke meines Hofes habe ich eine schwarz-weiße Katze begraben, die mir treue Gefährtin war auf meinen Wanderfahrten.

Das ist das Ergebnis all dessen, was sich in diesem Herbst begab. Meine Bemühungen, in die Türkei zurückzugelangen, führten dahin, daß ich hierher nach Lorient verschlagen wurde, wo ich nun als Spielball des Zufalls hocken muß.

Ungenützt schleicht die Zeit. Vom Morgen bis zum Abend vergehen mir die Tage tief im Waldesinnern. So lang ich bin, liege ich im Heidekraut, bis die Nacht kommt und mich verscheucht.

Ich habe gehört, daß meinem armen Freund in Annecy vor einiger Zeit bei der Arbeit die Hand zermalmt ward, und ich erfuhr auch auf indirektem Wege, daß er und seine alte Mutter infolge dieses Unglücksfalles in bitterste Not geraten sind. Ich habe versucht, ihm zu dem Schadenersatz zu verhelfen, auf den er ein Anrecht hat, aber vergebens. Was nützt es, daß man sich bemüht, in einem geordneten und gesitteten Lande, wie unseres ist, zu leben, wenn es hier nicht möglich ist, Gerechtigkeit zu erlangen?!

Von allen Seiten und überall sehe ich nichts als düstere Bilder.


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