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Der Nebelung umhüllte alles Geschehen machte die Luft dick und dunstig; sie wurde feucht und damit zu einem allumfassenden Leiter elektrischer und menschlicher Schwingungen. Der Nebelung kapselte den Menschen ein und dennoch: je kürzer die Sicht des Auges, je geringer die Hörweite des Ohres, um so weiter gespannt die Sendekraft der Seele. Die Zusammenhänge zwischen den Menschen verwandten Geblüts und entgegengesetzten Geschlechts wurden heimlicher in diesen Tagen, unerklärbarer und intensiver. Diejenigen, die von gleichem Rhythmus waren, sei es im Guten oder Bösen, fühlten sich zueinander hingezogen. Unsichtbare Strahlenbänder vibrierten leise aber unaufhörlich zwischen Wesen gleicher versteckter Gewohnheiten. In der Verschwiegenheit der nebeligen Nächte lag die Luft wie dicke Wattebäusche um die Mauern seltsamer Liebesinseln. Hehler und Diebe hatten goldene Zeit. Es sind die Nächte, die von Merkur, dem Gott der Diebe, gesegnet werden. Die offene Liebe gehört dem Mai, die versteckte dem nebeligen November. Nah sind sich die Menschen selbst durch trennende Mauern hin. Wohl kann der Vogel im Nebel nicht leichtbeschwingt emporsteigen, wohl sind die Augentiere gehemmt, aber die Gedankenübertragung spannt blaustählerne Brücken über den Dunst der Tiefe, ist wie ein rhythmisch gegliedertes Gitterwerk von unsichtbaren Drähten, an denen die Einfallströme des Kosmos zu den Menschen entlangwellen, deren Antennen zu schwingen beginnen bei dem Anpochen verwandter Gedanken, die in der Menschenbrust zusammenschmelzen zu einem Stakkato der Gefühle. In solchen Nächten kommen die großen Inspirationen über die Menschen. In solchen Novembernächten wird das neue Werden vorbereitet.

Das Tageslicht zwischen den Gitterstäben der Gefängniszellen ist bleigrau von dem schwärzlichen Nebel. Michael sinnt hinein in die wogende Watte hoch oben an dem Fensterloch seiner winzigen Zelle. Immer hat er vornehme, fast bis zum Fußboden reichende Fenster geliebt. Mauern. Mauern, dicht beieinander, dick, wie für die Ewigkeit gebaut. Kerkerfenster hoch über Reichweite. Eiserne Gitterstäbe. Aufstiert der entsetzengelähmte Blick, zuckt verzweifelt, rast in der Runde, täglich, stündlich, in wahnwitzigem Wechsel. Circulus vitiosus, lasterhafter Kreislauf eines verpfuschten Menschenlebens. Die Gedanken lasten, und aus der schmerzenden Kugel des Hirns schießen die glühenden Protuberanzen der Verwünschungen. Die kreisenden Gedanken kehren mit grausamer Genauigkeit zu dem Kern aller Qualen zurück, immer wieder anbrandend an den Felsblock der einen Frage: Welchen Fehler habe ich gemacht? Welcher Fehler wirft mich hierher, schleudert mich in diese mumifizierende Höhle des langsamen Todes? Welcher, welcher? Da quillt keine Reue auf, da nagt nur der Bohrwurm vagen Zorns, da unterhöhlt die Selbstüberschätzung des Ichs die Pfeiler der ewigen Ordnung. In der kurzen Tagesdämmerung der Novembernebel hat das Böse eine lange Nacht.

»Freiheit!!« Der Schrei dröhnt in der Zelle, versickert in den unbarmherzigen Wänden, versackt in der Dichte des Nebels.

Der aufgereckte Körper, die zum Himmel geworfenen Fäuste, die mächtig gewölbte Brust, alles sinkt lautlos zusammen. Ein greisenhaft willenloser Schattenballen hockt auf der Pritsche.

 

Ottgebe Mangelin sinnt in die wogende Watte der düsteren Nebel. Grausam höhnisch zucken die aufgeworfenen Mundwinkel. Sie haßt Michael, der den Stein ins Rollen brachte. Ohne sein Dazwischenkommen in der Mordnacht und ihr Sichverbergenmüssen hätte sie den verhängnisvollen Stöpsel auf das Fläschchen gesteckt, wäre sie rasch und unauffällig wieder im Lichtspieltheater gewesen. So aber bekam ihr Alibi eine Lücke, und das Fernsein fiel auf. Sie haßt Kapsdorf, und sie empfindet keine Reue. Nur der Fehler, der Fehler, den nicht sie gemacht hat! Der nagt an ihr. In immer gleichem Rhythmus kreisen ihre Rachegedanken um die zwei Pole: Kapsdorf und Michael. Ein Jammer, daß sie soviel von dem Gift in den Tee goß. Er hätte länger leiden müssen, der Schurke, hätte wenigstens noch in ohnmächtiger Wut all die Aufrechnungen und Heimzahlungen anhören sollen, die sie in sich für ihn bereitgestellt hatte. All die abgrundtiefen Abscheulichkeiten, durch die er sie wie durch eine Gosse geschleift, die hätte sie ihm aufzählen wollen, ihm, dieser feigen Hyäne, die ihre schöne, glückliche Schwester zu einem ausgestorbenen Krater gemacht. Bis an Kapsdorfs länger hinausgezögertes Lebensende hatte Ottgebe ihre Rache genießen wollen. Im Bunde mit den Teufeln der Tiefe.

 

Michael sinnt in die wallenden Schleier des trüben Tages. Man darf nur nicht kämpfen gegen den Dämon, der einem in die wogende Wiege gelegt wurde. Man muß eins mit ihm sein. Dann allein ist man glücklich. Der Fehler! Der Fehler? Eine Sekunde gab den Entscheid. Er hatte damals, im Anfang, dem Zureden dieses Kapsdorf widerstanden, da hatte die Ottgebe Mangelin sich schlangenhaft eingemischt, hatte seine Gründe zernagt und verschlungen. Über dieser Otter war er zu Fall gekommen. Wie er sie haßte. Gut, sie hatte den Kunsthändler um die Ecke gebracht. Zu spät. Aber sie hatte ihn, Michael, vernichtet. Mit welcher Wonne würde er sie das Schafott besteigen sehen – wenn er frei wäre! Wenn ...

Das jahrelang erhoffte Licht am Styx hatte ihn nicht gerettet. Es war ein Irrlicht, eine Halluzination gewesen. Diese kleine Gefion war zu schwach. Ihrem Wesen fehlte die unwiderstehliche Macht, die dazu gehörte, einen andern Menschen von Grund aus zu wandeln, mit einem einzigen Wort, dem Wort von der inneren Wunschbildänderung. Dieser Mensch, der das könnte, der brauchte nur da zu sein, müßte allerdings da sein. Er hatte geglaubt, Gefion zu lieben. Aber er konnte wohl überhaupt nicht Menschen lieben. Wer besessen ist, hat nur eine Liebe, seinen Dämon. Auch wenn er gegen ihn kämpft.

 

Gefion sinnt in die weichenden Nebel, und ihr strahlender Blick erspäht einen blauen Himmelszipfel, badet sich in einem Strahl gütiger Novembersonne. Welchen Überreichtum hatte ihr der graue Herbst, der früchtebringende, geschenkt. Wie die rotgoldenen Äpfel ins bereifte Gras klopfen, so war ihr das Glück unversehens und in wundersamer Fülle in den Schoß gefallen. Einen Augenblick beschlich sie das Grauen, wenn sie an Michael dachte, wenn sie sich vorstellte, daß sie nichtsahnend vielleicht Kinder mit bösen Neigungen von ihm empfangen hätte, daß diese aufgezogen worden wären mit der bangen Furcht: wann zeigt es sich? Wann bricht das gefährliche Erbgut durch? Wann werden sich andere Kinder und wann Eltern und Lehrer von diesen Kindern abwenden? Einst hätte sie dagestanden, einsam, fremden, herangewachsenen Wildlingen machtlos preisgegeben, ohnmächtig gegen das Sonderbare, das im Samen des Mannes schlief. Ihr schauderte. Sie sah bang in die vorbeischleppenden Wolkenballen, die müde ihrer Zerlösung zuzuschleichen schienen. Sie schüttelte den Kopf und warf ihn auf, daß die Haare nach hinten flogen. Die Stirn ward ihr frei und – da kam auch die Sonne wieder. Ihr jubelte sie entgegen: Ich kann lieben! Ich liebe dich, Georg, wie ich dich vom ersten Augenblick an geliebt habe, als es wie ein seliges, reinigendes Sturzbad mich überfiel. Du und ich, aus sich ähnelnden geistigen Häusern, du und ich, keinem schlechten Gedanken hingegeben, du und ich eins in dem Ringen für das Wahre, eins in der Liebe zum Echten. Du und ich eins, wenn du Cello spielst und ich dich begleite.

Des Menschen Wege sind verschlungen und sonderbar. Es ist, als ob man von zwei Seiten auf den Kurven einer Acht zueinander käme und, im Schnittpunkt zu gleicher Zeit eintreffend, sich mit unwiderstehlicher Gewalt die Hände reichen müßte, so schön, so bezaubernd, so erlösend. Sie mußte lächeln bei dem Gedanken, daß Georg von Holleben Geld für Fälschungen nehmen könnte. Ihn hetzte kein Dämon, er lebte in einer schönen inneren Harmonie. Bald würde er die ordentliche Professur in Marburg bekommen, dann würden sie heiraten und in die liebliche Stadt an der Lahn ziehen. Ihm würde sie gesunden Nachwuchs schenken dürfen.

Sie lächelte ihrem Schicksal zu, schloß die Vorhänge und nahm Georgs neues Werk über die Kultur des frühen Mittelalters und des romanischen Baustils wieder vor, von dem er sagte, dies sei der deutscheste Stil, der der langobardische heißen sollte, weil er von diesem Germanenstamm geschaffen wurde.

 

Fabricius sann in den abendlichen Nebel. Dieser große Kriminalfall war für ihn zu Ende. Die Akten waren an die Staatsanwaltschaft weitergegeben worden. Ein winziger roter Glasstöpsel hatte den Entscheid gebracht. Ottgebe Mangelin hatte sich selbst verraten, als er noch einmal mit ihr in der Kapsdorfschen Kunsthandlung gewesen und absichtlich vor ihren Augen alles durchsuchte. Da hatte sie eine rasch erstickte Geste des Zurückhaltenwollens gemacht, als er einen in die Täfelung eingebauten Eckschrank, der bisher wohl übersehen worden war, öffnen wollte. In dem gut getarnten Schrank hing unter anderm ein weißer Arbeitskittel, der Spuren von dem Gift aufwies und in einer Tasche den kleinen roten herzförmigen Glasstöpsel mit dem Giftkreuz enthielt. Fabricius hatte ihr den kleinen Stöpsel gezeigt, sie war zusammengebrochen und gestand. Michael Spranger sei in der Mordnacht zu Kapsdorf hereingestürmt, sie habe sich in dem Wandschrank verborgen und den Stöpsel, den sie noch in der Hand gehabt, in ihren Laborkittel gesteckt. Michael sei schuld gewesen. Immer der andere, hatte Fabricius denken müssen. – Eines Tages würde er noch ein letztes Mal zu Michael Spranger gehen. Dann war dieser Fall für ihn abgeschlossen. Neue Aufgaben würden kommen.

 

Wundersam wohltuend waren die ziehenden Nebel, die schweigsam hüllenden, für die kleine Annette. Wie aus dem Urnebel wurde sie wiedergeboren. Sie fühlte sich geborgen wie nie zuvor in ihrem Leben. Ehedem hatte sie die Affenliebe ihrer Schwester hingenommen wie ein lästiges Übel, war aber zu gut und zu schüchtern gewesen, um sich je dagegen aufzulehnen. Nie hatte sie echte, schlichte Liebe kennengelernt, Liebe, die schenkt, die bereichert, ohne zu nehmen, die beglückt ohne Gegenforderung. Voll tiefem Staunen erlebte sie, Tag für Tag mehr erwachend, daß Charlott von Rentmeister nur dazusein brauchte, und alles wurde besser, wurde schöner. Das Böse ward ausgelöscht, ihre Wunden vernarbten durch den heilenden Balsam, der sich unter Hellfriedes Händen weich wie Nebelhauch über ihre Seele breitete. Wie schön, daß die Nebel da draußen die garstige Welt verhüllten, wegnahmen, ins Nichtvorhandene zerlösten. Die bestialische Tat des alten Kapsdorf versank durch Hellfriedes glättendes Wesen, wurde unwirklich, wurde ihr fern und fremd, als wäre es nur eine Erzählung gewesen, oder wie ein grausiges Geschehen, das einer andern begegnet.

Als sie so weit gekommen war, lichtete sich das Dunkel, und über den düstern Strom der Unterwelt, der sie herabgezogen in seine schaudervolle, brodelnde Schwärze, kam ein feiner Schimmer, ein Lichtschein, kam ein kleiner Brief von Erich Halligenstett, ein Brief, der die guten Seiten seines Wesens spiegelte, der zu ihr sprach wie in den Tagen des großen Glücks.

Charlott von Rentmeister hatte das Herz des jungen Gelehrten geöffnet. Den Schutzpanzer der Ablehnung und des Selbsterhaltungstriebs hatte sie geschmolzen, und nun hatte er aufgeatmet, hatte erlösende Tränen gefunden, hatte, als wäre nie etwas Trennendes wie ein alles erstarren-lassender Blizzard zwischen ihn und Annette gekommen, an die Geliebte schreiben können, froh, des Gräßlichen nicht mehr Erwähnung tun zu müssen. Es schien, als sei ein Wunder geschehen. So nahe bei Gott war Hellfriede. Die große Stille, die strahlende, war ihr ins Herz hineingeboren worden, sie hatte das Gnadengeschenk bekommen, das der dänische Dichter Anker Larsen das »Sein im Offnen« nennt, das der Philosoph von Hartmann den »Anschluß an das Absolute« benannte. Wem soviel gegeben, wem solche Gnade verliehen ist, den wird sein Schicksal zu der großen Einsamkeit führen, einer Einsamkeit, die keine Verlassenheit ist, sondern ein Einssein mit allem. Nie würde Charlott von Rentmeister, das war ihr bewußt, einen Partner finden, der gleich begnadet. Heilige und Priesterinnen schenken sich nicht dem einzelnen hin, sondern gehören dem Ganzen.

 

Spätnovemberstürme zerrissen Nebel und Gewölk, zerrissen das Gemüt von Frau Jacoba, die nicht mit sich eins werden konnte. Da hatte sie sich nun in einer mäßigen Pension im Zentrum eingenistet, nur um Michael nahe zu sein. Ihre Sinne fieberten nach ihm, zehrten schwindsüchtig von der einen heißen Stunde und verlangten gebieterisch nach neuer Stillung. Aber Michael hatte nicht einmal ihren Besuch gewünscht. Er lehnte sie ab. Auf wen wartete dieser Verbrecher noch? Konnte er nicht stolz sein, daß die schöne Frau von Tirschenreuth zu seinen Füßen lag und darum bettelte, aufgehoben zu werden!

Jacoba hatte Gefion getroffen und sofort begonnen, Michael schlecht zu machen, weil sie die andere nicht ahnen lassen wollte, wie es um sie stand. Gefion hatte, da sie die Angriffe der Jacoba unberechtigt und über das Ziel hinausschießend empfand, sofort begonnen, Michael lebhaft zu verteidigen. Die Damen waren sich förmlich angesprungen, soviel Leidenschaft entfesselte dieser Mann. Selbst dann noch, wenn die eine der beiden Frauen sich von ihm gelöst hatte und in einem wirklichen Glück sein durfte, und die andere, ungeliebt, ihn mit unerwiderter Leidenschaft begehrte. –

Gefühle und Gedanken der Frauen wellten hin zu dem Mann in der einsamen Zelle. Gefion. Jacoba. Er stellte die beiden nebeneinander. Die eine hatte er erweckt für einen andern. Die andere ... würde Jacoba sein Los sein, wenn er einst aus dem Gefängnis kam? Ihn schauderte.

Dann versank er wieder in den kreisenden Malstrom seiner Gedanken.

 

Januarschnee deckte die Erde wie ein Leichentuch, als der Staatsanwalt gegen Ottgebe Mangelin die Todesstrafe beantragte und das Gericht sie zu jahrelangem Zuchthaus verurteilte. Mildernde Umstände wurden ihr zugebilligt, weil sie aus Liebe zu ihrer vom Ermordeten geschändeten Schwester gehandelt hatte.

Kriminalrat Fabricius besuchte Michael, um ihm die Nachricht über den Ausgang des Prozesses zu bringen. »Sie haben mich sprechen wollen, Herr Spranger. Leider nahm mich ein neuer Fall so in Anspruch, daß ich erst heute Sie aufsuchen konnte.«

»Zunächst muß ich Ihnen danken, daß Sie den Verdacht des Mordes von mir genommen haben. Ich hätte mich nie erfolgreich dagegen wehren können. Darum danke ich Ihnen sehr herzlich – wenn Ihnen an dem Dank von so einem wie mir gelegen ist. Sie haben eine große Leistung vollbracht.«

»Ich glaube, Ihr Inneres so zu kennen, daß es mir eine Genugtuung bedeutet, Ihren Dank zu empfangen«, antwortete Fabricius bescheiden.

Michael lächelte bitter. »Den Dank eines, der außerhalb der sittlichen Weltordnung steht, den man einsperrt wie ein wildes Tier? Dem die Ordnung das Rückgrat bricht. Rückgratbrechen, das ist die Wollust der Ordnungssüchtigen.«

»Sie können nicht leugnen, daß es unsichtbare Gesetze gibt, deren Träger wir Menschen sind; und daß der Staat das Recht und die Macht hat, diesen Gesetzen Ansehen und Geltung zu verschaffen, das zeigt Ihnen doch gerade, daß die göttliche Vorsehung es so will, wie es ist.«

»Vorsehung, lächerlich! Ich glaube an die Kraft. Die habe ich immer angebetet. Sonst nichts.«

»Kraft kann nur wirken in geordneten Bahnen, darum muß der Mensch, die kleine Intelligenz, in seinem Bezirk Ordnung schaffen, erhalten, immer aufs neue begründen. Ordnung führt zur Harmonie, Kraft allein zerstört sie«, sagte der Kriminalrat. »Die Harmonie erkennt gerade unsere Zeit als den tiefsten Sinn des Weltalls. Darum ist unser Ziel, einen Abglanz dieser großen Harmonie in unserem Dasein, dem Einzelleben wie der Ganzheit, zu verwirklichen. Wenn ein Mann wie Sie, ein Brecher der Ordnung, ein Anbeter des Unechten und des Truges, unter den Gesetzen der ordnenden Harmonie zu leiden hat, so schmerzt das wohl manchen. Aber solange Sie innerlich unfrei, Ihrem Dämon begeistert zu eigen sind, kann auch die äußere Freiheit Ihnen nichts nützen. Wer nach dem Kampf des Geschehens sich innerlich ordnet, der allein wird frei zu neuem.«

»Wo bliebe da der eigene Wille, das Recht des Freien, das Gigantische, das Genie? Nein, gehen Sie mir mit Ihrer lauwarmen Ordnung. Das Große haben immer die Zerbrecher der Ordnung geleistet.«

»Bisweilen. Jedoch nur, um eine neue Ordnung heraufzuführen. Denn auch Ordnung und Staat müssen sich zu Zeiten erneuern. Doch die Ordnung gewinnt in jedem Ringen. Der Staat ist ihr Vertreter. Was wäre der ganze Kosmos ohne Ordnung, ohne die große Balance? Schwere und Druck werden im Gleichgewicht gehalten. Immer müssen die aufbauenden Kräfte um ein Winziges mächtiger sein als die zerstörenden. Denn wenn die Zerstörung nur einen Augenblick überwöge, so würde der ganze Kosmos in Trümmer gehen. Das ist das Gesetz der irrationalen Harmonie, die in allen Welten das Leben erneut und ständig aufrechterhält. Die irrationale Harmonie ist die Unruhe der großen Weltenuhr.«

Michael schüttelte den Kopf. »Mein Abgott ist der Görlitzer, der die Weltordnung zu sprengen lehrte, dieser Spintisierer von Gottes Gnaden.«

»Der Schuster unter den Philosophen«, antwortete Fabricius trocken. »Sie sagen, er sei Ihr Abgott, Ihr Götze. Götzen stehen auf tönernen Füßen. Noch nie hat ein Götze einem Menschen aus der Not geholfen. Machen Sie sich klar, daß jeder dort bestraft wird, wo er sündigt. Diesem ehernen Gesetz der Ordnung werden auch Sie nicht entgehen.«

»Ich werde bestraft, indem man mich einsperrt«, begehrte Michael heftig auf. »Das ist eine äußerliche Sache.«

»Nein. Eine härtere Strafe erreicht Sie von innen. Sie sind Fälscher und sind dadurch gestraft, daß Sie alles falsch sehen. Für Sie verschiebt sich in allem der Blickwinkel, so daß Sie jedes in Verzerrung sehen und beurteilen. Durch das Falschsehen werden Sie nirgends und nie das schlichte Glück, das allein den Menschen auf die Dauer selig macht, finden. Das ist es, Michael Spranger.« Fabricius erhob sich und schritt zur Tür.

»Verkenne ich denn alles?« antwortete Michael verblüfft.

»Das ist Ihre Strafe, die um so härter wird, je mehr Sie deren innere Wahrheit erkennen. Wenn Sie die große Aufräumungsarbeit in Ihrem Innern erst in Angriff nehmen, werden Sie begreifen, wie ungeheuer sie ist. Erst wenn man einen Teil eines Weges zurückgelegt hat, begreift man, wie weit man es bis zum Ziel hat.«

Damit verabschiedete sich der Gegner, der ein Freund war. Michael sah ihm nach und dachte an Hellfriede. Eine Ahnung von Harmonie leuchtete in ihm auf. Das Wunschbild ändern ...

*

Während der Jahre seiner Strafverbüßung sann Michael immer wieder dem Wort des seltsamen Mädchens nach, und je vertrauter es ihm wurde, um so tiefer drang es in ihn ein und wurde schließlich ein Teil seines Wesens. Aus seinem Unterbewußtsein erwuchs in schöpferischem Drang allmählich eine neue Ich-Form, der Trug und Schein wesensfremd war. Michael gelang es zeitweise, sein Wunschbild zu ändern, aber des öfteren fühlte er sich irgendwie leer und war sich fremd, darüber begann er zu kümmern, zu kränkeln, zu welken.

Wenn Charlott von Rentmeister noch am Leben gewesen wäre, so würde sein Inneres vielleicht Fülle bekommen haben, sie aber starb eines Tages, gewissermaßen von Abend auf Morgen, ohne sichtbaren Grund, löste sich auf, wie es bei Frühvollendeten, die Gott zu nahe sind, allzuleicht geschieht.

Als Michael aus der Strafanstalt entlassen wurde, wartete Frau von Tirschenreuth auf ihn.

Er wies sie von sich und kaufte ihr das Wohnrecht zu Rüsternort ab. Jacoba wurde wohlhabend, aber sie wollte mühelos reich werden, sie spekulierte und verlor alles, dann wurde sie eine Abenteurerin der Liebesspiele, bis sie endlich auch dazu zu alt war.

Ihr hatte nie ein Licht am Styx den Weg zur inneren Freiheit und zum Begreifen der kosmischen Ordnung gezeigt. –

Manchmal zuckte es verlangend in Michaels linker Hand, und er besah sie wie etwas Fremdes, daran ein fressendes Übel nagte.

Aber in seiner Sterbestunde überkam ihn eine unsagbare Heiterkeit: er fühlte, wie der Krampf des Dämonischen, das seine Seele geknechtet hatte, wich und sein ganzes Sein im Gleichgewicht zu schwingen begann, selig befreit und bereit, sich schmerzlos zu zerlösen.

Ende.

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