Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Frau Jacoba hatte bei ihrer Rückkehr Kommissar Holst und Inspektor Kraus vorgefunden, die gerade die Vernehmung des Personals und einiger Gutsleute beendet hatten. Jacoba bedankte sich liebenswürdig für das rasche Eintreffen der Herren und fragte interessiert nach dem Ergebnis ihrer Nachforschungen. Bei der Mitteilung, daß man bisher noch nichts gefunden habe, wies Frau von Tirschenreuth mit maliziösem Lächeln auf die Räume des Hausherrn hin, die man ja noch nicht durchsucht habe. Sie erwähnte die Möglichkeit, daß er das Bild hier im Hause verborgen hielt. Die Anregung wurde aufgenommen. Bei der Durchsuchung glaubte Jacoba die Beamten immer wieder anfeuern zu müssen, redete von doppelwandigen Schränken, geheimen Fächern, meinte, daß der Van Dyck auch hinter Bildern versteckt sein könne. Man empfand die Dame als störend und aufdringlich. Die Suche verlief ergebnislos. Als man weder hinter Schränken noch Bildern etwas fand, lächelte Jacoba höhnisch. Bei dem Umwenden eines Lenbach-Bildes war sie spannungsgesättigt vorgebeugt stehengeblieben und hatte eine kleine Erregung nicht verbergen können. Man hatte einen Augenblick den Eindruck, als erwarte Jacoba eine große Sensation. Ute schaute verwundert auf ihre Mutter. Was mochte die nur haben? Kommissar Holst fing diesen Blick auf, und um dieses Blickes willen beschloß er, in Rüsternort zu bleiben, selbst wenn nach Eintreffen des Materials die Untersuchung beendet sein würde. Er verabschiedete sich von den Damen und ging zum Telephon, um seinen Chef anzurufen. Kramer meldete sich, und Holst erstattete Bericht.

Sein Chef gratulierte ihm zur soeben eingetroffenen Beförderung zum Kriminalrat und Versetzung nach Berlin, wo er in demselben Dezernat »Bilderdiebstahl und Bilderfälschung« weiterarbeiten würde. Holst war sehr angetan von dieser Mitteilung. Er erhielt die Genehmigung, zur weiteren Beobachtung in Rüsternort zu bleiben. Fröhlicher Stimmung erschien er zum Mittagessen im Dorfkrug, dessen Wirt eine große Landwirtschaft nebenbei hatte. Das Essen wurde durch einen Kraftfahrer unterbrochen. Kraus ging hinaus, kam zurück, nahm dienstliche Haltung an und meldete, Urberliner, der er war: »›Matrial‹ zur Stelle!« Holst dankte. Es habe keine Eile. Voller Verwunderung setzte Kraus sich wieder und sprach dem nächsten Gang emsig zu. Nach dem Essen gingen sie wieder zum Schloß. Gerade als Frau von Tirschenreuth sich zum Mittagsschlaf niedergelegt hatte, gongte Holst rücksichtslos laut durch das alte Herrenhaus und ließ durch Kraus, sowie den Kraftfahrer einige bestimmte Leute ins Schloß holen. »Ich bitte alle Hausinsassen in die Halle. Jedermann hat seine Fingerabdrücke hier auf dieser Steinplatte mit Druckerschwärze und dann auf den vorbereiteten Blättern zu machen.«

»Das ist ausgezeichnet, Herr Kommissar, das tun Sie nur«, sagte Jacoba und kam nicht in die Halle herunter.

»Selbstverständlich Sie auch, Frau von Tirschenreuth, – zu Ihrer Entlastung.« Es klang etwas wie Ironie durch die letzten Worte.

»Ich bin doch keine Diebin, sondern die Bestohlene. Was soll das!« antwortete Jacoba und stieg mit stummer Verachtung die königliche Treppe herab.

Die kann einen im Traum behexen, dachte Kraus und verwechselte beinahe die Fingerabdrücke des Forsteleven und des Reitknechtes. Alle sahen nun ihre schwarzen Fingerbeeren an und lachten. Die Burschen versuchten, den Mädels ihre »Handschrift« ins Gesicht zu kleben. Aber die waren nicht faul und meist die flinkeren. Mit viel Gelächter zogen die Entlassenen wieder ab. Nur Frau Jacoba murrte über die undelikate Schweinerei. Holst fragte höflich, ob er sich zur Vesperzeit bei der gnädigen Frau einfinden dürfe. So eine Plauderstunde auf alten Schlössern nach getaner Arbeit sei für ihn ein seltenes Vergnügen, das er nur ungern entbehren würde.

Jacoba sagte mit gewinnendem Lächeln zu; sie werde sich freuen, ihn in ihrem Damenzimmer begrüßen zu können. In diesem Augenblick betrat Gefion, die soeben von der Bahn abgeholt worden war, die Halle, und Jacoba bat sie und Ute, halb sechs in ihrem Zimmer zu sein. Damit ging sie und sah mit größter Befriedigung, daß Fräulein Dankwart als Begrüßung ihre Fingerbeeren auf das schöne »Stempelkissen« drücken durfte, denn sie war zu der Zeit des Diebstahls im Hause gewesen. Nach dieser Prozedur ging Gefion auf ihr Zimmer und säuberte sich sowohl von dem Reisestaub als auch von der kriminalistischen Schönfärberei. Nachdem sie ausgepackt hatte und es im Hause still war, schlüpfte sie leise in den Ahnensaal. Beim Eintreten prallte sie zurück. Holst saß in einem Lehnstuhl und sah sie scharf an. »Ich habe Sie erwartet«, sagte er schroff und ohne jede weitere Erklärung.

»Mich? Wieso?« stammelte Gefion.

»Sie sind Kennerin. Was halten Sie von den Bildern?«

»Vermutlich sind sie echt. Alt wohl auf jeden Fall.«

»Was Sie nicht sagen.« Es klang verdammt spöttisch. Ganz in der Art, in der sie bisweilen selbst zu sprechen pflegte. Machte sich der Mann über sie lustig, indem er sie kopierte? Ihr stieg der Zorn den Nacken hoch. Was ging sie dieser Kriminalbeamte an?

Holst blieb ruhig auf seinem schweren Barocksessel sitzen. »Auf dem Tisch liegt alles Material zur Untersuchung. Vergrößerungsgläser, mikroskopische Instrumente, Teilaufnahmen in fünfzigfacher Vergrößerung von Details jener Meister, die diese Bilder – offenbar gemalt haben.« Eine aufreizende Sprechweise besaß der Mensch. Aber hatte nicht ein ähnlicher Verdacht, wie er anscheinend in dem Hirn dieses Mannes lebte, sie hierhergezogen? Hatte Michael wirklich mit all diesem etwas zu tun? Wie kam es, daß sie ihn gerade bei Kapsdorf getroffen hatte, daß die Schwestern Mangelin ihn so gut kannten, daß er ein Atelier bewohnte, daß er so leidenschaftlich für das Recht, Bilder zu fälschen, eintrat? Mechanisch begann Gefion mit der Arbeit. Wieviel wußte der gefährliche Mann dort hinter ihrem Rücken? Wie konnte er Dinge und Zusammenhänge ahnen, die nur sie hellfühlig aus der Betrachtung einer überlebendigen Linken in sich aufglimmen fühlte?

Eine unerträgliche Stille lag über dem Ahnensaal. Das Schloß, in dem es nachts so sonderbar lebendig wurde, wirkte in der matten Oktobersonne dieses Nachmittags gespenstisch und lautlos wie eine Gruft. Nicht einmal der Modergeruch fehlt, dachte Gefion. Bild für Bild nahm sie vor. Die Unruhe, die sie erfüllte, steigerte sich zu einer die Kehle zuschnürenden Angst. Die Zeit schien mit bleiernen Füßen beschwert. In eisigem Schweigen schlich sie dahin. Stunde um Stunde sprach Kriminalrat Holst kein Wort. Gefion fühlte, daß sie dem Zusammenbrechen nahe war. Nur jetzt nicht an jene Rednerin denken, die sie neulich neben ihrem Pult zusammensacken und ohnmächtig umfallen sah. Sie beherrschte sich mit aller Gewalt, legte das Bild, das sie in der Hand hatte, beiseite und ging zum Fenster, das sie rasch öffnete. Dort stand sie stumm und atmete die kühle Herbstluft des Parkes ein. Wie ein Schwerthieb durchfuhr ein Wort hinter ihr die Luft: »Echt?«

Gefion verharrte schweigend. Sie wußte, was das nächste Wort für sie und ihre Liebe bedeutete. Sie kämpfte mit sich. Endlich stieß sie heraus: »Einige vielleicht. Einige nicht.«

»Warum lügen Sie?«

»Mein Gott, ich kann nichts anderes sagen. So genial kann kein Mensch Meisterwerke anderer Künstler nachahmen, daß selbst unterm Mikroskop die jeweilige Pinselführung die gleiche ist.«

»Ist sie wirklich ganz die gleiche, Fräulein Doktor Dankwart? Ihr Scharfblick ist doch in Kennerkreisen berühmt.«

Gefion verfluchte diesen Ruhm. Wäre sie doch Durchschnitt, wäre sie doch eine Stümperin auf dem Gebiet ihrer Wissenschaft! Kriminalrat Holst war aufgestanden und kam mit kurzen, festen Schritten auf das zitternde Mädchen zu. Nun stand er vor ihr und sah ihr unerbittlich in die Augen. »Was haben Sie bemerkt? Antwort!«

»Es scheint, – als – seien – die Bilder meist – von einem Linkshänder gemalt.« Sie hatte so leise gesprochen, daß Holst sich vorbeugen mußte, um diese gehauchten Worte zu verstehen. Er zog sein fertiges Gutachten aus der Tasche und zeigte Gefion die Schlußsätze. Da stand: »Es ergibt sich das Unwahrscheinliche, daß alle wichtigen Bilder dieser Ahnengalerie von einem Linkshänder gemalt sind, also gefälscht sein müssen, obwohl sie alt und echt wirken, ja sogar bisweilen den chemischen Untersuchungsmethoden in bezug auf die alten Farbzusammensetzungen standhalten. Gewiß haben einige von diesen alten Meistern einmal aus Sport linkshändig gemalt, aber die Häufung gerade hier, wo es sich um die Darstellung der Mitglieder einer Familie handelt, macht die Annahme einer großartigen Gesamtfälschung – ich will mich vorsichtig ausdrücken – möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich. Wir ständen allerdings dann vor einer Einmaligkeit in der Geschichte der Kunstfälschungen.«

Das Blatt zitterte in Gefions Hand. Jetzt wird er mir auf den Kopf zusagen, daß ich den Maler kenne. Und ich kenne ihn doch nicht. Nie hat der Linkshänder, an den ich denke, gemalt. Oder doch? ... Kapsdorf ... die Atelierwohnung ... das Gespräch über echt und unecht ...?

Jacoba betrat den Raum. Gefion hätte ihr um den Hals fallen mögen. Ute folgte einen Augenblick später. Die Hausherrin erkundigte sich nach dem Ergebnis der Untersuchungen und bat zur Vesper. Mit Genugtuung hörte sie Kriminalrat Holst sagen, er halte die Arbeiten für alt und – kostbar.

Jacoba ging mit ihm voran. Gefion wäre gern noch ein paar Augenblicke allein hier geblieben, aber Ute hatte es anscheinend auf ein kurzes Zusammensein mit Gefion angelegt, der sie ein paar abgerissene, aufgeregte Sätze über das Van-Dyck-Bild zuflüsterte, die Gefion zunächst gar nicht verstand. Dann stutzte sie. Wäre so etwas möglich?

»Als ich gestern abend – es ist doch jetzt Vollmond – von Charlott nach Hause kam, da ging meine Mutter in ihrem schwarzen Schlafanzug über den Dachfirst. Es ist wirklich wahr! Denken Sie sich mein Entsetzen! Die Leute haben es schon oft erzählt, aber ich selber hatte es noch nie gesehen!« Utes Augen waren weit aufgerissen. Das furchtbare Erschrecken bei diesem Anblick stand noch in ihnen.

Auf Gefions Frage, ob Frau Jacoba auch sonst somnambule Eigenschaften gezeigt habe, erzählte Ute eine Geschichte aus dem Schweizer Pensionat, in dem ihre Mutter, als sie so alt war wie Ute jetzt, etwas Seltsames getan hatte. »Denken Sie sich, da ist sie im Winter im Nachthemd auf den Boden gestiegen in einer Vollmondnacht, hat aber die zugefrorene Dachluke nicht aufbekommen. Doch vor ihr stand im weißen Mondschein ein altmodischer großer Koffer, dessen eiserne Bänder von großen Kuppennägeln gehalten wurden. Da hat sie mit ihren bloßen Fingern all die großen, festen Nägel herausgezogen und auf ein Häufchen gelegt. Im Mondschein, und ohne es zu wissen. Mir gruselt es den Rücken herunter, wenn ich nur daran denke. Die alte Cordula hat mir das alles erzählt. Ich fürchte mich vor Mutters Fingern«, schloß sie leise.

Gefion strich dem tief erregten Mädel über das Haar. »Sie fürchten, Ihre Mutter tut in solchen Mondnächten Dinge, um die sie nicht weiß?« Ute nickte. »Mir ist angst um Mutter. Man müßte sie vor sich selbst retten. Meinen Sie nicht auch?«

»Wo bleibt ihr denn?« erscholl Jacobas scharfe Stimme. Sofort waren die beiden bereit, der Mahnung zu folgen.

Im Damenzimmer hatte Holst behaglich Platz genommen und ließ sich Kaffee und Kognak zu seiner Zigarre wohl munden. Kuchen lehnte er als läppisches Zeug ab. Dennoch schien er bestrebt, eine gemütlich-behagliche Atmosphäre um sich zu verbreiten.

Was für eine Absicht er dabei haben mag? dachte Gefion, die ihn soeben von einer andern, einer ziemlich strengen Seite kennengelernt hatte. Holst erzählte allerlei interessante Dinge aus seinen kriminalistischen Erfahrungen. Dabei kam er auf Kunstwerke, plauderte von gestohlenen Bildern, die manchmal auf gar seltsamen Wegen wiederkamen. Worauf will er eigentlich hinaus? dachte Jacoba und steckte sich, um ihre Unruhe zu verbergen, eine neue Zigarette an. Als er immer wieder von Fingerabdrücken sprach und nun auch erzählte, daß der Rahmen des Van-Dyck-Bildes eingepulvert und photographiert worden sei – man sehe die Fingerabdrücke darauf außerordentlich deutlich, da lachte Jacoba nervös auf und meinte, wie er wohl aus der Vielfalt der Menschen, die den Rahmen in der Hand gehabt hätten, die Finger des Diebes herausfinden wolle. Ute warf ein, daß die alten Fingerabdrücke doch natürlich nicht mehr zu sehen seien. Holst schüttelte den Kopf: »Wir haben auf Bildern von Rembrandt noch den Abdruck seines Daumens feststellen können«, sagte er mit bedeutungsvoller Stimme. Ute schüttelte sich. »Sie sind ja ein unheimlicher Hexenmeister. Was für Pulver nehmen Sie denn und wie wird das photographiert? Darf ich das mal sehen?«

»Nein, kleines Fräulein, Amtsgeheimnis. So sind wir Kriminalisten«, lachte er, als er ihre enttäuschte Miene sah. »Es tut mir beinahe leid, daß ich Sie nicht einmal hinter die Kulissen unserer großartigen Organisation sehen lassen kann. Wie würden Sie zum Beispiel staunen, wenn ich Ihnen erzählte, was wir in wenigen Tagen alles über die Familie Spranger festgestellt haben.«

»Ist sie erblich belastet?« fragte Jacoba und hatte etwas Begieriges in Augen und Stimme. Gefion stürzte einen Kognak hinunter.

»Nun, der verstorbene Gottwalt Spranger, dessen Geschäfte ziemlich düster gewesen sein dürften, kann in gewisser Hinsicht als merkwürdig angesehen werden«, fuhr Holst fort.

»Und wie wollen Sie in wenigen Tagen all diese Feststellungen gemacht haben?« fragte Jacoba spöttisch.

»Ich allein natürlich nicht, sondern unsere kriminalbiologische Abteilung in Berlin ist an der Arbeit.«

»Man kann dort doch nicht über alle Familien in Deutschland Unterlagen haben?« fragte Gefion unruhig.

»Warum nicht, Fräulein Doktor? Im übrigen erlaubt es mir meine Schweigepflicht nicht, hierüber nähere Auskunft zu geben.«

Schon wieder mal, dachte Ute. »Wie war denn das mit Onkel Gottwalt?« fragte sie.

»Erstens können Sie froh sein, daß dieser alte Herr Spranger nur ein Nenn-Onkel von ihnen ist, und zweitens werden Sie ja selber noch wissen, wie er als Roter Husar herumstolzierte in seiner eingebildeten Ahnengalerie. Das kann man doch wohl ›abartig‹ nennen.«

»Wieso eingebildete Ahnengalerie, es ist doch eine echte!« sagte Gefion. Holst wandte ihr den Blick zu, und einen Moment blitzte es in seinen Augenwinkeln auf. »Nennen Sie das eine echte Ahnengalerie, in der Vorfahren einer andern Familie hängen? Ich nenne das Ahnenheuchelei und Einbildung, also eine eingebildete Ahnengalerie«, kam es wie eigensinnig und mit verhaltenem Unwillen von Holsts Lippen.

»Wenn eine Sache in ihrer Anlage schon den Hang zum Unwahren und die Sucht nach Täuschung an der Stirn trägt, dann reift solch ein Wechselbalg fast stets zu etwas Kriminellem aus. Und über diese Ahnengalerie ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, weil sie: ›fortzeugend Böses muß gebären‹. Manchmal kehren gestohlene Bilder wie von selbst zurück.«

Gefion sah Holst nachdenklich an. »Es muß doch eigentlich schrecklich sein, immer nur mit den Nachtseiten des Lebens zu tun zu haben, Herr Rat.«

»Gewiß, aber dafür entschädigen einen die Erfolge«, antwortete Holst, ohne Frau von Tirschenreuth aus den Augen zu lassen. »Es ist oft außerordentlich schwierig, gewiegten Verbrechern auf die Spur zu kommen, aber je weiter man ausholt, je mehr man ihre ganze Umgebung nach Spuren und Leitfäden untersucht, um so näher kommt man mit jedem Schritt dem Zentrum.«

Jacoba schlug erneut ein Bein über das andere und rückte auf ihrem Sessel hin und her. Sie konnte offenbar im Augenblick keine bequeme Haltung finden.

»Wissen Sie«, fuhr Holst fort, »es ist sonderbar, wie die Ängste des eingekreisten Wildes sich manchmal wie rätselhafte, unsichtbare Strahlen uns mitteilen, so daß wir sie aufreizend in allen Nerven mitfühlen. Und wieviel Ängste hat so ein armes Subjekt auszustehen! Da ängstigt es sich vor dem Zupacken der Kriminalpolizei, die es unsichtbar und überschattend überall zu spüren glaubt – womit es ja durchaus recht hat, und oft zittert es auch vor der Rache der Komplicen. Wieder andere fürchten sich bis ins Aschgraue vor neuen Verbrechen, die sie zur Vertuschung der alten begehen müssen, wie eine Lüge meist neue Lügen zeitigt, bis man ganz hilflos sich in ein furchtbares Netz verstrickt hat. Können Sie sich das vorstellen, gnädige Frau? Auch wir Kriminalisten haben bisweilen geradezu Sehnsucht nach den lichten Seiten des menschlichen Daseins. Besonders meine Kollegen von der Mordkommission, die soviel mit dem Grauenhaften, bisweilen sogar mit dem Bestialischen zu tun haben. Mein Kamerad Fabrizius vom Morddezernat ist ein großer Cellospieler und lockt aus seinem kostbaren Instrument die harmonischsten Melodien. Ich selbst bin ein begeisterter Naturfreund und sammle – Schmetterlinge. Je bunter sie schillern, desto lieber.«

»Und freuen sich, wenn Sie wieder einen auf die Nadel spießen können«, entfuhr es Jacoba. Vielleicht würde Michael der nächste Falter sein, der diesem »Naturfreund« in das Fangnetz ging, dachte Gefion voll Unruhe.

Holst wurde noch ernster und verfiel bald in Schweigen, da er einem neuen Gedankengang nachhing, der sein ganzes Wesen erfüllte. Auch die andern verstummten im Damenzimmer zu Rüsternort.

*

Michaels Wagen wurde von dem Beamten, der mit ihm fuhr, in den Hof der Kriminalzentrale dirigiert. Alsdann ging es über Gänge und Treppen, die Michael endlos dünkten. Schließlich standen sie in dem Vernehmungsraum, und ein Kriminalkommissar begrüßte Michael höflich. Er forderte ihn auf, Platz zu nehmen und ein paar Fragen beantworten zu wollen.

Nach der üblichen Einvernahme zur Person, die schon erste Verwicklungen ahnen ließ, wurde die Angelegenheit mit den zwei Namen ernstlich erörtert. Michael zog aus seinen Papieren eine alte, ziemlich mitgenommene Bescheinigung eines westfälischen Amtsgerichts heraus und wies sie vor. Der Kommissar betrachtete den Schein mit Mißtrauen. Dann stellte er eine Hausverbindung her und fragte nach dem Amtsgericht. Auf den Bescheid hin schüttelte er mißbilligend den Kopf. »Dieses Amtsgericht, das Sie sich zu der Bescheinigung ausgesucht haben, existiert nicht mehr, bzw. ist mit einem andern inzwischen zusammengelegt worden. Merkwürdig, daß Sie gerade an diesen einen Ausnahmefall geraten sind, Herr Spranger.«

Michael verteidigte sich: er habe das ja nicht wissen können; seine Mutter habe damals in dem Sprengel gelebt, und er sei also folgerichtig auch dorthingegangen, um die Erlaubnis zur Führung des Namens zu erhalten.

Der Kommissar telephonierte wieder, bald erschien ein Beamter vom Dezernat der Schriftfälschungen und nahm das Papier zur Untersuchung mit. Indessen begann der Kommissar mit einer Reihe von andern Fragen, die sich um eine eventuelle erbliche Belastung drehten. Es wurde über die verschiedenen Mitglieder der Familie Spranger gesprochen, und er schien besonderes Gewicht darauf zu legen, daß Michaels Vater wegen Betrugsbeschuldigung in Untersuchungshaft gewesen war.

Michael betonte immer wieder, daß er doch nichts dafür könne, wenn sein Vater nur wegen mangelnder Beweise freigesprochen worden wäre. Außerdem kenne man ja heute die Umstände nicht mehr, und es könnten doch auch damals falsche oder ungenaue Zeugenaussagen – das käme immerhin häufig vor – zu der unerwiesenen Beschuldigung geführt haben.

Der Beamte erwiderte, Sprangers Mutter müsse doch an eine Schuld ihres Mannes geglaubt haben, sonst würde sie nach, der Scheidung dessen Namen nicht haben ablegen wollen.

»Das sind eheliche Liebesangelegenheiten gewesen. Es glaubt nicht jede Frau an eine kriminelle Schuld ihres Mannes, wenn sie, nach Feststellung eines Ehebruchs, sich nicht mehr nach dem Mann nennen will, der sie betroffen hat.«

»Gewiß, so etwas gibt es natürlich. Aber Sie sehen selbst: es lag ein Betrug an der Ehefrau vor. Da ist es wohl nicht abwegig, wenn einem solchen Manne auch ein anderes Vergehen zur Last gelegt wird. Doch genug davon. Es liegt ein Verdacht gegen Sie vor, richtiger, ein vorsichtig beschuldigender Hinweis, Sie hätten das Testament des verstorbenen Gottwalt Spranger eigenhändig mit einer Erbklausel versehen, die zu Ihren Gunsten den großen Besitz Rüsternort statt an Fräulein Ute von Tirschenreuth, wie es ehemals bestimmt war, Ihnen überschrieb. Was haben Sie dazu zu sagen?«

Michael sprang auf. »Von wem stammt diese Gemeinheit? Wer wagt mich so schwer zu beschuldigen und mit welchen Begründungen?«

»Die Anzeige stammt von einer Frau, die alle Rechte ihrer unmündigen Tochter zu verteidigen bestrebt ist. Es ist juristisch dagegen nichts einzuwenden, denn es liegt nicht eine direkte Beschuldigung vor, sondern es ist die Bitte einer Witwe um Hilfe und um Untersuchung des Schriftstücks.«

»Das ist aber dennoch infam!« stieß Michael ehrlich erregt hervor. »Und was sagt die Kriminalpolizei dazu? Hat man das Schriftstück nicht untersucht? Ich beantrage das. Meine Unschuld muß sich erweisen.«

»Bitte, nehmen Sie wieder Platz. Die Untersuchung ist natürlich bereits im Gange. Das Ergebnis wird uns in wenigen Minuten mitgeteilt werden. Solange müssen Sie sich gedulden. – Dann befindet sich in dem Schreiben der Frau ein Hinweis auf einen Bilderdiebstahl. Es ist Ihnen bekannt, daß aus der wohl nicht ganz einwandfreien Ahnengalerie des Gottwalt Spranger, die Frau von Tirschenreuth als ihren Besitz reklamiert, ein Van Dyck gestohlen wurde. Die Untersuchungen des Kriminalrats Holst, der übrigens morgen hier eintreffen dürfte, haben da einige seltsame Verdachtsmomente ergeben. Von den Fingerabdrücken wird viel abhängen. Wir haben gleich zu Beginn unserer Unterhaltung die Ihren sichergestellt. Vielleicht ist dies für Sie günstig.«

Der Kommissar stand auf und schlenderte im Zimmer umher. Dann blieb er plötzlich dicht vor Michael stehen. »Waren Sie nicht in der Nacht des Diebstahls in der Galerie? Man hat jemanden auf der Treppe gehen hören.« Michael bestritt energisch, in der Nacht in der Galerie gewesen zu sein. Er habe mit dem Bilddiebstahl nicht das geringste zu tun.

»Warum haben Sie zu verhindern versucht, daß der Diebstahl der Polizei gemeldet wurde? Das ist doch höchst eigenartig, wie Sie selbst zugeben müssen.« Der Kommissar stellte mit Befriedigung die Verwirrung Sprangers fest, dessen Erwiderungen er als leere Ausflüchte bezeichnete. Dann fuhr er fort: »Kennen Sie geheime Gänge und äußerlich unwahrnehmbare Wendeltreppen in dem Schloß?« Michael verneinte. »Das erscheint mir als eine bewußte Lüge«, entgegnete der Kommissar schroff. »Ich werde Ihnen das beweisen.«

»Da bin ich aber gespannt, wie Sie etwas beweisen wollen, was ich selbst nicht weiß!« rief Spranger.

»Bei uns wird der Beschuldigte nicht wie in den Vereinigten Staaten unter Eid als Zeuge vernommen. Wir lassen ihm sein gutes Recht, zu lügen, solange er es vermag. Aber wollen Sie nun nicht doch lieber freimütig die Wahrheit sagen? Das würde sehr zu Ihren Gunsten sprechen. Sie haben doch früher gemalt?«

Michael verfärbte sich, was dem Kommissar keineswegs entging. »Ich habe nie gemalt, niemals. Ich bin Schriftsteller.«

»So so. Es liegt aber ein Zeugnis vor, daß Sie ein Bild, darstellend Gottwalt Spranger vor einem Samtvorhang, gemalt haben.«

Michael schüttelte in größtem Gleichmut den Kopf. »Absurd, mir so etwas anzudichten. Ich weiß davon nichts.« »Merkwürdig. Warum hielten Sie sich dann nacheinander zwei Atelierwohnungen in Berlin, wenn Sie nicht Maler waren?«

»Weil ich wie viele Künstler es gern habe, frei über Dächer ins Weite zu sehen, und weil ich große, helle Räume über alles liebe. Das ist doch kein Verbrechen, wenn man das Dunkle meidet und das Helle sucht.«

»Gewiß nicht. Aber warum haben Sie so viel nächtliche Gänge im Dunkeln getan? Wieso sind Sie in den Nächten mit Leinwandrollen und Leistenpacken mehrfach der Portiersfrau Ihres Hauses begegnet? Wollen Sie mir darüber eine klare Auskunft geben, bitte!«

»Das kann nur eine Verwechslung sein, Herr Kommissar«, kam es wie völlig verwundert von Sprangers Lippen, dessen Blick die Wände abtastete.

»Dann wollen wir dies bis zu der Einvernahme der Zeugin hier zurückstellen«, antwortete der Kommissar scheinbar gleichmütig. »Aber erzählen Sie mir, wovon Sie gelebt haben in der Lüneburger Heide.«

»Von meinen Einnahmen als Schriftsteller, von den Pressephotos, die ich in allen schönen Gegenden machte und veröffentlichte.«

»Nach den Ermittlungen bei Ihren Verlegern waren Ihre Einnahmen aus Büchern und Artikeln sehr gering.«

Was diese unheimlichen Menschen hier alles in so kurzer Zeit festgestellt haben, durchfuhr es Michael, und er strich sich mit seiner Linken leicht über die Stirn. Sofort hakte der Beamte ein. »Sie sind Linkshänder, Herr Spranger?«

»Nicht daß ich wüßte. Meine Verletzung bei einem Boxkampf hat mich im Gebrauch des rechten Armes etwas behindert, und darum hat sich meine Linke mehr ausgebildet. Das ist doch nur zu natürlich. Von Haus aus bin ich keineswegs Linkshänder.«

»Nun, auch das werden die weiteren Untersuchungen hier feststellen. Aber sagen Sie, wenn Sie so kleine Einnahmen hatten, wie Sie vorhin doch gewissermaßen zugeben mußten, woher haben Sie das viele Geld gehabt, mit dem Sie in der Lüneburger Heide um sich warfen?«

»Wer will das behaupten! Ich habe nicht mehr ausgegeben als andere Leute auch.«

»Das dürfte keineswegs stimmen, denn Sie haben oft das ganze Dorf eingeladen und die Bauern mit Sekt betrunken gemacht. Das tut niemand, der sein Geld sauer erwirbt.«

Michael verwünschte seine Freigebigkeit. »Sie wissen sicher doch, wie Künstler es machen, die, wenn sie eine größere Einnahme gehabt haben, mit dem Geld nicht haushalten wie ein Pedant, sondern lustige Menschen um sich sehen wollen. Zudem waren es meist nur meine Intimen, mit denen ich mich angefreundet hatte, auf Heidespaziergängen und aus der Freude des Schriftstellers, Menschen sich ohne Verstellung offenbaren zu lassen, um sie dann um so besser schildern zu können.«

»Ihre – Freunde? Hm, gerade diese ›Freunde‹ haben sich sehr ungünstig über Sie geäußert bei der Einvernahme durch einen unserer Beamten.«

Michael fuhr auf. »Diese Zeugenaussagen hinter meinem Rücken scheinen mir beeinflußt zu sein. Wenn Sie mir den Heideschulmeister und den Schäfer, den Wirt und ...«

»Abgesehen von dem Heideschulmeister haben gerade die andern sehr zu Ihren Ungunsten gesprochen. Also bequemen Sie sich endlich zu sagen, wo Sie die üppigen Gelder herhatten.«

Es wurde still. Sollte er sich in jenen Menschen so getäuscht haben? Wo blieb da seine Menschenkenntnis? Dies mußte eine Falle sein. In sein Nachdenken, das fast zur Träumerei wurde und einen weltschmerzlichen Zug um seine Lippen legte, den der Kommissar zu Michaels Gunsten registrierte, hörte er diesen wiederholt nach dem Ursprung der Gelder fragen. Er fuhr auf, sah sich um und erkannte, wo er war.

»Mein Onkel, Gottwalt Spranger, ließ mir verschiedentlich größere Summen zukommen, als Anzahlung auf mein Erbe. Mit solchen geschenkten Geldern geht ein Künstler natürlich nicht so engherzig um wie etwa – verzeihen Sie – ein Beamter mit seinem Gehalt. Das werden Sie verstehen.«

»Ganz schön. Das ist einzusehen. Aber wieso und wofür schenkt so ein gerissener Geschäftsmann wie Gottwalt Spranger große Gelder, und warum gerade an Sie?«

»Wir mochten uns. Wir haben viele Gespräche über Kunst geführt. Je älter mein Onkel wurde, um so mehr zog er sich von den Geschäften zurück und befaßte sich mit höheren Dingen.«

»Nennen Sie die Anlegung einer Ahnengalerie, die nicht die eigenen Ahnen enthält, und das Tragen einer roten Husarenuniform durch einen Mann, der nie Soldat war, höhere Dinge?« spottete der Kommissar.

»Um dergleichen habe ich mich nicht gekümmert«, erwiderte Michael.

»Woher stammen dann Ihre Beziehungen zu dem Bilderhändler Kapsdorf, bei dem wir Haussuchung gemacht haben?«

»Haussuchung bei Kapsdorf? Was haben Sie denn da gefunden? – Was geht das mich an?«

»Anscheinend allerhand. Doch das wollen wir späteren Ermittlungen überlassen.« Er wurde unterbrochen. Ein Beamter trat ein, der das schriftliche Ergebnis der Testamentsuntersuchung brachte.

»Dann kann ich wohl gehen«, sagte Michael und erhob sich.

»Nicht so rasch. Wir müssen noch die Untersuchungsergebnisse über Ihre amtsgerichtliche Bescheinigung abwarten.«

»Die wird wohl auch gleich kommen. Kriminalsekretär Ehlermann erledigt das«, sagte der Beamte und ging wieder.

»Das Testament ist in allen Teilen echt, auch die Klausel«, stellte der Kommissar fest, von den Darlegungen seines Kollegen, die er genau nachprüfte, aufblickend. »Es freut mich für Sie, Herr Spranger, daß der wichtigste Teil der Untersuchung Ihre Unschuld einwandfrei ergeben hat. Was übrigens die Anzeige wegen des Bilddiebstahls betrifft, so ist diese gegen Unbekannt eingereicht worden. Wir haben demgemäß verfahren. Daher auch die Haussuchung bei Kapsdorf«, schloß der Kommissar und betrachtete Spranger, der an Gefion dachte und in sich ein heißes Verlangen aufkommen fühlte, zu ihr zurückzukehren. »Sie hatten Damenbesuch. Auch eine Kunstkennerin, wie ich hörte. Wir werden gleich zu Ende sein.«

Dieser Mensch holt einem die Gedanken aus dem Kopf. Eine unheimliche Bude. Wenn man mit der im Ernst zu tun hat, na, dann ade, Freiheit!

Ein Bote brachte Michaels Ausweispapier. Auch das war in Ordnung. Der Kommissar diktierte dies Ergebnis sogleich zu Protokoll und ließ das Ganze verlesen. Michael hörte gespannt zu. Dann unterschrieb er, froh, nun endlich fortzukommen. Was würde Gefion zu alledem sagen? – Diese Jacoba, dieses Biest!

Der Kommissar stand auf und überreichte Michael das Ausweispapier. Er verabschiedete ihn. Plötzlich fragte er rasch: »Die Bilder der Ahnengalerie Spranger sind doch echt?«

Blitzartig erschien vor Michael das Bild der deutschen Spionageoffiziere. Es gelang ihm, mit vollstem Gleichmut die Schultern zu zucken: er verstehe sich nicht darauf. Seiner unmaßgeblichen Meinung nach seien sie wohl echt.

Nun ging es wieder an zahllosen Türen vorbei. Tore schlossen sich. Er war frei und steuerte sein Auto durch die nächtliche Großstadt Gefion zu. Vor seinem Haus sprang er aus dem Auto, konnte vor Erregung den richtigen Türschlüssel kaum finden. Dann rannte er die Treppen hinauf. Auf den Fahrstuhl zu warten, hatte er keine Zeit. Die Flurtür war nur zugeklappt. In seiner Wohnung herrschte Finsternis.

Gefion war fort. – Gegangen? – Geflohen.

Nun erst brach er zusammen.

*

Gefion war nach der abendlichen Rückkehr aus Rüsternort erst gegen Morgen eingeschlummert, und auch dann war es kein erlösender und kräfteschaffender Schlaf gewesen. Immer war sie wieder aufgeschreckt, immer hatten die Bilder ihrer Träume sie ins Halbwache verfolgt, immer hatten die quälenden Gedanken des Wachseins sich in ihre wirren Träume gebohrt. Eine schreckliche Nacht. Wollte sie denn gar nicht enden?

Wie war es nur möglich, daß sie wieder versagt hatte? Konnte sie denn wirklich nicht lieben wie andere Frauen, bedingungslos und hingegeben dem Manne, seinem Schicksal willig verflochten? Wenn doch einmal das Gefühl mit ihr durchginge, ganz gleich, wo es sie hinschleuderte, nur einmal nicht von dem Verstand und der Vernunft, nein, mehr noch von dem Mangel an Leidenschaft beherrscht werden! Warum hatte sie nicht gewartet, bis Michael zurückkam? Konnte sie es denn nicht über sich bringen, alles in sich einem großen Gefühl auszuliefern? Was hatte sie nun davon, daß sie lieber in der Nacht gegangen war, als bis zum Morgen zu warten und am Vormittag seine Wohnung zu verlassen? Was tat das schon heutzutage! Kein Mensch kümmerte sich darum. Und durch den Besuch von Rüsternort war sie nun einen ganzen Tag ohne Nachricht.

Mädchen ohne Mann. Wenn die Welt ein Kloster wäre, würde die Menschheit ausgestorben sein. Verbrecher hatte es immer gegeben. Michael würde nicht der erste gewesen sein. Wenn er der geniale Linkshänder war, der die Meisterwerke der Fälscherkunst in einer Einfühlung, die ans Märchenhafte grenzte, geschaffen hatte, so war er viel eher zu bewundern als zu verdammen. Und dennoch! Wie konnte sie als Tochter eines geistvollen Bürgerhauses bereit sein, einen Verbrecher zu lieben, wohin war es mit ihr gekommen?

Jetzt hatte sie einen braunen und einen fleischfarbenen Strumpf angezogen. Sie wurde alt. Vor der Zeit. Eine alte Jungfer. Schauderhaft. Einmal würde sie doch eines Nachts bei ihm bleiben und also eines Morgens aus seinem Hause gehen müssen. Besser sie aus seinem als er aus ihrem. Gewißheit mußte sie haben. Er mußte ihr all das sagen, was er neulich verschwiegen hatte. Und alles, was man auf der Polizei von ihm gewollt.

Bei Michael konnte sie nicht anrufen, das wäre zu beschämend. Aber Gewißheit mußte sie haben. Was war mit Kapsdorf? Dort würde sie Näheres erfahren über Michaels Beziehungen zu dem sicher nicht achtzehnkarätigen Bilderhändler. Annette, die lustige Hoffnungs- und Heiratsfrohe, die würde ihr schon alles anvertrauen, was sie wußte.

Ihre Gedanken bekamen ein Ziel. Sie legte die Hände in den Schoß und vergaß das Anziehen. Wie, wenn er sie nun nicht mehr mochte, weil sie ihn wieder im Stich gelassen? Warum hatte ihr das Leben, das doch von Gottes Richtströmen durchflossen wird, so ein schweres Schicksal vorgeformt? Bereit sein ist alles. Nein, sie war nicht bereit gewesen. Da lag es. Warum sangen keine Vögel im Herbst, wenn das goldene Laub von den Bäumen schaukelte? Da haftete ein nasses rotes Ahornblatt an ihrem Fenster. Müde sind die Menschen, müde wie die fallenden Blätter. Früher oder später fällt ein jedes. Ganz in Gedanken begann sie sich auszuziehen. Der Kopf war ihr dumpf, und in den Schläfen schmerzte es. Fade, wenn man schon früh morgens sich übel fühlt und den Tag beschließen möchte. Auf dem Fensterbrett zankten sich Spatzen. Wenn doch Frau Backhaus das Gartentor nicht immer so zudonnern würde! Eine ekelhafte Person. Aber immer noch besser als die Schleiche, die in Michaels Haus als Portierfrau umherging und von verleumderischem Geschwätz triefte. Ob Michael anrufen würde? Aber darauf konnte sie hier nicht tatenlos warten. Alles in ihr verlangte nach Aktivität. Zu Kapsdorf! – Sie sah an sich hinunter und mußte beinahe lachen. Schließlich konnte sie ja nicht immer nackt hier herumstehen, ihr fiel ein, daß es so etwas wie eine Brause gäbe. Aber ein Schauer lief ihr durch alles Gebein. Kalte Dusche? Entsetzlich! Wenigstens jetzt, heute. Konnte man nicht auch lauwarm?! Sie lief ins Badezimmer und drehte die Hähne auf. Das tat gut. Dann warf sie den Kopf in den Nacken. Mit Energie schloß sie den Warmwasserhahn. Eisig strömte es über ihren Körper. Sie hielt stand. Entschlossen besiegte sie ein Schlappwerdenwollen. Plötzlich fühlte sie, daß sie wieder zu sich kam. Sie drehte das Wasser ab und begann sich zu frottieren, machte gymnastische Übungen und war bald wieder jene Gefion, als die man sie kannte.

Sie traf Kapsdorf selbst, der anscheinend in nervöser Laune war und doch sogleich einen kleinen Auftrag für sie hatte: eine Spitzwegkopie war zu beurteilen, eine ausgezeichnete Kopie, die fast wie ein Original wirkte. Ottgebe Mangelin hatte sich auch eingefunden. Nur die fröhlichere und mitteilsame Annette war nirgends zu sehen, und auf diese hauptsächlich wartete Gefion. Ottgebe konnte sich gar nicht genug über die prächtige Kopie nach allen Richtungen hin äußern und fand immer wieder etwas zu loben. Es wirkte, als wolle sie Kapsdorf damit ärgern, denn sie sprach auch mehrfach von den alten goldenen Zeiten eines großen Kopisten, die leider nimmer wiederkehren würden. Aber vielleicht trat diese neue junge Begabung in die Fußstapfen der Grauen Eminenz. Bei diesem Wort verfinsterte sich mit einem Schlage Kapsdorfs Gesicht zu einer faunischen Maske. Es machte überhaupt das ganze Gespräch den Eindruck, als hätten die beiden Unzertrennlichen, Kapsdorf und Ottgebe, einen schweren Streit gehabt, der in die Tiefe hinunterreichte und das Magma unter den äußerlichen konventionellen Deckschichten in Gärung brachte. Mit kühler Stimme und möglichst gleichmütig fragte Gefion, warum denn Spranger verhaftet worden wäre.

Die Wirkung war unvorhergesehen. »Verhaftet! Spranger-Wendhusen? Wann denn? Woher wissen Sie das?« schrien die beiden aufgeregt gleichzeitig auf Gefion ein.

»Vorgestern nachmittag. Das heißt, eigentlich war es schon Abend«, antwortete sie. »Ich war gerade zum Tee bei ihm, als ein Beamter ihn bat, zu einer Zeugenaussage ...«

»Zeugenaussage? Carl, was glaubst du?« entfuhr es Ottgebe Mangelin. Diese Aufdeckung ihrer Beziehungen machte Kapsdorf noch wütender, so sehr er sich auch zu bezwingen suchte und den scheinbar Uninteressierten spielte. »Sie haben den Teufel an die Wand gemalt.«

»Ich? Wieso? Ach, weil ich von der Grauen Eminenz sprach?« Ottgebe lachte höhnisch.

»Das macht nichts«, warf Gefion ein. »Ich wußte schon lange, daß Michael Spranger die Graue Eminenz ist. Warum nennt man ihn eigentlich so?«

»Weil er ein eminenter Könner ist. Dies war sein Deckname bei uns, zudem kleidete er sich immer in Grau. Geschäfte habe ich nie mit ihm gemacht. Habe ihm nur Adressen gegeben, Namen genannt, wo er Arbeit finden konnte. Aber warum ist er denn verhaftet worden? Ich denke, es war nur eine Zeugenaussage?« Dabei dachte Kapsdorf an die Haussuchung, die vorgestern bei ihm stattgefunden hatte, angeblich nach dem gestohlenen Van Dyck.

»Er ist aber bis gegen Mitternacht nicht zurückgekommen«, antwortete Gefion trocken, während sie ihre innere Erregung kaum mehr niederzwingen konnte. Kapsdorf schickte Ottgebe Mangelin zu einem Fernsprechautomaten, um von dort Michael anzurufen. Von Fräulein Doktor Dankwart verabschiedete er sich höflich, aber ohne jede Wärme. Das war wohl mein letzter Auftrag hier, dachte die junge Kunsthistorikern – und sollte damit in mehrfachem Sinne recht behalten.

Rasch kam Ottgebe zurück. Ihre Züge hatten sich beruhigt. Ehe Gefion noch etwas sagen konnte, rief sie ihr schon zu: »Spranger ist zu Hause. Es war blinder Lärm. Er erwartet Sie. Ich soll einen schönen Gruß bestellen.« Damit verschwand sie in Kapsdorfs Privatkontor.

Das war eine zwieschneidige Botschaft, empfand Gefion. Dann schalt sie sich. Es war doch eine Freudenbotschaft, und sie würde sofort zu ihm fahren. Er zürnte ihr also nicht, daß sie weggegangen. Ein eigentümlicher Mann. So herrisch sonst und so weich zu ihr. Vielleicht würde sie sehr glücklich sein, wenn sie erst einmal bei ihm blieb und den »Rubikon« überschritten hatte. Da wurde zwar ein jungfräuliches Reich zerstört, aber ein neues tat sich auf.

Als Gefion entschlossen zur Tür schritt, stieß sie unerwartet auf Annette Mangelin. Deren Augen lagen wie tot weit hinten in den Höhlen und hatten allen Glanz verloren. Graue Ränder umschatteten schwere müde Lider, unter denen ein gebrochener Blick unstet hervortastete. Gefion war so entsetzt von dem Anblick, daß sie mit stummem Gruß an ihr vorbeiging. Ein Ton wie ein krankes, waidwundes Lachen traf ihr Ohr und mengte sich dissonierend mit dem melodischen Geläut der klingenden Bronzestäbe. Als sie das Gartentor geschlossen hatte, mußte sie stehenbleiben. Annette, dieses arme Geschöpf, was war mit ihr geschehen! Welch grauenerregender Wandel, welch eine grausame Vernichtung. Da konnte nur ein Mann dahinterstecken. Wie einseitig die Männer sich die Welt zurecht gemacht hatten. Der Weltenschöpfer mußte ein sonderbarer Kerl sein. In diesem Augenblick hielt Gefion nicht viel von der Gerechtigkeit des Kosmos und der Behauptung von dem absoluten Gleichgewicht der Geschlechter. Hätte sie nicht zurückkehren und die Bedauernswerte in tröstende Arme schließen sollen? Sie genierte sich. Sie war zu unentschlossen zu rascher Hilfe und zur Aufdeckung der eigenen Empfindungen. Selbst wenn sie edel waren. Vielleicht da gerade besonders.

Langsam ging sie Michaels Wohnung zu.

*

Frau Jacoba zeigte ein unstetes Wesen, beherrschte sich weniger als sonst. Ute zog sich so viel als möglich in sich selbst zurück. Sie hatte scharf beobachtet, und ihr waren Zusammenhänge aufgegangen, die andern verschlossen blieben, ihr war klar geworden, was hier gespielt wurde, wer die Schuldigen waren und wo sie Hilfe finden konnte für die Rettungsaktion, die sie vorhatte. Darum widmete sie all ihre Zeit Cordula und tat der alten Frau alles zu Gefallen, was sie ersinnen konnte, spielte sogar Kind und Mütterchen mit ihr, was der geheime Schlüssel zu Cordulas Herzen war. Sie versprach der Alten, ihren Sohn in der Gruft beisetzen zu lassen, wenn sie, Ute, Herrin von Rüsternort geworden wäre. Cordula schwamm in Tränen. So glücklich war sie.

Da brachte die Post ein Schreiben der Kriminalzentrale an Frau Jacoba, und Ute stürmte mit dem Brief zu ihrer Mutter, die sich verwunderlicherweise zu einem Tagesausritt soeben angezogen hatte. Hastig wurde der Briefumschlag aufgerissen. Halblaut fing Jacoba zu lesen an. Dann brach sie aus: »So eine Gemeinheit! Welch furchtbares Unglück! Ich bin außer mir, das kann ich nicht glauben, das ist doch unmöglich! Nein! Ich, ich will es nicht glauben! Verdammtes Schicksal! Nur mir kann das passieren. Eine Schande!« Und dabei zerhieb sie mit der Reitpeitsche ihr herrliches Meißner Drachenporzellan, das noch vom Frühstück her hierstand. Die Scherben flogen klirrend durch die Stube.

»Mutti, Mutti, dein geliebtes Porzellan! Mutti, was ist denn?«

Jacoba sah die Tochter mit irren Augen an, begriff, daß sie nicht allein war. Sie breitete die Arme und umschlang schluchzend ihre Tochter: »Meine arme kleine Ute! Mein Liebling! Mein armer, süßer, du tust mir so unendlich leid.« Ute wagte sich nicht von diesen überwallenden, unerschöpflichen Zärtlichkeiten zu befreien. Endlich fragte sie schüchtern, was denn das Amt geschrieben habe. Da riß Jacoba sich los und raste im Zimmer umher, ohne ihre Tochter auch nur noch eines Blickes zu würdigen. Plötzlich blieb sie ruckartig stehen, riß den Hörer von der Gabel und verlangte sofortige Fernverbindung mit Rechtsanwalt Ahlström in Hohennostritz. Sie biß sogar in den sauren Apfel, ein dringendes Gespräch dranzuwenden. Die Verbindung kam überraschend schnell. Sofort ging Jacoba ins Zeug. »Das Testament sowohl als diese verbrecherische Klausel sollen einwandfrei echt sein. Das ist doch geradezu unerhört!«

Der Anwalt wendete ruhig ein, dann seien das Testament und die Klausel eben echt, so etwas komme doch vor. Er seinerseits habe nie daran gezweifelt. Auch ihr gegenüber habe er aus seiner Ansicht kein Hehl gemacht. Da begehrte Jacoba glühend auf, das wäre eine Unterstellung, er habe ihr zugeredet zu der Anzeige. Der Anwalt verbat sich das in höflicher aber bestimmter Form: er habe lediglich gesagt, daß man dortseits den Tatbestand werde einwandfrei feststellen können. Und das sei ja nun geschehen.

»Nein!« schrie Jacoba heftig in die Muschel. »Ich verlange, daß Sie die Kriminalzentrale wegen Fahrlässigkeit verklagen!«

Zu Frau von Tirschenreuths maßlosem Erstaunen lachte der behäbige Ahlström gemütlich in das Telephon. Dann lehnte er mit behaglicher mecklenburgischer Breite dieses Ansinnen ab: er werde sich hüten, solch eine – Unklugheit zu begehen. Die Kriminalzentrale sei in der ganzen Welt wegen ihrer glänzenden Methoden und ihrer absoluten Zuverlässigkeit bekannt. Er habe nicht den geringsten Ehrgeiz, sich lächerlich zu machen. Damit legte er auf. Jacoba wurde vor Staunen stumm. Schließlich setzte sie sich still hin und geriet in ein langes Brüten, aus dem sie nichts erweckte.

Ute flüchtete leise zu Cordula. Dann telephonierte sie mit Charlott von Rentmeister und erzählte ihr die ganze Sache. Ute drängte die Freundin, zu ihr zu kommen, da sie mit ihr und Cordula etwas ganz, ganz Wichtiges vorhabe. Charlott war hierüber noch mehr verwundert als über den vorangegangenen Bericht, sagte aber in ihrer hilfsbereiten Art freundlich zu. Obwohl Ute Charlott nicht sah, ging doch von der Freundin ein heller, beruhigender Strom in sie über, der sie befriedete. So stark war der Einfluß von Charlott von Rentmeister. Ute begann sich sogar auf den Nachmittag zu freuen. Die atembeklemmende Zwangsjacke der Angst war geschwunden. Wie schwer mußte es für Menschen sein, die Jahr um Jahr in Furcht vor dem Zupacken der Polizei lebten, die den grauenvollen Panzer der Angst und die Qual des schlechten Gewissens mit sich herumschleppen mußten, so daß jeder Schritt schwer und jeder Aufstieg eine Unüberwindlichkeit wurde. Ob Michael Spranger diese Zustände kannte? Sicherlich nicht. Wie schön, daß ihr Held ohne Makel war. Sie hatte das ja immer gesagt. Ob Charlott wohl bereit sein würde, ihr bei der Ausführung der Pläne zu helfen? Wenn sie es tat, dann waren sie gut, denn zu etwas Törichtem würde sich Hellfriede nie bereitfinden. Ich tue es ja nicht meinetwegen, Mutter, sagte Ute leise vor sich hin und ging wieder zu Cordula hinüber. Wenn Mutti doch endlich ausreiten wollte! Das Pferd stand schon fast zwei Stunden unruhig auf der Rampe. Als Cordula meinte, die gnädige Frau habe Pferd und Ritt vergessen, hörten die beiden die Haustür gehen und liefen ans Fenster. Erstaunt sahen sie, wie Frau Jacoba sich bei dem Knecht entschuldigte und langsam, den sonst stets verschmähten Steigbügel benutzend, in den Sattel stieg, so zögernd und wie müde, daß der Pferderücken auch nicht den geringsten Stoß erhielt. Mit lockeren Schenkeln trabte sie an, und der Rappe wieherte freudig wie bei Gefion. Eine große Veränderung mußte mit Frau Jacoba vorgegangen sein, dachte Cordula, die nun mit Ute die Treppe zum oberen Stock hinaufstieg. Der Saal war von Kommissar Holst versiegelt worden. Cordula ging nicht zu jener Seite, zu der sie die Herren von der Polizei geführt hatte; dort war – die Wand nicht offen.

Jacoba ritt langsam durch Park und Wald, die ihr nicht gehörten, niemals gehören würden. Das Pferd trottete und trat nicht unter sich. Sie hing im Sattel. Elf Jahre hatte sie hier Hausfrau gespielt, bei diesem marottengepflasterten Ekel, dem bösartigen Spranger. Umsonst. Der Rappe blieb schließlich stehen. Es war ein anderer Mensch, der auf seinem Rücken hockte und sein verlorenes Dasein bekümmert betrachtete.

Daß ein Mensch so glücklich aussehen kann! durchzuckte es Gefion, als sie vor Michael stand und er ihr die Tür weit, immer weiter öffnete, strahlenden Angesichts. Daß man einen Menschen so glücklich machen kann! dachte sie. Daß ich es bin, die einen Mann so glücklich zu machen vermag. Wie schön, wie wunderbar schön ist das! Sie warf die Arme um seinen Hals und erwiderte den glühenden Schauer seiner Küsse. Dann erst schlossen sie die Tür. Wie sich die hemmenden Schalen lösten, wie ihr Herz aufjubelte und dem Manne dankte, der sie erlöst hatte mit nichts denn dem Aufstrahlen seines ernsten, männlichen Gesichts, das dicht vor ihr leuchtete in zauberischer Verführung. Noch einmal warf sich Gefion in seine Arme, heftiger nun noch als vorhin. »Mein Michael, mein geliebter Michael, wie ich dich liebe!« Er drückte sie so fest an sich, daß sie zitterte; sie machte sich diesmal keine Gedanken, ob vor Schmerz oder vor Wonne.

Welche Kraft er doch in seinem linken Arm hatte! Eigentümlich ...

Wie können zwei Tage verschieden sein, dachte Michael, vorgestern und heute, welch ein Unterschied! Prachtvoll, daß er von den erbärmlichen Anklagen freigesprochen war, das mußte er ihr gleich erzählen. Dann aber würde er beichten, die große Entscheidung seines Lebens herbeizwingen. Entweder verstand und vergab sie; dann öffnete sich ihm das Leben in seiner ganzen bezaubernden Pracht, oder sie verwarf ihn, dann war er verworfen und wollte ein Verworfener sein. Dann Kampf der Gesellschaft und ihrer lächerlichen Gesetzgeberei.

Gefion wühlte ihren Kopf in seine Brust: »Michael, ich muß dir zuerst meine Beichte ablegen. Ich will für das alte büßen, damit ich den ewigen Stachel aus meiner Seele bekomme. Eher kann ich gar nicht glücklich werden. Aber wenn du mir vergeben kannst, so machst du mich zu einem fröhlichen Menschen, Du mein großer Erwecker du!«

Aber Michael wollte ihr nicht nachgeben. Nein, er müsse zuerst sprechen, unbedingt er. Da sei so vieles, was er ihr sagen müsse. Es seien ja nicht nur diese Anschuldigungen, die man jetzt gegen ihn erhoben. Testamentsfälschung. Bilderdiebstahl. Unberechtigte Namensführung. Mit Genugtuung berichtete er, daß all dieses wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen war.

»Wie schön, mein Michael, daß die Zukunft hell und unbeschwert vor uns liegt. Du wirst doch erlauben, daß ich meinem Beruf treu bleibe, auch wenn wir heiraten?«

»Alles, was du willst. Wie sollten wir glücklich werden, wenn nicht jeder in unserer Zweisamkeit er selbst sein könnte. Nur das ist die Grundlage zu einem dauernden Glück. Wir wollen doch keine altmodische Ehe, kein Heiratsgeschäft voller Vorbehalte und Heucheleien.« Er nahm ihren Kopf in seine beiden Hände, hielt ihn von sich ab. Sie sahen einander in die Augen. Wie eine leuchtende Bahn ging es von seiner zu ihrer Iris. Sie fühlten die Intensität dieser brückenden Blicke. Über diese Brücke kann kein Falsch gehen, dachte Gefion und sprach das aus, ganz gleich, ob er sie verstiegen finden würde. Aber er ging freudig auf ihre Gedanken ein, glaubte er doch selbst in dieser Stunde, daß keine falsche Gesinnung und keine Lüge je über diese »Augenbrücke« zwischen ihr und ihm kommen könne. »Heute wollte er gut gegen alle sein«, so fing ein Buch an, das einen Verbrecher wider Willen schilderte und das er sehr liebte. Heute wollte er ehrlich und offen sein zu seiner Gefion, als Anfang eines neuen Daseins. Und dann würde es immer so bleiben, das nahm er sich vor, während er den ersten gestammelten Worten ihrer Beichte lauschte.

»Ich habe dich geliebt damals, Michael. Ich wäre auch mit dir sehr glücklich geworden, denn du bist ein Mann, bist ein Mensch von großem Wissen und Streben. Mit dir wird eine Frau wie ich immer glücklich werden. Aber ich war noch ein Kind mit meinen achtzehn Jahren. Ich war in Schönheit jeder Art aufgewachsen und kannte nur das Maßhalten und die brennende Sehnsucht nach dem Vollkommenen. Damals lebte ja meine Mutter noch. Sie war ganz der Kunst hingegeben, ging mit mir in die Galerien aller Länder, blätterte des Abends die Mappen der erlesensten Kupferstiche mit mir durch. Wir lasen die großen Werke der Weltliteratur zusammen. Meine Mutter war in keiner Hinsicht prüde, eine Ausnahme für ihre Generation.

Dann hattest du den widerwärtigen Zusammenstoß in einer Kneipe in Spanien, wo dir das Gesicht zerschlagen wurde. Gegen deinen Willen besuchte ich dich. Wenn der Blitz vor einem niederschlägt, kann der Augenblick nicht grausamer vernichtend sein. Du überschüttetest mich mit wilden Anklagen, mit scharfer Eifersucht rastest du gegen mich, wolltest nach mir schlagen, nach mir, der die Blumen aus der Hand fielen und die jeden Wortes beraubt war. Deine Nase war bandagiert, dein Arm. Der Ausbruch deiner Wut, deiner Eitelkeit war furchtbar. Ich weiß nicht, ob ich aufgeschrien habe, ehe ich fast ohnmächtig hinausgetragen wurde. Draußen verfiel ich, von Schreckensbildern gepeinigt, in einen Weinkrampf.« Gefion versagte die Stimme. Die alten Bilder übermannten sie.

Michael küßte sie zärtlich auf die Stirn. Warum auf die Stirn? dachte die Selbstbeobachterin. Kommen wir nicht über die Hemmungen hinweg? »Ich bekam ein Nervenfieber und sah mich ständig in Liebesstreit mit dir.« Sie warf den Kopf auf und schaute ihm mutig in die Augen. »Mit einem Jähzornigen.« Sie schüttelte erbittert den Kopf. »Ich will in dieser Stunde ganz wahr sein. Sie entscheidet. Ich wußte damals noch nicht, daß du dich für die Ehre Deutschlands geschlagen hattest. Ich hielt dich für einen Raufbold und Kneipenläufer. Als ich zwei Wochen später gesund war, schrieb ich dir ab. Ich hätte es nicht ertragen, dich noch einmal zu sehen. Aber das merkwürdige war: ich liebte dich noch, Michael! Welche Jahre des Jammers habe ich durchlebt, weil ich zu feinfühlig für das Leben und seine Forderungen erzogen worden war. Als ich nach fast einem Jahr durch deinen Freund Pertinax erfuhr, daß ich mich geirrt hatte, fand ich vor Scham nicht den Weg zu dir, aber ich habe dich nie vergessen, und das war wohl ein Grund mehr, daß kein anderer Mann an mich herankam. Siehst du, so geschah es, daß ich glaubte, nie lieben zu können. Daß ich diesen Fluch mit mir herumgeschleppt habe bis heute, bis du mir die Tür öffnetest und dein Gesicht von innen aufstrahlte. Da wußte ich, daß ich dich liebe, daß ich lieben kann!« Sie umarmte ihn leidenschaftlich und hörte mit Entzücken auf seine geflüsterten Liebesworte. Es sind doch immer die alten Worte, und sie tun uns ebenso wohl wie den Alten, die wir darob ausgelacht haben, dachte das Fräulein Doktor Dankwart.

»Schließlich vernarbten die Wunden, und das Leben fing mich ein mit dem Beruf, den ich sehr liebe und der mich mit freundlichen Erfolgen beschenkt. Ich glaubte, vergessen zu haben. Da traf ich vor einiger Zeit einen Spanienkämpfer. Ich mußte auf offener Straße stehenbleiben. Er sah dir ähnlich. Er hatte eine rote Narbe an der Nase und trug den rechten Arm in der Binde. Eine Frau betreute ihn wie eine demütige Dienerin. Ich aber hatte mein Wort gebrochen, war empört davongelaufen.«

»Meine arme Gefion, was hast du dir für Gedanken um mich gemacht. Es war ja gar nicht so schlimm gemeint, jugendlicher Zornesausbruch, der rasch verrauschte. Ich war eifersüchtig auf deinen kleinen Flirt, von dem ich gehört hatte, und mochte nicht, daß du mich vor der Zeit sahst. Ich konnte dir doch nicht selbst erzählen, daß ich mich für Deutschlands Ehre geschlagen hatte, wie du es nennst«, und bei diesen Worten begann sich in ihm die wüste Kneipenszene zu verschönen, wurde fast zu jener rühmlichen Geschichte, die er seinem Freund aufgetischt haben mochte. »Voriges Jahr hatte ich einen Autounfall«, warf Gefion ein. »Ich wurde zwischen Sitz und Steuer eingeklemmt und brach mir ein paar Rippen. Es war nicht schlimm, doch mußte ich einige Zeit stilliegen. Und als ich da so stillag, da dachte ich ununterbrochen an dich, und endlich beschloß ich, nach dir zu suchen. Ich wußte, daß ich zu dir gehöre. Aber wie konnte ich Michael Wendhusen finden, der inzwischen, ohne daß ich es ahnte, ein Michael Spranger geworden war? Da bat ich das Schicksal, mich in deinen Weg zu werfen. Und das göttliche Schicksal tat es.« Sie wandte sich ihm voll zu und erbat seine Verzeihung.

Er schloß sie in die Arme und sagte, allzu rasch für ihr Gefühl, daß er ihr längst verziehen habe. Er habe sich das gedacht, tausendmal gedacht, und wenn es ihn auch manchmal zerfleischt habe, jetzt sei alles gut, er halte sie und hoffe, sie nie wieder zu verlieren. Er riß sie von neuem an sich und trank lechzend wie ein Verdurstender ihre immer wacher werdenden Küsse. Sie kannte das Aufbrennen der Leidenschaft noch nicht. Sie hatte sich Jahre auf diese ernste Stunde vorbereitet. Irgendwie wog ihr diese Verzeihung zu leicht.

Er verweilte weniger bei ihr als bei sich. Er wollte bei dieser günstigen Gelegenheit reinen Tisch machen. Dann war alles alte über Bord, und das ungehemmte neue Leben, dieser Aufbruch in die Zweisamkeit, in das Helle und Schöne, ins Schuldlose, würde beginnen.

»Ich muß dir auch ein paar Geständnisse ablegen. Vielleicht bin ich ein schlechter Mensch, ohne es zu wissen. Selbstverständlich ohne es zu wollen. Drei Jahre war ich in der Heide, um einen neuen Adam anzuziehen. Aber mir scheint, ich bin den alten nicht losgeworden. Ich blieb einsam, hochmütig und selbstherrlich auch dort. Ich glaubte, keiner würde das erkennen, aber sie haben es alle erkannt, alle, über die ich mich heimlich lustig machte. Der alte Schäfer Harms hat mich einen Schauspieler genannt, und das war der intensivste Ausdruck seiner Verachtung, denn ein Schauspieler hatte ihm einst seine Braut abspenstig gemacht. – Dann ist er zu den ... Schafen gegangen. Das wäre euch der rechte Entschluß für mich gewesen. Aber ich vermochte nicht, mich dermaßen umzustellen. Wer kann das? Niemand. Du auch nicht. ›Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.‹ Wir alle tragen ein gestanztes Sinnbild unseres Selbst in uns seit dem geistigflammenden Moment der Zeugung, wo die göttliche, prägende Kraft uns mit einem Schlage formt und das Wunder bewirkt, daß wir so und nicht anders werden müssen, wie sie im Kern der Eichel den Eichbaum, im Ei das Huhn vorzeichnet, unweigerlich. Du lächelst? Ja, richtig, ich vermochte nicht ... zu den Schafen zu gehen.

Du hast mich gefragt, ob ich gemalt habe. Ich habe das zunächst verneint, obwohl du mich damals während unserer kurzen Verlobungszeit als Zeichner und Karikaturisten schon kanntest. Ich betonte jetzt, daß ich als Schriftsteller gearbeitet habe, leider noch nicht mit viel Erfolg, aber ich bin überzeugt, er wird sich noch einstellen. Schließlich hat ja Fontane auch erst mit sechzig Jahren angefangen, Bedeutung zu bekommen. Also habe ich noch Zeit und werde alles dransetzen, daß ich es zum großen und künstlerischen Romancier bringe. Ich weiß, du wirst mir dabei die beste Hilfe sein. Nachher werde ich dir eine meiner Geschichten vorlesen, eine, auf die ich stolz sein kann.«

In Gefion bohrten die Gedanken. Spranger war sein Onkel und Erblasser. Die Ahnengalerie war unecht, war von einem Linkshänder gemalt, vielleicht auch von ihm – signiert. Während Michael weitschweifig weitererzählte, von den Jahren nach der Trennung, von der Lust am Malen, von den ersten Versuchen und Erfolgen, hämmerte es ständig in Gefion: Er hat die gefälschte Galerie gemalt. Er hat die glänzend gemachten, unechten Meisterbilder geschaffen, er – die Graue Eminenz. Wird er gestehen? Wird er es sagen? Und was werde ich tun auf solch ein Geständnis hin? Eine innerliche Verzweiflung mischte sich in ihr strahlendes Glück. Das eine war ihr klar: wenn er die Wahrheit sagte, dann war alles gut. War dann wirklich alles gut? Ihr grauste es, als wäre sie in Rüsternort zur Nachtzeit und hätte das Gefühl, es stünde ein Unsichtbarer im Zimmer. Ist nicht der Mann, an den man sich verlieren will, genau so ein Unsichtbarer, dessen Nachtseiten, sorgsam verdeckt, sich nur im Zucken des Blitzes der Erkenntnis zeigen, fahl, grauenvoll, jedoch unvergeßbar?

Michael sprach davon, wie er aus einem Ghirlandajo-Bilde in der Berliner Galerie eines Tages ein überirdisch schönes Engelsgesicht herauskopiert habe. Ein dicker Herr habe lange bei ihm gestanden, sei immer wiedergekommen, habe ihn schließlich angesprochen und sich als Gottwalt Spranger vorgestellt.

Gefion wurde ganz wach und hörte mit einer Spannung zu, die Michael kurz aufblicken ließ und ihm schmeichelte. Hat er nicht wirklich etwas von einem Schauspieler? mußte Gefion denken. »Um ein großer Mensch zu sein, bedarf es auch eines großen Charakters«, hörte sie Michael sagen. »Danach habe ich immer gestrebt. Als Kind wünschte ich mir, ein Genie zu werden – und machte meine Schulaufgaben schlecht. Aber das gefahrvolle, tausendfältige Leben lehrte mich Bescheidenheit. Entwürfe über Entwürfe machte ich, keiner wollte sie mehr sehen. Eines Tages lernte ich Kapsdorf kennen. Er zahlte schlecht, aber er lehrte mich alte Techniken, wofür er einen unheimlichen Instinkt besaß. Bald war es uns eine Lust, alte Farben, ehemalige Firnisse und Tinkturen zu erproben, aus einer wissenschaftlichen Freude heraus. Er redete davon, daß wir zusammen darüber einmal ein Buch schreiben wollten. Damit schläferte er mich ein. Ich kopierte weiterhin mit Erfolg. Aber alles, was ich schuf, war sichtbarlich Kopie. Nicht in dem Sinne, wie Lenbach die großen italienischen Meister für seinen Grafen Schack kopierte, besser gesagt: in eigener Art gemalt hat, so daß man auf diesen Wiedergaben nicht die Hand der alten Meister, sondern die Löwenklaue eines Nichtkopisten, eines eigenwilligen Selbstschöpfers sieht. Auf meinen Kopien glaubte man den alten Meister zu sehen.«

Wann kommt er zu Gottwalt? dachte Gefion immer wieder. Ihr waren ja all diese Unterschiede gangbare Ware, diese Gemeinplätze irritierten sie ein wenig, zumal aus dem Munde Michaels, zu dieser Stunde und an sie!

»Spranger hatte mir einige kleine Kopien abgekauft, zu hohen Preisen, und besuchte mich mehrfach in dem kleinen Atelier, das ich damals hatte. Eines Tages lud er mich nach Rüsternort ein und machte mir großartig den Hof. Ich stutzte. Dann kam die Katze aus dem Sack: ich sollte ihm eine ›echte‹ Ahnengalerie malen.«

Gefion beugte sich vor. Ihre Augen bohrten sich in Michaels Gesicht. Ihr Leben, ihrer beider Glück hing von den nächsten Worten ab. »Weiter! Weiter!« stieß sie hervor. Michael sprach. Es war fast wie auswendig gelernt, was nun kam: »Gottwalt brachte zwei Hände voll alter Miniaturen und kleiner wertloser Bildchen, die er da und dort erbeutet hatte und von denen er behauptete, es seien alles Mitglieder der uradeligen Familie von Spranger, mit der er auch zusammenhänge. Er bot mir eine beachtliche Summe für diese Ahnengalerie, die ich auf Familienähnlichkeit malen sollte und die wie Kopien verschollener alter Meisterwerke wirken müßte. Die Summe reichte für ein paar sorgenlose Jahre. Denn allzu rasch würde ja eine so seltsame große Galerie natürlich nicht fertig werden. Inzwischen hatte er durch mich, leider, Carl Kapsdorf kennengelernt. Ich begann mit einer Rubens-Kopie, die später verbrannt wurde, weil sie auf neuer Leinwand gemalt war.

»Und ... Und!«

»Du wirst gleich hören. Eines Tages versprach Gottwalt Spranger, die Summe zu verdreifachen, wenn ich ... wenn diese Bilder auf alten Leinwanden, mit alten Farben und Firnissen gemalt würden. Ich schreckte zurück. Gottwalt ließ nicht locker. Er wurde immer versessener, die Sache war bei ihm zur Manie geworden. Von Kapsdorf hatte er erfahren, daß wir Versuche in alten Farben usw. mit Erfolg gemacht hatten. Die Bezahlung war ungeheuer. Sie wurde noch gesteigert, als ich den ersten Gainsborough ablieferte, der mich selbst entzückte. Ich hütete mich zu verraten, daß ich Blut geleckt hätte, nur die Mangelin, Ottgebe Mangelin, die damals schon die rechte Hand der Firma war, merkte es.«

»Nun und?«

»Ein Jahr lang malte ich für Gottwalt, malte nichts weiter als diese gottverdammten unechten Sprangers, aber es gelangen mir Kunstwerke der Imitation, wie sie mir keiner mehr nachmacht. Darauf kannst du dich verlassen. Kapsdorf sah mit dem alten Spranger oft zusammen und nährte dessen verbohrte Idee. Es wurden alte Bilder, echte und Kopien, aufgekauft, aufs sorgsamste die Malerei entfernt, so daß nur die Leinwand oder das Holz, manchmal auch eine Zink- oder Kupferplatte übrigblieb, auf die ich dann die neuen Werke der längst verstorbenen Meister malte. Mich ergriff ein Rausch, ein Triumph genialer Könnerschaft, ein Siegestaumel. Ich selbst legte es jetzt in jeder Strichführung, in jedem verwendeten Material darauf an, ›echt‹ zu sein. Es gelang in der Malweise, nur die Zusammensetzung der Farben wollte nicht immer gelingen, und ich mußte bisweilen zu den heutigen chemischen greifen, statt der Farben aus Pflanzenfasern, die sich die alten Meister oft selbst gerieben hatten, und deren Geheimnisse sie mit in das Grab nahmen. Aber es war wie ein Wettlauf, war ein Jubel bei jeder neuen Entdeckung. Ich war wie ein Knabe, der treffsichere Bolzen schnitzt.«

»Und was geschah weiter, Michael? Du verschweigst mir das Letzte noch!«

»Dir würde und werde ich nie etwas verschweigen, sonst lohnt es gar nicht, daß wir uns zusammentun.« Er blickte sie verlangend an, strich sich mit der Linken über die Stirn und begann leise weiter zu beichten. »Eines Tages las ich in der Zeitung von der Urteilsfällung in einem Fälscherprozeß. Der Maler hatte viele Jahre Zuchthaus bekommen. Ich ging zu Spranger und sagte ihm auf. Wir schieden als Feinde. Kapsdorf ließ mich fallen, verbreitete ungünstige Meinungen über mich. Ein halbes Jahr ging das so hin. Ich stand vor dem Ruin, denn ich hatte die vereinnahmten Gelder sorglos verbraucht. Aber alle Angebote Gottwalt Sprangers, dieses Teufels, wies ich ab. Nach Monaten überraschte er mich durch einen Kniff in meinem Atelier. Auf der Staffelei stand ein fertiger – Pesne, ein Gemälde des großen Porträtisten, einen General von Spranger darstellend. Der Maler des Bildes war ich. Ich hatte es für mich, als Betäubungsmittel, gearbeitet. Es ist das beste der Galerie, von einem Original durch nichts zu unterscheiden. Ich hatte es in langsamster Ausführung sogar größtenteils mit der Rechten gemalt, obwohl dazu ein eiserner Wille gehörte.«

»Darum also. Holst und ich haben den Pesne als echt ausgeschieden. Du hast uns hereingelegt. Alle Achtung.«

Michael überhörte den Namen Holst. Er sonnte sich in seinem Triumph. »Der alte Spranger war begeistert, ebenso Kapsdorf, den er herbeirief. Ich stand finster in einer Ecke, schwieg und schwor, daß ich das Bild zerstören würde.«

»Ein gebrochener Schwur«, stellte Fräulein Doktor Dankwart fest.

»Da brachte Gottwalt sein Testament und schrieb vor meinen Augen die Klausel, die mich zum Universalerben einsetzte. Der herbeigerufene Anwalt zeichnete gegen. Nun würde ich lebenslänglich ein großer Herr sein. Mit der Erbschaft wurde ich auch Besitzer der Bilder, und daß ich sie nach Gottwalts Tode vernichten würde, das stand bei mir fest. Dann kam diese Jacoba dazwischen. Aber noch ist es Zeit.«

»Ich fürchte, es ist zu spät. Kriminalrat Holst hat gestern die Galerie beschlagnahmt und versiegelt.«

Michael sah ungläubig zu Gefion auf und schüttelte den Kopf.

»Du hast das Wichtigste vergessen«, sagte Gefion, und es kam ein schneidender Ton in ihre Stimme, »die Fälschungen sind originalgetreu signiert, mit dem Zeichen der alten Meister versehen, das beweist Betrugsabsicht.«

Michael sprang so heftig auf, daß der Stuhl umstürzte. »Das ist nicht wahr. Keines der Bilder ist signiert.«

»Alle!« Das langsam gesprochene Wort hing wie ein lähmendes Entsetzen im Raum.

»Nicht von mir. Glaube es mir, Gefion, liebe Gefion. Meine Gefion, du wirst mir doch glauben.« Seine Augen suchten die Brücke, über die kein Falsch gehen kann. Gefion warf sich ihm mit einem Jubelschrei seliger Erlösung in die Arme.

Die Welt um die beiden versank. Sie sahen und fühlten nur sich. Das tiefe Glück einer großen Liebe kam über sie und trug sie über den Alltag hinaus. Es war, als legten sich Fittiche unter ihre Füße, als würden sie getragen von weichhändigen Wolken. Dieser geistige Zusammenklang beglückte sie beide.

Aber Michael war mit seinem Berichten noch nicht am Ende. »Als die Galerie vor etwa vier Jahren fertig war, habe ich nur noch einmal gemalt. Es war mein Schwanengesang. Das große Ungewöhnliche ist mir gelungen. Es gibt von Correggio eine Skizze, die wohl kaum als Entwurf gedacht war, aber doch als solcher gelten kann: Leda mit dem Schwan. Ich habe diese Skizze als Grundstock genommen und nach ihr ein Bild ausgeführt, das die Mitte hält zwischen Correggios ›Jupiter und Jo‹ einerseits und Michelangelos ›Leda mit dem Schwan‹, jenem kühnen Griff in die Sexualität, anderseits. Correggio also hat mir bei der keuschen Malweise und Michelangelo bei der brünstigen Zeichnung Modell gestanden. Es ist ein Meisterwerk geworden, mit allen Künsten der Sorgfalt gemalt, mit allen Listen der Technik ausgestattet und mit jener Inbrunst geschaffen, die zu allen Zeiten Schöpfer begnadet hat. Über dem Bilde liegt ein hauchzarter Schmelz, die Töne sind von nebelhaft weicher Samtigkeit, die Zeichnung läßt das Tollste erahnen, und bei näherem Hinsehen erwächst das Geheimnis des Geschehens aus der Fülle der hüllenden Schleier, die im Rhythmus des Werdens zu wogen scheinen und sich bewegen wie Holbeins ›Lady Seymour‹ ihre waschenden Hände. Das Bild ist eine Million wert und – unverkäuflich. Ich habe es Kapsdorf, dem liebenden Kenner großer Kuriositäten, geschenkt, dem einzigen, der den Wert dieser Arbeit voll zu schätzen weiß und bis an sein Lebensende daran Freude haben wird. Es ist nicht signiert«, schloß Michael und sah Gefion triumphierend an.

Jetzt, da sie unter dem Eindruck seiner Worte stand, war der Augenblick gekommen, sie festzuhalten. Die Verlobung bekanntmachen, eine vollendete Tatsache schaffen, das war das richtige. Gefion willigte ein, die Anzeige sogleich telephonisch aufzugeben.

Ihn aber hatte der Ehrgeiz gepackt, sich auch geistig Herr dieser schönen Frau zu fühlen, ihr zu imponieren mit der Macht nicht nur seiner Persönlichkeit, sondern auch seiner Leistung, fühlte er doch, daß sie seine eminenten Kopiertalente nicht anders würdigte als die Kunstfertigkeit eines Jongleurs oder Akrobaten, kurz als etwas Mechanisches, eine Handgeschicklichkeit. Er wollte vor ihr aber als Schöpfer, als Mensch ersten Ranges bestehen. Darum begann er von seinen literarischen Plänen zu sprechen. Sie hörte ihm zu und stieß dann und wann kleine Rufe der Zustimmung und des Mitgerissenwerdens von seinen Ideen aus. Wie herrlich würde es sein, wenn ihm diese großen Pläne gelängen! Wenn. Welch ein Leben in Kunst und Geist. Sie würde ihm helfen, soweit sie das vermochte, wenn sie auch nichts von den Gesetzen des Romans wußte. »Ich werde dir mein literarisches Meisterstück vorlesen. Es ist nicht nur künstlerisch ungewöhnlich und bedeutend, sondern es hat für uns Zwei noch einen tieferen Sinn, den natürlich niemand ahnt.«

Michael stand auf und holte aus seinem Schreibtisch ein kleines Manuskript. Mit einer gewissen Feierlichkeit, in der sie einen Anflug von Sentimentalität registrierte, nahm er wieder Platz. Sie hatte sich die nächste Stunde anders vorgestellt, aber warum sollte er nicht sein literarisches Kunstwerk ihr vorlesen, auf das er sehr stolz zu sein schien.

»Diese Novelle ist in Gedanken an dich geschrieben«, hörte sie Michael sagen. »Ich habe sie ›Das Licht am Styx‹ genannt, das rettende Licht am Fluß der Unterwelt, von dannen es keine Rückkehr gibt. Wer sich umwendet, ist verloren, der wird von dem Totenreich verschlungen. Auch ich wäre verloren gewesen, wäre untergegangen, hätte ein gütiges Geschick mir dich nicht in den Weg gesandt. Du warst und bist mir das rettende Licht am Strome der Unterwelt. Jetzt, da deine Liebe mich beglückt, kann ich nicht mehr verlorengehen. Die Lockung des Bösen hat ihre Macht eingebüßt. Ohne dich wäre ich doch eines Tages den Rattenfängern in die Arme gelaufen – denke an die Dutzende von Skizzen, die von den alten Meistern nie ausgeführt wurden, sie gäben ebenso viele Parallelstücke zu der ›Leda mit dem Schwan‹, die Correggio nie gemalt hat. Die Unterwelt der Verbrecher und Kaschemmen hätte mich verschluckt.«

Gefion dachte: Wie er seine Kunstfertigkeit liebt! Was ihn so begeistert, obwohl er sich davon abgewendet hat, das kann doch nichts Schlechtes sein! Gott ist ja auch nicht nur das Gute.

Michael sprach schon von den künstlerischen Grundierungen seiner Erzählung: wie er alles auf Kontrastwirkung abgestimmt, auf den musikalischen Kontrapunkt, wie die gewaltigen Rhythmen des schwungvollen Barocks in der Erzählung gestaltet seien, wie die Saftigkeit des 16. und 17. Jahrhunderts aus allen Poren der Erzählung schwitze, wie der zartesten Liebe die Brunst gegenübergestellt sei, das alles solle sie beachten.

Dann begann er mit großem Pathos zu lesen, von Scarron, dem Dichter, dem Gealterten, dem Leidenden, von seiner Liebe zu der schönen Ninon, an der Leben und Gesundheit zerbrochen waren. Unmäßigkeit und Liederlichkeit feiern Triumphe. Gier und Trunksucht zerfleischen den Mann. »Er schnitt mit dem Messer in Gans und Hasen, in Schweinskopf und Trüffelpastete, er fraß mit den Fingern und vergaß die Umwelt. Polypenhaft rissen seine Sinne alles in ihn hinein. Die Lampe entfällt der Hand der trunkenen Magd, zerbirst. Flammen schlagen hoch. Es brennt. Der rotblaue Riesenfrosch zuckt gespenstisch und schreit. Wirt und Magd rennen, toll vor Grausen, auf die Straße. Ein Haufen Neugieriger drängt herein.«

Und kommt dann endlich zu dem Schluß, wie Scarron, als in dem wilden Chaos Ninon, die Göttliche, erscheint, beglückt seinen bizarren Geist aushaucht, umspielt von dem stillen, tröstenden Licht am Strome der finsteren Unterwelt.

Michael sah zu Gefion auf, die sich mit einem Ruck erhoben hatte, schaute sie an wie ein Schulknabe, der einen Einser zu seiner Mutter bringt.

»Dies ist ja abscheulich. Das druckt dir doch kein Mensch. Wie kannst du denken, mit solchen Verstiegenheiten, solch widerwärtigen Übertreibungen je ein großer Dichter zu werden! Stellenweise ist die Sprache unschön, weist falsche Beziehungen auf, und das Ganze grenzt an sentimentalen Kitsch. Ich bedaure, ich kann es nicht anders nennen. Du hast mein Urteil herausgefordert. Das soll saftig sein? Geschmacklos ist es. Niemand wird solche Absurditäten, die sich so weit von der Wahrheit, vom Möglichen und Echten entfernen, lesen wollen.«

Michael saß stumm in seinem Stuhl. Es war, als trockne er ein und werde immer kleiner. Gefion trat zu ihm und legte liebevoll den Arm um seine Schultern. Er rührte sich nicht. Ihre Geste drang nicht bis in sein Inneres durch. Da schmiegte sich das Mädchen erschreckt an ihn und nahm schließlich seinen Kopf in beide Hände. »Michael! Weil ich dich liebe, muß ich dir doch dies alles sagen. Du brauchst einen unbestechlichen Kritiker. Der will ich dir immer sein. Liebster, verzeih mir, wenn ich zu hart war. Aber das alles ist Stuck, Fassade. Ich wäre beinahe versucht, zu sagen: Nippes in Großformat. Aber ich will dich nicht kränken. Jedoch wenn das deine beste Sache ist, dann bleibe Kopist. Da warst du bedeutend. Unerreicht. Die Graue Eminenz. Ich liebe dich dort, wo du bedeutend bist. Mir wäre es peinlich, dich je einen Dilettanten nennen zu hören.«

»Wie bringst du es nur fertig, mir das alles so kalt zu sagen?«

»Ich bin gar nicht kalt, mein Michael. Ich sehne mich nach dir. Ich will dir ein Leben lang gehören. Aber du kannst nicht verlangen, daß ich solch gestrige, unoriginelle Sachen bewundere. Die Franzosen haben so etwas besser gemacht. Selbst dein E. T. A. Hoffmann hätte es vor hundert Jahren echter gestaltet. Nein, ich kann dir nichts anderes sagen. Wenn du die Kritik in mir anrufst, dann darfst du dich nicht wundern, wenn sie urteilt.«

»Ich habe die Kritik gar nicht anrufen wollen. Ich hatte den Wunsch, zu dir zu sprechen.« Dich von meiner Bedeutung zu überzeugen, setzte er in Gedanken hinzu. Gefion goß ihm Wein in sein Glas und ließ ihn trinken. Er werde durstig sein nach dem langen Vorlesen. Übrigens habe er gut gelesen. Mit viel Ausdruck und einer Heraushebung des Wichtigen wie ein echter Schauspieler. Selbst das Mienenspiel wäre von vorzüglicher Eindringlichkeit und sehr anschaulich gewesen. Aber obwohl sie jetzt durch Anerkennung ihr allzu schroffes Urteil abzuschwächen versuchte, gelang es ihr nicht, Michaels Stummheit zu überwinden. Auch als sie den Versuch machte, von Rüsternort und künftigen gemeinsamen Unternehmungen zu sprechen, prallte alles an seiner dumpfen Ablehnung ab. Gefion sah ihn mechanisch, automatisch fast, an die Hausbar gehen und einen Cocktail mischen. Sie trat neben ihn und suchte seinen Blick. Dieser Mann war es doch, den sie liebte. So voller Bereitsein und heißem Verlangen war sie zu ihm gekommen. So voll strahlender Freude waren die Stunden heute gewesen. Der schöne Raum, der ihr so zusagte, schien sie festhalten zu wollen. Sie reckte ihre Glieder. Es war ein sprühendes, verlangendes Leben in ihr.

Es ging auf Mitternacht.

»Ich muß wohl gehen ...?«

»Ja.« Der Laut kam hinter ihrem Rücken auf.

Sie warf den Kopf in den Nacken. Einen Augenblick noch wartete alles in ihr. Dann schritt sie trotzig zur Tür.

* * *

 


 << zurück weiter >>