Jack London
An der weißen Grenze
Jack London

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Corliss und Bishop hatten den Boden untersucht, ehe sie ihre Claims absteckten, dann weihten sie ein paar gute Freunde in das Geheimnis ein. Welse, Harney, Trethaway und ein paar alte Kameraden von Del Bishop, mit denen er viel Hunger und Strapazen geteilt hatte, durften sich ein Stück des neuen Goldlandes sichern, solange der ganze Fund noch Geheimnis war.

Es war üblich, daß man als so Bevorzugter dem Entdecker die halben Gewinne abgab. Aber Corliss wollte nichts davon hören. Es widersprach seinem Empfinden, aus der Arbeit anderer Menschen Gewinne zu ziehen, und Bishop lehnte aus anderen Gründen die Beteiligung ab.

»Jetzt kann ich mir eine Obstfarm kaufen, doppelt so groß, wie ich berechnet hatte. Da weiß ich noch, wo mein Geld bleibt. Wenn's noch mehr wird, ist es einfach zuviel. Dann komme ich zu sehr ins Saufen, und zuletzt verludere ich das Ganze. Also behaltet ihr eure paar Kröten für euch selbst und damit basta.«

Es schien Corliss jetzt selbstverständlich, daß er sich einen anderen Gehilfen suchte. Aber als er eines Tages einen Kalifornier mit scharfem, durchdringendem Blick ins Lager brachte, fing Bishop an, wütend zu fluchen.

»Heiliger Satan! Nie in meinem Leben habe ich so was von Gemeinheit gehört!«

»Aber Sie sind doch jetzt reich!« gab Corliss zur Antwort. »Sie haben's doch nicht mehr nötig.«

»Zum Teufel mit meinem Reichsein – was geht Sie das an? Kontrakt ist Kontrakt! Ich bleibe in meiner Stellung, so lange Sie keinen Grund haben, mich rauszuschmeißen. Verstanden?«

Anfang der Weihnachtswoche ging der Sturm auf »Vances Hügel«, wie Bishop das neue Land getauft hatte, los. Die ersten Claims waren kaum eingetragen, als die Neuigkeit schon über das Land flog, und binnen einer Viertelstunde waren die ersten Wettläufer unterwegs. Eine halbe Stunde später machte sich in der ganzen Stadt auf die Beine, was laufen und kriechen konnte. Auch Corliss und Bishop durften keine Zeit ungenützt verstreichen lassen. Jetzt handelte es sich darum, ihre ehrlich erworbenen Rechte zu verteidigen. Verrücken von Pfählen, Abreißen von Plakaten, Übergriffe in fremde Claims . . . das gehörte zu den ältesten Kniffen der Goldgräber, und wenn das Unheil einmal geschehen war, war es trotz aller Beglaubigungen und Stempel furchtbar mühselig, die Eindringlinge wieder aus dem Nest zu werfen.

In einem dichten Strom von Menschen wanderten die beiden zur Stadt hinaus, als Del Bishop zufällig Gregory St. Vincent erspähte, der, das übliche Goldgräbergerät auf dem Rücken, in höchster Eile voranmarschierte.

»Klabastern Sie drauflos wie der Satan!« kommandierte Bishop. »Fragen Sie nicht viel, es handelt sich wieder um etwas mit der Nase.«

Die Leute kannten Corliss und Bishop. Sie wußten, daß diese beiden nicht im Wettrennen waren, sondern ihre Claims längst abgesteckt hatten. So ließen sie sich kampflos überholen. Über die ganze Strecke hätte ja doch kein Mensch ein so mörderisches Tempo ausgehalten.

Sie erreichten eine scharfe Biegung des Weges; vor ihnen war kein Mensch zu sehen; an ihren Fersen, mit einem Abstand von kaum hundert Schritten, ging nur der unglückliche St. Vincent.

»So, jetzt sprechen Sie kein Wort mit mir«, flüsterte Bishop und schlug seinen Kragen hoch, daß sein Gesicht nicht mehr zu erkennen war. »Tun Sie jetzt, als ob Sie mich nicht kennen. Da drüben ist ein Wasserloch. Dort gehen Sie hin, werfen sich auf den Bauch, als ob Sie vor Durst nicht weiterkönnten. Dann tippeln Sie, in einer Viertelstunde ungefähr, allein weiter nach den Claims. Ich habe andere Geschäfte zu besorgen. Auf keinen Fall sprechen Sie ein Wort zu dem Stinktier, das darf Ihr Gesicht nicht sehen.«

Corliss war jetzt schon an Gehorsam gewöhnt. Er trat von der gebahnten Straße ab in den Schnee, legte sich nieder und tauchte eine leere Blechdose ins Wasser.

Bishop ließ sich auf ein Knie fallen und machte sich an seinen Mokassins zu schaffen. Er hatte gerade den Knoten gebunden, als St. Vincent ihn erreichte. In diesem Augenblick sprang Bishop auf und marschierte mit fieberhafter Eile weiter, wie ein Mann, der mit aller Gewalt die verlorene Zeit wieder einholen will.

»He, Sie, Mann, warten Sie eine Minute!« rief der Geograph ihm nach.

Del Bishop warf einen hastigen Blick zurück und spurtete noch schärfer. St. Vincent setzte sich in Laufschritt, bis er Seite an Seite mit ihm kam.

»Ist das der Weg . . .?«

»Nach den Terrassen von Vances Hügel?« knurrte Bishop gereizt. »Darauf können Sie Gift nehmen, das ist nämlich mein Weg. Auf Wiedersehen!«

Er tobte immer schärfer drauflos, der Geograph konnte nur im Laufschritt die Geschwindigkeit einhalten; an Überholen war nicht zu denken. Corliss verstand noch immer nichts von der ganzen Geschichte. Er setzte seinen Feldstecher an und folgte den beiden mit den Blicken. Da sah er, wie der Goldgräber plötzlich im rechten Winkel von seiner Straße abbog Und den Weg nach dem Adamstümpel einschlug. Jetzt ging ihm ein Licht auf . . .

Spät abends erreichte Bishop das gemeinsame Lager, erschöpft, aber in glückseliger Laune.

»Nicht ein Härchen habe ich ihm gekrümmt!« rief er, ehe er noch im Zelt war. »Geben Sie mir was zu essen.«

Er griff nach der Teekanne und goß sich das heiße Getränk in den Leib. »Heut fress' ich Rattenfett, Schmieröl, geröstete Mokassins, Kerzenstümpfe mit Mayonnaise, was Sie haben!«

Dann warf er sich auf die Decke und begann, mit tiefem Lachen seine Beinmuskeln zu massieren, während Corliss Speck briet und Bohnen auf die Pfanne schüttete.

»Das war ein Spaß!« erzählte Bishop. »Der kommt nicht sobald zu Vances Hügel. Da können Sie Gift drauf nehmen.«

Er ahmte mit Talent St. Vincents Ton nach, der anfangs herablassend klang, aber bei ewiger Wiederholung derselben Worte immer zahmer und schwächlicher wurde.

»Wie weit ist es, alter Freund?«

»Wie weit ist es jetzt, alter Freund?«

Zuletzt klang die Stimme ganz verheult und greisenhaft zittrig: »Wie weit . . .? Ich flehe Sie an, wie weit . . .?«

Der Goldgräber schlug sich auf die Knie vor Entzücken und lachte, daß eine halbe Tasse Tee, die er noch nicht ganz heruntergeschluckt hatte, im Sprühregen aus seiner Nase wieder herauskam.

»An der Wasserscheide vom Indianerstrom hab' ich ihn schließlich liegen gelassen. Er war so ausgepumpt, daß er keinen Schritt mehr gehen konnte, vollkommen erledigt. Vielleicht hat er noch Kraft genug, sich ins nächste Lager zu schleppen. So, jetzt geh' ich aber schlafen. Keine Angst, Sie brauchen mich nicht erst einzusingen. Sechzig Meilen hab' ich heut gemacht, nur um das arme Stinktierchen ein bißchen zu ärgern. Gute Nacht. Bitte wecken Sie mich übermorgen früh wieder auf.«

Im Einschlafen murmelte er in seinem feinsten Diskant: »Wie weit ist es, Freundchen? Sagen Sie mir, wie weit es ist!«

 

Peter Whipple, einer der ältesten weißen Männer im Land, besaß einen Claim, nicht weit von Vances Hügel, und lebte dort mit einer dunklen, nicht besonders hübschen Mischlingsfrau, einer Tochter des Landes. Ihre Mutter war Indianerin gewesen, der Vater ein russischer Pelzhändler. Sie redete eine furchtbare Mischsprache, die für Weiße wie für Indianer gleich unerträglich war. Aber Whipple war ein alter Kumpan von Bishop, und da er nicht viel mehr zu tun hatte, als morgens und abends die Abgrenzungen seines Claims zu kontrollieren, ging er manchmal zu Peter Whipple, um ein langatmiges Garn mit ihm zu spinnen.

An einem Sonntagmorgen traf er die Frau allein zu Hause. Da die Unterhaltung kein Vergnügen werden konnte, beschloß er, nur aus Höflichkeit eine Pfeife bei ihr zu rauchen und sich so früh wie möglich wieder davonzumachen. Aber es geschah, daß er viele Pfeifen lang blieb, denn was die Kreolin erzählte, als ihre Zunge einmal in Schwung kam, war so interessant, daß er sie immer wieder anfeuerte, wenn der Strom ihres Kauderwelsch schwächer rann. Während er lauschte, kicherte und fluchte er leise vor sich hin. Es war die spannendste Erzählung, die er in seinem Leben gehört hatte.

Mitten darin holte die Frau ein altes Buch in abgegriffenem Ledereinband aus einer gebrechlichen Kiste und legte es auf den Tisch. Sie öffnete es nicht, aber mit Fingern und Blicken führte ihre Erzählung immer wieder auf dies geheimnisvolle Buch, und in Bishops Augen trat ein begehrliches Funkeln.

Als sie sich schon ein halb dutzendmal wiederholt und gar nichts Neues mehr zu sagen hatte, zog er seinen Beutel aus der Brusttasche. Die Frau stellte eine Goldwaage auf und tat Gewichte in die eine Schale, in die andere Schale schüttete Bishop Goldstaub im Werte von 100 Dollar. Dann griff er nach dem ledergebundenen Werk, preßte es fest an sich und sagte Lebewohl.

Corliss saß im Zelt auf seinem Bett und flickte an seinen Mokassins herum.

»Jetzt hab' ich ihn bald!« sagte Bishop und warf ihm das Buch zu.

»Wen denn?«

»Das Stinktier.«

Corliss schlug erstaunt das Buch auf, das Papier war vergilbt, von Wind und Wetter mitgenommen, der Text war russisch.

»Ich kann kein Wort davon lesen. Ich wußte gar nicht, daß Sie Russisch können, Del?!«

»Traurig genug, daß ich es nicht kann. Whipples Frau versteht auch nichts davon. Aber ihr Vater, der war Russe, und das war sein einziges Buch, seine Bibliothek sozusagen. Er hat ihr oft daraus vorgelesen. Sie weiß, was ihr Vater wußte, und jetzt weiß ich auch, was sie weiß, und was da drin steht.«

»Und was wißt ihr denn alle drei?«

»Na, es lohnt sich schon! Ein bißchen Geduld müssen Sie vielleicht noch haben, aber eines Tages werden Sie auch Ihren Spaß dran finden.«

 

Über Weihnachten kam der alte McCarthy über das Eis nach Dawson marschiert. Er hatte keine Geschäfte mehr, eigentlich wollte er ja längst in den Staaten sein und hatte sich nur von der zweiten Heimat nicht trennen können. Jetzt saß er bei Dave Harney herum, ein Goldkönig beim anderen, und ließ sich allen Klatsch von Dawson erzählen. Die großen Funde interessierten ihn nicht mehr so sehr. Er hörte gern von Liebesgeschichten und Saufereien, auch dem Bericht von Faustkämpfen lauschte er stets mit freundlichen Augen. Frona und Gregory St. Vincent – das war ein Rauch, der ihm in die Nase stieg! Über Frona war alle Welt sich einig: eine echte Welse und ein so famoses Mädel, wie kein anderer Kontinent es hervorgebracht hätte. Aber dieser St. Vincent, da konnte man nur den Kopf schütteln. Alle Weiber waren hinter dem Kerl her. Er hielt es mit Frona, aber ganz besonders auch noch mit einer Sängerin namens Lucille, und ein halbes Dutzend anderer Damen wurde ihm so nebenbei nachgesagt. Es war klar, die Männer konnten ihn nicht leiden, weil er soviel Glück bei den Weibern hatte. Junge und Alte nahmen ihm das gleich übel. Aber wenn man den Sachen auf den Grund ging, war nicht viel daran.

Eines Nachmittags traf McCarthy den Mann selbst im Hause von Dave Harney. Er schien beträchtlich besser als sein Ruf, schließlich hatte der alte Goldkönig in seinem Leben manchem Mann unter den Hutrand geschaut, und er verstand sich darauf, was echt und unecht war. Der hier war der übelste nicht. Und trotzdem hatte die Abneigung der anderen ihn schon angesteckt. Matt mußte sich zwingen, mit diesem natürlichen, heiteren Burschen freundlich zu sein.

»Die Hunde sollen über mein Grab laufen«, sagte er bei sich, während er seine Spielkarten sortierte. »Bin ich zu alt oder zu jung, um gerecht zu sein? Nehme ich es ihm auch übel, daß er die Weiber zu nehmen weiß? Der Kerl hat in seinem Leben eben etwas geleistet, und das imponiert den Mädels. Immerhin, wenn's um Frona geht, kann man nicht vorsichtig genug sein.«

Als die Gesellschaft auseinanderging, schien es selbstverständlich, daß St. Vincent Frona nach Hause brachte. Aber Matt fuhr dazwischen.

»Heute abend nicht, mein Junge! Heute ist der alte Pflegevater an der Reihe.«

Er wanderte, Frona an seinem Arm, auf Welses Haus zu und fragte ohne Umschweif:

»Was ist das, was ich von dir und dem Burschen höre?«

Sie schaute mit offenem Blick in seine scharfen grauen Augen.

»Ich kann doch nicht wissen, was du gehört hast.«

»Wenn die Leute über ein hübsches junges Mädel und einen unverheirateten jungen Mann überhaupt reden, dann ist es nicht schwer zu raten, um was es sich handelt.«

»So, was denn?«

»Liebe, natürlich. Die Leute sagen, daß es bei euch danach aussieht.«

»Beweist das auch, daß es so ist?«

»Genügt mir, wenn es so aussieht.«

»Also erstens, Onkel Matt, bist du alt genug, um zu wissen, daß die Leute sich um jeden Preis etwas zurechtdichten müssen, wenn sonst nichts passiert. Zweitens sind Herr St. Vincent und ich gute Freunde, das ist alles. Und drittens, wenn es so wäre, wie du sagst, was dann . . .?«

Matt wollte etwas sagen, räusperte sich, fand jedes Wort dumm, das ihm einfiel, und brabbelte vor sich hin. Dann platzte er in seiner Verlegenheit heraus.

»Weiß Gott, Frona, ich hätte Lust, dich tüchtig durchzuwichsen.«

Sie lachte: »Du meinst es sicher gut mit mir, alter Goldonkel. Leider kommst du ein bißchen spät damit, du hast die richtige Zeit damals in Dyea versäumt.«

Er bettelte: »Du wirst doch nicht böse auf deinen alten Matt sein!«

»Ich denke nicht daran.«

»Aber du bist es doch.«

»So!« Sie beugte sich hastig vor und küßte ihn auf die Nase. »Glaubst du, ich könnte von Dyea sprechen und böse mit dir sein?«

Sie waren vor Welses Tür stehengeblieben.

»Ich bin wirklich nicht böse, Matt. Aber außer meinem Vater bist du der einzige Mensch, der sich erlauben darf, über diese Sache mit mir zu reden. Und wenn du es noch einmal tust, werde ich trotz allem nicht mehr an Dyea denken. Das ist etwas, was mich ganz allein angeht, du hast kein Recht . . .«

»Kein Recht, zu verhindern, daß du mit verbundenen Augen in dein Unglück rennst?«

»Wenn du es so nennst, nein!«

Er brummte etwas vor sich hin.

»Was sagst du da?«

»Das Maul kannst du mir verbieten, aber den Arm kannst du mir nicht festbinden.«

»Das darfst du nicht, Matt! Matt, lieber Matt, du darfst nicht!«

Sie war sehr erregt und klammerte sich an den Arm des Alten. »Ich lasse dich nicht weg, ehe du mir versprochen hast, daß du nicht in mein Leben eingreifst. Weder mit Worten noch mit Taten.«

»Ich verspreche dir gar nichts. Jetzt mach, daß du ins Haus kommst, Frona. Und Gute Nacht. Es wird verdammt kalt hier draußen auf der Treppe.«

Er schob sie hinein und ging. Ein paar Schritte weiter blieb er stehen, betrachtete seinen eigenen Schatten auf dem Schnee und fluchte wie ein junger Hundetreiber, wenn die Hunde nicht ziehen wollen.

»Matt Mc Carthy, du bist der größte Esel, von dem du je gehört hast! Bildest du alter Schwachkopf dir wirklich ein, daß eine Welse ihren Kopf nicht durchsetzt?«

Fluchend und knurrend ging er weiter. Sein alter Wolfshund, der ihm auf den Fersen trottete, fletschte die Zähne.

 

Der Weihnachtsabend mit all seiner Aufregung und Freude war vorbei. Zwei Dutzend Kinder hatten sich, glücklich und reich beschenkt, durch den Schnee nach Hause getrollt. Dann nahm auch der letzte Gast Abschied.

»Bist du müde, mein Kind?«

Frona vergalt ihrem Vater mit strahlenden Augen all seine Zärtlichkeit, dann setzten sie sich in die großen bequemen Sessel rechts und links vom Kamin, in dem das letzte Tannenholzscheit rotglühend zerfiel.

»Was wird nächstes Jahr um diese Zeit sein?« fragte Jacob Welse. Er fragte es gewissermaßen in den Kamin hinein, als ob die Funken ihm Antwort geben könnten.

»Diese beiden Monate, seit du bei mir bist, sind ein einziges Wunder gewesen, vom Anfang bis zum Ende. Mir ist, als lebte ich jetzt die glücklichste Zeit meines Lebens. Wir hatten uns ja kaum gekannt, Frona. Seit du ein ganz kleines Kind warst, haben wir uns immer nur für Wochen gesehen, und von einem Wiedersehen zum anderen warst du immer schon ein ganz anderer Mensch geworden. Manchmal ist es mir ganz komisch, wenn ich dich ansehe und mir sage, daß du wirklich mein Fleisch und Blut bist . . . Daß du kein Junge geworden bist!« unterbrach er sich plötzlich. »Frona, du wärst ein großartiger Junge geworden! Ich glaube, das wäre mir lieber. Weißt du auch, warum? Eigentlich hat man als Vater ja tausendmal mehr von einer Tochter. Ein Mädel kann lieb und zärtlich sein, und einem Mädel kann man schmeicheln. Wenn du ein Bursche von zwanzig Jahren wärst . . . glaubst du, ich hätte dir einen Weihnachtskuß gegeben, so wie heute abend? In einer Tochter erlebt man die Frau noch einmal, die man am liebsten auf der Welt gehabt hat . . . Aber es ist komisch, Frona, lieber wär' mir's doch, wenn du ein Bursche wärst. Wie lange dauert es noch, dann bist du eine Frau und gehst mit irgendeinem Kerl weg, der mich nichts angeht, und der mich nicht leiden kann, oder den ich nicht mag, und ich kann nicht einmal ein Wort dagegen sagen. Du bist zur Freude für ihn geschaffen, du wirst mich verlassen und mußt mich verlassen . . . morgen, übermorgen, vielleicht erst nächstes Jahr, so Gott will . . . wer weiß das?«

Sie kam zu ihm, setzte sich auf die breite Armlehne des Sessels und streichelte sein gesundes, rauhes Gesicht.

»Laß das, Daddy, heute abend wenigstens! Ich bin auch so glücklich, daß ich bei dir sein kann, und vielleicht möchte ich am liebsten immer in diesem warmen Nest bleiben. Aber erzähl mir was, du hast mir noch so selten erzählt, von deiner Jugend, von unseren Vorfahren, erzähl mir vor allem von Mama! . . . Und dann muß ich auch einmal etwas hören von deinem Vater, der den großen einsamen Kampf bei Treasure City gekämpft hat, wo sie zehn gegen einen waren, und wo er gefallen ist. Ich bin so stolz, daß all meine Ahnen tapfere Männer waren, und ich höre so gern von Männerkämpfen!«

»Von deiner Mutter möchte ich dir viel erzählen, Frona. Eigentlich ist es das erstemal, daß wir so allein beisammen sind, und daß ich dir mein Herz ausschütten kann. Aber was kann ich dir sein? Jetzt kommt die Zeit, wo ein Mädel seine Mutter am nötigsten braucht, und du hast deine Mutter nie gekannt!«

Sie schwiegen beide. Es war etwas wie elektrische Spannung in die Luft getreten; Frona wußte genau, was jetzt kommen sollte.

»Dieser Mann, dieser Dr. Gregory St. Vincent . . . wie steht es mit euch beiden?« fragte Welse mit abgewandtem Gesicht und stoßweisem Atem, als müßte er sich Wort um Wort aus der Kehle quälen.

»Ich . . . das weiß ich selbst nicht so recht, Daddy.«

»Du bist ein freier Mensch, Frona. Du darfst wählen, wen du willst. Das ist das erste und letzte Wort, das ich dir zu sagen habe. Aber, ich möchte dich doch so gern verstehen. Wenn du mir alles sagtest, weißt du, alles . . . vielleicht könnte ich alter Knurrhahn dir doch einmal raten. Mehr will ich ja gar nicht. Nur ein bißchen raten . . .«

»Wir sind gute Freunde, wir sind sogar sehr gute Freunde, Vater. Aber sonst ist nichts zwischen uns, ich glaube wenigstens, daß sonst nichts zwischen uns ist. Herr St. Vincent hat nie ein Wort darüber hinaus gesagt.«

»Aber ich weiß doch, daß ihr euch gern habt. Es ist nur die Frage, ob du ihn so gern hast, wie eine Frau einen Mann haben muß, für den sie sich selbst aufgeben darf.«

»Nein. Oder vielleicht doch, wie soll ich das selbst wissen? Ich denke mir, das ist auf einmal da, was du meinst, so wie ein großes, weißes Licht in einem dunklen Zimmer. Auf einmal ist alles ganz offenbar. Aber das weiß ich, gekommen ist dieses Licht noch nicht.«

Jacob Welse nickte nachdenklich und sah aus wie ein Riese, der mit winzigem Kinderspielzeug spielen möchte und sich fürchtet, daran zu rühren.

»Schließlich bin ich doch auch mit anderen jungen Männern befreundet, Vater, genau so wie mit Gregory.«

»Aber gerade dieser St. Vincent . . .«

»Was ist gerade mit dem?«

»Ich kann den Kerl nicht leiden.«

»So geht es ihm bei vielen Männern, leider«, gab Frona zu. »Aber gerade deshalb . . .«

»Meine Meinung soll dir nicht mehr gelten als die der anderen. Weil ich dein Vater bin, habe ich dir in solchen Dingen keine Vorschriften zu machen, gerade deshalb nicht. Aber, daß viele Männer dasselbe Urteil haben wie ich, da muß etwas daran sein.«

»Aber du hast nichts gegen ihn als dieses unbestimmte Gefühl?«

»Doch, vielleicht etwas mehr als den bloßen Instinkt. Ich will versuchen, dir das zu erklären. Nimm's nicht als Prahlerei, es ist eine bloße Tatsache: wir Welses haben nie einen Feigling unter uns gehabt. Feigheit ist für mich etwas Unnatürliches, etwas Ekelhaftes, und neben Feigheit kann nichts Gutes gedeihen.«

»Gregory St. Vincent ist weiß Gott der letzte Mann auf Erden, Vater, den man einen Feigling nennen könnte! Sein ganzes Leben als Forscher war eine einzige tapfere Tat.«

Frona war bei dieser Antwort heiß und feurig geworden, aber dann schien sie ihm so traurig, daß der Anblick ihres Gesichts ihm ins Herz schnitt.

»Ich will dir nicht weh tun, Kind. Und wenn ich es doch tun muß, dann verzeih mir. Ich weiß nichts von diesem St. Vincent, ich habe gar keinen Anhalt für das, was ich jetzt sage, nur das unsichere Gefühl. Aber ich kann mir nicht helfen, der Mann scheint mir nicht das, wofür er sich ausgibt. Dann habe ich allerdings etwas über ihn gehört, eine kleine Tatsache, an sich ganz geringfügig. Ein Auftritt unten in der Bar, bei dem er nicht ganz sauber war.«

»Weil er mit einer Varietédame getanzt hat? . . . Nicht wahr, darüber zerbrechen die Männer sich ihre Zungen? Vielleicht hat er auch sonst schön mit ihr getan und meinetwegen sogar . . . Jedenfalls geht das die anderen nicht das geringste an, und mir ist er keine Treue schuldig. Wenn mir das weh tun soll, dann hab' ich es jedenfalls mit mir allein auszumachen, aber ich kann nicht einmal sagen, daß es mir weh tut.«

»Du verstehst mich falsch. An seine Weibergeschichten habe ich gar nicht gedacht, sondern an etwas ganz anderes. Es hat da mal eine Prügelei stattgefunden, eine große, gewaltige Prügelei, wie sich's ab und zu in einer Goldgräberbar gehört. Er wollte nicht mitmachen. Rundheraus gesagt, er war so feig, daß es einen Hund erbarmen konnte. Einfach zum Kotzen war's, wie er sich benommen hat.«

»Erstens ist das doch alles nur Gerücht . . . Und außerdem kann es gar nicht wahr sein. Er hat mir selbst bald darauf von der Geschichte erzählt. Ausgesehen hat er keineswegs wie ein Feigling, sondern wie ein Mann, der beim Boxen gehörig eingesteckt hat. Jedenfalls hätte er nicht davon gesprochen, wenn es so gewesen wäre, wie du sagst.«

»Soll keine Anklage sein«, unterbrach Jacob Welse sich hastig, als fürchtete er, zuviel gesagt zu haben. »Manchmal ist man nicht disponiert, ich habe gute Männer kneifen gesehen, die bei einer anderen Gelegenheit wie der Teufel losgegangen sind. Hören wir auf davon! Ich habe das Gefühl, daß ich dich auf festes Land führen wollte und selbst in den Sumpf geraten bin. Ich wollte dir vielleicht einen Rat geben, aber unsereins ist alt und plump, man soll besser die Hände von so zerbrechlichen Sachen lassen.«

»Ich weiß, wie gut du es gemeint hast, Daddy.«

Sie ließ sich auf seine Knie fallen und lag so zärtlich an seiner Brust, wie er es sein Leben lang nicht gefühlt hatte.

»Du guter Daddy, machst dir soviel unnütze Sorgen um mich.«

Dies war der letzte Augenblick, in dem er ihr das sagen konnte, was ihm eigentlich auf der Zunge lag:

»Was geht es uns an, Frona, uns beide, was die Welt sagt? Du bist eine Welse und hast deinen Kompaß in der Brust, du brauchst nach Himmel und Hölle nicht zu fragen, wenn du etwas tust. Und wenn du es dir einfallen läßt, ganz ohne Kirche und Standesamt ein Kind zu bekommen, nur weil du eben ein Kind haben willst, dann wird es trotz allem ein Welse sein, und wir beide fragen den Henker danach, von wem es ist.«

Als die letzte Glut im Kamin zerfiel und die Wärme das Zimmer verließ, lag sie immer noch an seiner Brust. Er erzählte ihr, was sie eigentlich hören wollte, von ihrer Mutter, die ihr so heroisch das Leben gegeben hatte, von all den mutigen Welses, die vor ihm gelebt hatten, und von dem großen, einsamen Kampf bei Treasure City, in dem sein Vater den Tod gefunden.

 

Die lange vorbereitete Theatervorstellung fand statt und wurde ein so riesiger Erfolg, wie Dawson ihn höchstens einmal in jedem Jahre erlebte. St. Vincents Regiekunst war außer Zweifel. Er hatte aus all den ungefügen Menschen eine Art richtiger Schauspieler gemacht und schien selbst auf der Bühne ein Fachmann zu sein, kein Dilettant. Sie hatten »Nora« von Ibsen gespielt, nichts zum Lachen, sondern ein Stück, das die Menschen quälte und zugleich erhob. Unter seinem Einfluß, von seinem Talent mitgerissen, war Frona, die die Nora gab, weit über ihre Grenzen hinausgewachsen. Sie hatte Töne des Leides und der Leidenschaft gefunden, die jeden ergriffen.

Unter endlosem Beifall war der Vorhang gefallen. Dann sammelte Frau Sheffield die Honoratioren der Gesellschaft um sich und hielt die Kritik in so flammend begeisterten Ausdrücken, daß Jacob Welse sich ärgerte. Auch Dave Harney knurrte in das allgemeine Lob hinein, erstens sei das Stück wie vom Teufel gespielt worden, und zweitens sei es wirklich ein verdammt gutes Stück, und drittens hätte er schon, wer weiß wie lange, keinen so schönen Abend gehabt. Aber dann flüsterte er dem Polizeioffizier zu:

»So'n bißchen Schleiertanz hätte man schließlich auch gern gesehen. Und mehr Mädels, vor allem mehr Mädels! Und warum hat der Ibsen, oder wie der Bursche heißen mag, denn gar keine Schlager hineingedichtet?«

»Das hätte verdammt schlecht gepaßt«, belehrte ihn Onkel Matt, der nicht hören konnte, daß man an irgendeiner Leistung Fronas Kritik übte. »Die Frona hat das so großartig gespielt«, sagte er, »so verdammt großartig, daß andere Mädels nur gestört hätten. Das gebe ich Ihnen schwarz auf weiß, wenn Sie es wollen.«

»Haben Sie Gummi gekauft?«

»Gummi?«

»Aber natürlich, was hab' ich Ihnen denn geraten? Wenn das Tauwetter kommt, steigen die Gummistiefel ins Aschgraue, habe ich Ihnen gesagt. Dies Jahr kommen sie auf drei Unzen Gold das Paar, sonst fress' ich alle alten Besen in Dawson City. Heute können Sie sie noch für eine Unze das Paar kaufen.«

»Der Teufel soll Sie und Ihre Gummischuhe holen!«

Aber damit war die Kunst für diesen Abend erledigt, und man sprach wieder von reelleren Dingen.

Gregory St. Vincent brachte Frona nach Hause. Als sie allein in der eiskalten Winterluft standen, schüttelte er sich, als müßte er alles abwerfen, was ihn da drin umgeben hatte, und sagte mit einem tiefen Seufzer: »Endlich!«

»Was endlich?«

»Endlich kann ich Ihnen sagen, wie wundervoll Sie die Nora gespielt haben! Vielleicht haben Sie Perlen vor die Säue geworfen, aber ich wenigstens war so ergriffen, daß ich selbst kaum weiterspielen konnte. Bei der großen Szene, in der Sie für immer aus meinem Dasein verschwinden . . .«

». . . was war da?«

»Ja, da waren Sie nicht Nora, und ich war nicht Thorwald, sondern wir waren Frona und Gregory. Wie Sie da auf einmal in Hut und Mantel vor mich treten und mit der Reisetasche in der Hand abgehen, da hat mir das Herz geblutet.«

Frona antwortete nicht. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander. Der Zauber dieses Abends lag noch über ihnen; von der Begeisterung, mit der sie der Kunst gedient hatten, war noch etwas in ihrem Blut. Es war ein klarer Abend, nicht übermäßig kalt für zwei junge Menschen in dicken Wolfspelzen, die beide auf das Außen nicht achteten. Das Land lag ringsum in Licht gebadet, ein weiches Licht, dessen Quelle weder Stern noch Mond war. Am Horizont spannte sich von Südost nach Nordwest ein blaßgrünes, leuchtendes Band; von ihm ging der matte Strahlenglanz aus. Plötzlich zeichnete sich, wie das Licht eines Scheinwerfers, ein Bündel weißer Strahlen auf dem nachtschwarzen Himmel. Für einen Augenblick war gespenstischer Tag; dann senkte sich noch tiefer die schwarze Nacht auf die Erde herab. Nur im Osten gärte es aus einem grünlichen, leuchtenden Nebelschleier, lichte Dämpfe brodelten empor, fielen wieder, als versuchten mächtige, körperlose Hände, den Äther an sich zu reißen. Einmal schoß eine zyklopische Rakete in feuriger Bahn vom Horizont bis zum Zenit empor und fiel wie in zitternder Flucht wieder auf die Erde herab.

Im Augenblick dieses flammenden Triumphes brach die Stille auf der Erde. Zehntausend Wolfshunde heulten zugleich all ihre Sehnsucht und ihren Hunger in die Luft. Frona schauerte zusammen. St. Vincent legte den Arm um sie. Jetzt jammerten die Wolfshunde nur noch leise, ihr Winseln war noch fürchterlicher als das einstimmige Klagegeheul. Es war, als ginge durch diese ganze Welt eine große unbezwingbare Furcht, als bebte aller Schmerz der Kreatur durch das Tal.

Frona legte sich fester in St. Vincents Arm und schloß die Augen. Da spürte sie die Furcht der Kreatur nicht mehr. Es zitterte in ihren Nerven von einem ganz neuen, fremden Gefühl, und das war Wonne.

»Muß ich noch Worte zu dir sprechen?« fragte er mit seiner tiefen Stimme, die eben erst alle Zuhörer im Theater entzückt hatte, und die jetzt so gedämpft, so ganz allein für sie klang.

»Nein, Gregory!«

 

Ich kann dir so wenig bieten, Geliebte!« sagte der Mann, als er Frona bis zur Tür ihres Vaterhauses gebracht hatte. »Das unsichere Los eines immer wandernden Zigeuners . . .«

Sie nahm seine Hand, preßte sie an ihr Herz und sprach die Worte, die eine große Frau vor ihr gesprochen hatte:

»Ein Zelt und eine Brotkruste, die ich mit dir teile! Damit werde ich immer glücklich sein!«

 

Herein!«

Matt McCarthy drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür und schloß sie sorgfältig wieder hinter sich.

»Ach, Sie sind's!« St. Vincent betrachtete seinen Gast mit einem düsteren, zerstreuten Blick, dann aber nahm er sich zusammen und reichte ihm die Hand.

»Hallo, Matt, Alter! Meine Gedanken waren tausend Meilen weit von hier, als Sie kamen. Nehmen Sie sich einen Stuhl und machen Sie es sich bequem. Dort neben Ihnen steht Tabak. Versuchen Sie ihn und lassen Sie uns hören, was Sie wollen.«

»Ja, da hat er schon recht, daß seine Gedanken tausend Meilen weit von hier sind«, sagte Matt bei sich. Aber laut sagte er: »Nun ja, Sie waren wohl in süße Träume versunken. Und das ist ja auch kein Wunder.«

»Wieso?« fragte der Korrespondent heiter.

»Sie sind ein verfluchter Kerl, Vincent, und haben ein mächtiges Glück bei den Mädchen – darüber ist nicht zu streiten. Sie haben manchen Kuß im Vorbeigehen geschnappt und manches Herz gebrochen. Aber Vincent, mein Junge, haben Sie je das Richtige gekannt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Das Richtige, das Richtige, das heißt – nun ja, sind Sie je Vater gewesen?«

St. Vincent schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht. Aber haben Sie je väterliche Liebe gefühlt?«

»Das weiß ich nicht recht. Ich glaube nicht.«

»Da haben wir's ja. Und das ist das Richtige, sag' ich Ihnen. Wenn ein Mann je ein Kind gesäugt hat, dann habe ich's getan, oder doch jedenfalls so was Ähnliches. Es war ein Mädel, und jetzt ist sie ausgewachsen, und wenn möglich liebe ich sie noch mehr als ihr leiblicher Vater. Außer ihr habe ich leider nur eine einzige Frau getroffen, die ich hätte lieben können, und die war schon mit einem anderen verheiratet, als ich sie traf. Ich habe keinem Menschen je ein Wort davon gesagt, o nein, nicht einmal ihr selbst. Aber sie ist tot. Gott sei ihrer Seele gnädig.«

Das Kinn sank ihm auf die Brust, und seine Gedanken gingen zurück zu der blonden Frau, die sich einst wie ein Sonnenstrahl in die Hütte am Dyea-River verirrt hatte. Er blickte plötzlich auf und sah St. Vincent mit leeren Blicken vor sich hinstarren, als dächte er an ganz etwas anderes.

»Aber lassen Sie es jetzt genug sein mit den Dummheiten, Vincent.«

Der Korrespondent nahm sich zusammen, und er merkte, daß die kleinen blauen Augen des Iren sich in die seinen bohrten.

»Sind Sie ein tapferer Mann, Vincent?«

Eine Sekunde lang sahen sie sich an, als wollte einer die Seele des andern erforschen. Und in dieser Sekunde hätte Matt schwören können, daß er es ganz leise in den Augen des andern flackern sah. Triumphierend schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß es klatschte. »Weiß Gott, das sind Sie nicht.«

Der Korrespondent zog die Tabakdose zu sich heran und drehte sich eine Zigarette. Er drehte sie sich mit großer Sorgfalt, und das feine Reispapier knisterte in seiner geübten Hand; dabei stieg ihm das rote Blut unter dem Hemdkragen empor und verbreitete sich, stärker an den Höhlungen und wieder schwächer an den Backenknochen, immer mehr über seine Wangen, bis sein Gesicht flammte.

»Das ist gut! Und vielleicht erübrigt sich dadurch, daß ich meine Finger mit einer ekelhaften Arbeit beschmutze. Vincent, das Mädel, das jetzt ausgewachsen ist, schläft diese Nacht in Dawson. Gott helfe uns, Ihnen und mir. Aber wir werden nie unsern Kopf so rein und unbeschmutzt wie sie auf das Kissen legen können. Vincent, ich will Ihnen einen vernünftigen Rat geben, strecken Sie nie die Hand nach ihr aus, weder mit noch ohne Segen der Kirche.

Sie sind mir unsympathisch. Meine Gründe behalte ich für mich, die sind ja auch einerlei. Aber hören Sie jetzt, was ich sage: Wenn Sie je so töricht sein sollten, sie zu Ihrer Frau zu machen, so werden Sie nie das Ende des verfluchten Tages sehen oder sich über den Anblick Ihres Brautbettes freuen. Mensch, ich könnte Sie mit meinen bloßen Fäusten erschlagen, wenn es nötig wäre. Aber ich hoffe, daß ich es ein wenig eleganter tue. Seien Sie ganz ruhig – das verspreche ich Ihnen.«

»Du irisches Schwein!« Ganz plötzlich war in St. Vincent der Teufel wach geworden.

McCarthy sah plötzlich in den Lauf eines Revolvers hinein. »Ist er geladen?« fragte er ruhig.

»Gewiß«, sagte St. Vincent zornig.

»Ich glaube Ihnen. Aber worauf warten Sie. Drücken Sie ab, hören Sie.«

Der Finger, der abdrücken sollte, bewegte sich, und ein verdächtiges Klicken ertönte.

»So ziehen Sie durch. Ziehen Sie durch! sage ich. Als ob Sie das könnten, bei dem Flackern in Ihren Augen.«

St. Vincent versuchte den Kopf abzuwenden.

»Sehen Sie mich an, Mann!« kommandierte McCarthy. »Sehen Sie mir in die Augen, wenn Sie es tun.« Wider Willen mußte der Korrespondent den Kopf wieder drehen, so daß seine Augen denen des Irländers begegneten. »Jetzt!«

Zähneknirschend drückte St. Vincent ab – wenigstens glaubte er es zu tun. Sein Wille war bereit und gab den Befehl, aber die Angst in seiner Seele hielt ihn zurück.

»Wohl gelähmt, der arme, kleine, zitternde Finger, was?« grinste Matt dem gepeinigten Mann ins Gesicht. »Dann dreh ihn jetzt nach der anderen Seite, so, und leg ihn weg, vorsichtig . . . vorsichtig . . . vorsichtig.« Seine Stimme wurde zu einem knurrenden, beruhigenden Flüstern.

St. Vincent ließ den Drücker los, der Revolver glitt ihm aus der Hand, und mit einem kaum hörbaren Seufzer sank er kraftlos auf einen Stuhl. Er versuchte sich aufzurichten, fiel aber statt dessen mit dem Oberkörper auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den zitternden Händen. Matt zog sich die Fäustlinge an, warf ihm einen mitleidigen Blick zu, ging dann und schloß vorsichtig die Tür hinter sich.

 


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