Jack London
An der weißen Grenze
Jack London

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Jacob Welse half seinem Gast in den Pelz und sprach beim Abschiednehmen:

»Dann sind wir uns also einig, Kapitän, daß wir den Ernst der Situation energisch übertreiben wollen! Sie ist ernst genug; wir zwei wollen verhindern, daß alles noch schlimmer wird. Sie und ich, wir sind beide schon mit Hungersnöten fertig geworden; man muß der Gefahr nur rechtzeitig ins Auge sehen. Die Leute sollen Angst kriegen, jetzt schon, nicht erst, wenn es zu spät ist. Sorgen Sie dafür, daß fünftausend Mann Dawson verlassen, lassen Sie diese Fünftausend weit und breit von der drohenden Hungersnot erzählen, damit verhindern wir andere Fünftausend, über das Eis zu uns herüberzukommen.«

»Sie können mit der Hilfe der Polizei rechnen, Herr Welse.«

Der Kapitän war ein untersetzter Mann mit ergrauenden Haaren und militärischer Haltung.

»Sie haben es ja schon so weit gebracht, daß die Chechaquos ihre Ausrüstung verkaufen und sich nach Hunden umsehen. Sobald das Eis trägt, haben wir eine richtige Auswanderung! Wer jetzt seinen Proviant verkauft und fortzieht, macht uns das Leben um einen leeren Magen leichter und füttert zugleich einen Mann, der hierbleibt. Wann geht die ›Laura‹ ab?«

»Heut morgen mit dreihundert Mann an Bord! Ich wollte, es wären dreitausend!«

»Gott erhöre Ihr Gebet! Im übrigen, wann kommt Ihre Tochter an?«

Bei diesem Thema wurden Jacob Welses Augen warm.

»Sie kann jede Stunde eintreffen. Wenn sie erst da ist, müssen Sie oft zum Essen zu uns kommen und ein paar nette Jungens aus den Baracken mitbringen. Ich kenne nicht all die Namen, aber sagen Sie jedem, den Sie einführen wollen, daß die Einladung von mir persönlich komme. Ich hatte ja nie viel Zeit für Gesellschaft, aber sorgen Sie ein bißchen dafür, daß das Mädel sich amüsiert. Sie kommt geradeswegs aus den Staaten und aus London und soll sich hier nicht ganz vereinsamt fühlen.«

Die Tür ging auf.

»Herr Foster läßt fragen, ob er weiter Lieferscheine ausfüllen soll?«

»Jawohl, Herr Smith. Aber er soll alles auf die Hälfte herabsetzen. Wer einen Schein auf tausend Pfund hat, bekommt nur für fünfhundert Ware.«

»Jawohl, Herr Welse.«

Dann kam ein anderer Angestellter.

»Kapitän McGregor möchte mit Ihnen sprechen.«

»Herein mit ihm!«

Man sah es dem Schiffskapitän an, daß er von Kind an die rauhe Hand der neuen Welt gespürt hatte. Sie hatte ihn hart geknetet, aber sein grimmiges Gesicht sprach von unbestechlicher Ehrlichkeit, und zugleich sah man ihm an, daß mit ihm nicht gut Kirschen essen war. Sein breit vorstehendes Boxerkinn, die gebrochene schiefe Nase und eine große Narbe, die quer über seine Stirn lief, bewiesen, wie oft er seinen Mann gestanden hatte.

»In einer Stunde werfen wir los, Herr Welse. Bitte Ihre letzten Orders.«

»Schön, Kapitän. Ich habe diesen Winter eine andere Verwendung für Sie im Auge, aber leider müssen Sie jetzt doch mit der ›Laura‹ fahren. Können Sie raten, warum?«

»Es wird Krach geben«, sagte Kapitän McGregor, und um die Runzeln seiner Schläfen spielte so etwas wie Lächeln.

»Jedenfalls eine Aufgabe, für die es keinen besseren Mann gibt als Sie. Bally wird Ihnen noch genaue Instruktionen geben. Aber soviel kann ich Ihnen gleich sagen: wir müssen den Leuten solche Angst machen, daß sie aus dem Lande verschwinden, sonst wird in Fort Yukon bald jedes Pfund Proviant mit Gold aufgewogen. Verstanden?«

»Jawohl!«

»Also keine Verschwendung dulden. Zunächst nehmen Sie dreihundert Mann mit flußabwärts, wahrscheinlich kommen doppelt so viele nach, sobald das Eis trägt. Sie werden den Winter über tausend Mäuler durchzufüttern haben. Setzen Sie alle auf Rationen und sorgen Sie dafür, daß gearbeitet wird. Brennholz sechs Dollar den Klafter. Lassen Sie es am Ufer aufstapeln, wo der Dampfer anlegen kann. Wer nicht arbeitet, bekommt nichts zu essen. Verstanden?«

»Jawohl!«

»Tausend Mann können unangenehm werden, wenn sie müßig gehen. Können sogar sehr unangenehm werden. Passen Sie auf, daß sie die Depots nicht stürmen. Geschieht etwas dergleichen, dann kennen Sie Ihre Pflicht.«

Der Kapitän nickte grimmig.

»Fünf Dampfer stecken im Eis. Sie haben dafür zu sorgen, daß sie in Ordnung sind, wenn im Frühling das Eis aufbricht. Aber zuerst schaffen Sie alle Ladungen in ein großes Depot. Das können Sie leichter verteidigen. Machen Sie das Depot wasserdicht. Suchen Sie sich die rechten Leute heraus, die mit einem Gewehr umgehen können. Vergessen Sie nicht: wenn es hart auf hart geht, hat der gewonnen, der zuerst schießt.«

Als der Kapitän wegtrat, wurde Herr John Melton gemeldet, aber er folgte dem Kontoristen auf den Fersen, um nicht abgewiesen zu werden. Er schnaufte wie ein zorniges Nashorn und hielt dem Chef der Kompanie ein Papier vor die Nase.

»Lesen Sie das! Was soll das bedeuten, zum Henker?«

Jacob Welse warf einen Blick auf das Papier.

»Tausend Pfund Proviant.«

»Na also! Sagt mir der Kerl im Speicher, es gilt nur für fünfhundert!«

»Das stimmt.«

»Aber . . .«

»Es lautet auf tausend Pfund, aber wir können nur fünfhundert darauf liefern.«

»Ist das Ihre Unterschrift hier? Ist das, schwarz auf weiß, Ihr Name?«

»Ja.«

»Also, was werden Sie tun?«

»Ihnen fünfhundert geben. Und was werden Sie tun?«

»Die Annahme verweigern.«

»Gut. Dann brauchen wir nicht weiter zu reden.«

»Doch! Dann will ich Ihnen noch sagen, daß wir beide geschiedene Leute sind. Ich bin reich genug, um mein Gepäck selbst über die Pässe zu verfrachten, und das werde ich nächstes Jahr tun. Schluß mit Ihnen.«

»Dagegen kann ich nichts machen. Sie haben dreihunderttausend Dollar in Goldstaub bei mir stehen. Gehen Sie an die Kasse, und lassen Sie sie sich auszahlen.«

Melton ging in ohnmächtiger Wut auf und ab.

»Herrgott, Mann! Ich hab' doch für das Ganze bezahlt. Wollen Sie mich etwa verhungern lassen?«

»Hören Sie zu, Melton.« Jacob Welse machte eine Pause. Dann fragte er langsam: »Worum handelt es sich in diesem Augenblick? Was verlangen Sie?«

»Meine tausend Pfund Proviant!«

»Für Ihren eigenen Magen?«

Der Minenkönig nickte.

»Sehen Sie, Melton, Sie arbeiten für Ihren eigenen Magen und verlieren die Nerven wie ein Chechaquo. Ich arbeite für zwanzigtausend Mägen!«

»Aber Timm Reddy haben Sie noch gestern ohne Zögern für tausend Pfund gegeben!«

»Die Rationierung ist erst heute in Kraft getreten.«

»Aber warum soll gerade ich darunter leiden?«

»Weil Sie erst heute gekommen sind und Timm Reddy gestern.«

Jacob Welse sah in Meltons verständnisloses Gesicht und zuckte die Achseln.

»Es wird keiner vorgezogen. Ob Sie eine lumpige Aktie von den Bonanza-Minen oder ein dickes Paket Aktien haben, das gibt Ihnen kein Anrecht auf ein einziges Pfund mehr Futter, als der älteste, ärmste Arbeiter oder der kleinste Säugling bekommt. Hungern werden Sie nicht, solange ich die Zügel führe. Das verspreche ich Ihnen. Mehr verspreche ich Ihnen aber nicht. So, alter Freund, und jetzt geben Sie mir die Hand, und damit Schluß.«

Nach dem Bonanza-König kam ein schlottriger Yankee hereingeschlurft, angelte mit dem in einem Mokassin steckenden Fuß einen Stuhl heran und setzte sich vertraulich nieder.

»Hallo, Dave, sind Sie es?«

»Natürlich bin ich's, Welse. Hören Sie, die Geschichte mit dem Proviant hat den Leuten einen Schrecken eingejagt, der ist nicht von schlechten Eltern. Es wird eine tüchtige Abwanderung werden, sobald der Fluß zufriert.«

»Das freut mich zu hören. Wollen Sie mitmachen?«

»Ich? Ich denke nicht dran! Hab' mein Zeugs gestern schon nach der Mine verfrachtet. War auch höchste Zeit. Aber stellen Sie sich vor, Welse, was mit meinem Zucker passiert ist! Hatte den ganzen Vorrat auf dem letzten Schlitten, und gerade der hat den Einfall, durchs Eis zu brechen! Wissen Sie, gerade da, wo der Weg von Klondike nach Bonanza abgabelt. So was ist mir doch noch nicht passiert, der allerletzte Schlitten und all mein Zucker! Deshalb bin ich jetzt hier. Hundert Pfund oder so müssen Sie mir geben. Weißen oder braunen – es kommt nicht drauf an.«

Jacob Welse schüttelte lächelnd den Kopf, Dave Harney rückte seinen Stuhl noch näher an ihn heran.

»Ihr Kommis draußen sagt, es hätte keinen Zweck, ihn zu plagen. Schön, sage ich, dann schau' ich selbst mal beim Chef herein. Sie können meinetwegen doppelte Preise nehmen . . . ich zahle.«

Als er die ablehnende Haltung Welses spürte, wurde er immer dringlicher.

»Erinnern Sie sich an die Bonbons, die ich Ihnen damals am Preacher-Creek gemacht habe? Ja, das ist auch schon wieder sechs Jahre her. Herrgott, wie die Zeit läuft! Wenn nicht mehr, ich glaube sogar sieben! Also, Sie wissen doch: eher kann ich auf Tabak und Schnaps verzichten als auf meinen Süßkram. Ich kann einfach nicht! Es ist ein schrecklicher Zustand. Heraus mit dem Zucker, Welse! Meine Hunde stehen draußen, Sie fahren gleich mit mir nach dem Speicher! Famose Idee, was?«

»Nein.«

»Ich will ja nicht happig sein, Welse. Wenn Sie knapp sind, will ich mich mit 75 begnügen. Welse, Welse . . . geben Sie mir nur fünfzig! Ich verstehe Ihre Lage, ich bin ja nicht der Mann, der einen anderen Mann quält.«

»Nicht soviel Worte, Dave! Wir haben nicht ein einziges Pfund Zucker übrig!«

»Ich bin doch kein Gierschlund, geben Sie mir fünfundzwanzig!«

»Keine Unze!«

»Also dann vergessen Sie, daß ich Sie überhaupt um Zucker gebeten habe. Nur keinen Streit. Ich komme wieder, wenn Sie besserer Laune sind.«

Er überlegte, wie er diese bessere Laune herbeiführen könnte.

»Hören Sie das Pfeifen von der ›Laura‹? Sie geht gleich ab. Kommen Sie mit.«

Jacob Welse zog sich Pelz und Fausthandschuhe an, und sie gingen zusammen durch eine lange Reihe von Kontoren in den Laden. Wohl zweihundert Käufer standen vor den Theken, aber der Raum war so groß, daß sie kein Gedränge verursachten. Alle Gesichter waren ernst, viele sahen den Chef des Hauses wütend an. Alles wurde verkauft, nur keine Lebensmittel! Und gerade Lebensmittel brauchten sie.

»Preistreiberei, das Ganze! Wenn die Hungerpreise erst erreicht sind, wird die Ware schon auf den Markt kommen!« sagte laut ein rotbärtiger Goldgräber. Jacob Welse hörte es, aber er nahm keine Notiz davon. Das würde er noch oft und in viel gröberem Ton hören, ehe die Krise vorüber war.

Auf dem Bürgersteig blieb er stehen und las die Mitteilungen, die vor seinem Hause angeschlagen waren. Entlaufene Hunde, zugelaufene Hunde, verkäufliche Hunde, vor allem Verkaufsanzeigen für Ausrüstungen. Proviant von fünfhundert Pfund Gewicht wurde zu einem Dollar das Pfund angeboten – den Ängstlichen war der Schreck schon in die Glieder gefahren! Welse sah Melton im Gespräch mit einem besorgten Neuling. Die zufriedene Miene des Bonanza-Königs bewies, daß es ihm schon geglückt war, sein Depot für den Winter zu ergänzen.

»Warum versuchen Sie nicht hier, Zucker aufzutreiben, Dave?«

»Glauben Sie vielleicht, ich hätte es nicht versucht? Von Klondike City bis zum Hospital haben meine Hunde sich fast die Beine abgelaufen. Es gibt nichts, nicht für Geld und nicht für gute Worte.«

Sie gingen die Straße entlang, an den Speichertüren und an wartenden Hundegespannen vorbei. Die Tiere hatten sich wie Wölfe im Schnee zusammengerollt. Auf diesen Schnee, den ersten des Jahres, hatten die Goldgräber am Fluß gewartet, ehe sie anfingen, Proviant einzukaufen.

»Ist das nicht lächerlich?« fing Dave an. »Da hab' ich also meine fünfhundert Fuß Goldland am Eldorado und noch was dazu und bin mindestens meine fünf Millionen schwer und kann nicht eine Handvoll Zucker für meinen Kaffee oder meine Grütze kriegen! Jetzt hab' ich's satt! Soll das ganze Land zum Teufel geben! Ich verkaufe! Ich mache Schluß. Ich geh' nach den Staaten zurück!«

»Ich hab' Sie am Stuartfluß ein ganzes Jahr lang schieres Fleisch essen sehen, und am Tanana haben Sie Lachseingeweide gefressen, wenn ich mich recht erinnere auch Hundefleisch. Sie sind damals nicht weggereist und werden auch diesmal nicht reisen. So gewiß, wie die ›Laura‹ jetzt den Anker aufholt, so gewiß werden Sie hier sterben, Dave. Eines schönen Tages werde ich Sie in einer meiner vorzüglichen Bleikisten verschiffen, und mein Kontor in San Franzisko wird Ihren Nachlaß regeln. Sie hängen hier fest, das wissen Sie so gut wie ich.«

Während er sprach, mußte er fortwährend Grüße der Vorübergehenden erwidern.

»Wetten, daß ich 1900 in Paris bin!« protestierte der Eldorado-König.

Mit hallenden Glocken grüßte Kapitän McGregor aus dem Steuerhäuschen seinen Reeder. Die ›Laura‹ löste sich vom Ufer. Die Zurückbleibenden winkten mit den Mützen und riefen Reisegrüße, aber die dreihundert Proviantlosen an Bord, die ihrem Traum von Gold den Rücken kehrten, antworteten nicht. Die ›Laura‹ backte durch eine Rinne, die in den Eisrand geschnitten war, hinaus, schwang sich dann in die Strömung, stieß einen letzten schreienden Pfiff aus und fuhr mit Volldampf davon. Nur ein Dutzend Leute blieb an der Brücke zurück, im Kreise um Jacob Welse. Man sprach von der Hungersnot, aber im Ton von Männern. Sogar Dave Harney hörte auf, sein besonders gräßliches Los zu verfluchen. Mitten in diesem Gespräch fiel Welses Blick auf einen schwarzen Punkt, der zwischen Treibeis den Fluß herabkam.

»Das ist ja ein Kanu!« rief einer. »Verflucht kitzlige Fahrt!«

Sich drehend und wendend, bald gerudert, bald nur von der Strömung getrieben, kam das Kanu näher. Man erkannte zwei Männer, die es steuerten und beide Hände voll zu tun hatten, um sich die Schollen fernzuhalten. Sie gewannen glücklich das Randeis und ließen sich längs treiben, in der Hoffnung, eine Öffnung zu finden. Dicht vor dem Kanal, der für den Dampfer ins Eis gehauen war, stemmten sie ihre Paddeln tief in die Flut und schossen in den toten Wasserarm.

Viele Hände streckten sich ihnen entgegen, man half ihnen ans Ufer und zog das Boot aufs Trockne. Zwei Postsäcke lagen darin, ein paar Decken, ein schlaffer Proviantsack. Die Männer waren so erfroren, daß sie kaum auf den Füßen stehen konnten.

»Vorwärts, einen heißen Whiskygrog!« schlug Dave Harney vor und wollte gleich mit ihnen losziehen. Aber einer der Männer nahm sich noch Zeit, Jacob Welses Hand zwischen seine froststeifen Tatzen zu nehmen.

»Sie kommt!« sagte er. »Vor einer Stunde haben wir ihr Boot überholt. Sie kann jede Minute um die Ecke kommen. Die Post bringe ich Ihnen später. Erst muß ich was in den Leib kriegen.«

Im Abmarschieren drehte er sich noch einmal um und wies auf den Strom.

»Da ist sie schon! Gerade beim Vorgebirge.«

Von Klondike trieb jetzt eben eine schwere Eismasse in den Hauptstrom hinaus und jagte das Boot aus seiner Fahrt. Man konnte deutlich beobachten, wie die Ruderer mit verzweifelter Anstrengung durch die Schollen stakten, vier Leute standen aufrecht und kämpften um ihr Leben. Dann erkannte man eine dünne Säule blauen Rauches, die aus einem Bord-Öfchen emporstieg, und als das Boot näher kam, sah man, daß das lange Steuerruder von einer Frau geführt wurde. Jacob Welses Augen leuchteten auf: das war seine Tochter! Auf allen Schulen und Hochschulen drüben in der Zivilisation war sie eine Welse geblieben, die Lust an der Gefahr hatte und mit den Eisschollen kämpfte.

Von Reif bedeckt, vielfach beschädigt, stieß das Boot an den Rand des Ufereises. Ein weißer Mann sprang heraus, die Fangleine in der Hand, um das Fahrzeug in die Rinne zu bugsieren. Aber das Ufereis war noch zu dünn, er brach ein. Der Bug des Bootes scherte unter dem Druck einer schweren Eisscholle aus, der Mann tauchte unter dem Stern wieder auf. Die Frau warf sich halben Leibes über die Reling und griff ihn am Kragen.

»Zurück das Boot!« befahl sie mit klarer Stimme den rudernden Indianern. Während sie den Kopf des Mannes über Wasser hielt, warf sie sich mit aller Kraft gegen den Steuerriemen und zwang das Boot in die Rinne. Noch ein paar Ruderschläge, dann stieß es gegen den Uferrand. Dave Harney zog den zähneklappernden Mann aus der eisigen Flut und schickte ihn dem Postboten nach, dorthin, wo es Wärme und heißen Whiskygrog gab.

»Hallo, Vater?«

»Hallo, Frona?«

Welse wußte nicht, ob er das junge Mädchen in den Arm nehmen, oder ob er ihr nur die Hand reichen sollte, um ihr an Land zu helfen. Wie benahm man sich als Vater gegen eine zwanzigjährige Dame? Aber sie war schon herübergesprungen, und während die Männer sich wie auf Befehl nach einer anderen Seite kehrten, fiel sie ihm einfach um den Hals: »Du lieber Daddy!«

Dann stellte Jacob Welse vor: »Meine Tochter!«

Frona grüßte wie ein alter Goldsucher, der zufällig ein junges Mädchen ist, und jeder einzelne hatte das Gefühl, daß ihre Augen gerade in die seinen geblickt hatten.

 

Vance Corliss hatte dummerweise keinen Photographenapparat mit ins Land geschleppt, sonst hätte er sich jetzt die Zeit damit vertreiben können, Aufnahmen von Frona zu entwickeln und ihre Bilder an die Wand seines Zeltes zu hängen. Aber trotzdem sah er sie immer vor sich, so wie sie ausgesehen hatte, als sie ihm zum Abschied winkte: im flammenden Sonnenlicht vor einer dunklen Felswand, eine strahlende junge Gestalt, lächelnd wie der Morgen und in einem Rahmen von funkelndem Gold. Es wich nicht von ihm, dies Bild, aber immer leidenschaftlicher wurde sein Wunsch, das junge Mädchen in Wirklichkeit wiederzusehen, mit dem er seine Decken geteilt hatte. Sie war neu in seinem Leben, sie glich keiner Frau, der er je begegnet war.

Hinter ihm lag eine wohlbehütete Jugend. Immer hatte er in warmen und gut gelüfteten Zimmern gehaust, immer hatte er in Sonnenschein gebadet, wenn das Wetter schön war, und unter trockenem Dach gesessen, wenn es regnete. Als er alt genug geworden war, einen Beruf zu wählen, hatte er sich brav an die Arbeit gemacht und war auf dem geraden Wege geblieben. Das Ergebnis: ein wohlerzogener, netter junger Mann, über dessen Erscheinen sich die Mütter aller jungen Mädchen freuten, ein kräftiger und gesunder junger Mann, der seine Nervenkraft nicht vergeudet hatte; ein sehr gelehrter junger Mann, der sein Examen als Mineningenieur in Deutschland und ein zweites Examen an der Yale-Universität glänzend bestanden hatte; vor allem ein sehr selbstbewußter junger Mann.

Trotz alledem war Corliss in seiner Lebensform nicht erstarrt. Eines Tages erwachte auch in ihm, der in jungen Jahren schon ein gesättigter Bürger schien, die Unrast seiner Väter, die einst von Europa her als Abenteurer in die Neue Welt gezogen waren. Bei aller Gelehrtheit, aller Beständigkeit, war diese Unrast vielleicht Vances bester Besitz. Sie hatte ihn jetzt nach Alaska geführt, und als Fronas Bild lange genug durch die Winkel seines Zeltes gespukt hatte, in den Sonnenstäubchen bei Tag und im Flackern des Öfchens bei Nacht, hatte sie ihn abermals auf die Beine gebracht.

Den Sack voll Geld, hatte er sich aufgemacht, um Frona einzuholen, über den Paß und dann weiter zu den Seen und Flüssen hinab. Aber so leicht sein Geld die meisten Hindernisse überwand . . . Frona reiste unter dem Namen Welse, und der galt mehr als Reichtümer. So kam es, daß sie trotz allem vierzehn Tage früher als er in Dawson eintraf.

Nach seiner Ankunft ließ er ein paar Wochen darüber verstreichen, sich ein Haus zu kaufen, sich niederzulassen und seine Empfehlungsbriefe zu präsentieren. Er wollte Frona nicht wie ein Abenteurer entgegentreten. Als der Fluß zugefroren war, machte er seinen ersten Besuch in Jacob Welses Haus. Frau Sheffield, die Gattin des Goldkommissars und eine der großen Damen von Klondike, gab sich die Ehre, ihn einzuführen.

Vance zupfte sich an der Nase . . . das gab es also in Klondike! Ein Haus mit Dampfheizung, schweren Portieren zwischen Vorraum und Empfangszimmer . . . und ein Empfangszimmer, das jedem Haus in der Fünften Avenue Ehre gemacht hätte! Seine elchledernen Mokassins glitten über tiefe, weiche Teppiche. Mächtige Tannenscheite prasselten in zwei holländischen Kaminen. Auch ein Flügel war da, und jemand sang.

Frona sprang vom Klavierschemel auf und streckte ihm beide Hände entgegen. Ihr Bild im Sonnenschein war vollkommen gewesen, aber jetzt im flackernden Schein des Feuers wirkte sie noch stärker. Als er ihre Hände in den seinen hielt, stieg ihm das Blut unerklärlich heftig zu Kopfe, und er bekam einen Schwindelanfall.

»Sie kennen sich schon?!« rief Frau Sheffield erstaunt.

»Wir haben uns auf dem Wege von Dyea getroffen«, antwortete Frona. »Wenn man sich auf diesem Wege begegnet ist, vergißt man einander nie.«

»Nein, wie romantisch!« strahlte Frau Sheffield. »Hat er Ihnen das Leben gerettet oder so etwas? Es sieht doch ganz danach aus! Und Sie haben mir kein Wort davon gesagt, Herr Corliss! Erzählt doch endlich, ich sterbe vor Neugier.«

Frona antwortete: »Er hat mir Gastfreundschaft erwiesen, das ist genug. Seine Bratkartoffeln sind erster Klasse, und sein Kaffee ist fabelhaft . . . wenn man sehr hungrig ist.«

Dann wurde Vance einem gutgewachsenen Leutnant der berittenen Polizei vorgestellt, der am Kamin stand und mit einem lebhaften kleinen Mann das ewige Verpflegungsproblem erörterte.

Es war eine richtige Gesellschaft, ein Fünfuhrtee mit Musik. Der Tee wurde aus chinesischem Porzellan getrunken, lauter wohlgekleidete Leute in weißen Hemden und mit steifen Kragen standen in Gruppen beisammen. Vance fand sich sofort in die gewohnte Atmosphäre und bewegte sich sicher von Gespräch zu Gespräch, sehr zum Neid von Del Bishop, der stocksteif in dem ersten Stuhl klebte, auf den er gestoßen war, und der sich sehr unglücklich fühlte. Er hatte sich nur auf eine Minute hereingewagt, um »Hallo, Miß Frona!« zu sagen, und saß jetzt wie eine Ratte in der Falle. Wie kam man aus einer so vornehmen Gesellschaft wieder heraus? Wieviel Schritte brauchte man, um zur Tür zu kommen? Wie verabschiedete man sich? Gab man reihum die Hand oder verbeugte man sich nur vor Miß Frona? Er war entschlossen, sich nicht vom Platze zu rühren, bis einer der Herren ihm den Abschied vormachte.

Vance hatte den Goldgräber sofort wiedererkannt, obwohl er ihn nur eine Sekunde lang durch seine Zeltöffnung in Happy Camp gesehen hatte. Das war der Mann, dem er es verdankte, daß Fräulein Frona für jene eine Nacht ohne Unterkunft war . . . Ein braver Mann, der im richtigen Augenblick selbst den Weg verloren hatte.

Bald zog Dave Harney, der Bonanza-König, Vance ins Gespräch. Er fühlte sich verpflichtet, hier so aufzutreten, wie es seinen Millionen entsprach, und obwohl er sein ganzes Leben lang nur die Gastfreundschaft des offenen Zeltes gekannt hatte, bei Fleischtöpfen, in die jeder hineingriff, machte es ihm Freude, einmal im Leben den Salonhelden zu spielen. Wie ein richtiger König hielt er Cercle, indem er an jeden, der ihm in die Quere kam, ein paar huldvolle Worte richtete, meist törichte Fragen, auf die es keine Antwort gab. Dabei sah er verliebt in einen Spiegel, denn so in der Verkleidung eines Stadtherrn hatte er sich selten gesehen. Frona hatte in diesen wenigen Wochen merkwürdige Verheerungen in Dawson angerichtet.

Den Höhepunkt des Nachmittags schuf Harney, als er Frona bat, das rührende Lied »Für dich hab' ich mein Heim verlassen . . .« zu singen. Sie kannte es nicht; er ließ sich herbei, ihr die ersten Takte vorzusummen, so daß sie ihn nur zu begleiten brauchte. Dann riß eine Erinnerung an die Jugend ihn hin, er stimmte seinen gewaltigen Baß, der keineswegs wohlklingend war, und tremolierte die rührendsten Stellen, daß es eine Katze erbarmt hätte. Del Bishop, der sich dieser Seele verwandt fühlte, brummte den Refrain mit. Es war ein erhebender Vortrag. Bishop fand endlich den Mut, sich von seinem Stuhl zu erheben und allen Leuten auf die Schulter zu schlagen.

Er kam spät nach Hause und weckte seinen Zeltgenossen: »Großartig war das bei Welses! Das nächste Mal nehme ich dich mit, alter Junge! Also, so gut habe ich mich im Leben noch nicht amüsiert.«

Als Vance sich verabschiedete, flüsterte Frona ihm zu: »Es ist zu dumm, keine drei Worte haben wir miteinander gesprochen . . .«

 

Nicht ohne Kampf hatte Vance Corliss sich von der Kultur getrennt, in der er aufgewachsen war, als ein ehrenvoller und glänzend bezahlter Posten im wilden Alaska ihn abrief. Jetzt fand er bei Frona etwas von dem Verlorenen wieder. Sie war eine Frau, die in seinen Kreisen und mit seinen geistigen Interessen gelebt hatte. Zugleich aber spürte er aus ihrem Wesen einen reinen, scharfen Duft wie von frischer Erde. Sie hatte studiert, aber sie war kein Blaustrumpf geworden, sondern noch tief verwachsen mit dem Boden, dem sie entsprossen war. Keine Frau auf Erden hätte wie sie die Brücke sein können, die Corliss mit dieser Fremde verband; keine andere hätte es vermocht, ihm die Tage in dieser Verbannung voll und schön zu machen. Wie in ihrer persönlichen Atmosphäre, so fand er auch in ihrem Haus alles, wonach er sich in seiner kahlen Zelle sehnte. Er reiste gern – denn er war jung und abenteuerfroh – mit dem Hundegespann und dem braven Burschen Bishop, den er in seinen Dienst genommen hatte, tief in das Land hinein, kampierte, wie nur irgendein Goldgräber, im Zelt, am Lagerfeuer, aß seinen gebratenen Speck dreimal am Tag und schützte sich die Haut mit Fischtran gegen Gletscherbrand. Aber es war herrlich, in solchen Nächten, wenn die groben, oft zotigen Goldgräberwitze, immer dieselben, erzählt wurden, wenn man seinen Whiskytee aus Blechschalen trank und tage- oder wochenlang keinen Tropfen Wasser an den Körper bekam, still von einem Zimmer zu träumen wie Fronas Empfangsraum. Von den weichen Teppichen, den herrlichen Bildern, dem Flügel und einer jungen Dame, deren kultivierte Persönlichkeit diesen ganzen Raum durchdrang.

Fronas einziger Fehler war in Vances Augen ihr burschikoses Wesen. Aber wenn sie dann lachte und sich an seiner Beschämung weidete, empfand er, daß dies alles eine Art Verkleidung war, die sie gewählt hatte, um zu fühlen, wie sehr er sie verehrte. Prüde war sie nicht, aber was er weibliches Schamgefühl nannte und nicht missen konnte, besaß sie, wie seine Mutter es besessen hatte, und auch in der steten Umgebung der rauhesten Männer würde sie es nie verlieren.

Er liebte das Flammen ihres Haares in der Sonne, sein goldenes Funkeln am Kaminfeuer. Er liebte ihren Mund und ihre Wangen. Er liebte ihre zierliche Gestalt mit den federnden Muskeln und war glücklich, wenn er neben ihr gehen durfte, wenn sie ihre Schritte den seinen anpaßte. Alles an ihr liebte er.

 

In der Bar, wo es hoch herging, saß Vance Corliss mit Oberst Trethaway zusammen, und mitten im Tohuwabohu trinkender, spielender, singender Männer führten sie ein ernstes Gespräch über wichtige Fragen ihres Berufs. Der Oberst sah mit sechzig Jahren und schlohweißem Haar noch wie ein junger Mann aus. Seine Augen strahlten im klarsten Blau, seine Bewegungen waren voll von jugendlichem Temperament, und sein Geist arbeitete exakt, stets bedient von einem unfehlbaren Gedächtnis. Trethaway war ein alter Mineningenieur und vertrat in Alaska ebenso große amerikanische Interessen wie Corliss englische. Die beiden Männer waren einander in Freundschaft zugetan, und das kam auch ihren Geschäften zugute.

Die Männer ringsherum, es waren wohl hundert, trugen Pelze und Wollzeug. Sie bliesen so viel schweren Tabak in die Luft, daß der Schein von Petroleumlampen und Talglichtern die Wolken kaum durchdrang. Aus mächtigen Öfen prasselte rote und weiße Glut; es war ein richtiges Goldgräber-Eldorado.

Was es an Weiblichkeit in diesem Eldorado gab, Tingeltangelsterne und Artistinnen, wie Vance sie nannte, war stark gefragt. Rasten durfte keines von den armen Mädchen; aus einem Arm in den andern gerissen, tanzten sie viele, viele Stunden lang auf dem hölzernen Podium, und der Klavierspieler trommelte sich fast den Atem aus den Lungen. Beim Tanz flatterten den Männern Ohrenklappen mit bunten Quasten von den Wolfs- und Biberfellmützen um die Köpfe. Sie gingen in weichen Mokassins, aber die Mädchen trugen dünne Ballschuhe aus Atlas oder Seide, und manche hatten Abendkleider an, wie man sie auch in jedem Ballsaal der zivilisiertesten Welt zeigen konnte.

Im Hauptraum der Bar wurde nur Whisky und Bier getrunken, aber aus einem Nachbarzimmer hörte man das Knallen von Sektpfropfen und das Klirren zarter Kelche, zugleich das Gerassel von beinernen Spielmarken, das Schnurren der Roulette. An manchen Abenden wurden viele Zehntausende Dollars in Goldstaub dort umgesetzt, denn ein Mann, der viele harte Monate im verkrusteten Schlamm gewühlt und einen guten Fund gemacht hat, tobt sich gern bei Spiel, Champagner und Mädels aus.

Als Oberst Trethaway und Vance an den Bartisch traten, um sich die Gläser wieder füllen zu lassen, trafen sie dort auf ein neues Gesicht, das nicht zu übersehen war. Es war ein ungewöhnlich stattlicher und intelligent aussehender Bursche mit einer Wolfsfellmütze. Frauen hätten ihn mindestens hübsch genannt. Auf seinen Wangen glühte eine sympathische Wärme, und aus seinen Augen strahlte eine schöne, sanfte Glut. Der Mann war so aufgeräumt, wie man zur guten Stunde bei guten, starken Getränken nur werden kann. Er führte das große Wort; seine Stimme war ein wenig laut, aber sie klang angenehm. Seine Rede war voll Leben und Witz.

Als er sein Glas hob, passierte es, daß sein Nachbar ihn stieß. Er tat es unabsichtlich, aber so kräftig, daß dem Fremden das Glas entfiel und in Scherben ging. Während er sich den Wein vom Hemd wischte, brummte er ein grobes Wort, das gewiß so wenig böse gemeint war wie zuvor der Stoß, der es hervorgerufen hatte. Aber die Gemüter waren einmal erhitzt, ein »Chechaquo!« fiel nach dem andern, und als das Schimpfen keinen Spaß mehr machte, bekam der Fremde einen Schlag ans Kinn. Er taumelte gegen Vance; der Angreifer stellte sich mit geballten Fäusten vor ihn, um den Raufhandel fortzusetzen, und im Augenblick stand bei jedem der Männer ein Sekundant.

Die Mädchen zogen sich zurück; die Goldgräber hatten im Handumdrehen einen weiten Kreis geschlossen. Oberst Trethaway ernannte sich mit dem Anspruch seiner weißen Haare selbst zum Schiedsrichter, und nun sollte nach allen Gesetzen der edlen Kunst ein Boxkampf vor sich gehen, mehr Sport als Feindschaft.

»Los, gib ihm ein blaues Auge!« wurden die Kämpfer ermutigt, aber der hübsche Bursche in der Wolfsfellmütze und mit den tapferen blauen Augen bot plötzlich ein Bild, das Mitleid erregen konnte. Statt zu kämpfen – und auch ein schlechter Kampf mit fairen Mitteln wäre ihm nicht übelgenommen worden –, duckte er sich, deckte das Gesicht mit beiden Händen, und es war unverkennbar, daß seine Knie bebten.

»So gehen Sie doch in Stellung!« brüllte der Oberst ihn an, aber ebensogut hätte er einen Schneemann zum Boxer gemacht.

Der Gegner hatte vielleicht Mitleid mit dieser armen Seele, aber er durfte sich, nachdem der Ring einmal abgesteckt war, nicht mit einem Scheinkampf begnügen. »Feiglinge! Schlappschwänze!« tönte es schon ringsum, und so landete er einen saftigen Schlag. Corliss wollte sofort eingreifen; er konnte nicht mit ansehen, wie ein völlig wehrloser Mann mißhandelt wurde. Aber der Oberst wies ihn empört aus dem Ring.

»Was denken Sie! Hier habe ich das Kommando!«

Die ganze Angelegenheit sah nur deshalb so brutal aus, weil der Bursche, der mit der Zunge so tapfer gewesen war, sich auch dann nicht zur Wehr setzte, als das Blut ihm schon aus der Nase floß und eines seiner Augen dick verschwollen war. Doch jetzt konnte Corliss sich nicht länger beherrschen. Er warf sich dazwischen und nahm einfach den Angreifer auf sich. Sein Vorstoß kam so unerwartet, daß der Mann sofort zu Boden ging. Im Augenblick zerfiel die ganze Belegschaft der Kneipe in zwei Parteien. So offenkundig es gewesen, daß ein braver Mann gegen einen Feigling stand, waren doch viele der Meinung Vances, man dürfe einen Schwächling nicht zuschanden schlagen, ein Boxkampf müsse zwischen Gleichwertigen geführt werden. Die anderen waren der Meinung, im Ring habe kein Dritter etwas zu suchen. Nun kam eine Schlacht in Gang, in der jeder auf jeden losschlug und keiner nach Regeln fragte. Vance bekam eine steinharte Faust in die Zähne gefeuert und mußte zu Boden, direkt neben den Mann, den er selbst eben zur Strecke gebracht hatte, aber dann machte sich Del Bishop ans Geschäft und mähte mit unwiderstehlichen Fäusten rings um ihn die Luft frei. Del Bishop stand seit kurzem in Vances Diensten, aber wie es im Norden unter weißen Männern ist, war er mehr sein Kamerad als sein Angestellter. Er war vielleicht der beste Mann im Saal, wenn es ans Raufen ging; das kam selten vor, aber wenn er zugriff, tat er es mit Schwung.

Oberst Trethaway vergaß seine sechzig Jahre und sein weißes Haar; er vergaß auch, daß er sich das Amt des Schiedsrichters angemaßt hatte. Statt Ordnung zu schaffen, griff er nach einem Schemel und stürzte sich ins dichteste Gewühl. Zwei dienstfreie Sergeanten von der berittenen Polizei schlossen sich ihm an. Der halb ohnmächtige Mann mit der Wolfsfellmütze, der den ganzen Skandal entfacht hatte, wurde in eine geschützte Ecke gezerrt; und jetzt waren lauter Männer unter sich, die einander mit echter Liebe zur Sache Kinnhaken und Rippengerade wuchteten, die ein zerschmettertes Nasenbein hinnahmen, ohne zu mucksen, und für jeden Schlag, den sie einsteckten, frisch befeuert zwei um so bessere zurückgaben.

Am anderen Ende der Bar wurde immer noch Whisky ausgezapft. Im Nebenraum spielte man wieder zum Tanz auf, und die Roulettespieler ließen sich nicht stören.

Corliss war längst wieder auf die Beine gekommen und drosch Seite an Seite mit Bishop auf fremde Schädel und fremde Gesichter ein, kämpfte aus purer Freude am Kampf mit Leuten, die er nicht kannte, und die ihm nie etwas zuleide getan hatten. Plötzlich geriet er mit einem sehnigen Hundetreiber in den Clinch. Aus dem Schlagwechsel wurde ein Ringkampf; die beiden fielen eng umschlungen zwischen all die stampfenden Füße. Corliss spürte den wütenden Atem seines Gegners im Gesicht, dann zuckte ein scharfer Schmerz durch seine Nerven. Der Mann hatte ihm, in diesem Augenblick mehr Wolf als Mensch, die Zähne in die Ohrmuschel gegraben – er ließ nicht los, noch eine Sekunde, dann hatte Vance kein Ohr mehr . . .

Wie in einer Vision sah er sich plötzlich als ein Gebrandmarkter durchs Leben gehen, ein Herr der Gesellschaft, der Wissenschaft, der bei einer Rauferei sein Ohr verloren hatte – unter den Zähnen eines besessenen Hundetreibers. Das war kein Männerkampf, das war tierische Roheit, gegen die jedes Mittel galt. Aufbrüllend stieß er zwei Finger in die Augen des Wolfsmenschen, bis der Mann vor Schmerz heulte und seine Zähne das Ohr freigaben. Dann lagen sie nebeneinander, fast unbeweglich. Der Kampf tobte über sie weiter, sie wurden mit Füßen getreten, aber das war alles sehr dunkel und fern . . .

Eine halbe Stunde später herrschte wieder tiefer Friede im Goldgräber-Eldorado. Vance lag, von Oberst Trethaway gepflegt und von Del Bishop notdürftig verbunden, in einem ledernen Klubsessel und spülte das geronnene Blut in seinem Mund mit eiskaltem Whisky herunter. Er war vom Kopf bis zu den Füßen zertrampelt und verdroschen, aber es tat ihm nichts weh, wenigstens jetzt noch nicht; er fühlte sich so gehoben, so zufrieden mit sich selbst wie vielleicht noch nie in seinem Leben. Spiel ohne Einsatz ist ein fades Vergnügen, aber er hatte um sein Ohr, um sein gutes Aussehen, um einen Teil seines wertvollen, gesunden, stattlichen Körpers gekämpft, und deshalb war es ein guter Kampf gewesen. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er die Kraft seiner im Sport gestählten Glieder gebraucht, zum erstenmal empfunden, wie Muskel gegen Muskel prallt und das Blut heißer durch die Adern jagt. Er hatte – alle Phasen der Rauferei gingen ihm jetzt erst durch den Sinn – mit einem einzigen Hieb einen Mann zu Boden geschmettert, der gerade einen Steinkrug auf den Schädel des alten Oberst schleudern wollte, und bei dieser Erinnerung durchbebte ihn ungeheure Freude. Ein Hieb, ein einziger Hieb, und der starke Kerl hatte bewegungslos zu seinen Füßen gelegen.

 

Zu viert brachen sie später auf, Corliss, der Oberst, der Mann mit der Wolfsfellmütze und Del Bishop. Schneeklar war die Nacht; vor ihnen lag eine stille, friedliche Straße, und die Luft klirrte von Frost.

»Das war ein Abend! Blut und Schweiß, aber nicht zu wenig!« frohlockte Oberst Trethaway. »Wissen Sie, Corliss, ich bin heute abend wieder um zwanzig Jahre jünger geworden! Geben Sie mir Ihre Hand. Ich gratuliere Ihnen. Von ganzem Herzen! Die Wahrheit in Ehren, Corliss, das hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Es war eine Überraschung für mich, direkt eine Überraschung!«

»Für mich selbst war es auch eine Überraschung«, gestand Vance. Jetzt trat bei ihm der Rückschlag ein. Er fühlte sich plötzlich krank und erbärmlich schwach. »Ich bin mir selbst eine Überraschung gewesen, und vor allem Sie, alter Oberst! Wie Sie mit dem Stuhl losgegangen sind . . .«

»Ich glaube selbst, das hat nicht schlecht ausgesehen. Haben Sie gesehen, so, von oben . . .« Er focht in die Luft, in die kalte, stille, schöne Luft, und das sah so komisch aus, daß alle vier in ein großes, befreiendes Lachen ausbrachen.

»Wem habe ich zu danken, meine Herren?« fragte der Mann mit der Wolfsfellmütze, den Corliss gerettet hatte. »Mein Name ist St. Vincent, Doktor Gregory St. Vincent.«

Dabei streckte er den anderen seine Hand zum Abschiednehmen hin.

»Gregory St. Vincent?« fragte Del Bishop mit plötzlich erwachtem Interesse.

»Jawohl, und der Ihre?«

»Das geht Sie einen Dreck an!«

Dabei schoß Bishops Faust vor, und Gregory St. Vincent stürzte schwer in den Schnee.

»Sind Sie verrückt, Mann?« brüllte Corliss.

»Das Stinktier! Ich hätt's ihm noch besser geben sollen! So ein verfluchter Hundeknochen! . . . Ist schon gut. Lassen Sie mich los. Ich rühr ihn nicht mehr an. Lassen Sie mich. Ich gehe nach Haus. Gute Nacht.«

Als sie Gregory St. Vincent auf die Beine halfen, mußte der Oberst noch einmal lachen. Er schämte sich eigentlich darüber, aber später erklärte er: »Eine Viecherei war es. Aber eben doch so komisch und plötzlich.«

Zunächst machte er sein Lachen wieder gut, indem er es übernahm, Herrn Gregory nach Hause zu schleppen und ins Bett zu legen.

»Hat Sie der Teufel geritten?« fragte Corliss später seinen Mann. »Es war doch alles vorbei; ich glaube, Sie waren verrückt geworden.«

»Habe nichts zu bedauern«, bockte der Goldgräber.

 

Herr Harney? Dave Harney, wenn ich nicht irre?«

Der Bonanza-König nickte, und Herr Gregory St. Vincent wandte sich an Frona.

»Die Welt ist wirklich nicht groß, Fräulein Welse. Denken Sie, Herr Harney und ich sind alte Bekannte.«

Jetzt ging dem Goldkönig ein Licht auf.

»Warten Sie, junger Mann, ich komme schon drauf. Damals waren Sie glatt rasiert. Warten Sie – das war im Jahre sechsundachtzig, dann – Herbst siebenundachtzig, Sommer achtundachtzig – jawohl, damals war es! Im Sommer achtundachtzig kam ich auf meinem Floß den Strom herunter. Ich hatte Elchhäute geladen und hatte es eilig. Aufs Haar wäre mir die ganze Ladung verdorben. Ja, und da kamen Sie in einem Ruderboot vom Lindermansee an. Ich behauptete, es wäre Mittwoch, mein Kamerad sagte Freitag, und Sie behaupteten Sonntag. Jawohl – Sonntag! Stimmt absolut. Vor neun Jahren! Dann haben wir getauscht, Elchbraten gegen Mehl, Backpulver und Zucker! Sakrament, war das eine Freude! Das ist schön, daß wir uns wiedersehen!«

Sie schüttelten einander die Hände, der Alte schlug dem Jungen auf die Schultern.

»Ich habe eine nette kleine Bude oben auf dem Hügel und dann noch eine am Eldorado. Der Schlüssel hängt immer draußen vor der Tür, Sie kommen, wann Sie Lust haben, und bleiben, solange es Ihnen paßt. Meine einzige Bedingung ist: bald! Es tut mir leid, heute muß ich gehen, ich wäre gern noch geblieben.«

»Vor neun Jahren waren Sie schon hier, Herr St. Vincent?« fragte Frona erstaunt. »Erzählen Sie doch, damals war das Land ja noch eine vollkommene Wildnis. Was haben Sie da alles erlebt?«

St. Vincent zuckte die Achseln: »Erlebt? Einen elenden Mißerfolg, das ist alles, was ich erlebt habe. Nichts, worauf man stolz sein könnte.«

»Einen Mißerfolg? Dann müssen Sie doch etwas versucht haben? Was hatten Sie damals für Pläne?«

St. Vincent bemerkte mit Genugtuung, daß Frona sich für ihn interessierte.

»Ich hatte damals die verrückte Idee, möglichst genau auf dem Polarkreis rings um die Welt zu reisen. Im Interesse der Wissenschaft . . . wissen Sie, ich bin Geograph. Es sollte durch Alaska gehen, auf dem Eis über die Beringstraße, dann durch Nordsibirien nach Europa zurück. Eigentlich war es ein prachtvolles Unternehmen, zum größten Teil führte der Weg über damals noch jungfräuliches Land. Aber die Sache ging schief. Über die Beringstraße kam ich gut hinüber, aber in Ostsibirien hatte ich Pech . . . alles wegen Tamerlan, wegen dieses mausetoten Tamerlan, das muß ich zu meiner Entschuldigung sagen.«

»Der reinste Odysseus!« rief Frau Sheffield und klatschte in die Hände. »Ein moderner Odysseus, wie romantisch!«

»Aber geizig mit seinen Abenteuern, das war Odysseus nicht«, widersprach Frona. »Auf einmal stocken Sie, Herr St. Vincent, gerade im spannendsten Moment. Wieso hat Tamerlan Ihre Reise gestört?«

Er lachte und hatte offensichtlich keine Lust, von dieser Expedition zu erzählen. Aber er ließ sich von den neugierigen Frauen bewegen, ein Opfer zu bringen.

»Als Tamerlan mit Feuer und Schwert durch Ostasien zog«, berichtete er, »wurden Länder verwüstet, Städte zerstört und Völker wie Staub in die Winde zerstreut. Ein großes Volk wurde aus dem Lande gejagt; die Schwärme von Menschen suchten auf ihrer Flucht vor der sinnlosen Mordlust des Siegers Zuflucht in Sibirien. Sie bogen nach Norden und Osten ab und bildeten einen Saum von mongolischen Stämmen um das Land am Polarmeer. – Aber jetzt merken Sie, wie langweilig die Geschichte ist, meine Damen?«

»Nein! Nein!« rief Frau Sheffield. »Das ist ja so himmlisch spannend. Und Sie erzählen so lebendig! Es erinnert mich direkt an . . .«

»Also, dann will ich weiter erzählen. Also, ohne diese Mongolenstämme hätte ich meine Reise durchgeführt. Zweifellos! Statt dessen bin ich gezwungen worden, eine fette Prinzessin zu heiraten und in Stammesfehden, beim Renntierstehlen und anderen Eingeborenen-Sports eine Rolle zu spielen.«

»Sie sind ein Held! Ist das nicht himmlisch, Frona? Erzählen Sie mehr vom Renntierstehlen und von der fetten Prinzessin!«

»Die Bevölkerung der Küste bestand aus Eskimos, aus heiteren und gutartigen Menschen. Sie nennen sich selber Ukilions . . . das heißt: Meeresleute. Ich kaufte ihnen Hunde und Proviant ab, wir kamen gut miteinander aus. Aber die Ukilions waren einem Binnenlandstamm untertan, den Tschautschuins . . . das heißt in unserer Sprache: Hirschmenschen Die Tschautschuins sind ein wildes, unbezwingbares Volk, ungezähmt und boshaft. Kaum hatte ich die Küste hinter mir, da überfielen sie mich, nahmen mein Hab und Gut und machten mich zum Sklaven.«

»Waren denn keine Russen da? Soldaten? Polizei?«

»Russen? Unter den Tschautschuins!?« Er lachte. »Geographisch gehörten sie allerdings zum Reiche des weißen Zaren, aber ich bezweifle, daß er je von diesen Untertanen gehört hatte. Vergessen Sie nicht: das Innere von Nordsibirien liegt in der Polarnacht, ein unerforschtes Land. Wenige Europäer sind je dort hingekommen, kaum je einer ist zurückgekehrt.«

»Aber Sie . . .«

»Ich bin zufällig die Ausnahme, mit der sich die Regel bestätigt. Warum ich verschont wurde, weiß ich nicht. Aber es ist eine Tatsache, sonst könnte ich Ihnen nicht davon erzählen. Anfangs wurde ich schrecklich behandelt, von Frauen und Kindern geschlagen, in räudige Felle voller Ungeziefer gekleidet, mit Abfall ernährt. Sie hatten überhaupt kein Herz. Wie ich das überstand, ist mir heute noch ein Rätsel, ich hätte tausendmal Selbstmord begangen, aber es fand sich kein Weg dazu. Dann war ich, infolge von soviel Leiden und Mißhandlungen, ganz vertiert und viel zu schlaff, um mir das Leben zu nehmen. Halbtot vor Hunger und Kälte, verprügelt, daß ich manchmal kaum noch denken konnte . . . nein, damals war ich kein Mensch mehr, und nur der Mensch begeht Selbstmord. Heute scheint mir diese ganze Zeit wie ein gräßlicher Traum. Vieles ist meinem Gedächtnis ganz entfallen. Ich weiß noch dunkel, daß ich, auf einen Schlitten gebunden, von Lager zu Lager geschleppt wurde, eine Art Ausstellungsgegenstand, ein Stückchen zoologischer Garten auf Reisen. Wie weit ich in die Öde vorgedrungen bin, weiß ich nicht, aber es müssen Tausende von Meilen gewesen sein. Als ich wieder zu mir kam und all das hinter mir lag, befand ich mich jedenfalls reichlich zweitausend Kilometer westlich der Stelle, wo sie mich gefangen hatten. Es war Frühling und mir war, als knüpfte ich plötzlich an die Vergangenheit wieder an, auf einmal hatte ich wieder offene Augen.

Ich fand mich, mit einem Riemen ans hintere Ende eines Schlittens festgebunden wie der Affe eines Leierkastenmannes. Ich hielt den Riemen mit beiden Händen, denn er hatte mir schon tiefe Wunden ins Fleisch geschnitten. »Was ist das?« fragten die Hirschmenschen und hielten mir ein Spiel Karten unter die Augen. Das mußte auf merkwürdigen Wegen von weißen Leuten über die Meermenschen zu den Hirschmenschen gekommen sein, wahrscheinlich von Walfischfängern. Nun hatte ich als Schuljunge zum Vergnügen meiner Kameraden Kartenkunststücke und ein bißchen Zaubern gelernt. Die alten Kunstfertigkeiten fielen mir plötzlich wieder ein, und ich kann sagen, daß kein Zauberkünstler auf Erden je ein dankbareres Publikum gefunden hat. Im Augenblick wurde ich von einem Ausstellungsgegenstand, der so wenig galt, daß man ihn verhungern und verkommen ließ, ein Mann von unermeßlicher Bedeutung. Greise und Frauen kamen zu mir, um sich in ihren Nöten Rat zu holen, dann auch die Männer und zuletzt sogar die Häuptlinge. Es kam mir zustatten, daß ich von Medizin und Chirurgie eine Ahnung hatte, und so wurde ich Wundermann. Vor wenigen Wochen noch Sklave, saß ich jetzt unter den Häuptlingen im höchsten Rat, ich wurde das unwidersprechbare Orakel im Kriege wie im Frieden. Dort oben waren Renntiere das einzige Vermögen, ein Tauschmittel wie bei uns das Gold. Mein Stamm beschäftigte sich hauptsächlich damit, Raubzüge gegen die Nachbarstämme zu unternehmen und ihnen die Renntierherden zu stehlen. Ich brachte meinen Leuten neue Kampfmethoden bei, lehrte sie Kriegskunde und Taktik und verhalf ihren Operationen zu einer Stoßkraft, der die Nachbarstämme nicht widerstehen konnten. So war ich zwar ein Herr, fast ein Halbgott, geworden, aber meine Freiheit gewann ich dadurch nicht wieder. Es klingt lächerlich: ich war zu erfolgreich, ich hatte mich unentbehrlich gemacht. Die Hirschmenschen waren jetzt meine Untertanen, aber sie bewachten mich eifersüchtig. Jeder meiner Befehle wurde befolgt, ich konnte kommen und gehen, wie ich wollte. Aber wenn sich Handelskarawanen an der Küste zeigten, mit denen wir Waren tauschten, durfte ich nicht dabei sein. Unter meinen Häuptlingen war ein einziger, Pi-Une, der sich weigerte, mir die mir zustehenden Ehren zu erweisen. Er rüttelte damit an meiner Allmacht, ich fühlte den Thron unter mir wackeln, denn tatsächlich besaß ich nur so weit Macht, wie man mir Glauben schenkte. Ich war, verstehen Sie das, meine Damen, der Aberglaube des Volkes. Wenn einer an mir zweifelte und der Blitz ihn nicht strafte, konnte ich plötzlich die ganze Macht wieder verlieren und da sein, wo ich angefangen hatte. Um Pi-Une zu besänftigen, blieb mir nichts übrig, als seine Tochter Ilswunga zu heiraten. Darauf bestand er. Ich bot ihm an, lieber als gleichberechtigter Mitkaiser neben mir zu herrschen. Aber davon wollte er nichts hören. Und . . .«

»Und? Rascher, rascher . . . so gespannt bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen!« stieß Frau Sheffield hervor.

»Und so heiratete ich Ilswunga – in der Sprache der Tschautschuins heißt das ›die Hindin‹. Arme Ilswunga! Als ich das letztemal von ihr hörte, war sie in der Mission von Irkutsk, legte Patiencen mit jenem Kartenspiel, das mich zum Kaiser gemacht hatte, und wehrte sich tapfer dagegen, je in ihrem Leben ein Bad zu nehmen.«

»Es ist wirklich schon zehn Uhr!« klagte Frau Sheffield, die von ihrem Mann den zehnten leisen Rippenstoß bekommen hatte. »Wie entsetzlich traurig, daß ich nicht weiter zuhören kann, Herr Gregory. Was dann alles noch kam, und wie Sie entronnen sind. Aber Sie müssen mich besuchen. Ich muß das unbedingt zu Ende hören!«

»Und gerade Sie habe ich für einen Chechaquo gehalten«, sagte Frona, als Gregory sich den Kragen hochschlug und die Ohrenklappen festband. »Morgen abend müssen Sie wieder zu uns kommen! Wir bereiten eine Theatervorstellung für Weihnachten vor. Kein Mensch kann uns da so wundervoll helfen wie Sie. Alle jungen Leute machen mit, Beamte, Polizeioffiziere, Mineningenieure, und wir haben sogar ein paar hübsche Damen.«

Als er gegangen war, schloß sie die Augen und dachte an ihn: »Was ist das für ein mutiger Mann! Was ist das für ein prachtvoller Mensch!«

 


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