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In fernem Lande

Wenn man in einem fernen Lande reist, muß man sich darauf vorbereiten, viel von dem zu vergessen, was man gelernt hat, und Gewohnheiten anzunehmen, die zu den Verhältnissen in dem neuen Lande passen; man muß alte Ideale und alte Götter aufgeben und oft selbst die grundlegenden Gesetze, die einem bisher bestimmend für das Leben gewesen sind, umstürzen. Wer eine proteusartige Anpassungsfähigkeit besitzt, den mag eine solche Veränderung vielleicht sogar befriedigen, wer aber tief in dem Boden wurzelt, dem er entsprossen ist, kann den Druck der veränderten Umgebung nicht ertragen, und Körper und Seele empören sich gegen die neuen Gesetze, die sie nicht verstehen. Diese Empörung äußert sich in vielerlei, erzeugt Böses und verursacht Unglück. Wer sich nicht in die neuen Verhältnisse finden kann, kehrt besser in sein eigenes Land zurück. Zaudert er zu lange, so wird er sicher sterben. Der Mann, der den Gütern einer alten Zivilisation den Rücken kehrt und in die wilde, primitive Einfachheit des Nordens zieht, kann seine Aussicht auf Erfolg vorausberechnen, denn sie steht im umgekehrten Verhältnis zu der Zahl seiner hoffnungslos eingewurzelten Gewohnheiten. Der rechte Mann wird bald entdecken, daß die materiellen Gewohnheiten die geringste Rolle zur Erhaltung des Lebens spielen. Ein feines Mittagessen mit einfacher Kost, steife Lederschuhe mit weichen, formlosen Mokassins, warme Kissen mit einem Lager im Schnee zu vertauschen, ist schließlich eine Kleinigkeit. Die Feuerprobe kommt erst, wenn man im Ernst das rechte Verhältnis zu allen Dingen und namentlich zu seinen Mitmenschen lernen soll. Die kleinen Höflichkeiten des täglichen Lebens soll er jetzt durch Uneigennutz, Nachsicht und Geduld ersetzen. So – nur so kann er sich den köstlichen Schatz treuer Kameradschaft erwerben. Er soll nicht »Danke sehr« sagen; er soll es fühlen, ohne den Mund zu öffnen, und es beweisen, indem er Vergeltung in Taten übt. Kurz, er soll Taten an Stelle des Wortes, Geist an Stelle des Buchstaben setzen.

Als man in der ganzen Welt vom arktischen Golde hörte und der Norden Macht über die Herzen der Menschen gewann, sprang auch Carter Weatherbee von seinem sicheren Kontorbock, ließ die Hälfte seines ersparten Geldes seiner Frau und verbrauchte den Rest für seine Ausrüstung. Seine Natur war nicht auf Romantik gerichtet – die hatte die Plackerei des Kontorlebens ihm ausgetrieben. Er war einfach der ewigen Tretmühle müde und wollte in der Hoffnung auf entsprechenden Gewinn einen großen Einsatz wagen. Wie so viele andere Narren verachtete er die alten Wege, die die Nordlandspioniere seit zwanzig Jahren gebahnt hatten, und eilte zu Frühlingsanfang nach Edmonton; und dort schloß er sich, zum Unglück für seine Seele, einer Gesellschaft von Männern an.

Es war nichts Ungewöhnliches an dieser Gesellschaft außer ihrem Plan. Sogar ihr Ziel war das aller andern Gesellschaften, nämlich Klondike. Aber die Route, die sie auf der Karte abgesteckt hatten, um dieses Ziel zu erreichen, ließ selbst den kühnsten in der treulosen Unbeständigkeit des Nordens Geborenen und Aufgewachsenen nach Luft schnappen. Ja, selbst Jacques Baptiste, der Sohn einer Chippewa-Frau und eines französischen Voyageurs, der sich hierher verirrt hatte, selbst Jacques Baptiste, dessen erstes Wimmern in einem Renntierfell nördlich vom fünfundsechzigsten Breitengrad ertönt war und durch einen prachtvollen Lutschbeutel aus rohem Talg gestillt worden, war verblüfft. Obwohl er ihnen seine Dienste verkaufte und sich verpflichtete, wenn es sein sollte, ins ewige Eis zu ziehen, schüttelte er doch unheilverkündend den Kopf, als man ihn um Rat fragte.

Percy Cuthferts böser Stern muß im Aufgehen gewesen sein, denn auch er schloß sich der Gesellschaft dieser Argonauten an. Er war ein Durchschnittsmensch, dessen Bankkonto ebenso groß wie seine Kultur war, was allerhand sagen wollte. Er hatte nicht den geringsten Grund, sich auf ein solches Wagestück einzulassen – keinen andern Grund, als daß er an einer anormal entwickelten Sentimentalität litt. Er verwechselte diese Geschichte mit Abenteuerlust und wirklich romantischem Geist. Mancher andere hat dasselbe getan und damit einen verhängnisvollen Irrtum begangen.

Die erste Frühlingsschmelze fand die Gesellschaft auf dem Elchfluß, dessen Eisbruch sie folgte. Es war eine imposante Flotte, denn ihre Ausrüstung war bedeutend, und sie wurde von einer Anzahl zerlumpter, halbblütiger Voyageurs mit Weib und Kind begleitet. Tag für Tag rackerten sie sich mit Booten und Kanus ab, schlugen sich mit Moskitos und ähnlichen Landplagen oder schwitzten und fluchten über die Stromschnellen. Derlei schwere Arbeit zeigt, was in einem Manne steckt, und ehe man den Athabascasee im Süden aus den Augen verlor, hatte jedes Mitglied der Gesellschaft Farbe bekannt.

Carter Weatherbee und Percy Cuthfert waren Drückeberger und murrten ewig. Alle übrigen zusammen beklagten sich nicht so viel über ihre Anstrengungen und Mühen wie jeder einzelne von diesen beiden. Nicht ein einziges Mal meldeten sie sich freiwillig zu den tausend kleinen Pflichten im Lager. Sollte ein Eimer Wasser geholt, eine extra Tracht Brennholz geschlagen, Teller aufgewaschen, das Gepäck nach irgend etwas durchsucht werden, das man brauchte – sofort entdeckten diese kraftlosen Schößlinge der Zivilisation Schrammen und Gebrechen, die augenblickliche Schonung erforderten. Sie waren die ersten, die abends in den Schlafsack krochen, obwohl noch eine Masse Arbeit zu verrichten war, sie waren die letzten, die morgens aufstanden, wenn man sich vor dem Frühstück zum Aufbruch bereitmachen sollte. Sie waren die ersten bei der Mahlzeit und die letzten, die bei der Zubereitung der Mahlzeit zugriffen; die ersten, die sich einen leckeren Bissen sicherten, die letzten, die merkten, daß sie sich an der Ration eines andern vergriffen hatten. Wenn sie ruderten, schwitzten sie bei jedem Schlag oder ließen ihre Riemen durch die Bewegung des Bootes treiben. Sie glaubten, daß niemand es bemerkte, aber ihre Kameraden fluchten leise und haßten sie schließlich, während Jacques Baptiste offen höhnte und sie von morgens bis abends verfluchte. Aber Jacques Baptiste war nun eben mal kein Gentleman.

Am Großen Sklavensee kaufte man Hudson-Bai-Hunde, und die vermehrte Flotte sank unter der Last von Dörrfisch und Pelikan bis an die Reling ein. Dann folgten Kanus und Boote der schnellen Strömung des Mackenzie, und man gelangte zum Großen Barrengrund. Jeder Wassergraben, der auch nur die geringste Aussicht bot, wurde untersucht, aber die lockenden Goldfelder lagen immer noch nördlich vor ihnen. Am Großen Barren begannen ihre Voyageurs, von der allgemeinen Furcht vor dem Unbekannten gepackt, zu desertieren, und beim Fort Gute Hoffnung sah man die Letzten und Kühnsten sich unter den Zugleinen straffen und die Strömung hinaufarbeiten, die sie so verräterisch leicht hinabgetragen hatte. Jacques Baptiste blieb schließlich allein übrig. Hatte er ihnen nicht versprochen, wenn es sein sollte, bis ins ewige Eis zu ziehen?

Die fehlerhafte, zum größten Teil nach mündlichen Berichten gezeichnete Karte wurde jetzt andauernd befragt. Und es galt, zu eilen, denn die Sonnenwende war schon vorbei, und der Winter näherte sich. Sie fuhren die Küste der Bucht entlang, wo der Mackenzie ins Eismeer strömt, und drangen dann durch die Mündung in den Kleinen Peel-Fluß ein. Dann begann die Mühe, sich stromaufwärts zu arbeiten, und den beiden unfähigen Menschen erging es schlimmer als je. Leinen und Stangen, Paddel und Tragriemen, Stromschnellen und Passagen – alle diese Qualen flößten dem einen tiefen Abscheu ein und lehrten den andern, was Romantik in Wirklichkeit ist. Eines schönen Tages meuterten sie, und als Jacques Baptiste sie gehörig zurechtsetzte, kehrten sie sich wie Giftschlangen gegen ihn. Aber der Mischling vermöbelte sie und schickte sie zerschlagen und blutend an die Arbeit. Es war das erstemal, daß jemand gezüchtigt wurde.

Da sie an der Quelle des Kleinen Peel zu Wasser nicht weiter konnten, verbrachten sie den Rest des Sommers damit, ihr Gepäck über die Wasserscheide des Mackenzie nach dem West Rat zu schaffen. Dieser kleine Fluß strömt dem Porcupine zu, der wieder in den Yukon mündet, und zwar dort, wo diese gewaltige Hauptverkehrsstraße des Nordens unter dem Polarkreis einen großen Bogen schlägt. Aber jetzt hatte der Wettlauf mit dem Winter begonnen, und eines Tages vertäuten sie ihre Flotte an dem dicken Eis und beeilten sich, ihre Güter an Land zu schaffen. In der Nacht wurde das Flußeis immer wieder krachend zusammengepreßt; am nächsten Morgen war es im Ernst zur Ruhe gegangen.

*

»Wir können nicht mehr als vierhundert Meilen vom Yukon sein«, entschied Sloper, indem er mit dem Daumennagel die Entfernung auf der Karte maß. Der Kriegsrat, bei dem die beiden Unfähigen mit fabelhafter Kläglichkeit gejammert hatten, näherte sich seinem Abschluß.

»Ein gutes Stück von der Hudson-Bai-Post. Jetzt nicht zu machen.« Jacques Baptistes Vater hatte seinerzeit die Reise für die Pelz-Kompanie gemacht, wobei ihm mehrere Zehen erfroren waren. »Verflucht kalt!« rief ein anderer von der Gesellschaft. »Keine Weißen?«

»Nicht die Spur«, versicherte Sloper kurz und bündig; »aber es sind nur fünfhundert Meilen den Yukon hinauf bis Dawson. Sagen wir alles in allem gut tausend von hier.«

Weatherbee und Cuthfert stöhnten im Chor.

»Wie lange brauchen wir dazu, Baptiste?«

Der Mischling rechnete einen Augenblick nach. »Wenn wir wie der Teufel arbeiten, und keiner sich drückt, zehn – zwanzig – vierzig – fünfzig Tage. Wenn kleine Kinder dabei sind (er meinte die beiden Unfähigen), ist es überhaupt nicht zu sagen. Vielleicht, wenn die Hölle gefriert, vielleicht nicht einmal dann.«

Die Herstellung von Schneeschuhen und Mokassins wurde eingestellt. Einer rief nach einem Kameraden, der nicht anwesend war, aber aus einer alten Hütte am Rande des Lagers kam und sich ihnen anschloß. Die Hütte war eines der vielen rätselhaften Dinge, die die ungeheure Einöde des Nordens barg. Wann sie gebaut war, wußte niemand. Zwei Gräber unter freiem Himmel mit hohen Steinhaufen enthielten vielleicht das Geheimnis dieser frühen Wanderer. Aber wer hatte die Steine aufgeschichtet?

Der Augenblick war gekommen. Jacques Baptiste hielt im Anschirren inne und zwang den widerspenstigen Hund in den Schnee. Der Koch protestierte stumm gegen einen weiteren Aufschub, warf eine Handvoll Speck in den Topf, in dem die Bohnen kochten, und lenkte dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Sloper stand auf. Sein Körper bildete einen lächerlichen Gegensatz zu dem gesunden Äußeren der beiden Unfähigen. Fahl und ermattet, wie er aus einem südamerikanischen Fieberloch entwischt war, hatte er doch seine Flucht von einem Breitengrad zum andern fortgesetzt und war noch imstande, zuzupacken. Das schwere Jagdmesser eingeschlossen, wog er vielleicht neunzig Pfund, und sein graumeliertes Haar erzählte, daß er seine besten Tage hinter sich hatte. Sowohl Weatherbee wie Cuthferts frische junge Muskeln konnten sich zehnmal mit den seinen messen, und doch wanderte er sie bei den Tagesmärschen in Grund und Boden. Und den ganzen Tag hatte er seine kräftigeren Kameraden gereizt, sich auf die tausend Meilen weite, unsagbare Leiden bietende Reise zu wagen. Er verkörperte die Rastlosigkeit seiner Rasse, und die uralte teutonische Hartnäckigkeit mit einem Zusatz von der schnellen Entschlossenheit und Tatkraft des Yankees machten seinen Körper zu einem gehorsamen Werkzeug seines Geistes.

»Wer dafür stimmt, daß wir mit den Hunden weiterziehen, sobald das Eis sich setzt, sagt ja.«

»Ja!« ertönte es von acht Stimmen – Stimmen, die dazu bestimmt waren, während der vielen hundert Meilen ununterbrochener Leiden unzählige Flüche auszustoßen.

»Und dagegen?«

»Nein!« Zum erstenmal waren die beiden Unfähigen einig, ohne genau ihre persönlichen Vorteile abgewogen zu haben.

»Und was werdet ihr nun tun?« fragte Weatherbee kriegerisch.

»Die Majorität bestimmt! Die Majorität bestimmt!« riefen die andern.

»Ich weiß ja, daß die Expedition Gefahr läuft, unterzugehen, wenn ihr nicht mitkommt,« sagte Sloper sanft, »aber ich denke, wenn wir uns riesig anstrengen, werden wir euch entbehren können. Was meint ihr, Jungens?«

Seine Worte wurden mit einstimmigem Beifall begrüßt.

»Aber sagt,« fragte Cuthfert ängstlich, »was wird dann aus mir?«

»Kommst du nicht mit?«

»Nei–ein.«

»Dann tue, was du willst. Was geht es uns an!«

»Berate dich lieber mit deinem Herzensfreund«, schlug ein schwerfälliger Mann aus Dakota vor und zeigte auf Weatherbee. »Er wird dir schon sagen, wie du es machen mußt, wenn du Essen kochen und Holz sammeln willst.«

»Dann ist es also erledigt«, stellte Sloper fest. »Morgen ziehen wir los und kampieren fünf Meilen von hier, nur um alles in Ordnung zu bringen und zu sehen, ob wir etwas vergessen haben.«

*

Die Schlitten ächzten auf ihren stahlbeschlagenen Kufen, und die Hunde lagen flach im Geschirr, in dem sie zu sterben bestimmt waren. Jacques Baptiste stand neben Sloper und warf einen letzten Blick auf die Hütte. Der Rauch quoll traurig zum Schornstein heraus. Die beiden Unfähigen standen in der Tür und sahen ihnen nach.

Sloper legte dem andern die Hand auf die Schulter. »Jacques Baptiste, hast du je von den Kilkenny-Katzen gehört?«

Der Mischling schüttelte den Kopf.

»Ja, mein Freund und guter Kamerad, die Kilkenny-Katzen schlugen sich, bis weder Haut noch Haar oder Geheul übrig war. Du verstehst? – Bis nichts übrig war. Ausgezeichnet. Diese beiden Männer mögen nicht arbeiten. Sie wollen nicht arbeiten. Das wissen wir. Sie werden den ganzen Winter allein in der Hütte bleiben – einen mächtig langen, dunklen Winter. Kilkenny-Katzen, wie?«

Der Franzose in Baptiste zuckte die Achseln, aber der Indianer schwieg. Immerhin war es ein sehr beredtes, prophetisches Achselzucken.

*

Anfangs ging es ausgezeichnet in der kleinen Hütte. Die rauhen Scherze ihrer Kameraden hatten Weatherbee und Cuthfert die gegenseitige Verantwortung, die auf ihnen ruhte, vor Augen geführt; außerdem gab es alles in allem nicht übermäßig viel Arbeit für zwei gesunde Männer. Und die Entfernung der andern, oder mit andern Worten, des schimpfenden Mischlings, wirkten angenehm erleichternd. Am Anfang wetteiferten sie miteinander und erfüllten ihre Pflichten mit einer Bereitwilligkeit, daß ihre Kameraden, die jetzt Seele und Körper auf den weiten Wegen zusetzten, vor Verwunderung die Augen aufgerissen hätten.

Alle Vorsorge war in Acht und Bann erklärt. Der Wald, der sie von drei Seiten umgab, war ein unerschöpflicher Holzspeicher. Wenige Schritt vor ihrer Tür schlummerte der Porcupine, und ein Loch in seinen Wintermantel ergab einen sprudelnden Springbrunnen mit kristallklarem, eisigem Wasser. Bald aber wurde ihnen auch das zuviel. Das Loch fror immer wieder zu, und das verschaffte ihnen eine scheußliche Stunde Arbeit. Die unbekannten Baumeister der Hütte hatten durch Verlängerung der Seitenwände auf der Rückseite einen Vorratsraum geschaffen. Hier wurde der Hauptvorrat der Gesellschaft aufbewahrt. Es war Nahrung genug für die dreifache Zahl. Aber das meiste war von der Art, die zwar Muskeln und Sehnen bildet, aber den Gaumen nicht kitzelt. Allerdings gab es mehr als Zucker genug für zwei wirkliche Männer, aber diese beiden waren kaum etwas anderes als Kinder. Sie entdeckten recht schnell, daß eine dickflüssige Mischung von Zucker und warmem Wasser gut schmeckt, und sie tunkten ihre Pfannkuchen und ihr Brot in den weißen Sirup. Dann wieder schwelgten sie verheerend in Tee und Kaffee und namentlich in Dörrobst. Der erste Streit zwischen ihnen entstand über die Zuckerfrage. Und es ist eine sehr ernste Sache, wenn zwei Männer, die vollkommen aufeinander angewiesen sind, zu streiten beginnen.

Weatherbee liebte es, laut über Politik zu disputieren, während Cuthfert, der am liebsten seine Kupons geschnitten und die Menschheit ihre Wege hätte schreiten lassen, nicht auf den Gegenstand einging oder nur hin und wieder verblüffende Aussprüche tat. Der Kontorist jedoch war zu dumm, die elegante Form, die der andere seinen Gedanken verlieh, zu schätzen, und der Umstand, daß er sein Pulver vergebens verschoß, reizte Cuthfert. Er war gewohnt, die Leute durch seinen Witz zu blenden, und Mangel an einem Zuhörerkreis wurde für ihn direkt zu einem Unglück. Er empfand das als einen wirklichen Kummer und zog unwillkürlich seinen hohlköpfigen Kameraden dafür zur Verantwortung.

Außer dem Kampf ums Dasein hatten sie nichts gemein – nicht den geringsten Berührungspunkt. Weatherbee war Kontorist und hatte sein ganzes Leben lang nichts als seine Geschäftsbücher gekannt; Cuthfert war akademisch gebildet, dilettierte als Maler und hatte allerhand geschrieben. Der eine war Proletarier, hielt sich aber selbst für gebildet, der andere war gebildet und wußte das. Man ersieht hieraus, daß ein Mann wohl gebildet sein kann, ohne auch nur den geringsten Instinkt für aufrichtige Kameradschaft zu besitzen. Der Kontorist war ebenso materialistisch wie der andere ästhetisch, und seine Liebesabenteuer, über die er sich eingehend verbreitete, und die zum größten Teil nur in seiner Phantasie existierten, wirkten auf den überempfindlichen Akademiker wie giftige Gasschwaden. Der Kontorist erschien ihm wie ein schmutziges, unkultiviertes Tier, das in den Kot zu den Schweinen gehörte, und das sagte er ihm; und dafür bekam er zu wissen, daß er ein Muttersöhnchen und ein Philister sei. Weatherbee hätte im Leben nicht das Wort Philister erklären können, aber es befriedigte ihn, und das war die Hauptsache.

Weatherbee sang bei jedem dritten Ton vorbei und sang stundenlang Lieder wie »Oh, Susanna«; und Cuthfert weinte vor Wut, bis er es nicht mehr aushalten konnte und in die Kälte hinausfloh. Aber es gab kein Entrinnen. Der starke Frost war nicht lange zu ertragen, und die kleine Hütte mit ihren Betten, ihrem Tisch und Ofen beengte sie. Die Anwesenheit des einen wirkte auf den andern wie eine persönliche Beleidigung, und sie sanken in verdrossenes Schweigen, das mit jedem Tage unerträglicher wurde. Hin und wieder konnte ein Aufblitzen im Auge oder das leichte Bewegen der Lippe sie verraten, obwohl sie bemüht waren, einander in den Perioden des Schweigens völlig zu ignorieren. Und in jedem erstand eine große Verwunderung, warum Gott nur den andern geschaffen hatte.

Da sie nur wenig zu tun hatten, wurde ihnen die Zeit zu einer unerträglichen Bürde. Das machte sie natürlich noch fauler. Sie sanken in eine physische Schlaffheit, aus der sie nicht wieder herauskommen konnten, und die sie gegen die geringste Arbeit rebellieren ließ. Eines Morgens, als Weatherbee an der Reihe war, das gemeinsame Frühstück zu bereiten, rollte er sich aus den Decken und zündete zuerst die Tranlampe, dann das Feuer an, während der Kamerad noch schnarchte. Der Inhalt der Kessel war gefroren. Und es gab kein Wasser in der Hütte, um aufzuwaschen. Aber daraus machte er sich nichts. Während das Eis in dem Kessel auftaute, schnitt er Speck in Scheiben und machte sich an die verhaßte Arbeit des Brotbackens. Cuthfert war listig mit halbgeschlossenen Lidern Zeuge der Vorgänge. Die Folge war eine Szene, in der sie sich gegenseitig schwer beleidigten; dann einigten sie sich, daß von jetzt an jeder sein Essen selbst kochen sollte. Eine Woche darauf versäumte Cuthfert das allmorgendliche Aufwaschen, aß aber nichtsdestoweniger mit Wohlbehagen das Mahl, das er bereitet hatte. Weatherbee grinste. Von jetzt an verschwand der dumme Brauch, aufzuwaschen, von ihrer Tagesordnung.

Als der Zucker und andere kleine Leckereien auf die Neige gingen, begann jeder zu fürchten, daß er nicht den ihm gebührenden Teil erhielte, und um nicht übervorteilt zu werden, stopften sie sich bis zum Brechen. Die Leckereien ertrugen diese Fresserei nicht, und die Männer auch nicht. Aus Mangel an frischem Gemüse und an Bewegung wurde ihr Blut dick, und ekelhafte Blutknoten bildeten sich unter der Haut. Aber sie beachteten diese Warnung nicht. Das nächste war, daß ihre Muskeln und Gewebe anzuschwellen begannen, das Fleisch wurde schwarz, Mund, Kinn und Lippen wurden gelblich wie fette Sahne. Statt sich im Unglück näherzukommen, freute sich jeder über die Symptome des Skorbuts beim andern.

Sie verloren jeden Sinn für ihr Äußeres. Und daneben auch für ihre Wohlanständigkeit. Die Hütte war ein Schweinekoben, und nicht ein einziges Mal machten sie ihre Betten oder legten frische Kiefernzweige unter. Und doch konnten sie nicht so lange, wie sie gern gewollt, in den Decken bleiben, denn der Frost war unerbittlich, und der Herd verschlang viel Holz. Haar und Bart wurden lang und wirr, während ihre Kleider den Abscheu eines Lumpensammlers erregt hätten. Aber daraus machten sie sich nichts. Sie waren krank, niemand sah sie, und außerdem schmerzte sie jede Bewegung.

Zu alledem kam eine neue Plage – der Schrecken des Nordens. Dieser Schrecken war ein Kind der großen Kälte und des großen Schweigens und war in der Finsternis des Dezembers geboren, als die Sonne zum letztenmal hinter den südlichen Horizont glitt. Der Natur der beiden Männer entsprechend wirkte er verschieden auf sie. Weatherbee fiel abergläubischen Vorstellungen zum Opfer und tat alles, was er konnte, um die Geister zu packen, die in den vergessenen Gräbern schliefen. Diese Geisterbeschwörung nahm ihn ganz in Anspruch, so daß sie in seinen Träumen aus der Kälte zu ihm kamen, unter seine Decke schlüpften und ihm ihre Sorgen und Widerwärtigkeiten aus ihrem früheren Leben erzählten. Ihn schauderte bei ihrer kalten Berührung, wenn sie sich ihm näherten und ihn mit ihren gefrorenen Gliedern umschlangen; und wenn sie ihm von kommenden Dingen ins Ohr flüsterten, hallte die Hütte wider von seinen entsetzten Schreien. Cuthfert wußte nicht, was es gab – sie sprachen nicht mehr miteinander –, und wenn er auf diese Weise geweckt wurde, griff er unweigerlich nach dem Revolver. Dann saß er aufrecht im Bett und zitterte, die Waffe auf den Träumenden gerichtet, am ganzen Leibe. Cuthfert glaubte, daß der andere toll würde, und begann für sein Leben zu fürchten.

Seine eigene Krankheit nahm eine weniger bestimmte Form an. Der geheimnisvolle Baumeister, der die Hütte, Balken für Balken, errichtet, hatte auf dem Dachfirst eine Wetterfahne angebracht. Cuthfert bemerkte, daß sie stets nach Süden zeigte, und eines Tages wurde er über diesen Eigensinn so gereizt, daß er sie nach Osten drehte. Er beobachtete sie eifrig, aber kein Windhauch veränderte sie. Da drehte er sie nach Norden und schwor, sie nicht wieder anzurühren, ehe der Wind zu wehen begann. Aber die Luft erschreckte ihn durch ihre geisterhafte Stille, und oft stand er mitten in der Nacht auf, um zu sehen, ob die Fahne sich gedreht hätte – zehn Grad hätten ihm genügt. Aber nein, sie blieb dort oben unveränderlich wie das Schicksal. Seine Phantasie ging mit ihm durch, und die Windfahne wurde ihm ein Fetisch. Zuweilen folgte er der Richtung, in die sie zeigte, quer durch die Einöde und füllte seine Seele bis zum Rand mit Schrecken. Er verweilte bei dem Ungesehenen und Unbekannten, bis die Last der Ewigkeit ihn zerschmettern zu wollen schien. Alles hier im Norden hatte diese überwältigende Wirkung – der Mangel an Leben und Bewegung, die Finsternis, die unendliche Ruhe, die über dem Lande brütete, die geisterhafte Stille, die den Widerhall jedes Herzschlages zu einer Heiligtumschändung machte, der feierliche Wald, der etwas Entsetzliches, Unsagbares zu umfassen schien, etwas, für das es weder Worte noch Gedanken gab.

Die Welt mit ihren geschäftigen Menschen und Unternehmungen, die er kürzlich verlassen, erschien ihm sehr fern. Die Erinnerungen meldeten sich – Erinnerungen an Märkte, Galerien und belebte Straßen, an Gesellschaftskleider, an gute Männer und liebe Frauen, die er gekannt hatte –, aber das waren dunkle Erinnerungen an ein Leben, das er vor Jahrhunderten auf einem andern Planeten gelebt hatte. Diese Phantasien waren nie Wirklichkeit. Wenn er, die Augen auf den Polarhimmel gerichtet, unter der Wetterfahne stand, konnte er sich selbst nicht überzeugen, daß das Südland wirklich existierte, daß in diesem Augenblick dort unten Leben und Bewegung herrschte. Es gab kein Südland, keine von Frauen geborenen Männer, keine Heirat. Hinter dem verschwommenen Horizont erstreckten sich unendliche Einsamkeiten, und hinter ihnen noch unendlichere. Es gab keine sonnigen Länder voller Blütenduft. Das waren nur uralte Träume vom Paradies. Die Sonnenländer des Westens und der würzige Osten, das Lächeln Arkadiens und die gesegneten Inseln der Seligen. – Ha! Ha! sein Lachen sprengte den leeren Raum und erschreckte ihn durch seinen ungewohnten Laut. Es gab keine Sonne. Dies war die Welt, tot, kalt und finster, und er war ihr einziger Bewohner. Weatherbee? In solchen Augenblicken zählte Weatherbee nicht. Er war ein Kaliban, ein schreckliches Phantom, das für unendliche Zeiten, als Strafe für irgendein vergessenes Verbrechen, an ihn gefesselt war.

Er lebte mit dem Tode unter Toten, bedrückt von dem Gefühl seiner eigenen Bedeutungslosigkeit, zerschmettert durch die überwältigende Macht der schlummernden Zeiten. Die Gewaltigkeit all dessen entsetzte ihn. Alles hier war auf die Spitze getrieben – alles außer ihm selbst: der völlige Stillstand von Wind und Bewegung, die unermeßlichen Weiten der schneebedeckten Wüste, die Höhe des Himmels und die Tiefe des Schweigens. Die Wetterfahne – wenn sie sich nur bewegen wollte! Wenn doch ein Donnerkeil herniederfallen oder der Wald in Flammen aufgehen wollte! Wenn doch die Himmel sich mit dem Krachen des Jüngsten Tages öffnen wollte! – Nur irgend etwas! – Irgend etwas! Aber nein, nichts regte sich. Das Schweigen erdrückte ihn, und der Nordlandsschrecken krallte ihm seine eisigen Finger ums Herz. Einmal stieß er, ein neuer Robinson Crusoe, am Ufer des Flusses auf eine Fährte – die schwache Fährte eines Kaninchens in der feinen Schneekruste. Das war eine Offenbarung. Es gab Leben im Nordland. Er wollte ihm folgen, es sehen, es anstarren. Er vergaß ganz seine geschwollenen Muskeln und kämpfte sich in einer Ekstase der Erwartung durch den tiefen Schnee hindurch. Der Wald verschlang ihn, und das kurze Mittagszwielicht verschwand. Aber er setzte seine Nachforschungen fort, bis die erschöpfte Natur ihr Recht forderte und ihn hilflos in den Schnee sinken ließ. Da ächzte er nun, verfluchte seine Torheit und wußte, daß die Fährte nur eine Ausgeburt seiner Phantasie gewesen war; und spätabends schleppte er sich auf Händen und Knien, mit erfrorenen Wangen und seltsam gefühllosen Füßen, wieder in die Hütte. Weatherbee grinste boshaft, bot ihm aber keine Hilfe. Er stach Nadeln in seine Zehen und taute sie am Ofen auf. Eine Woche später hatten sie sich entzündet.

Aber der Kontorist hatte seine eigenen Sorgen. Die Toten kamen jetzt häufiger als je aus den Gräbern und verließen ihn selten, ob er wach war oder schlief. Es kam soweit, daß er ihr Kommen erwartete und fürchtete und nie ohne ein Schaudern an ihrem Steinhaufen vorbeiging. Eines Nachts kamen sie zu ihm und zogen ihn mit sich hinaus, damit er ihnen bei irgend etwas helfen sollte. In wildem Entsetzen erwachte er zwischen den Steinhaufen und floh außer sich in die Hütte. Aber er mußte eine Zeitlang draußen gelegen haben, denn auch seine Füße und Wangen waren erfroren.

Zuweilen machte die ständige Anwesenheit der Toten ihn toll, und er tanzte in der Hütte herum, hieb mit einer Axt durch die leere Luft und zerschmetterte alles, was in sein Bereich kam. Bei diesem Spukkampfe hüllte Cuthfert sich in seine Decke und verfolgte den Verrückten mit gespanntem Revolver, bereit, ihn niederzuschießen, wenn er ihm zu nahe käme. Einmal aber, als Weatherbee nach einem solchen Anfall erwachte, sah er die Waffe auf sich gerichtet. Sein Mißtrauen erwachte, und von jetzt an lebte auch er in Todesfurcht. Jetzt beobachteten sie einander genau, jeder in steter Furcht, dem andern den Rücken zu kehren. Ihre Unsicherheit wurde zur fixen Idee, die sie sogar im Schlaf beherrschte. In ihrer gegenseitigen Furcht ließen sie in stillem Einverständnis die ganze Nacht die Tranlampe brennen und versorgten sie reichlich mit Öl, ehe sie sich zur Ruhe begaben. Die geringste Bewegung des einen genügte, um den andern zu wecken, und manche schlaflose Nacht begegneten sich ihre starren Blicke, während die Finger unter der Decke nach dem Drücker suchten.

Infolge dieser ununterbrochenen Angst, der Spannung, in der sie sich befanden, und der Krankheit, die sie verheerte, verloren sie jede Menschenähnlichkeit und sahen wie gejagte und verzweifelte wilde Tiere aus. Ihre Wangen und Nasen waren erfroren gewesen und schwarz geworden. Die Zehen begannen beim ersten oder zweiten Gelenk abzufallen. Jede Bewegung bereitete Schmerzen, aber der Herd war unersättlich und zwang ihre elenden Körper, unglaubliche Leiden zu ertragen. Tagein, tagaus forderte das Feuer seine Nahrung, und sie schleppten sich in den Wald und fällten, auf den Knien rutschend, Holz. Als sie einmal herumkrochen und nach trockenen Zweigen suchten, stießen sie in einem Dickicht von zwei Seiten aufeinander. Plötzlich starrten zwei Totenköpfe sich an. Die Leiden hatten sie in dem Maße verwandelt, daß sie sich nicht erkannten. Sie sprangen auf, schrien vor Entsetzen und stürzten auf ihren kranken Füßen fort, und als sie vor der Tür der Hütte zusammenbrachen, rissen und kratzten sie wie Teufel, bis sie ihren Irrtum erkannten.

*

Zuweilen kamen sie zu sich, und in einem dieser klaren Augenblicke teilten sie den Zucker, die Quelle ihres größten Genusses, zu gleichen Teilen unter sich. Jeder bewachte seinen Vorrat mit eifersüchtigen Blicken, denn es waren nur wenige Tassen voll übrig, und keiner traute dem andern. Eines Tages jedoch irrte Cuthfert sich. Kaum imstande, sich zu bewegen, krank vor Schmerzen, mit schwindelndem Kopf und geblendeten Augen kroch er mit der Zuckerdose in der Hand in die Vorratskammer und verwechselte seinen Sack mit dem Weatherbees.

Dies geschah in den ersten Tagen des Januars. Die Sonne hatte kürzlich ihren tiefsten Stand im Süden passiert und warf jetzt blitzende Streifen gelben Lichts über den nördlichen Himmel. Am darauffolgenden Tage, nachdem Cuthfert sich in den Zuckersäcken geirrt hatte, fühlte er sich an Leib und Seele besser. Als die Mittagszeit sich näherte und der Tag heller wurde, schleppte er sich hinaus, um sich an der schwindenden Glut zu freuen, die ihm ein Pfand für die kommende Sonnenzeit war. Auch Weatherbee fühlte sich besser und kroch neben ihn. Unter der unbeweglichen Wetterfahne setzten sie sich in den Schnee und warteten.

Die Stille des Todes war um sie. Wenn die Natur andrer Breiten diese Stimmung annimmt, ist die Luft von Erwartung erfüllt, von der Erwartung einer zarten Stimme, die den Faden wieder aufnehmen soll. Nicht so im Norden. Die beiden Männer hatten Ewigkeiten in diesem geisterhaften Frieden gelebt. Sie konnten sich keines Liedes aus der Vergangenheit erinnern; sie konnten kein Lied von der Zukunft beschwören. Diese unirdische Ruhe war immer gewesen – das Schweigen der Ewigkeiten. Ihre Augen richteten sich nach Norden. Ungesehen hinter ihrem Rücken, hinter den ragenden Bergen im Süden, glitt die Sonne an einem andern Himmel als dem ihrigen dem Zenit zu. Als einzige Beschauer des mächtigen Gemäldes betrachteten sie das langsam zunehmende falsche Morgengrauen. Ein schwacher Schimmer begann zu glühen und wieder zu erlöschen. Dann wurde er stärker, ging in Rotgelb, Purpur und Safrangelb über. Er wurde so stark, daß Cuthfert meinte, die Sonne müsse doch – durch ein Wunder – im Norden aufsteigen! Plötzlich, ohne Übergang, wurde der Himmel reingefegt. Kein Farbton war am Himmel. Für heute war das Licht erloschen. Mit einem schluchzenden Seufzer schöpften sie Luft. Aber dort! Die Luft flimmerte von glitzernden Reifnadeln und dort, im Norden, zeigten sich die unbestimmten Umrisse der Wetterfahne auf dem Schnee. Ein Schatten! Ein Schatten! Es war genau Mittag. Schnell wandten sie ihre Gesichter gen Süden. Ein goldener Rand sah über die Schneeschulter des Berges hinweg, lächelte sie einen Augenblick an und tauchte dann wieder unter.

Sie hatten Tränen in den Augen, als sie sich ansahen. Eine seltsame weiche Stimmung überkam sie. Sie fühlten sich unwiderstehlich zueinander hingezogen. Die Sonne kehrte zurück. Morgen kam sie zu ihnen und übermorgen und jeden Tag. Und immer länger sollte ihr Besuch dauern, bis die Zeit kam, da sie Tag und Nacht über den Himmel glitt und nicht ein einziges Mal hinter dem Horizont versank. Es sollte keine Nacht mehr geben. Der eisige Winter sollte gebrochen werden. Der Wind sollte wehen, und die Wälder sollten antworten. Das Land sollte sich im gesegneten Sonnenschein baden und das Leben sich erneuern. Hand in Hand sollten sie dies furchtbare Traumland verlassen und heimwärts ziehen. Blind tasteten sie nacheinander, und ihre Hände begegneten sich – ihre armen, verstümmelten, geschwollenen Hände. Aber das Versprechen sollte nicht eingelöst werden. Nordland ist Nordland, und die Menschen leben hier ihr Seelenleben nach seltsamen Gesetzen, die andere Menschen, die nicht in fernen Ländern gereist sind, nie verstehen werden.

*

Eine Stunde später stellte Cuthfert eine Pfanne mit Brot in den Ofen und begann darüber nachzudenken, was die Ärzte nach seiner Rückkehr wohl mit seinen Füßen machen würden. Die Heimat schien ihm jetzt nicht so fern. Weatherbee rumorte in der Vorratskammer. Plötzlich stieß er einen Strom von Verwünschungen aus, der aber mit erschreckender Plötzlichkeit abbrach. Der andere hatte von seinem Zucker gestohlen. Immerhin wäre es vielleicht anders gekommen, wenn nicht die beiden Toten unter ihren Steinen hervorgekommen wären und ihm wütende Drohungen in die Kehle geblasen hätten. Sie führten ihn ganz leise aus der Vorratskammer, die er abzuschließen vergaß; jetzt war es soweit; was sie ihm in seinen Träumen zugeflüstert hatten, mußte jetzt vollbracht werden. Sie führten ihn leise, ganz leise zum Holzstapel und legten ihm die Axt in die Hände. Dann halfen sie ihm, die Tür der Hütte aufzuschieben, und er war sicher, daß sie sie hinter ihm schlossen – wenigstens hörte er sie hinter sich zuschlagen und die Klinke einschnappen. Und er wußte, sie warteten draußen, daß er es täte.

»Carter! Hör' doch, Carter!«

Percy Cuthfert war entsetzt über den Ausdruck im Gesicht des Kontoristen, und er sprang hinter den Tisch.

Carter Weatherbee folgte ihm, ohne sich zu übereilen und ohne Aufregung. Sein Gesicht drückte weder Mitleid noch Leidenschaft aus, eher die ruhige Zielbewußtheit eines Menschen, der eine bestimmte Arbeit zu verrichten hat und sich methodisch daranmacht.

»Was ist denn los?«

Der Kontorist wich zurück und schnitt dem andern den Rückzug zur Tür ab, sagte aber kein Wort.

»Aber sag' doch, Carter, was ist? Sei doch vernünftig.«

Der Akademiker bedachte sich schnell und machte dann eine blitzschnelle Bewegung nach dem Bett, wo sein »Smith und Wesson« lag. Die Augen auf den Wahnsinnigen gerichtet, ließ er sich rückwärts in die Koje fallen und ergriff gleichzeitig den Revolver.

»Carter!«

Der Schuß brannte Weatherbee gerade ins Gesicht, aber er schwang seine Waffe und sprang ihn an. Die Axt schnitt tief unten ins Rückgrat, und Percy Cuthfert spürte, wie jedes Gefühl in seinen unteren Gliedmaßen schwand. Dann fiel der Kontorist schwer über ihn und tastete mit schwachen Fingern nach seiner Kehle. Der scharfe Hieb der Axt hatte verursacht, daß Cuthfert den Revolver fallen ließ, und nach Luft schnappend suchte er zwischen den Decken nach ihm. Dann kam ihm ein Gedanke. Er griff nach dem Messer im Gürtel des Kontoristen, und jetzt waren sie zum letztenmal aneinander.

Percy Cuthfert fühlte seine Kräfte schwinden. Der untere Teil seines Körpers war unbrauchbar. Das tote Gewicht Weatherbees erdrückte ihn – erdrückte ihn und hielt ihn fest wie einen Bären in der Falle. Die Hütte füllte sich mit einem wohlbekannten Geruch, und er wußte, daß das Brot anbrannte. Aber was tat das? Er brauchte es nicht mehr. Und im Sack waren noch sechs Tassen Zucker – hätte er gewußt, was geschehen würde, so würde er nicht damit gespart haben. Ob die Wetterfahne sich je bewegen würde? Vielleicht drehte sie sich gerade jetzt. Warum nicht? Hatte er nicht heute die Sonne gesehen? Er wollte sich erheben und nachsehen. Nein. Er konnte sich nicht regen. Er hatte nicht gedacht, daß der Kontorist so schwer sei.

Wie schnell die Hütte kalt wurde! Das Feuer mußte ausgegangen sein. Die Kälte drang herein. Es mußte schon unter dem Gefrierpunkt sein, und die Tür war schon innen bereift. Er konnte es zwar nicht sehen, aber die Erfahrung ermöglichte es ihm, nach der Temperatur in der Hütte zu urteilen. Jetzt mußte die untere Angel weiß sein. Ob der Bericht von dem, was hier geschah, je die Heimat erreichte? Was würden die Freunde dazu sagen? Sie würden es wohl beim Kaffee lesen oder im Klub darüber sprechen. Er konnte sie deutlich sehen: »Der arme Cuthfert,« murmelten sie, »er war doch ein netter Kerl.« Er lächelte über ihre Lobreden und ging weiter, er suchte ein Türkisches Bad. Die Straße zeigte das alte Gedränge. Seltsam, daß niemand seine Elchsledermokassins und seine zerlöcherten Strümpfe beachtete. Er wollte einen Wagen nehmen. Und nach dem Bade mußte es angenehm sein, sich rasieren zu lassen. Nein, erst wollte er essen. Braten, Kartoffeln und Gemüse – wie frisch das alles war! Und was war das? Ganze Eimer von Honig, strömender, flüssiger Bernstein! Aber warum brachten sie ihm soviel? Ha! Ha! Das alles konnte er nie essen. Stiefelputzen? Gewiß, warum nicht? Er setzte den Fuß auf den Schemel. Der Schuhputzer sah ihn neugierig an, da fielen ihm seine elchsledernen Mokassins ein, und er lief schnell fort.

Ein Knarren! Jetzt mußte die Wetterfahne sich wahrlich bewegen. Nein; es sang nur in seinen Ohren. Das war alles – es sang. Jetzt mußte der Reif die Klinke erreicht haben. Vielleicht war schon die obere Angel bedeckt. Zwischen den Ritzen im moosgedeckten Dach begannen sich kleine Reifflecken zu bilden. Wie langsam sie wuchsen! Nein, gar nicht langsam! Da war ein neuer, und dort wieder einer. Zwei – drei – vier; dort wuchsen zwei zusammen. Sieh, jetzt waren sie nicht mehr vereinzelt. Sie waren zusammengelaufen und bildeten einen einzigen Fleck.

Nun, er hatte doch Gesellschaft. Wenn Gabriel je das Schweigen des Nordens brach, würden sie Hand in Hand vor dem großen weißen Thron stehen, und Gott würde sie richten, Gott würde sie richten.

Dann schloß Percy Cuthfert die Augen und schlief ein.


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