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Die Scharlachpest

Der Weg führte an einer Erhebung entlang, die einst ein Eisenbahndamm gewesen war. Seit vielen Jahren jedoch war kein Zug mehr über diesen Schienenstrang gelaufen. Zu beiden Seiten drängte der Wald an den Böschungen des Dammes empor. Allein ein schmaler Pfad war geblieben, der eben noch dem Körper eines Mannes Durchlaß gewährte und eigentlich nur ein Wildwechsel war. Hie und da lugte ein Stück rostigen Eisens aus dem Waldboden hervor und zeigte, daß Schienen und Schwellen noch vorhanden waren. Ein zehnzölliger Baumstamm hatte an einer Stelle ein Verbindungsstück durchbrochen, so daß ein Schienenende bloßgelegt war. Die mit der Schiene verbolzte Schwelle war mit ihr gehoben worden, und zwar dank der Länge des Bolzens so hoch, daß das Lager der Schiene sich mit Kies und welken Blättern hatte füllen können und sich der morsche, verfaulte Balken jetzt in einem merkwürdig steilen Winkel bäumte. Ein Greis und ein Knabe wanderten den Pfad entlang. Sie kamen nur langsam vorwärts. Ein leichter Schlaganfall hatte die Bewegungen des Alten zittrig gemacht, er stützte sich schwer auf seinen Stock. Eine derbe, aus Ziegenfell verfertigte Kappe schützte seinen Kopf vor der Sonne. Darunter sah das spärliche, in die Stirn gekämmte Haar fettig und schmutzigweiß hervor. Ein erfinderisch aus einem großen Blatt gebogener Schirm beschattete seine Augen, die aufmerksam den Weg zu seinen Füßen beobachteten. Sein Bart, der schneeweiß hätte sein müssen, aber wie sein Kopfhaar die Spuren von Wetter und Lagern im Freien trug, fiel verfilzt bis auf den Leib herab. Um Brust und Schultern hing als einziges Kleidungsstück ein räudiges Ziegenfell. Seine welken mageren Arme zeugten von höchstem Alter, und die von der Sonne gebräunte Haut erzählte mit ihren Narben und Schrammen von den langen Jahren, die sie den Elementen preisgegeben war. Der Knabe, der vorausschritt, den Eifer seiner jungen Muskeln jedoch dem langsamen Gang des Älteren anpaßte, trug ebenfalls nur ein einziges Kleidungsstück: ein ausgefranstes Bärenfell mit einem Loch in der Mitte, durch das er den Kopf gesteckt hatte. Er konnte höchstens zwölf Jahre alt sein. Um sein Ohr hatte er sich kokett den frisch abgeschnittenen Schwanz eines Schweins gewickelt. In der Hand trug er einen nicht allzu großen Bogen und einen Köcher voller Pfeile. Aus einer Scheide, die an einem Riemen um seinen Hals hing, guckte der abgenutzte Griff eines Jagdmessers hervor. Der Junge war braun wie eine Kaffeebohne und ging mit sanften, fast katzenartigen Schritten. Einen auffallenden Gegensatz zu seiner sonnenverbrannten Haut bildeten seine Augen; sie waren blau, tiefblau, aber kühn und scharf wie zwei Bohrer. Während er so dahinschritt, witterte er gleich einem Tier, und seine weit geöffneten, zitternden Nüstern übermittelten seinem Hirn eine endlose Reihe von Eindrücken der Außenwelt. Auch sein Gehör war scharf und so geschult, daß es ganz automatisch arbeitete. Ohne bewußte Anstrengung vernahm er in der scheinbaren Stille die feinsten Geräusche – hörte, unterschied und zerlegte diese Töne –, ob sie nun vom Wind kamen, der durch die Blätter rauschte, oder vom Summen der Bienen und Mücken oder vom Meer, das trotz der Windstille in der Ferne grollte, oder von dem Erdeichhörnchen, das gerade vor seinen Füßen eine Backentasche voll Erde in den Eingang seiner Höhle schob.

Plötzlich stutzte er. Seine Hand griff hinter sich nach dem Greis und berührte ihn, beide blieben stehen. Seitwärts vor ihnen auf dem Damm näherte sich ein leises Brechen, und der Knabe starrte auf die sich bewegenden Sträucher. Dann erschien, laut durchs Gezweig wuchtend, ein großer Grislybär, der ebenfalls unvermittelt stehenblieb, als er die Menschen erblickte. Er liebte Menschen nicht, und er brummte unzufrieden. Langsam legte der Knabe den Pfeil auf den Bogen, und langsam zog er die Sehne an. Aber er wandte kein Auge von dem Bären ab. Der Greis sah blinzelnd unter seinem grünen Blatt hervor auf die Gefahr, die ihnen nahte, stand aber ebenso still wie der Knabe da. Einige Sekunden währte dies gegenseitige Ausforschen; als der Bär jedoch wachsende Gereiztheit verriet, bedeutete der Knabe dem Greis durch eine Kopfbewegung, daß er seitwärts in das Buschwerk treten und den Damm hinabsteigen sollte. Der Knabe folgte ihm, rückwärts schreitend und den Bogen immer noch straff und schußbereit haltend. Sie warteten, bis das Brechen in den Zweigen auf der andern Seite des Dammes ihnen verkündete, daß der Bär weitergegangen war. Grinsend kehrte der Knabe wieder auf den Pfad zurück.

»Das war ein Kerl, Großpa!« kicherte er.

Der Alte schüttelte den Kopf. »Sie werden von Tag zu Tag häufiger«, klagte er mit dünner, unsicherer Fistelstimme. »Wer hätte gedacht, daß ich es erleben sollte, ein Mann auf dem Wege nach dem Cliff House müsse für sein Leben fürchten! Als ich noch ein Knabe war, Edwin, spazierten Männer, Frauen und kleine Kinder bei schönem Wetter zu Zehntausenden von San Francisco hier heraus. Damals gab es keine Bären. O nein, man bezahlte Geld, um sie in Käfigen anzuschauen, so selten waren sie.«

»Was ist Geld, Großpa?« Ehe der Greis antworten konnte, hatte der Knabe sich schon erinnert, steckte triumphierend die Hand in den Beutel unter dem Bärenfell und zog einen abgegriffenen, blinden Silberdollar heraus.

Die Augen des Greises funkelten, als er die Münze näher zu betrachten suchte. »Ich kann nicht sehen«, murmelte er. »Schau doch, ob du das Datum entziffern kannst, Edwin.«

Der Knabe lachte. »Du bist prachtvoll, Großpa«, rief er entzückt. »Tust immer, als bedeuteten die kleinen Zeichen etwas.«

Der Alte bezeigte einen Unwillen, der offenbar nicht neu war, und führte die Münze wieder dicht an die Augen. »Zweitausendundzwölf«, kreischte er und verfiel dann in ein wunderliches Schwatzen. »Das war das Jahr, als der Magnatenausschuß Morgan den Fünften zum Präsidenten der Vereinigten Staaten ernannte. Es muß eine der letzten Münzen sein, die geprägt wurden, denn zweitausendunddreizehn kam der Rote Tod. Mein Gott! Mein Gott! Welch ein Gedanke! Das ist sechzig Jahre her, und ich bin weit und breit der einzige, der aus jener Zeit noch lebt. – Wo hast du sie gefunden, Edwin?«

Der Knabe, der ihn mit der nachsichtigen Neugier betrachtet hatte, mit der man auf das Geplapper eines Schwachsinnigen hört, antwortete sofort: »Ich habe sie von Huh-Huh bekommen. Er fand sie im letzten Frühling in der Nähe von San José, wo wir die Ziegen hüteten. Huh-Huh sagte, daß es Geld wäre. Bist du nicht hungrig, Großpa?«

Der Greis faßte seinen Stock fester, beschleunigte seine Schritte auf dem Pfade, und seine alten Augen funkelten gierig. »Hoffentlich hat Hasenscharte einen Krebs gefangen ... oder gar zwei«, murmelte er. »Gut schmecken die Krebse, herrlich, wenn man keine Zähne mehr, aber einen Enkel hat, der eine Ehre darein legt, seinem Ahn Krabben zu fangen. Als ich noch ein Knabe war –«

Aber Edwin sah plötzlich etwas, das ihn stehenbleiben ließ. Er legte seinen Pfeil auf den Bogen und spannte die Sehne. Er stand am Rande einer Stelle, wo der Damm durchbrochen war. Ein altertümlicher, überwölbter Abzugskanal war hier ausgewaschen worden, und der nicht mehr eingeengte Strom hatte sich seinen Weg quer durch den Damm gebahnt. Drüben ragte das Ende einer Schiene hervor. Rostig hing es zwischen den wuchernden Ranken. Darunter kauerte ein Kaninchen und blickte ihn zitternd und unentschlossen an. Volle fünfzig Fuß maß die Entfernung, aber der Pfeil traf, und das durchbohrte Kaninchen schrie in Angst und plötzlichem Schmerz und wälzte sich qualvoll im Unterholz, raffte sich dann auf und floh. Der Knabe, selbst ein Blitz aus brauner Haut und fliegendem Fell, sprang den steilen Erdbruch hinab und kletterte auf der anderen Seite wieder hinauf. Seine mageren Muskeln glichen Stahlfedern, die sich in anmutiger, aber wirkungsvoller Funktion entspannten. Hundert Fuß weiter erreichte er das verwundete Tier in einem dichten Gestrüpp, schlug es mit dem Kopf gegen einen Baumstumpf und übergab es seinem Großvater zum Tragen.

»Kaninchen ist gut, ausgezeichnet«, murmelte der Greis. »Aber eine Delikatesse sind sie nicht gerade – da ziehe ich Krebse vor. Als ich noch ein Knabe war –«

»Warum sprichst du so vieles, das keinen Sinn hat?« unterbrach Edwin ungeduldig die drohende Geschwätzigkeit des Alten.

Der Knabe drückte sich nicht wortgetreu so aus, vielmehr sagte er etwas, das nur entfernt daran erinnerte. Seine Sprache bestand aus eruptiven Kehllauten und kannte keine beschönigenden Phrasen. Sie erinnerte allerdings an die des Alten, und dessen Rede klang wie ein Englisch, das im schmutzigen Bade des Gebrauchs verdorben war. »Ich möchte nur wissen«, fuhr Edwin fort, »warum du Krebse eine ›Delikatesse‹ nennst? Krebse sind doch Krebse, nicht wahr? Ich habe sie noch niemanden mit einem so komischen Namen nennen hören.«

Der Alte seufzte, antwortete jedoch nicht, und sie schritten schweigend weiter. Die Brandung wurde lauter. Sie traten aus dem Walde heraus und befanden sich in den Dünen am Rande des Meeres. Einige Ziegen weideten zwischen den sandigen Hügeln, und ein in Felle gekleideter Knabe hütete sie; dabei half ihm ein wolfsartiger, nur entfernt an einen Schäferhund gemahnender Vierbeiner. In das Rauschen der Brandung mischte sich ein ununterbrochenes, aus tiefster Kehle kommendes Bellen oder Brüllen, das von einer etwa hundert Schritte vom Gestade entfernten Gruppe zerklüfteter Felsen im Meere kam. Mächtige Seelöwen wälzten sich dort hinauf, um sich zu sonnen oder miteinander zu kämpfen. Im Vordergrund stieg der Rauch eines Feuers auf, das ein dritter, wildaussehender Knabe unterhielt. Neben ihm kauerten einige wolfsartige Hunde, ähnlich dem, welcher die Ziegen hütete.

Der Alte beschleunigte seine Schritte und näherte sich, eifrig schnuppernd, dem Feuer. »Miesmuscheln!« murmelte er entzückt. »Miesmuscheln! Und ist das nicht ein Krebs, Huh-Huh? Weiß Gott, ihr Jungens seid doch gut zu eurem alten Großvater!«

Huh-Huh, der anscheinend von gleichem Alter war wie Edwin, grinste. »Soviel du haben willst, Großpa, ich habe vier gefangen.«

Der Eifer des gebrechlichen Greises war erbarmungswürdig. So schnell seine steifen Glieder es erlaubten, ließ er sich im Sande nieder und stocherte sich eine große Felsenmiesmuschel aus den Kohlen heraus. Die Hitze hatte ihre Schalen gesprengt und das lachsfarbene Fleisch vollkommen gargekocht. Mit Daumen und Zeigefinger nahm er in zitternder Hast den Bissen und führte ihn zum Munde. Im nächsten Augenblick spie er jedoch das zu heiße Fleisch wieder aus. Der Alte sprudelte vor Schmerz, und die Tränen rannen ihm aus den Augen und über die Backen herab. Die Knaben waren echte Wilde, sie besaßen den grausamen Humor der Wilden. Für sie war das Vorkommnis unerhört komisch, und sie brachen in lautes Lachen aus. Huh-Huh tanzte umher, während Edwin sich vor Freude am Boden wälzte. Der Knabe, der die Ziegen hütete, kam auch herbei, um seinen Anteil an ihrer Lustigkeit zu erhalten. »Laß sie abkühlen, Edwin, laß sie abkühlen«, flehte der Alte mitten in seinem Kummer. Er machte nicht einmal den Versuch, sich die Tränen, die immer noch aus seinen Augen strömten, abzuwischen. »Und kühle mir auch einen Krebs, Edwin. Du weißt doch: Dein Großpa liebt Krebse.« Es zischte laut in den Kohlen: Es waren die Miesmuscheln, die sich öffneten und ihre Feuchtigkeit ausströmen ließen. Große Schaltiere, von drei bis sechs Zoll Länge. Die Knaben harkten sie mit Stöcken heraus und legten sie zum Abkühlen auf ein großes Stück Treibholz.

»Als ich noch ein Knabe war, lachten wir nicht über ältere Leute; wir ehrten sie.« Die Knaben beachteten die Worte nicht, und der Großvater brabbelte weiter eine unzusammenhängende Flut von Klagen und Nörgeleien. Diesmal war er vorsichtiger und verbrannte sich nicht den Mund. Alle begannen zu essen; sie benutzten dazu nichts als die Hände, aßen geräuschvoll und schmatzten mit den Lippen. Der dritte Knabe, den die anderen Hasenscharte nannten, streute verstohlen eine Prise Sand auf eine Miesmuschel, die der Greis zum Munde führte. Und als der grobe Sand in Schleimhäute und Gaumen des Alten biß, brach das tosende Gelächter wieder los. Der Großvater kam nicht auf den Gedanken, daß man ihm einen Schabernack gespielt hatte. Er räusperte sich und spuckte, bis Edwin Reue fühlte und ihm einen ausgehöhlten Kürbis voll Wasser gab, damit er sich den Mund spülen konnte.

»Wo sind die Krebse, Huh-Huh?« fragte Edwin. »Großpa ist schon ganz wild darauf.«

Wieder funkelten die Augen des Großvaters vor Gier, als ihm ein Krebs gereicht wurde. Es war eine Schale mit Scheren und allem, was dazu gehörte, aber das Fleisch war schon längst herausgenommen. Mit zittrigen Fingern, und im Vorgenuß lallend, brach der Alte eine Schere los – er fand sie leer. »Die Krebse, Huh-Huh!« wehklagte er. »Wo sind die Krebse?«

»Er hat dich angeführt, Großpa, es gibt gar keine Krebse. Ich habe keinen gefangen.«

Die Knaben waren vor Entzücken überwältigt beim Anblick seiner bitteren Enttäuschung. Dann vertauschte Huh-Huh das leere Gehäuse unbemerkt mit einem frisch gekochten Krebs. Die Schale war schon aufgebrochen, und das weiße Fleisch entsandte eine kleine Wolke duftenden Dampfes. Sie stieg dem Alten in die Nase, und er blickte erstaunt hinab. Sofort besserte sich seine Stimmung, und er strahlte. Er schnupperte und murmelte unaufhörlich vor sich hin, ja, fast hätte er vor Entzücken gesungen. Dann begann er zu essen. Die Knaben achteten nur wenig darauf, es war ihnen ein gewohntes Schauspiel. Ebensowenig beachteten sie, wenn er mit den Lippen schmatzte und geräuschvoll die Kiefer zusammenklappen ließ, während er murmelte: »Mayonnaise! Der Gedanke allein – Mayonnaise! Und sechzig Jahre ist es her, daß die letzte bereitet wurde! Zwei Menschenalter, und nicht eine Messerspitze davon! Ach du lieber Gott – damals wurden sie in jedem Restaurant zu Krebsen gereicht.«

Als der Alte nichts mehr essen konnte, seufzte er tief, wischte sich die Hände an den nackten Beinen ab und blickte über das Meer hinaus. Mit dem Wohlbehagen des vollen Magens erwachten die Erinnerungen in ihm. »Der Gedanke allein! Ich habe diesen Strand an schönen Sonntagen von Männern, Frauen und Kindern wimmeln sehen. Und damals gab es hier keine Bären, die einen fressen wollten. Gerade dort oben auf dem großen Felsen stand ein großes Restaurant, wo man alles zu essen bekam, was das Herz begehrte. Damals wohnten acht Millionen Menschen in San Francisco, und jetzt sind es in der ganzen Stadt, ja, im ganzen Lande, alles in allem noch keine vierzig. Auf dem Meer draußen waren Schiffe, viele, viele Schiffe zu sehen, die durch das Goldene Tor ein- und ausfuhren. Luftschiffe in der Luft – lenkbare Luftschiffe und Flugzeuge! Sie konnten achthundert Meilen in der Stunde zurücklegen. Das forderten die Verträge mit der New Yorker und San Franciscoer Post als Mindestleistung. Da war ein Kerl, ein Franzose seinen Namen habe ich vergessen –, der brachte es auf neunhundert! Das war jedoch riskant, zu riskant für konservative Leute. Aber er war doch auf dem rechten Wege, und er würde es fertiggebracht haben, wenn die Pest nicht gekommen wäre! Als ich noch ein Knabe war, gab es noch Menschen, die sich an das erste Flugzeug erinnerten, und dann erlebte ich das letzte – das ist sechzig Jahre her.«

Der Alte brabbelte weiter, unbeachtet von den Knaben, die sich längst an seine Geschwätzigkeit gewöhnt hatten und in deren Wortschatz zudem ein großer Teil der von ihm gebrauchten Wörter fehlte. Merkwürdigerweise nahm bei diesen weitschweifigen Selbstgesprächen sein Englisch die bessere Diktion und die Satzbildung einer früheren Zeit wieder an. Wenn er sich jedoch direkt an die Knaben wandte, ging er mehr zu ihren eigenen unbeholfenen und einfacheren Formen über.

»Aber in jenen Tagen gab es nicht viele Krebse«, erzählte der Alte weiter. »Sie waren zu stark gefischt worden, und sie waren eine große Delikatesse. Deshalb durften sie auch nur einen Monat im Jahr gefangen werden. Und jetzt kann man das ganze Jahr hindurch Krebse haben.«

Eine plötzliche Unruhe unter den Ziegen brachte die Knaben sofort auf die Beine. Die Hunde, die um das Feuer lagen, stürzten fort, um sich ihren knurrenden Kameraden, welche die Ziegen bewachten, anzuschließen, während die Ziegen selbst in wildem Aufruhr ihren menschlichen Beschützern entgegenrannten.

Ein halbes Dutzend magerer grauer Gestalten glitt zwischen den Dünen hindurch oder stellte sich den Hunden, die mit gesträubtem Fell auf den Feind losgingen. Edwin legte einen Pfeil auf den Bogen, schoß aber zu kurz. Hasenscharte jedoch warf mit einer Schleuder, wie David sie in seinem Kampf mit Goliath getragen haben mochte, einen Stein, der sausend durch die Luft pfiff. Er fiel mitten unter die Wölfe, die sich schleunigst aus dem Staube machten und in der Tiefe des Eukalyptuswaldes verschwanden.

Die Knaben lachten und legten sich wieder in den Sand, während ihr Ahn tief seufzte. Er hatte zu viel gegessen.

Die Hände mit verflochtenen Fingern vor dem Bauch gefaltet, fuhr er wieder in seinem Gefasel fort. »Die fliehenden Systeme schwinden im Schaum«, murmelte er. Es war offenbar ein Zitat. »Ja, das ist es: Flucht und Schaum. Die Mühsal des Menschen auf diesem Planeten war nichts als Schaum. Die nützlichen Tiere machte er zu Haustieren, die feindlichen tötete er. Er tilgte das Unkraut im Lande aus. Und dann verging er, die Flut des Urlebens rollte wieder zurück und fegte die Arbeit seiner Hände fort. Das Unkraut brach aus dem Walde hervor und überflutete seine Felder. Die Raubtiere überfielen seine Herden, und jetzt gibt es Wölfe am Strand von Cliff House.« Dieser Gedanke entsetzte ihn. »Wo sich einst acht Millionen Menschen tummelten, streifen heute Wölfe umher, und die wilden Sprößlinge unserer Lenden verteidigen sich mit prähistorischen Waffen gegen die vernichtenden Zähne. Welch ein Gedanke! Und das alles nur infolge des scharlachfarbenen Todes –«

Das Ohr Hasenschartes hatte das Eigenschaftswort aufgefangen. »Das sagt er immer«, wandte er sich zu Edwin. »Was ist Scharlach?«

»Der Scharlach des Ahorns kann mich erschüttern gleich dem Ruf des vorbeiziehenden Horns«, zitierte der Alte.

»Es ist rot«, beantwortete Edwin die Frage. »Das weißt du nicht, weil du vom Stamm der Chauffeure bist. Die haben nie etwas gewußt – keiner von ihnen – Scharlach ist rot – ich weiß es.«

»Rot ist rot – oder nicht?« brummte Hasenscharte. »Was hast du dich da so und sagst Scharlach?«

»Großpa, was sagst du immer so viel, was kein Mensch versteht?« fragte er. »Scharlach ist gar nichts, aber rot ist rot. Warum sagst du denn nicht rot?«

»Rot ist nicht das richtige Wort«, lautete die Antwort. »Die Seuche war scharlachrot. Das ganze Gesicht und der ganze Körper wurden in einer Stunde scharlachrot. Sollte ich das nicht wissen? Ich habe genug davon gesehen. Und ich sage euch, die Farbe war scharlach, weil – nun, weil es eben scharlach war. Es gibt keine andere Bezeichnung dafür.«

»Für mich ist rot genug«, murmelte Hasenscharte eigensinnig. »Mein Pa nennt rot rot, und er muß es wissen. Er sagt, daß alle den Roten Tod starben.«

»Dein Pa ist ein gewöhnlicher Bursche und der Sohn eines gewöhnlichen Mannes«, entgegnete der Alte heftig. »Sollte ich nicht den Ursprung der Chauffeure kennen? Dein Ahnherr war ein Chauffeur, ein Diener ohne Bildung. Er arbeitete für andere Leute. Aber deine Großmutter war aus guter Familie – nur daß die Kinder ihr nicht nachgeraten sind. Ich weiß noch genau, wie ich sie alle das erstemal beim Fischen auf dem Temescalsee traf.«

»Was ist Bildung?« fragte Edwin.

»Wenn man Rot Scharlach nennt«, höhnte Hasenscharte.

Dann setzte er seinen Angriff auf den Großvater fort: »Mein Pa hat mir gesagt, und er wußte es von seinem Vater, der es ihm erzählte, bevor er abkratzte, daß deine Frau aus Santa Rosa war und sicher nicht viel taugte. Er sagte, daß sie eine ›Gulaschschmeißerin‹ war, bis der Rote Tod sie holte. Ich weiß allerdings nicht, was eine ›Gulaschschmeißerin‹ ist. Kannst du es mir sagen, Edwin?«

Aber Edwin gab nur durch Kopfschütteln seine Unwissenheit kund.

»Es ist richtig, sie war Kellnerin«, gab der Großvater zu. »Aber sie war eine brave Frau, und deine Mutter war ihre Tochter. Frauen waren nach der Pest sehr rar, und sie war die einzige Frau, die ich finden konnte, wenn sie auch ›Gulaschschmeißerin‹ war, wie dein Vater es nennt. Aber es ist nicht hübsch von dir, so über deine Vorfahren zu reden.«

»Pa sagt, daß die Frau des ersten Chauffeurs eine Dame gewesen ist.«

»Was ist eine Dame?« fragte Huh-Huh.

»Eine Dame ist die Squaw eines Chauffeurs«, erwiderte Hasenscharte rasch.

»Der erste Chauffeur war Bill, ein gewöhnlicher Mensch, wie ich schon sagte«, erklärte der Alte. »Aber seine Frau war eine Dame, eine große Dame. Bevor die Scharlach-Pest kam, war sie eine Frau van Warden. Ihr erster Mann war Präsident des Verbandes der Großindustriellen gewesen. Er gehörte zu dem Dutzend Männer, die Amerika regierten. Er war eine Milliarde oder doch wenigstens achthundert Millionen Dollar schwer – Münzen, wie du sie in deinem Beutel hast, Edwin. Und dann kam die Scharlach-Pest, und seine Frau heiratete Bill, den Chauffeur. Der schlug sie oft. Ich hab es selbst gesehen.«

Huh-Huh, der auf dem Bauch lag und mit den Zehen faul im Sand wühlte, schrie leicht auf und besah sich zuerst den Nagel an seinem Zeh und dann das kleine Loch, das er gewühlt hatte.

Die beiden andern Knaben liefen hinzu. Sie warfen den Sand rasch mit ihren Händen aus und legten drei Skelette frei. Zwei davon gehörten Erwachsenen, das dritte einem halbwüchsigen Kind.

Der Alte rutschte auf dem Boden hin und betrachtete den Fund. »Opfer der Pest«, verkündete er. »Auf diese Weise starben sie damals überall in den letzten Tagen. Dies hier muß eine Familie gewesen sein, die vor der Ansteckung floh und am Strand von Cliff House vom Tod eingeholt wurde. Sie waren – aber was treibst du da, Edwin?« Die Frage klang bestürzt.

Edwin hatte sein Jagdmesser genommen und schlug damit einem der Schädel die Zähne aus. »Ich will sie aufreihen«, lautete die Antwort.

»Ihr seid die wahren Wilden. Hat sich schon die Sitte eingebürgert, menschliche Zähne als Schmuck zu tragen?! Die nächste Generation wird Knochen und Muscheln tragen. Ich weiß es. Die menschliche Rasse ist dazu verdammt, immer tiefer in die Nacht der Primitivität zurückzusinken, ehe sie von neuem ihren blutigen Aufstieg zur Zivilisation antritt. Sobald wir uns vermehren und Raummangel verspüren, werden wir beginnen, uns gegenseitig totzuschlagen. Und dann, denke ich, werdet ihr Skalpe am Gürtel tragen – wie du, Edwin, der sanfteste von meinen Enkeln, es schon mit diesem widerlichen Schweineschwanz tust. Wirf ihn fort, Edwin, mein Junge, wirf ihn fort!«

»Was für einen Unsinn der alte Narr zusammenredet!« bemerkte Hasenscharte, als sie alle Zähne ausgeschlagen hatten und den Versuch einer ehrlichen Teilung machten.

Sie waren rasch und hastig in Tat und Rede, und wie sie sich jetzt darum stritten, wer die schönsten Zähne haben sollte, riefen sie alle durcheinander. Ihre Rede bestand zumeist aus einsilbigen Wörtern und kurzen, abgehackten Sätzen und glich mehr einem Geschnatter als menschlicher Sprache. Und doch wies sie Spuren von grammatikalischer Konstruktion und Reste einer Konjugation auf; irgendwie machte sich eine höhere Bildung bemerkbar. Selbst die Rede des Großvaters war verdorben; wörtlich wiedergegeben, würde sie dem Leser fast unsinnig erscheinen. Sobald er sich in Selbstgespräche verlor, säuberte sich die Sprache langsam und wurde schließlich ein reines Englisch. Die Sätze wurden komplizierter und wurden in einem Rhythmus und mit einer Leichtigkeit gesprochen, die an einen Vortragsredner gemahnte.

»Erzähl uns vom Roten Tod, Großpa«, bat Hasenscharte, sobald die Teilung der Zähne zur allgemeinen Zufriedenheit erfolgt war.

»Vom Scharlach-Tod«, verbesserte Edwin.

»Und red nicht in der komischen Sprache mit uns«, fuhr Hasenscharte fort. »Red vernünftig, Großpa, wie ein Mann aus Santa Rosa reden soll. Andere Leute aus Santa Rosa reden nicht so wie du.«

Der Alte freute sich offensichtlich über diese Aufforderung. Er räusperte sich und begann: »Vor zwanzig bis dreißig Jahren gab es viele, die meine Geschichte hören wollten. Heute aber scheint sie niemand mehr zu interessieren –«

»Da hast du's!« rief Hasenscharte heftig. »Laß doch den Unsinn und rede vernünftig. Was heißt interessieren? Du redest wie ein kleines Kind, das nicht weiß, was es spricht.«

»Laß ihn in Ruhe«, drängte Edwin, »sonst wird er böse und sagt überhaupt nichts mehr. Kümmere dich nicht um die komischen Wörter. Das meiste verstehen wir schon.«

»Leg los, Großpa!« ermunterte Huh-Huh ihn, denn der Greis murmelte schon wieder etwas vor sich hin über Respektlosigkeit gegen ältere Leute und über den Rückfall aller Menschen, die von einer hohen Kulturstufe auf eine niedrigere sanken.

Die Erzählung begann.

»Damals lebten viele Menschen in der Welt. San Francisco allein hatte acht Millionen –«

»Was heißt Millionen?« unterbrach ihn Edwin.

Der Großvater sah ihn freundlich an. »Ich weiß, du kannst nicht weiter als bis zehn zählen. Aber ich will es dir sagen. Heb die Hände hoch. An beiden zusammen hast du, mit den Daumen, zehn Finger. Schön. Nun nehme ich dies Sandkörnchen – halte es, Huh-Huh!« Er ließ das Sandkorn in die Hand fallen und fuhr fort: »Dieses Sandkorn bedeutet die zehn Finger Edwins. Ich füge ein zweites Sandkorn hinzu, dann noch eines und noch eines, bis es so viele Sandkörner sind, wie Edwin Finger hat. Die Summe, die dabei herauskommt, nenne ich hundert. Behaltet das Wort: hundert. Jetzt lege ich dies Steinchen hier in die Hand Hasenschartes. Es bedeutet zehn Sandkörnchen oder zehn mal zehn Finger oder hundert Finger. Ich lege noch mehr Steinchen hinein, bis es zehn sind. Die bedeuten tausend Finger. Ich nehme eine Muschelschale, die gilt zehn Steinchen oder hundert Sandkörnchen oder tausend Finger ...« Und mühselig und unter vielen Wiederholungen bemühte er sich so, in ihren Köpfen eine primitive Vorstellung von Zahlen zu erwecken. Für jede Zahleneinheit legte er den Knaben die verschiedenen Zahlengrößen in die Hand. Für eine noch höhere Summe benutzte er als Symbol einen Treibholzstamm. Aber dann war er in Verlegenheit, neue Symbole zu finden, bis er auf den Einfall kam, die Zähne aus den Totenschädeln für Millionen und die Krebsschalen für Milliarden gelten zu lassen. Da hielt er inne, denn die Knaben begannen schon Anzeichen von Müdigkeit zu verraten. »Also es gab acht Millionen Menschen in San Francisco – acht Zähne.«

Die Blicke der Knaben glitten über die Zähne und von Hand zu Hand bis hinab zu den Fingern Edwins. Und wieder zurück durchwanderten sie die aufsteigenden Reihen in dem Bemühen, solche unfaßbaren Zahlengrößen zu begreifen.

»Das war aber eine Masse Menschen«, wagte Edwin sich schließlich hervor.

»Wie Sand am Meer hier, wie Sand am Meer – jedes Körnchen ein Mann oder eine Frau oder ein Kind. Ja, mein Junge, all diese Menschen lebten in San Francisco. Und hin und wieder kamen sie an diesen Strand – mehr Menschen, als hier Sandkörner sind. Mehr und mehr – immer mehr. Und San Francisco war eine prächtige Stadt. Jenseits der Bucht – dort, wo wir letztes Jahr lagerten – dort lebten noch mehr Menschen – von Point Richmond in der Ebene und auf den Hügeln bis nach San Leandro, einer großen Stadt mit sieben Millionen Einwohnern. – Sieben Zähne ... ja, soviel waren es – sieben Millionen.« Wieder glitten die Blicke der Knaben von den Fingern Edwins zu den Zähnen auf dem Treibholzstamm.

»Die Welt war voll von Menschen. Die Zählung im Jahre 2010 ergab für die ganze Welt acht Milliarden – acht Krebsschalen, ja, acht Milliarden.

Es war nicht wie heute. Die Menschheit verstand es viel besser als jetzt, Nahrung zu gewinnen. Und je mehr Nahrung es gab, desto mehr Menschen gab es. Im Jahre 1800 lebten hundertundsiebzig Millionen allein in Europa. Hundert Jahre später – ein Sandkörnchen, Huh-Huh –, hundert Jahre später, im Jahre 1900, waren es schon zwei Milliarden – zwei Krebsschalen, Huh-Huh – auf der Erde. Das zeigt, wie leicht man sich ernähren konnte und mit welcher Schnelligkeit die Menschen zunahmen. Und im Jahre 2000 lebten fünfhundert Millionen Menschen allein in Europa. In der ganzen Welt war es das gleiche. Acht Krebsschalen, ja, acht Milliarden Menschen lebten auf der Erde, als der Scharlach-Tod kam. Ich war noch jung, als die Seuche kam – siebenundzwanzig Jahre war ich alt. Und ich lebte auf der andern Seite der Bucht von San Francisco – in Berkeley. Du erinnerst dich doch an die großen Steinhäuser, Edwin, an denen wir vorbeikamen, als wir von Contra Costa aus die Hügel hinabstiegen? Dort eben lebte ich, in einem dieser Steinhäuser. Ich war Professor der englischen Literatur.«

Vieles von dem, was er den Knaben erzählte, war ihnen zu hoch, aber sie bemühten sich, mit ihrem getrübten Verständnis diese Erzählung aus der Vergangenheit zu erfassen.

»Wozu brauchten sie Steinhäuser?« fragte Hasenscharte.

»Erinnerst du dich noch, wie dein Pa dich schwimmen lehrte?«

Der Knabe nickte.

»Nun ja – in der Universität von Kalifornien – so hießen die Häuser – lehrten wir junge Männer und Frauen, wie sie denken sollten, so wie ich dir jetzt mit Hilfe von Sand Steinen und Muscheln begreiflich gemacht habe, wie viele Menschen in jenen Tagen lebten. Es gab sehr viel zu lernen. Die jungen Männer und Frauen, die wir unterrichteten, wurden Studenten genannt. Wir hatten große Räume, in denen der Unterricht stattfand. Ich sprach zu ihnen, zu vierzig bis fünfzig auf einmal, so wie ich jetzt zu euch spreche. Ich erzählte ihnen von Büchern, die andere Menschen vor ihrer Zeit und manchmal auch zu ihrer Zeit geschrieben hatten –«

»War das alles, was du tatest? Nichts als reden, reden, reden?« wollte Huh-Huh wissen. »Wer erlegte denn das Fleisch für dich? Wer molk die Ziegen? Und wer fing die Fische?«

»Eine vernünftige Frage, Huh-Huh, eine vernünftige Frage. Wie ich dir schon sagte, war es in jener Zeit leicht, sich Nahrung zu verschaffen. Wir waren sehr klug. Einige wenige Menschen sorgten für die Nahrung vieler. Die übrigen Menschen waren mit andern Dingen beschäftigt. Wie du sagst: Ich redete die ganze Zeit, und dafür gab man mir Nahrung – reichliche Nahrung, gute Nahrung, herrliche Nahrung – Nahrung, die ich seit sechzig Jahren nicht gekostet habe und nie wieder kosten werde. Zuweilen denke ich, daß die herrlichste Errungenschaft unserer ungeheuren Zivilisation die Nahrung war – ihre unendliche Fülle, ihr Abwechslungsreichtum und ihre unsägliche Schmackhaftigkeit. O meine Enkel! Leben war wirklich Leben in jenen Tagen, als wir so wunderbare Dinge zu essen hatten.«

Das war den Knaben zu hoch. Sie ließen Worte und Gedanken vorbeiziehen, als wären sie nur die Abschweifungen eines Greises in der Erzählung.

»Die, welche unsere Nahrung beschafften, wurden Vollbürger genannt. Das war ein Witz. Wir von der regierenden Klasse besaßen alles Land, alle Maschinen, alles. Die andern waren unsere Sklaven. Wir nahmen ihnen fast alle Nahrung ab, die sie beschafften, und ließen ihnen nur so wenig, daß sie leben und weiter arbeiten konnten, um noch mehr Nahrung für uns zu beschaffen.«

»Ich wäre in den Wald gegangen und hätte mir selbst was zu essen geholt«, verkündete Hasenscharte. »Und wenn einer versucht hätte, es mir wegzunehmen, hätte ich ihn getötet.«

Der Alte lachte. »Hab ich euch nicht gesagt, daß wir, die herrschende Klasse, das ganze Land besaßen – allen Wald, alles? Jeden Nahrungssucher, der sich weigerte, uns Nahrung zu beschaffen, bestraften wir oder zwangen ihn zu verhungern. Aber das widerfuhr nur wenigen. Die meisten zogen es vor, uns Nahrung zu suchen, Kleider zu verfertigen und uns tausend Befriedigungen und Freuden zu verschaffen.

In jenen Tagen war ich Professor Smith – Professor James Howard Smith. Und meine Vorträge waren damals sehr populär – das heißt, daß sehr viele junge Männer und Frauen es liebten, mich über die Bücher, die andere geschrieben hatten, reden zu hören. Ich war sehr glücklich und hatte stets herrliche Dinge zu essen. Und meine Hände waren weich, denn ich arbeitete nicht mit ihnen, mein Körper war überall sauber, ich trug die weichste Kleidung.« Er blickte voll Abscheu auf sein räudiges Ziegenfell hinab. »In jenen Tagen trugen wir nicht dergleichen. Selbst die Sklaven hatten bessere Kleider. Und wir waren sehr sauber. Jeden Tag wuschen wir uns öfters Gesicht und Hände. Ihr Knaben wascht euch nie, es sei denn, daß ihr ins Wasser fallt oder schwimmt.«

»Du auch nicht, Großpa«, entgegnete Huh-Huh.

»Ich weiß, ich weiß. Ich bin ein schmutziger alter Kerl. Aber die Zeiten haben sich geändert. Heute wäscht sich keiner mehr, und es gibt keine Bequemlichkeiten. Sechzig Jahre sind es her, seit ich das letzte Stück Seife gesehen habe. Ihr wißt nicht, was Seife ist, und ich erzähle es euch nicht, denn jetzt erzähle ich euch die Geschichte vom Scharlach-Tod.

Ihr wißt, was Krankheit ist. Wir nannten es Seuche. Sehr viele dieser Seuchen entstanden durch etwas, was wir Bakterien nannten. Behaltet dieses Wort – Bakterien. Eine Bakterie ist ein ganz winziges Ding. Sie ist wie die Milben, die ihr im Frühling auf den Hunden findet, wenn sie durch die Wälder laufen. Nur daß die Bakterien viel kleiner sind. Sie sind so klein, daß ihr sie gar nicht sehen könnt.«

Huh-Huh fing zu lachen an. »Du bist mir der rechte, Großpa! Redest von Dingen, die man nicht sehen kann. Woher weißt du denn, daß sie da sind, wenn du sie nicht sehen kannst? Das möchte ich wissen! Wie kannst du von etwas wissen, das du nicht sehen kannst?«

»Eine gute Frage, eine sehr gute Frage, Huh-Huh. Aber wir sahen sie doch – einige von ihnen wenigstens. Wir hatten etwas, was wir Mikroskop und Ultramikroskop nannten, und an das legten wir unsere Augen und blickten hindurch, und dann sahen wir die Dinge viel größer, als sie in Wirklichkeit sind, und viele Dinge sahen wir, die wir ohne das Mikroskop überhaupt nicht hätten sehen können. Unsere schärfsten Ultramikroskope vermochten eine Bakterie tausendmal zu vergrößern. Eine Muschelschale bedeutet tausend Finger wie die Edwins. Nimm vierzig Muschelschalen: Um so viel wurde die Bakterie größer, wenn wir sie durch das Mikroskop betrachteten. Aber wir konnten es auch noch anders machen. Mit Hilfe von lebenden Bildern, wie wir es nannten, konnten wir die vierzigtausendmal vergrößerten Bakterien noch viele, viele tausendmal größer machen. Und auf diese Weise sahen wir all diese Dinge, die unser Auge an sich nicht zu sehen vermochte. Nimm ein Sandkorn. Zerbrich es in zehn Stücke. Zerbrich wiederum eines dieser zehn Stücke in zehn, und tue dasselbe abermals und abermals. Tue es den ganzen Tag, und vielleicht wirst du dann bei Sonnenuntergang ein Stück haben, das so klein ist wie eine dieser Bakterien.«

Die Knaben zeigten offen ihren Unglauben. Hasenscharte rümpfte die Nase und grinste, und Huh-Huh kicherte, bis Edwin sie heimlich anstieß, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Die Milbe saugt den Hunden das Blut aus, die Bakterie aber dringt infolge ihrer Kleinheit bis in das Blut im Körper ein. Die mikroorganische Welt war eine unsichtbare Welt, eine Welt, die wir nicht zu sehen vermochten und von der wir sehr wenig wußten. Aber etwas wußten wir. Da gab es den Bacillus anthracis und den Mikrococcus und das Bacterium Termo und das Bacterium lactis – das ist es, was bis auf den heutigen Tag die Ziegenmilch sauer macht, Hasenscharte. Und endlos war die Reihe der Schizomyceten. Und viele andere ...«

Hier gab der Alte eine Erklärung der Bakterien und ihres Wesens. Er gebrauchte dabei Worte, die so ungewöhnlich lang und unverständlich waren, daß die Knaben sich angrinsten und über den verlassenen Ozean hinwegschauten, bis sie den Alten und sein Schwatzen vergaßen.

»Aber der Scharlach-Tod, Großpa!« mahnte Edwin endlich.

Der Großvater besann sich, fuhr zusammen und riß sich los vom Katheder eines Vorlesungsraumes, wo er in Gedanken dem Auditorium einer andern Welt die letzten Theorien über Bakterien und die durch sie erzeugten Krankheiten vor sechzig Jahren auseinandergesetzt hatte. »Ach ja, Edwin, ich hatte es ganz vergessen. Zuweilen wird die Vergangenheit mit ihren Erinnerungen so stark in mir, daß ich nicht daran denke, daß ich nur ein schmutziger alter, in Ziegenfelle gekleideter Mann bin, der mit wilden Enkeln, die Ziegenhirten sind, durch eine urweltliche Wildnis wandert. ›Die fliehenden Systeme schwinden im Schaum‹, und so schwand unsere ungeheure, ruhmreiche Zivilisation dahin.

Ich bin Großpa, ein müder, alter vom Stamm Santa Rosa. Ich heiratete in den Stamm hinein. Meine Söhne und Töchter heirateten Angehörige vom Stamm der Chauffeure, der Sacramentos und der Palo-Altos. Du, Hasenscharte, gehörst zu den Chauffeuren, du, Edwin, zu den Sacramentos und du, Huh-Huh, zu den Palo-Altos. Dein Stamm hat seinen Namen von einer Stadt, die in der Nähe einer zweiten sehr großen Bildungsanstalt lag. Diese Anstalt nannte sich die Stanford-Universität. Ja, jetzt erinnere ich mich, jetzt weiß ich es wieder. Es ist ganz klar: Ich erzählte euch gerade vom Scharlach-Tod. Wo war ich stehengeblieben?«

»Du erzähltest von Bakterien, den Dingen, die man nicht sehen kann, die aber die Menschen krank machen«, half Edwin ihm.

»Ja, richtig, Anfangs bemerkte der Mensch es nicht, wenn einige wenige Bakterien in seinen Körper drangen. Aber jede Bakterie spaltete sich und wurde zu zwei Bakterien, und so ging es weiter mit rasender Geschwindigkeit, so daß sich in kürzester Zeit viele Millionen im Körper befanden.

Dann war der Mensch krank. Er hatte eine Krankheit, und die Krankheit wurde nach der Bakterie, die in ihm wohnte, benannt. Es konnten die Masern, es konnte Grippe, es konnte das Gelbe Fieber, es konnte aber auch sonst irgendeine von den tausend und aber tausend verschiedenen Krankheiten sein. Nun ist das Merkwürdige an diesen Bakterien, daß immer neue kommen, um im Körper des Menschen zu leben. Vor langer, langer Zeit, als erst wenige Menschen auf der Erde lebten, gab es nur wenige Krankheiten. Als sich die Menschen aber vermehrten und eng beieinander in großen Städten lebten, entstanden neue Krankheiten, und neue Bakterien gelangten in ihre Körper. Auf diese Weise wurden zahllose Millionen und Milliarden von Menschen getötet. Und je dichter die Menschen beieinander hausten, desto schrecklicher waren die Krankheiten, die neu entstanden. Lange vor meiner Zeit fegte die Pest über Europa dahin. Oftmals kam sie. Und wo die Menschen dichtgedrängt wohnten, wurden sie von der Tuberkulose ergriffen. Hundert Jahre vor meiner Zeit kam die Beulenpest. In Afrika gab es die Schlafkrankheit.

Die Bakteriologen bekämpften alle diese Krankheiten und vernichteten sie, so wie ihr Knaben die Wölfe verscheucht, die die Ziegen überfallen wollen, oder die Moskitos zerquetscht, die sich auf euch setzen. Die Bakteriologen –«

»Aber Großpa, was ist denn das?« unterbrach ihn Edwin. »Du, Edwin, bist ein Ziegenhirt. Deine Aufgabe ist es, die Ziegen zu beobachten. Ein Bakteriologe beobachtet die Bakterien. Das ist seine Aufgabe, und er versteht sehr viel von ihnen. So bekämpften die Bakteriologen, wie gesagt, die Bakterien und vernichteten sie – manchmal. Da gab es Lepra – eine abscheuliche Krankheit. Hundert Jahre vor meiner Geburt entdeckten die Bakteriologen den Leprabazillus. Sie wußten alles über diese Krankheit. Sie verfertigten Bilder von ihr. Ich habe solche Bilder gesehen. Aber sie fanden nie den Weg, sie zu töten. Im Jahre 1884 kam die Pantoplast-Seuche, eine Krankheit, die in einem Lande namens Brasilien ausbrach und Millionen von Menschen tötete. Aber die Bakteriologen fanden den Erreger, und sie fanden die Möglichkeit, ihn abzutöten, so daß die Pantoplast-Seuche erlosch. Sie verfertigten etwas, das Serum hieß, und spritzten es den Menschen in den Körper, und das tötete die Pantoplast-Bakterien, ohne den Menschen zu schaden. Und 1910 kamen die Pellagra sowie der Hakenwurm. Diese Keime wurden leicht durch die Bakteriologen getötet. 1997 jedoch entstand eine neue Krankheit, die man bis dahin nie gesehen hatte. Sie befiel kleine Kinder von zehn Monaten und darunter und nahm ihnen die Fähigkeit, Hände und Füße zu bewegen, zu essen oder sonst irgend etwas zu tun. Und die Bakteriologen brauchten elf Jahre, um herauszubekommen, wie sie diese Bakterien töten und die kleinen Kinder retten konnten. Trotz all dieser Krankheiten und obgleich immer wieder neue entstanden, vermehrten sich die Menschen auf der Erde ständig. Und je mehr Menschen es gab, um so mehr Arten von Bakterien entstanden, die Krankheiten verursachten.

Es gab manches Warnungszeichen. Schon im Jahre 1986 sagte Solderwetzky den Bakteriologen, daß es keinen sicheren Schutz gegen irgendeine neue Krankheit gäbe, die vielleicht tausendmal tödlicher sei als alle bisher bekannten, eine neue Krankheit, die Millionen, ja Milliarden von Menschen töten könnte. Ihr begreift, daß die mikroorganische Welt, die Welt der Mikroben, den Menschen bis zuletzt ein Geheimnis blieb. Sie kannten die Existenz einer solchen Welt und wußten, daß von Zeit zu Zeit ganze Armeen neuer Bakterien ausrückten, um die Menschheit zu besiegen. Das war aber auch alles, was sie von ihr wußten. Denn was sie mit Bestimmtheit sagen konnten, war, daß in dieser unsichtbaren Welt der Mikroben so viele verschiedene Arten von Bakterien leben konnten, wie es Sand am Meere gab, und daß in dieser unsichtbaren Welt immer wieder neue Arten entstehen konnten. Vielleicht war dort der Ursprung des Lebens zu suchen, die ›bodenlose Fruchtbarkeit‹, wie Solderwetzky es nannte, der die Worte anderer Männer, die vor ihm geschrieben hatten, benutzte.«

Jetzt stand Hasenscharte auf; seine Miene zeigte ungeheure Verachtung. »Großpa«, verkündete er, »du machst mich krank mit deinem Geschwätz. Warum erzählst du nichts vom Roten Tod? Wenn du nicht willst, so sag es lieber, dann gehen wir jetzt nach dem Feldlager.«

Der Alte sah ihn an und begann still vor sich hin zu weinen. Die kraftlosen Tränen des Alten rollten ihm über die Wangen, und die ganze Schwäche seiner siebenundachtzig Jahre zeigte sich in seiner vergrämten Miene.

»Setz dich doch«, meinte Edwin beschwichtigend.

»Großpa hat ganz recht. Er ist ja schon dabei, vom Scharlach-Tod zu erzählen. Nicht wahr, Großpa? Du bist schon dabei. Setz dich, Hasenscharte, und du, Großpa, erzähl weiter.«

Der Alte wischte sich mit seinen schmutzigen Fingern die Tränen ab und nahm die Erzählung mit dünner zittriger Stimme wieder auf, die jedoch, sobald er im Zuge war, kräftiger wurde. »Es war im Sommer 2013, als die Seuche kam. Ich war damals siebenundzwanzig Jahre alt und erinnere mich noch gut daran. Drahtlose Berichte –« Hasenscharte spie geräuschvoll aus, um seinem Ärger Luft zu machen, und Großpa beeilte sich, es wieder gut zu machen.

»Wir sprachen in jenen Tagen auf Tausende und aber Tausende von Meilen durch die Luft. Und auf diesem Wege kam die Nachricht von einer merkwürdigen Krankheit, die in New York ausgebrochen war. Siebzehn Millionen Menschen lebten damals in dieser vornehmsten Stadt Amerikas. Aber niemand beachtete die Nachricht. Es war nichts von Bedeutung. Es hatte nur ein paar Tote gegeben. Sie schienen jedoch sehr schnell gestorben zu sein, und eines der ersten Anzeichen der Krankheit war, daß das Gesicht und der ganze Körper rot wurden.

Binnen vierundzwanzig Stunden erreichte die Nachricht von dem ersten Todesfall Chicago. Und schon am selben Tage kam es heraus, daß Tokio, neben Chicago die größte Stadt der Welt, seit zwei Wochen heimlich gegen die Seuche kämpfte, aber den ganzen Nachrichtendienst unter Zensur gestellt hatte. Das heißt, man hatte verboten, der übrigen Welt mitzuteilen, daß die Seuche in Tokio wütete. Es sah ernst aus, aber weder in Kalifornien noch sonst irgendwo in der Welt war man ängstlich. Wir waren überzeugt, daß die Bakteriologen ein Mittel finden würden, diesen neuen Keim zu besiegen, wie sie früher andere Keime besiegt hatten. Das beunruhigende war jedoch die Schnelligkeit, mit der diese Bakterien den menschlichen Organismus zerstörten, sowie die Tatsache, daß sie unrettbar jeden menschlichen Körper, den sie befielen, töteten. Keiner, der an der Scharlach-Pest erkrankte, ist je genesen. Man kannte die alte asiatische Cholera. Da hatte man mit einem Menschen, der sich der besten Gesundheit erfreute, zu Abend essen können, und wenn man nur früh genug am nächsten Morgen aufstand, konnte man den Leichenwagen sehen, in dem er fortgeschafft wurde. Aber die neue Seuche arbeitete schneller. Von dem Augenblick an, da sich die ersten Anzeichen bemerkbar machten, dauerte es nur eine Stunde, bis der Mensch tot war. Bestenfalls dauerte es einige wenige Stunden. Viele starben binnen zehn oder fünfzehn Minuten nach Erscheinen der ersten Anzeichen. Das Herz begann schneller zu schlagen, die Körpertemperatur stieg, und dann kam der scharlachfarbene Ausschlag und verbreitete sich wie ein Lauffeuer über Gesicht und Körper.

Die meisten merkten gar nicht einmal das Steigen der Temperatur und die Beschleunigung des Pulses; das erste, was ihnen zum Bewußtsein kam, war der rote Ausschlag. Mit diesem Ausschlag waren meistens Krämpfe verbunden, aber sie dauerten nicht lange und waren nicht sehr heftig. Waren sie überstanden, so wurde der Kranke ruhig und bemerkte nur eine Gefühllosigkeit, die von den Beinen aufwärts in seinen Körper stieg. Zuerst wurden die Fersen taub, dann Beine und Hüften, und wenn die Gefühllosigkeit die Herzgegend erreichte, starb er. Sie phantasierten weder, noch schliefen sie. Ihre Gehirne blieben immer kühl und ruhig bis zu dem Augenblick, da ihre Herzen von der Gefühllosigkeit erreicht wurden und stillstanden. Ebenfalls sehr merkwürdig war die furchtbare Schnelligkeit, mit welcher der Zerfall vor sich ging. Kaum war ein Mensch tot, so schien der Körper auch schon zu zerfallen, zu zerstieben, zu schmelzen. Man sah die Verwesung arbeiten. Dies war einer der Gründe, daß die Seuche sich mit so ungeheurer Schnelligkeit ausbreitete. All die Milliarden von Bakterien in einer Leiche wurden sofort wieder frei.

Und dies war auch der Grund, daß die Bakteriologen so wenig Gelegenheit hatten, die Keime zu bekämpfen. Sobald sie sich daran machten, die Keime des Scharlach-Todes in ihren Laboratorien zu studieren, wurden sie auch schon von ihnen getötet. Sie versuchten, die Seuche mit andern Bakterien zu bekämpfen, das heißt, in den Körper eines Kranken solche Bakterien einzuführen, die Feinde der Seuchenkeime waren –«

»Ich denke, du konntest diese Dinger, die Bakterien, nicht sehen, Großpa?« warf Hasenscharte ein. »Und da schwatzt und schwatzt du über sie, als wären sie etwas, während sie doch gar nichts waren. Was du nicht sehen kannst, das ist nichts, nicht wahr? Wie kann man Dinge mit Dingen bekämpfen, die es gar nicht gibt! Alle Menschen müssen in jenen Tagen Narren gewesen sein. Deshalb krepierten sie. Du wirst mich nie dazu bekommen, diesen Unsinn zu glauben, das sage ich dir.«

Großpa brach wieder in Tränen aus, aber Edwin nahm sich heftig seiner an. »Ich will dir was sagen, Hasenscharte. Du glaubst an eine ganze Menge von Dingen, die du nicht sehen kannst.«

Hasenscharte schüttelte den Kopf.

»Du glaubst, daß Tote umherwandeln. Aber du hast noch nie einen Toten wandeln sehen.«

»Und ich sage dir, daß ich es im letzten Winter sah, als ich mit Pa auf der Wolfsjagd war.«

»Du speist immer aus, wenn du fließendes Wasser überschreitest«, fuhr Edwin fort.

»Das tue ich, damit ich kein Unglück habe«, verteidigte sich Hasenscharte.

»Du glaubst also an Unglück?«

»Gewiß.«

»Aber du hast das Unglück nie gesehen«, schloß Edwin triumphierend. »Du bist genauso schlimm wie Großpa mit seinen Bakterien. Du glaubst an etwas, das du nicht siehst. Bitte erzähle weiter, Großpa.«

Hasenscharte schwieg, zerschmettert durch diese metaphysische Niederlage, und der Alte fuhr fort. Immer häufiger geriet er in Einzelheiten, weil die Knaben sich zankten und ihn unterbrachen. Dabei tauschten sie auch untereinander Erklärungen und Vermutungen aus, während sie versuchten, dem alten Mann in seine unbekannte, verschwundene Welt zu folgen. »Die Scharlach-Pest brach in San Francisco aus. Der erste Todesfall erfolgte an einem Montagmorgen. Am Donnerstag starben sie schon wie die Fliegen in Oakland und San Francisco. Sie starben überall – in ihren Betten, bei der Arbeit, auf den Straßen. Am Dienstag war es, daß ich selbst den ersten Fall erlebte. Es war ein Fräulein Colbran, eine meiner Studentinnen, und es geschah direkt vor meinen Augen, auf ihrem Platz in meinem Hörsaal. Während ich meine Vorlesung hielt, fiel mir plötzlich ihr Gesicht auf. Es war auf einmal scharlachrot geworden. Ich schwieg und konnte sie nur ansehen, denn die Angst vor der Seuche hatte uns schon alle gepackt, und wir wußten, daß sie gekommen war.

Die jungen Mädchen stürzten schreiend hinaus. Die jungen Männer ebenfalls – bis auf zwei. Die Krämpfe Fräulein Colbrans waren sehr milde und dauerten kaum eine Minute. Einer der jungen Männer holte ihr ein Glas Wasser. Sie trank nur einen Schluck, dann rief sie: ›Meine Füße! Ich habe kein Gefühl in ihnen!‹ Eine Minute darauf sagte sie: ›Ich habe keine Füße. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch Füße habe. Und meine Knie sind ganz kalt. Ich fühle sie kaum.‹

Einen Packen Hefte unter dem Kopf, lag sie auf dem Fußboden. Und wir konnten ihr nicht helfen. Die Kälte und die Gefühllosigkeit krochen ihr in die Hüften und bis ans Herz, und als sie das Herz erreicht hatten, war sie tot. Nach fünfzehn Minuten – ich hatte auf die Uhr gesehen –, nach fünfzehn Minuten war sie tot – in meinem Lehrsaal – tot. Und sie war ein schönes, starkes, gesundes junges Weib gewesen. Und von dem Augenblick an, da sich die ersten Anzeichen der Krankheit bei ihr gezeigt hatten, bis zu ihrem Tod waren kaum fünfzehn Minuten verstrichen.

Daraus erseht ihr, wie schnell die Scharlach-Pest wirkte. Aber in den wenigen Minuten, die ich bei der Sterbenden im Hörsaal geblieben war, hatte sich die Nachricht in der ganzen Universität verbreitet, und alle Studenten hatten Hörsäle und Laboratorien, in denen sie sich zu Tausenden befanden, geräumt. Als ich herauskam, um dem Rektor Bericht zu erstatten, fand ich die Universität verlassen. Über den Hof sah ich noch einige wenige Nachzügler heimeilen. Zwei rannten sogar.

Ich traf Rektor Hoag in seinem Büro. Er war ganz allein, er sah sehr alt und sehr grau aus, und sein Gesicht hatte unzählige Runzeln, die ich noch nie gesehen hatte. Bei meinem Anblick fuhr er hoch, taumelte in sein Privatbüro, schlug die Tür hinter sich zu und riegelte ab. Seht ihr, er wußte schon, daß ich mich der Gefahr ausgesetzt hatte, und er fürchtete mich. Durch die Tür schrie er mir zu, daß ich gehen sollte. Nie werde ich die Empfindungen vergessen, die ich hatte, als ich durch die schweigenden Korridore und über den verlassenen Hof schritt. Ich fürchtete mich nicht. Ich war der Gefahr ausgesetzt gewesen und betrachtete mich schon als einen Toten. Das machte keinen Eindruck auf mich, aber ein Gefühl furchtbarer Niedergeschlagenheit hatte mich erfaßt. Alles war zum Stillstand gekommen. Es war für mich wie der Weltuntergang – der Untergang meiner Welt. Ich war im Bannkreis der Universität geboren und hatte sie vom ersten Tag meines Lebens an stets vor Augen gehabt. Ich war von Anfang an für meinen Beruf bestimmt gewesen, wie vor mir mein Vater und vor ihm der seine. Anderthalb Jahrhunderte hatte die Universität wie eine prächtige Maschine ununterbrochen gearbeitet. Und jetzt – in einer Sekunde – war sie zum Stillstand gekommen. Es war, als hätte man gesehen, wie eine heilige Flamme auf einem dreifach heiligen Altar erlosch. Ich war betroffen und unsäglich erschüttert.

Als ich das Haus betrat, schrie meine Haushälterin auf und entfloh. Und als ich schellte, mußte ich merken, daß das Hausmädchen auch geflohen war. Ich ging durch das Haus. In der Küche fand ich die Köchin zum Aufbruch gerüstet. Sie schrie, ließ in der Eile ihren Handkoffer mit ihren Sachen im Stich und lief, immer noch schreiend, aus dem Haus und zum Garten hinaus. Noch heute höre ich das Schreien. Ihr müßt nicht denken, daß wir uns so benahmen, wenn gewöhnliche Krankheiten uns trafen. Dann blieben wir immer ruhig und schickten nur nach Ärzten und Pflegerinnen, die wußten, was sie in diesem oder jenem Fall zu tun hatten. Aber dies war etwas anderes. Die Krankheit kam so plötzlich und tötete so schnell, und nie verfehlte sie ihr Ziel. Sobald sich der rote Ausschlag im Gesicht eines Menschen zeigte, war er vom Tode gezeichnet. Nie hörte man von einem Fall der Genesung. Ich war allein in meinem großen Haus. Wie ich euch schon erzählt habe, konnte man in jenen Tagen mittels eines Drahtes oder durch die Luft miteinander sprechen. Die Telefonglocke schellte. Es war mein Bruder, der mich sprechen wollte. Er sagte mir, daß er aus Furcht, sich anzustecken, das Haus verlassen und unsere beiden Schwestern mitgenommen hätte und daß sie bei Professor Bacon wohnten. Er riet mir zu bleiben und abzuwarten, ob ich angesteckt wäre oder nicht.

Ich erklärte mich mit allem einverstanden. Ich blieb in meinem Haus, und zum ersten Mal in meinem Leben machte ich den Versuch zu kochen. Die Krankheit zeigte sich nicht bei mir. Durch das Telefon konnte ich mit allen sprechen und Neuigkeiten erfahren. Dazu gab es auch Zeitungen, und die ließ ich mir vor die Tür legen, um zu erfahren, was in der übrigen Welt vorging. In New York und Chicago herrschte das Chaos. Wie dort, so war es auch in allen anderen Großstädten. Ein Drittel der gesamten New Yorker Polizei war tot. Der Polizeichef war tot und der Bürgermeister auch. Gesetz und Ordnung hatten aufgehört. Die Leichen blieben unbeerdigt auf den Straßen liegen. Eisenbahnen und Automobile, die Lebensmittel und andere Dinge in die großen Städte schafften, fuhren nicht mehr, und eine Meute von hungernden Armen plünderte Speicher und Warenhäuser. Mord, Raub und Trunkenheit herrschten überall. Schon war das Volk zu Millionen aus der Stadt geflohen – zuerst die Reichen in ihren Privatautomobilen und lenkbaren Luftschiffen – und dann zu Fuß, die Seuche mit sich schleppend, die große Masse der Bevölkerung. Der Hunger jagte sie, und sie plünderten alle Höfe, Dörfer und Städte, die sie unterwegs trafen.

Der Mann, der diese Nachrichten sandte, der Funker, saß mit seinem Instrument allein auf dem Dach eines hohen Gebäudes. Die Menschen, die in der Stadt geblieben waren – er schätzte sie auf einige Hunderttausend –, waren aus Furcht und durch vieles Trinken verrückt geworden, rings um ihn her wüteten Feuersbrünste. Er war ein Held, der Mann, der auf seinem Posten blieb vermutlich ein unbekannter Journalist. Er berichtete, daß schon seit vierundzwanzig Stunden kein transatlantisches Luftschiff mehr angelangt wäre und keine Nachrichten mehr aus England kämen. Er verkündete jedoch, daß nach einer Mitteilung aus Berlin – das heißt aus Deutschland – ein Bakteriologe der Metschnikow-Schule namens Hoffmeyer ein Serum gegen die Seuche entdeckt hätte. Hat Hoffmeyer wirklich das Serum entdeckt, so war es doch jedenfalls zu spät, sonst würden längst Forscher aus Europa herübergekommen sein, um nach uns zu sehen. Wir können daher nur annehmen, daß sich in Europa dasselbe zugetragen hat wie in Amerika, daß also bestenfalls einige Dutzend Menschen den Scharlach-Tod überlebt haben.

Noch einen Tag lang kamen die Telegramme aus New York. Dann blieben auch sie aus. Der Mann, der sie, auf seinem hohen Gebäude nistend, gesandt hatte, war entweder der Seuche erlegen oder in der großen Feuersbrunst, die, wie er gemeldet, um ihn her gewütet hatte, umgekommen. Und was sich in New York ereignete, wiederholte sich wohl in allen anderen Städten. In San Francisco, in Oakland, in Berkeley – überall war es dasselbe. Am Donnerstag starben die Menschen schon so zahlreich, daß ihre Leichen nicht bestattet werden konnten und überall herumlagen. In der Nacht zum Freitag begannen die Panik und die Flucht aus der Stadt. Meine Enkel, stellt euch vor, daß Millionen aus den Städten das Land überschwemmten – noch dichter als der Lachszug, den ihr im Sacramento gesehen habt. Sie waren wie toll bei dem vergeblichen Versuch, dem allgegenwärtigen Tod zu entrinnen. Selbst die Luftschiffe der Reichen, die in die Berge und Wüsten flohen, nahmen die Keime mit. Hunderte dieser Luftschiffe flohen nach Hawaii, und sie brachten die Seuche nicht mehr mit, sie fanden sie dort schon vor. Das erfuhren wir aus den Telegrammen, bis alle Ordnung aus San Francisco verschwand und der letzte Telegrafist seinen Posten verließ.

Daß wir so von jeder Verbindung mit der Welt abgeschnitten wurden, erfüllte uns mit Verwunderung und Bestürzung. Es war gerade so, als hätte die Welt aufgehört zu bestehen, als wäre sie ausgelöscht.

Seit sechzig Jahren besteht diese Welt nicht mehr für mich. Ich weiß, daß es Orte wie New York, daß es Erdteile wie Europa, Asien geben muß, aber in all diesen sechzig Jahren ist keine Nachricht mehr von ihnen zu uns gedrungen. Mit dem Scharlach-Tod fiel die Welt unwiederbringlich auseinander. Zehntausendjährige Kultur und Zivilisation vergingen wie Spreu im Winde. Ich erzählte euch von den Luftschiffen der Reichen. Die trugen die Seuche mit sich, und wohin sie flogen, starben die Menschen. Ich bin nur einem Überlebenden je von ihnen begegnet, das war Mungerson. Er wurde in Santa Rosa ansässig und heiratete meine älteste Tochter. Im achten Jahr nach der Pest kam er zum Stamm. Er war damals neunzehn Jahre alt und mußte noch zwölf Jahre warten, ehe er heiraten konnte. Ihr müßt wissen, daß es damals keine unverheirateten Frauen gab und die älteren Töchter der Santa Rosaner schon verlobt waren. So mußte er dann warten, bis meine Mary sechzehn Jahre alt wurde. Und sein Sohn Hinkebein war es, der voriges Jahr von einem Berglöwen getötet wurde. Zur Zeit der Pest war Mungerson elf Jahre alt. Sein Vater war Großindustrieller gewesen, ein sehr reicher, mächtiger Mann. Auf seinem Luftschiff, dem ›Kondor‹, war die ganze Familie nach der Wildnis von Britisch-Kolumbien hoch im Norden geflohen. Aber sie hatten einen Unfall und mußten in der Nähe des Berges Shasta landen. Ihr habt von diesem Berg gehört – er liegt hoch im Norden. Dort brach die Seuche unter ihnen aus, und dieser elfjährige Knabe war der einzige Überlebende. Acht Jahre lang wanderte er allein durch das verlassene Land und suchte vergebens nach seinesgleichen. Und als er endlich nach dem Süden kam, fand er uns, die Santa Rosaner.

Aber ich eile dem Gang meiner Erzählung voraus. Als die allgemeine Flucht aus den Städten an der Bucht von San Francisco begann, die Telefone aber noch arbeiteten, sprach ich mit meinem Bruder. Ich sagte ihm, die Flucht aus den Städten sei Wahnsinn, die Krankheit mache sich bei mir nicht bemerkbar, und das einzige, was für uns und unsere Angehörigen zu tun sei, wäre, uns an irgendeinem sicheren Ort zu isolieren. Wir entschieden uns für das chemische Laboratorium der Universität und entschlossen uns, dort Lebensmittel in genügender Menge hinzuschaffen und mit Waffengewalt zu verhindern, daß andere Menschen uns in unserer Abgeschiedenheit ihre Gegenwart aufdrängten. Als alle Vorbereitungen getroffen waren, bat mein Bruder mich, noch vierundzwanzig Stunden in meinem Haus zu bleiben, um zu sehen, ob die Seuche nicht doch in mir zum Ausbruch käme. Ich stimmte ihm zu, und er versprach, mich am nächsten Tag abzuholen. Wir besprachen noch alle Einzelheiten bezüglich des Proviants und der Verteidigungsmaßnahmen für das Gebäude, als das Telefon verstummte. Es verstummte mitten in unserer Unterredung.

An diesem Abend gab es auch kein elektrisches Licht mehr, und ich war allein in der Dunkelheit in meinem Haus. Es wurde keine Zeitung mehr gedruckt, und ich wußte deshalb nicht, was draußen vor sich ging. Ich hörte den Lärm von Tumulten und Pistolenschüssen und konnte von meinem Fenster aus in der Richtung von Oakland den Schein einer Feuersbrunst am Himmel sehen. Es war eine Nacht des Schreckens. Ich konnte nicht eine Sekunde schlafen. Auf dem Bürgersteig gerade vor meinem Haus wurde ein Mann getötet – ich wußte nicht, warum. Ich hörte in rascher Folge Schüsse aus einer automatischen Pistole, und wenige Minuten darauf schleppte sich der Verwundete stöhnend und um Hilfe flehend bis zu meiner Tür.

Mit zwei Pistolen bewaffnet, ging ich zu ihm hinaus. Beim Licht eines Streichholzes erkannte ich, daß er nicht nur an den Kugeln starb, sondern daß die Seuche ihn schon in ihren Krallen hatte. Ich floh ins Haus, wo ich ihn noch eine halbe Stunde lang stöhnen und ächzen hörte.

Am Morgen kam mein Bruder. Ich hatte alle Dinge, die meiner Ansicht nach irgendwie von Nutzen für uns sein konnten, in ein Handköfferchen getan, als ich jedoch sein Gesicht sah, wußte ich, daß er mich nicht mehr in das chemische Laboratorium begleiten sollte. Die Seuche hatte ihn gepackt. Er wollte mir die Hand geben, aber ich zog mich eiligst von ihm zurück.

»Sieh in den Spiegel«, befahl ich.

Er tat es, und beim Anblick seines scharlachroten Gesichts sank er mit versagenden Nerven auf einen Stuhl.

»Großer Gott!« sagte er. »Ich habe sie. Komm mir nicht nahe. Ich bin ein toter Mann.« Dann packten ihn die Krämpfe. Zwei Stunden dauerte sein Todeskampf, und bis zuletzt war er bei vollem Bewußtsein, klagte über die Kälte und die Gefühllosigkeit in seinen Füßen, seinen Waden, seinen Schenkeln und seinen Lenden, bis sie schließlich sein Herz erreicht hatten und er tot war. So traf der Scharlach-Tod.

Ich nahm meine Handtasche und floh. Der Anblick, den die Straßen boten, war fürchterlich. Überall stolperte man über menschliche Körper. Manche waren noch nicht tot. Und vor meinen Augen sanken die Menschen zu Boden. An zahllosen Stellen in Berkeley brannte es, und auch in Oakland und San Francisco wüteten anscheinend riesige Feuersbrünste. Der Rauch erfüllte den Himmel, so daß wir am Mittag nur ein düsteres Zwielicht hatten, und wenn ein Windstoß einmal den Rauch ein wenig vertrieb, war die Sonne nur ein trüber roter Ball. Wahrlich, Kinder, es war wie die letzten Tage vor dem Weltuntergang. Überall standen bewegungslose Automobile, die zeigten, daß das Benzin und alles sonstige Zubehör in den Garagen ausgegangen waren. Einen dieser Wagen sehe ich noch vor mir. Ein Mann und eine Frau saßen zurückgelehnt darin, und auf dem Pflaster neben dem Wagen lagen zwei Frauen und ein Kind. Fremdartig und furchtbar war der Anblick bei jedem Schritt. Still, gespensterhaft schlüpften die Leute auf der Flucht vorbei. Frauen mit weißen, bleichen Gesichtern trugen ihre Säuglinge im Arm. Väter hielten ihre Kinder an der Hand. Allein, paarweise und in Gruppen flüchtete alles aus der Stadt des Todes. Einige trugen Lebensmittel, andere Betten und Wertsachen, und viele trugen gar nichts.

Da war ein Delikatessengeschäft – eine Stelle, wo man Nahrungsmittel kaufen konnte. Der Inhaber – ich kannte ihn gut – war ein ruhiger, nüchterner, aber dummer und eigensinniger Mann, und er verteidigte seinen Laden. Fenster und Türen waren eingeschlagen, aber er hatte sich hinter dem Ladentisch verbarrikadiert und schoß mit seiner Pistole auf die Menschen, die vom Bürgersteig einzudringen versuchten. Am Eingang lag eine Anzahl Leichen, Menschen – so schloß ich –, die er schon getötet haben mußte. Aus einiger Entfernung sah ich, wie einer der Räuber die Fenster des Nachbarladens zertrümmerte. Es war ein Schuhwarengeschäft, und der Mann legte absichtlich Feuer an. Ich kam dem Inhaber des Delikatessengeschäftes nicht zu Hilfe. Die Zeit, da man derartiges getan hatte, war vorbei. Die Zivilisation zerfiel, und jeder stand für sich allein.

Ich eilte hastig eine Seitenstraße hinab, um an der ersten Ecke eine neue Tragödie zu erleben. Zwei Männer hatten einen Mann und eine Frau mit zwei Kindern gepackt und raubten sie aus. Ich kannte den Mann vom Ansehen, wenn ich ihm auch noch nie vorgestellt worden war. Er war ein Dichter, dessen Verse ich stets bewundert hatte. Aber ich kam ihm nicht zu Hilfe, denn gerade in dem Augenblick, als ich auf der Bildfläche erschien, krachte ein Pistolenschuß, und ich sah, wie er zu Boden sank. Die Frau schrie, wurde aber durch den Faustschlag einer dieser Bestien zu Boden geschmettert. Ich drohte ihnen, worauf sie ihre Pistolen auf mich abfeuerten und ich um die Ecke lief.

Hier sah ich mich von einer von allen Seiten vorrückenden Feuersbrunst eingeengt. Die Häuser brannten, und die Straße war von Rauch und Flammen erfüllt. Von irgendwoher drang aus dieser Finsternis eine Frauenstimme, die schrill um Hilfe schrie. Aber ich folgte dem Ruf nicht. Bei diesen Szenen verhärtete sich das menschliche Herz; man hörte viele Hilferufe. Als ich wieder an die Ecke zurückkam, sah ich, daß die beiden Räuber fort waren. Der Dichter und seine Frau lagen tot auf dem Platz. Es war ein abscheuerregender Anblick. Die beiden Kinder waren verschwunden – wohin, wagte ich nicht zu fragen. Und jetzt wußte ich auch, warum die Flüchtenden, denen ich begegnet war, so eilig und mit so bleichen Gesichtern an mir vorbeigeschlüpft waren. Inmitten unserer Zivilisation war in den Elendsvierteln eine Rasse von Barbaren, von Wilden gezüchtet worden; und jetzt, in der Zeit des Unheils, wandten sich die bisher Niedergehaltenen wie wilde Bestien, denn das waren sie, gegen uns und vernichteten uns. Und sich selbst vernichteten sie ebenfalls. Sie entflammten sich durch starke Getränke und verübten Tausende von Abscheulichkeiten, Streitigkeiten und Morden in der allgemeinen Tollheit. Ich sah eine Schar besserer Arbeiter, die sich zusammengeschlossen hatten und sich jetzt, Frauen und Kinder in der Mitte und Kranke und Greise auf Bahren und Karren, mit einem Rollwagen voll Proviant ihren Weg durch die Stadt erkämpften. Es war ein schöner Anblick, wie sie durch den treibenden Rauch die Straße entlang marschierten, wenn sie mich auch, als ich ihnen in den Weg kam, beinahe erschossen hätten. Einer ihrer Anführer rief mir eine Erklärung zu, die sie rechtfertigte. Er sagte, daß sie Räuber und Plünderer, die sie auf frischer Tat ergriffen, ohne weiteres niederschössen und daß sie sich zusammengeschlossen hätten, weil dies die einzige Möglichkeit wäre, den Verbrechern zu entkommen.

Hier sah ich zum erstenmal etwas, was ich bald sehr oft sehen sollte. Einer der Männer, die in Reih und Glied marschierten, zeigte plötzlich die unverkennbaren Merkmale der Seuche. Sofort zogen sich alle, die um ihn waren, von ihm zurück, und er trat aus dem Glied und ließ die andern ohne Widerspruch weitergehen. Eine Frau, offenbar seine Gattin, wollte ebenfalls zurückbleiben. Sie führte einen kleinen Knaben an der Hand. Ihr Mann befahl ihr jedoch streng, weiterzugehen, während andere sie zwischen sich nahmen und mit sich führten. Dies sah ich, und ich sah auch, wie der Mann mit scharlachfarbenem Gesicht in einen Torweg auf der anderen Seite der Straße wankte. Dann hörte ich einen Pistolenschuß und sah den Mann leblos zu Boden sinken.

Noch zweimal wurde mir der Weg durch das vordringende Feuer versperrt, aber endlich gelang es mir doch, mich zur Universität durchzuschlagen.

Am Eingang zum Hof stieß ich auf eine Schar von Dozenten, die sich auf das chemische Laboratorium zu bewegten. Sie waren alle Familienväter, und sie hatten ihre Familien, außerdem eine Anzahl von Dienstboten und Krankenschwestern bei sich. Professor Radminton grüßte mich. Er war kaum wiederzuerkennen. Irgendwo mußte er mit dem Feuer in Berührung gekommen sein, denn sein Bart war angesengt. Um seinen Kopf war eine blutige Bandage gewickelt, und seine Kleidung war über und über beschmutzt. Er erzählte mir, daß er von Plünderern furchtbar mißhandelt und daß sein Bruder nachts zuvor bei Verteidigung ihrer Wohnung getötet worden war. Als wir mitten auf dem Hof waren, zeigte er plötzlich auf das Gesicht von Frau Dr. Swinton. Ein Irrtum war nicht möglich: Es flammte scharlachfarben! Sofort stoben alle andern Frauen schreiend auseinander. Ihre beiden Kinder, die von einer Pflegerin geführt wurden, liefen auch fort. Dr. Swinton aber, ihr Mann, blieb bei ihr.

›Gehen Sie, Smith‹, sagte er zu mir. ›Sorgen Sie für die Kinder. Ich bleibe bei meiner Frau. Ich weiß, daß sie schon so gut wie tot ist, aber ich kann sie nicht verlassen. Wenn mir nichts passiert, komme ich nachher ins chemische Laboratorium. Bitte, passen Sie auf und lassen Sie mich dann ein.‹

Ich verließ ihn, als er sich über seine Frau beugte und versuchte, ihr die letzten Augenblicke zu erleichtern. Dann rannte ich den andern nach. Wir waren die letzten, die in das chemische Laboratorium eingelassen wurden. Dann verbarrikadierten wir uns und schützten uns durch Maschinengewehre vor dem Eindringen anderer. Wir hatten ursprünglich damit gerechnet, daß wir sechzig Menschen sein würden, die hier Zuflucht suchten. Nun hatte aber jeder Verwandte, Freunde und ganze Familien mitgebracht, so daß die Zahl auf vierhundert angewachsen war. Aber das chemische Laboratorium war groß, und da es isoliert stand, war nicht zu befürchten, daß es von den Flammen, die in der ganzen Stadt wüteten, erreicht würde. Große Vorräte von Lebensmitteln waren angehäuft und der Aufsicht eines Komitees anvertraut worden, das täglich Rationen an Familien und Gruppen austeilte, die sich wieder unter sich darüber einigten. Überhaupt wurde eine Anzahl von Komitees ernannt und eine tatkräftige Organisation ins Leben gerufen. Ich gehörte dem Verteidigungskomitee an, aber am ersten Tage näherten sich die Plünderer nicht. Wir sahen sie jedoch in der Ferne und erkannten durch Feuer und Rauch hindurch, daß eine Anzahl von Kerlen sich in den äußersten Ecken des Hofes herumtrieb. Allgemeine Trunkenheit herrschte unter ihnen, und wir hörten sie oft zotige Lieder singen oder wie die Wahnsinnigen grölen. Während die Welt um sie her ihrem Untergang entgegenwankte und die ganze Luft von Rauch erfüllt war, ließen diese niedrigen Geschöpfe ihrer Bestialität die Zügel schießen, kämpften, tranken und starben. Aber was tat es schließlich! Es starben ja doch alle, die Guten und die Schlechten, die Tüchtigen und die Schwächlinge, die, welche das Leben liebten, und die, welche es verachteten. Sie schwanden dahin. Alles schwand dahin.

Als vierundzwanzig Stunden verstrichen waren, ohne daß sich Anzeichen der Seuche unter uns gezeigt hätten, beglückwünschten wir uns und machten uns daran, einen Brunnen zu graben. Ihr habt die großen eisernen Rohre gesehen, die in jenen Tagen den Bewohnern der Städte Wasser zuführten. Wir fürchteten, daß infolge der Brände der Stadt die Rohre platzen und die Reservoire auslaufen würden. Deshalb rissen wir den Zementboden im Lichthof des chemischen Laboratoriums auf und gruben einen Brunnen. Es waren viele junge Männer, sogenannte Füchse, unter uns, und wir arbeiteten Tag und Nacht an dem Brunnen. Unsere Befürchtungen sollten sich bestätigen. Drei Stunden, ehe wir auf Wasser stießen, waren die Rohre leer. Abermals vergingen vierundzwanzig Stunden, ohne daß die Seuche sich unter uns zeigte. Wir glaubten uns gerettet. Aber wir wußten nicht, was wir später erfahren sollten, daß nämlich die Inkubationszeit der Seuchenerreger mehrere Tage betrug. Sobald die Krankheit ausgebrochen war, ging alles so schnell, daß wir zu dem Glauben verführt wurden, die Inkubationszeit wäre ebenso kurz. Und so kam es, daß wir uns, als wir zwei Tage lang unversehrt geblieben waren, in dem Glauben sonnten, wir wären der Ansteckung entronnen. Aber der dritte Tag weckte uns aus dieser Illusion. Nie werde ich die Nacht vergessen, die voranging. Ich hatte die Nachtwache von elf bis zwölf, und vom Dach des Gebäudes aus beobachtete ich den Untergang all der ruhmreichen Werke von Menschenhand. So schrecklich waren die Feuersbrünste, daß der ganze Himmel erleuchtet war. Man konnte bei dem roten Schein den feinsten Druck lesen. Die ganze Welt schien in Flammen aufzugehen. San Francisco sprühte Rauch und Feuer aus Dutzenden von Riesenbränden, die ebenso viele Vulkane zu sein schienen. Oakland, San Leandro, Haywards – alles brannte; und im Norden, bei Point Richmond, sah man es ebenfalls brennen. Es war ein furchteinflößender Anblick. Die Zivilisation, meine Enkel, die Zivilisation verging in einem Meer von Feuer und im Odem des Todes. Um zehn Uhr nachts explodierten in schneller Folge die großen Pulvermagazine von Point Pinole. So furchtbar waren die Detonationen, daß das solide Gebäude wie bei einem Erdbeben schwankte und alle Fensterscheiben zerbrachen. Da verließ ich das Dach und ging durch die langen Korridore von Zimmer zu Zimmer, beruhigte die erschrockenen Frauen und erzählte, was ich gesehen hatte.

Als ich eine Stunde später an einem Fenster im ersten Stock stand, hörte ich, daß im Lager der Plünderer die Hölle losbrach. Weinen und Schreien ertönten, und viele Pistolenschüsse wurden abgefeuert. Nach einer Mutmaßung, die später unter uns auftauchte, war dieser Kampf beschleunigt worden durch einen Versuch der Gesunden, die zu vertreiben, welche von der Seuche gepackt waren. Wie dem auch sein mochte, so entkamen doch jedenfalls einige der von der Seuche befallenen Räuber über den Hof und flüchteten an unsere Türen. Wir warnten sie durch Zurufe, aber sie fluchten und feuerten ihre Pistolen auf uns ab. Professor Merryweather, der an einem Fenster stand, erhielt eine Kugel zwischen die Augen und war sofort tot. Jetzt eröffneten auch wir das Feuer, und alle Marodeure flüchteten, bis auf drei, darunter eine Frau. Die Pest war in ihnen, und ihnen war alles einerlei. Mit flammenden Gesichtern fluchten und feuerten sie im roten Schein des Himmels wie Teufel auf uns. Einen der Männer knallte ich eigenhändig nieder. Dann kauerten der andere Mann und die Frau sich unter unseren Fenstern nieder, und wir mußten mit ansehen, wie sie dort der Seuche erlagen.

Die Lage war kritisch. Die Explosion der Pulvermagazine hatte alle Fenster des chemischen Laboratoriums zerbrochen, so daß wir den Ausdünstungen der Leichen ausgesetzt waren. Das Sanitätskomitee wurde zur Tat aufgerufen, und es bewährte sich. Zwei Mann wurden verlangt. Sie mußten hinausgehen und die Leichen fortschaffen, und das hieß, daß sie wahrscheinlich ihr eigenes Leben opfern mußten, denn wenn sie diese Aufgabe erfüllt hatten, durften sie nicht wieder in das Haus zurückkehren. Einer der Professoren und ein Fuchs erboten sich zu gehen. Sie verabschiedeten sich von uns. Sie waren Helden. Sie gaben ihr Leben, damit vierhundert andere Menschen es behielten. Als sie ihre Arbeit vollbracht hatten, standen sie einen Augenblick da und blickten uns schweigend an. Dann winkten sie uns zum Abschied und gingen langsam über den Hof nach der brennenden Stadt. Und doch war alles nutzlos. Am nächsten Morgen hatte die Seuche den ersten von uns gepackt. Es war eine kleine Krankenschwester in der Familie Professor Stouts.

Es war nicht die Zeit für schwächliche Sentimentalität. Da immer noch die Möglichkeit bestand, daß sie die einzige wäre, setzten wir sie vor die Tür und befahlen ihr, sich zu entfernen. Händeringend und zum Erbarmen weinend, schritt sie über den Hof. Wir kamen uns wie reißende Tiere vor, aber was sollten wir tun? Wir waren unser vierhundert, und da mußte der einzelne geopfert werden. In einem der Laboratorien hatten sich drei Familien eingenistet, und an diesem Nachmittag fanden wir nicht weniger als vier Tote unter ihnen, während sieben sich in verschiedenen Stadien der Krankheit befanden. Jetzt kam der Schrecken. Wir ließen die Toten liegen, wo sie hingefallen waren, und zwangen die Lebenden, sich in einem anderen Zimmer zu isolieren. Aber auch unter uns anderen war die Seuche nun zum Ausbruch gekommen. Sobald sich die ersten Symptome zeigten, schickten wir die Befallenen in abgesonderte Räume. Wir zwangen sie, von selber zu gehen, so daß wir nicht Hand an sie legen mußten. Es war herzzerreißend! Aber der Seuche ließ sich nicht Einhalt gebieten. Zimmer auf Zimmer füllte sich mit Toten und Sterbenden. Und so flohen alle, die noch nicht erkrankt waren, zogen von Zimmer zu Zimmer, Stockwerk zu Stockwerk, die eines nach dem andern von diesem Meer des Todes überflutet wurden. Das Gebäude wurde zum Leichenhaus, und schließlich flüchteten die Überlebenden mitten in der Nacht und nahmen nichts mit als Waffen und Munition und einen großen Vorrat von Konservendosen. Wir kampierten den Plünderern gegenüber, und während einige von uns Wache standen, übernahmen andere es freiwillig, in die Stadt zu gehen und sich auf die Suche nach Pferden, Automobilen, Karren oder anderen Fuhrwerken zu machen, auf die wir unseren Proviant laden und die es uns ermöglichen sollten, es den organisierten Arbeitern nachzutun und uns den Weg nach dem platten Lande zu erkämpfen. Ich gehörte zu diesen Kundschaftern. Dr. Hoyle erinnerte sich, daß er sein Auto in seiner Garage hatte stehenlassen, und bat mich, mich danach umzusehen. Wir gingen paarweise, und mich begleitete ein junger Fuchs namens Dombey.

Wir mußten eine halbe Meile durch das Wohnviertel der Stadt gehen, um das Haus Dr. Hoyles zu erreichen. Die Häuser standen hier isoliert und von Bäumen und Rasenflächen umgeben, und wir konnten die Launenhaftigkeit des Feuers erkennen, das ganze Blocks in Asche gelegt, andere wieder übersprungen hatte. Auch hier waren die Plünderer am Werk. Wir hielten unsere Pistolen in der Hand und sahen wahrlich verwegen genug aus, um sie von einem Angriff auf uns zurückzuhalten. – Als wir aber das Haus Dr. Hoyles erreichten, geschah es: Scheinbar unberührt von den Flammen, brachen sie gerade in dem Augenblick, als wir kamen, aus ihm heraus.

Der Halunke, der das Feuer gelegt hatte, kam die Treppe herunter auf die Straße getaumelt. Aus seinen Manteltaschen guckten Whiskyflaschen, und er war sehr betrunken. Mein erster Gedanke war, ihn zu erschießen, und es tut mir heute noch leid, daß ich es nicht getan habe. Taumelnd und vor sich hinschwatzend, mit blutunterlaufenen Augen und einer frischen Schmarre, die sich über die eine Backe seines bärtigen Gesichts hinzog, war er in seinem Schmutz und seiner Erniedrigung das widerlichste Geschöpf, dem ich je in meinem Leben begegnet bin. Ich erschoß ihn nicht, und er lehnte sich gegen einen Baum auf dem Rasen, um uns vorbeizulassen. Als wir uns ihm gerade gegenüber befanden, zog er plötzlich eine Pistole heraus und schoß Dombey eine Kugel durch den Kopf. Es war der reine Mutwillen. Im nächsten Augenblick hatte meine Kugel ihn getroffen. Aber es war zu spät: Dombey war tot. Er war gestorben, ohne einen Laut von sich zu geben. Ich glaube, er hat nicht geahnt, was ihm geschah. Ich ließ die beiden Leichen liegen, eilte an dem brennenden Haus vorbei nach der Garage und fand dort Dr. Hoyles Auto. Die Tanks waren mit Benzin gefüllt, so daß es fahrbereit war. Und in diesem Auto bahnte ich mir den Weg durch die Straßen der zerstörten Stadt und kam zu den Überlebenden auf den Universitätshof zurück.

Auch die anderen Kundschafter stellten sich wieder ein, aber keiner hatte so viel Glück gehabt wie ich. Professor Fairmead hatte ein Shetland-Pony aufgegriffen, aber das arme Geschöpf, das tagelang verlassen in seinem Stall angebunden gestanden hatte, war durch den Mangel an Futter und Wasser so geschwächt, daß es völlig unfähig war, irgendeine Last zu tragen. Einige waren dafür, es laufen zu lassen, aber ich bestand darauf, es mitzunehmen, damit wir es, wenn unsere Vorräte auf die Neige gingen, schlachten konnten.

Wir waren siebenundvierzig, die sich jetzt auf den Weg machten, darunter viele Frauen und Kinder. Der Dekan unserer Fakultät – er war ein alter, durch die schrecklichen Ereignisse der letzten Zeit völlig niedergebrochener Mann – fuhr mit mehreren Kindern und der betagten Mutter Professor Fairmeads in dem Automobil. Wathope, ein junger Professor für Anglistik, der eine schmerzhafte Schußwunde im Bein hatte, lenkte den Wagen. Die andern gingen zu Fuß, und Professor Fairmead führte das Pony.

Es war ein leuchtender Sommertag, wenigstens hätte es einer sein sollen, aber der Rauch der brennenden Welt erfüllte den Himmel, und durch ihn hindurch schien die Sonne, eine schwache, leblose Scheibe, blutrot und unheilverkündend. Aber wir hatten uns schon an diese Sonne gewöhnt. Anders war es mit dem Rauch. Er beizte uns Nasen und Augen, und wir hatten alle rote Augen. Wir schlugen den Weg nach Südosten durch die endlosen Meilen der Vorstädte ein und zogen dann an den schwellenden Hügeln vorbei, die sich im Weichbild der Stadt wölbten. Allein auf diesem Weg konnten wir hoffen, das Land zu erreichen. Wir kamen nur äußerst langsam vorwärts. Die Frauen und Kinder vermochten nicht schnell zu gehen. Wandern, wie wir, meine Enkel, es tun, das kannten sie nicht. Das habe ich erst nach der Seuche gelernt. Dazu mußten wir unsere Schritte dem Langsamsten anpassen, denn aus Furcht vor den Marodeuren wagten wir nicht, uns zu trennen. Jetzt waren es schon nicht mehr so viele dieser beutegierigen menschlichen Bestien, die Seuche hatte ihre Zahl sehr herabgemindert, aber es lebten immer noch genug, um eine dauernde Bedrohung für uns darzustellen.

Viele der herrlichen Wohnsitze, an denen wir vorbeikamen, waren vom Feuer unversehrt geblieben, dazwischen aber sahen wir überall rauchende Trümmer. Die Plünderer schienen selbst die irrsinnige Lust, Feuer anzulegen, verloren zu haben, denn seltener trafen wir neu angelegte Brände. Einige von uns durchforschten die Garagen der Villen nach Automobilen und Benzin, jedoch erfolglos. Die erste große Flucht aus den Städten hatte alles das fortgeschwemmt. Wir verloren bei dieser Suche Calgan, einen netten jungen Mann. Er wurde von Plünderern erschossen, als wir über einen Rasenplatz gingen.

In Fruitvale, noch inmitten des herrlich gelegenen Stadtteils, kam die Seuche wieder über uns. Das Opfer war Professor Fairmead. Durch Zeichen gab er zu verstehen, daß seine Mutter nichts erfahren sollte, dann ging er auf ein schönes Haus zu. Verloren setzte er sich auf eine Verandatreppe, und ich, der ich zurückgeblieben war, winkte ihm ein letztes Lebewohl zu. In dieser Nacht lagerten wir einige Meilen hinter Fruitvale, aber doch noch in der Stadt. Und zweimal verlegten wir in dieser Nacht unser Lager und flohen vor unseren Toten.

Am Morgen waren wir noch dreißig.

Nie werde ich den Dekan unserer Fakultät vergessen. Am Morgen, während des Marsches, zeigte seine Frau die verhängnisvollen Anzeichen, und als sie beiseite trat, um uns vorbeizulassen, bestand er darauf, bei ihr zu bleiben. Wir widersetzten uns, mußten aber zuletzt nachgeben. Schließlich war es ja doch einerlei, denn niemand konnte wissen, ob überhaupt einer von uns mit dem Leben davonkommen würde. In dieser Nacht, der zweiten unseres Marsches, lagerten wir außerhalb Haywards. Jetzt befanden wir uns auf dem Land. Und am Morgen waren noch elf von uns am Leben. Auch verschwand Wathope, der Professor mit dem verwundeten Bein, im Auto. Er nahm seine Mutter, seine Schwester und den größten Teil unserer Konservendosen mit.

Als ich mich nachmittags am Wegrand ausruhte, erschien das letzte Luftschiff, das ich je sehen sollte. Hier auf dem Land war der Rauch viel dünner, und ich sichtete das Schiff, das in einer Höhe von tausend Fuß hilflos trieb. Was geschehen war, ahnten wir nicht, aber vor unsern Augen sank es mit der Spitze immer tiefer. Dann müssen die Schotts der verschiedenen Gaskammern geplatzt sein, denn plötzlich fiel es wie ein Senkblei zu Boden. Und bis auf den heutigen Tag habe ich kein Luftschiff mehr gesehen. Immer wieder durchforschte ich in den kommenden Jahren den Himmel nach ihnen, in der Hoffnung, daß sich noch irgendwo in der Welt ein Rest der Zivilisation erhalten hätte, aber vergebens. Was in Kalifornien vor sich gegangen war, mußte sich wohl in der ganzen Welt ereignet haben.

Am nächsten Tag gelangten wir nach Niles, und jetzt waren wir nur noch drei. Hinter Niles, mitten auf der Landstraße, fanden wir Wathope. Das Auto war nicht weitergelangt, und hier, auf den derben Wolldecken, die sie ausgebreitet hatten, lagen seine Leiche und die seiner Schwester und seiner Mutter. Erschöpft durch das ungewohnte andauernde Gehen, schlief ich diese Nacht einen schweren Schlaf. Am nächsten Morgen war ich allein. Canfield und Parsons, meine letzten Genossen, waren der Seuche erlegen.

Von den vierhundert, die im chemischen Laboratorium Schutz gesucht, und von den siebenundvierzig, die den Marsch angetreten hatten, war ich allein übriggeblieben – ich und das Shetland-Pony. Warum es so war, dafür habe ich keine Erklärung. Ich bekam die Krankheit nicht, das ist alles. Ich war immun. Ich war eben der eine glückliche von einer Million – wie von andern Überlebenden je einer auf eine Million oder vielmehr auf mehrere Millionen kam, denn so war das Verhältnis schließlich.

Zwei Tage lang suchte ich Schutz in einem freundlichen Wäldchen, wo kein Tod geherrscht hatte. Obgleich ich sehr niedergeschlagen war und glaubte, daß die Reihe jetzt an mich kommen würde, ruhte ich mich doch in diesen zwei Tagen aus und erholte mich. Dem Pony ging es ebenso. Am dritten Tag lud ich dem Pony den kleinen Vorrat an Konservendosen, den ich noch besaß, auf den Rücken und machte mich auf den Weg. Weder Mann, Frau noch Kind traf ich, so hatte der Tod gewütet. Nahrung gab es in Hülle und Fülle. Das Land war damals nicht, wie es heute ist. Es war von Bäumen und Sträuchern gesäubert und stark angebaut. Für Millionen herangewachsen und gereift, verkam die Frucht jetzt auf den Feldern und in den Obstwäldern. Ich pflückte mir Gemüse, Früchte und Beeren. In der Nähe der Gutshäuser holte ich Eier und fing Hühner. Und dazu fand ich vieles in den Vorratskammern.

Merkwürdig war, was mit den Haustieren vor sich ging. Überall verwilderten sie, und eines wurde die Beute des andern. Hühner und Enten waren die ersten Opfer. Zunächst verwilderten die Schweine, ihnen folgten die Katzen. Auch die Hunde hatten sich bald den veränderten Lebensbedingungen angepaßt. Es herrschte eine wahre Hundeplage. Sie fraßen die Leichen, bellten und heulten nachts und umschlichen uns zwei tagsüber in der Ferne. Mit der Zeit bemerkte ich eine Veränderung in ihrem Wesen. Anfangs hatten sie sich voneinander ferngehalten und waren stets kampflustig gewesen. Aber es dauerte nicht sehr lange, so fanden sie sich, und von jetzt an liefen sie stets in Rudeln. Ihr müßt nämlich wissen, daß der Hund, ehe der Mensch ihn zum Haustier machte, ein sehr geselliges Tier war. In den letzten Erdentagen vor der Seuche gab es viele, viele verschiedene Hunderassen: unbehaarte Hunde und Hunde mit warmem Pelz, Hunde, so klein, daß sie für andere Hunde, die so groß wie Berglöwen waren, kaum einen einzigen Bissen bedeutet hätten.

Jetzt wurden alle kleinen und schwachen Hunde von ihren Genossen gefressen. Auch die übergroßen erwiesen sich als für das wilde Leben ungeeignet und starben aus. Schließlich verschwanden all die verschiedenen Hunderassen, und es blieb nur der mittelgroße, in Rudeln umherstreifende Wolfshund, den ihr kennt.«

»Aber die Katzen laufen doch nicht in Rudeln, Großpa!« warf Huh-Huh ein.

»Die Katze war nie ein geselliges Tier. Wie schon ein Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts festgestellt hat, hält die Katze sich stets allein. Das tat sie schon, ehe der Mensch sie zähmte, sie tat es in den langen Zeiten der Domestikation, und sie tut es heute, da sie wieder wild geworden ist. Auch die Pferde verwilderten, die edlen Rassen verwandelten sich in den kleinen Mustang, den ihr kennt. Ebenso ging es mit Rindern, Tauben und Schafen. Und daß kleine Hühner am Leben blieben, wißt ihr. Die wilden Hühner sind ganz anders als die Hühner in jenen Tagen.

Aber laßt mich in meiner Geschichte fortfahren. Ich wanderte durch verödetes Land. Und mit der Zeit sehnte ich mich immer mehr nach menschlichen Wesen. Ich fand jedoch niemand, und ich wurde einsamer und einsamer. Ich durchwanderte das Livermore-Tal, überschritt die Berge und kam in das große Tal von San Joaquim. Ihr habt dieses Tal nie gesehen, aber es ist sehr groß, und es ist die Heimat des wilden Pferdes. Dort sind Herden von Tausenden und Zehntausenden von Rindern. Später – nach dreißig Jahren, wenn ich mich recht entsinne – bin ich wieder hingekommen. Ihr meint, daß es hier in den Küstentälern viele wilde Pferde gäbe; aber das ist gar nichts im Vergleich mit denen von San Joaquim. Die Rinder gingen merkwürdigerweise, als sie verwilderten, tiefer in die Berge hinein. Offenbar fanden sie dort besseren Schutz.

In den ländlichen Distrikten hatten sich die Plünderer und Marodeure weniger bemerkbar gemacht, denn ich fand viele Dörfer und Ortschaften unversehrt vom Feuer. Aber der Pesttod hatte auch sie verheert, und ich ging schnell weiter, ohne mich näher in ihnen umzusehen. In der Nähe von Lathrop wurde ich aus meiner Einsamkeit durch zwei schottische Schäferhunde erlöst, die sich noch nicht an ihre Freiheit gewöhnt hatten und sich daher freuten, daß sie sich wieder einem Menschen anschließen konnten. Viele Jahre lang begleiteten mich diese Schäferhunde, und ihre Nachkommen sind die Hunde, die ihr Knaben heute besitzt. Aber im Laufe der sechzig Jahre sind die Schäferhunde ausgeartet, diese wilden Tiere gleichen eher gezähmten Wölfen.«

Hasenscharte stand auf, blickte sich um, ob die Ziegen in Sicherheit waren, hielt nach dem Stand der Sonne am Nachmittagshimmel Ausschau und verlieh so seiner Ungeduld über die Weitschweifigkeit des Alten Ausdruck.

Auch Edwin drängte zur Eile, und der Großvater fuhr fort: »Es ist nicht mehr viel zu erzählen. In Begleitung meiner beiden Hunde und meines Ponys, auf einem Pferde reitend, das ich hatte einfangen können, überschritt ich den San Joaquim und gelangte in ein herrliches Tal der Sierra, das Yosemite genannt wurde. Hier fand ich in dem großen Gasthof einen erstaunlichen Vorrat an Konservendosen. Üppige Weiden durchschnitten das Tal, das von Wild wimmelte, und der Fluß, der es durchströmte, war reich an Forellen.

Ich lebte dort drei Jahre lang in der äußersten Einsamkeit, die ein Mensch, der einmal in hoch zivilisierten Verhältnissen gelebt hat, kaum zu begreifen vermag. Dann hielt ich es nicht länger aus. Ich fühlte, daß ich wahnsinnig wurde. Gleich dem Hund war ich ein Gesellschaftstier und brauchte meinesgleichen. Ich überlegte. Es bestand die Möglichkeit, daß auch andere die Seuche überlebt hatten. Ferner meinte ich, daß jetzt, nach drei Jahren, die Seuchenkeime verschwunden sein müßten, so daß das Land wieder frei von ihnen war. Mit meinem Pferd, meinen Hunden und dem Pony machte ich mich auf den Weg. Nochmals durchquerte ich das Tal von San Joaquim, überschritt die Berge und kam in das Livermore-Tal.

Der Wandel, der sich in diesen drei Jahren vollzogen hatte, war erschreckend. Damals war alles Land herrlich gepflegt gewesen, jetzt konnte ich es kaum wiedererkennen, so hatte das Meer von üppiger Vegetation das Menschenwerk überwuchert. Ihr müßt wissen, daß Getreide, Gemüse und Obstbäume stets von den Menschen bewässert und gepflegt worden waren, so daß sie nach unserm Wunsch wuchsen. Unkraut und wildes Gestrüpp waren im Gegensatz dazu trotz ihrer Zähigkeit und Widerstandsfähigkeit von den Menschen fast ausgerottet worden. In demselben Augenblick, als die Menschenhand nicht mehr wirkte, hatte die wildwachsende Vegetation alle gezüchteten Pflanzen niedergerungen und vernichtet. Die Kojoten hatten sich ungeheuer vermehrt, und zu dieser Zeit traf ich zum erstenmal Wölfe, die zu zweit und zu dritt oder in kleinen Rudeln aus den Regionen angerückt kamen, wo sie sich immer noch gehalten hatten. Am Temescalsee, nicht weit von der Stelle, wo einst die Stadt Oakland gestanden, stieß ich auf die ersten menschlichen Wesen.

O meine Enkel, wie soll ich euch meine Rührung schildern, als ich auf meinem Pferd den Hang hinabritt, der zum See führte, und plötzlich durch die Bäume den Rauch eines Lagerfeuers aufsteigen sah. Mir war, als wollte mein Herz stocken. Ich glaubte, daß ich wahnsinnig werden müßte. Da hörte ich das Geschrei eines kleinen Kindes – eines Menschenkindes! Hunde bellten, und meine Hunde antworteten. Ich hatte es nicht besser gewußt, als daß ich der einzige Mensch auf der Welt war. Es konnte nicht wahr sein, daß es noch andere gab – aber dort war Rauch, und ein Kind schrie! Jetzt sah ich, keine hundert Schritt entfernt, auf dem See einen Mann, einen großen Mann. Er stand auf einem Felsblock, der aus dem Wasser ragte, und angelte. Überwältigt hielt ich mein Pferd an. Ich versuchte zu rufen, konnte aber keinen Ton herausbringen. Ich winkte mit der Hand. Der Mann schien mich zu sehen, winkte aber nicht wieder. Da legte ich den Kopf auf meine Arme, die sich auf den Sattelknauf stützten. Ich fürchtete mich, wieder hinzuschauen, denn ich war überzeugt, daß ich das Opfer einer Halluzination und daß der Mann, wenn ich wieder hinsah, verschwunden war. Und so kostbar war mir diese Halluzination, daß ich sie noch eine kleine Weile festhalten wollte, denn solange ich nicht hinblickte, mußte sie andauern.

So verharrte ich in meiner Stellung, bis ich das Knurren meiner Hunde und die Stimme des Mannes hörte. Was, meint ihr, sagte diese Stimme? Ich will es euch berichten. Sie sagte: ›Wo, zum Kuckuck, kommst du denn her?‹ So lauteten die Worte, genauso. So, Hasenscharte, begrüßte mich dein anderer Großvater, der Chauffeur, vor siebenundfünfzig Jahren am Ufer des Temescalsees. Und es waren die unauslöschlichsten Worte, die ich je gehört habe.

Ich öffnete die Augen, da stand er vor mir, ein großer, dunkler, behaarter Mann mit mächtigen Kinnladen, fliehender Stirn und stechendem Blick. Wie ich vom Pferd herunterkam – das weiß ich nicht. Was mir zuerst zum Bewußtsein kam, war, soviel ich weiß, daß ich seine Hände mit meinen beiden ergriff und weinte. Ich würde ihn umarmt haben, aber er war engstirnig und mißtrauisch und zog sich von mir zurück. Aber ich hielt seine Hand und weinte.« Die Stimme des Alten zitterte, und bei der Erinnerung strömten ihm die Tränen über die Wangen, während die Knaben kichernd dabeistanden.

»Ich weinte«, fuhr er fort, »und hätte ihn am liebsten umarmt, obgleich der ehemalige Chauffeur ein Wilder, ein vollkommener Wilder war – der abscheulichste Mensch, dem ich je begegnet bin. Eigentlich hieß er – ja, es ist merkwürdig, aber das habe ich vergessen. Jedermann nannte ihn später nur den Chauffeur, nach seiner ehemaligen Beschäftigung, und das paßte zu ihm. So kommt es, daß der Stamm, den er begründete, bis auf den heutigen Tag der Stamm der Chauffeure heißt. Er war ein heftiger, treuloser Mensch, ein schlechter Charakter. Warum die Seuche gerade ihn verschonen mußte, habe ich nie verstanden. Es könnte fast scheinen, daß es trotz unserm alten metaphysischen Glauben an die absolute Gerechtigkeit im All keine gibt. Warum lebte er? Er – ein boshaftes, unmoralisches Ungeheuer, ein Schandfleck im Antlitz der Natur und dazu ein grausamer ruchloser Verbrecher.

Er konnte von nichts sprechen als von Automobilen, Motoren, Benzin und Garagen – und namentlich und mit größter Freude von den niedrigen Diebereien und schmutzigen Betrügereien, die er an denen begangen hatte, in deren Diensten er vor den Tagen der Seuche gestanden.

Und doch war er verschont geblieben, während Hunderte von Millionen, ja Milliarden besserer Menschen der Vernichtung anheimfielen. Ich begleitete ihn in sein Lager, und da sah ich sie, Vesta, die eine Frau. Es war ein wunderbarer Anblick – und ein bejammernswerter dazu! Da war sie, Vesta van Warden, die junge Frau John van Wardens – in Lumpen gehüllt, mit rauhen, narbigen verarbeiteten Händen beugte sie sich über das Lagerfeuer und verrichtete die Arbeit einer Magd – Vesta, die zur Pracht und Würde des größten Reichtums geboren war, den je die Welt gesehen hatte!

John van Warden, ihr Gatte, der ein Vermögen von einer Milliarde oder achthundert Millionen besessen hatte und Präsident des Verbandes der Großindustriellen gewesen war, war der eigentliche Herrscher Amerikas gewesen. Als Mitglied des Internationalen Kontroll-Verbandes hatte er als einer der sieben Männer die Welt regiert. Und Vesta war von gleicher Abstammung. Ihr Vater, Philip Saxon, war bis zu seinem Tode Präsident des Verbandes der Großindustriellen gewesen. Dieses Amt entwickelte sich geradezu zu einem erblichen, und hätte Philip Saxon einen Sohn gehabt, so wäre dieser sein Nachfolger geworden. Aber er hatte nur ein einziges Kind: Vesta, die vollkommenste Blüte von Generationen höchster Kultur, die dieser Planet je hervorgebracht hatte.

Erst als die Verlobung Vestas mit van Warden stattfand, erklärte Saxon ihn zu seinem Nachfolger. Ich bin sicher, daß es sich um eine politische Ehe handelte. Ich habe meine Gründe zu der Annahme, daß Vesta ihren Gatten nie mit der wahnsinnigen Leidenschaft liebte, von der die Dichter gesungen haben. Es war mehr eine Ehe, wie sie zwischen gekrönten Häuptern geschlossen wurden in der Zeit, ehe die Industriemagnaten sie vertrieben. Jetzt stand sie hier, kochte in einem rußigen Topf ein Fischgericht, ihre Augen waren durch den beißenden Rauch des offenen Feuers entzündet.

Ihr Schicksal war traurig. Sie war die einzige Überlebende einer Million, so wie ich und wie der Chauffeur es waren. Auf einer Anhöhe, der höchsten Erhebung der Alamedaberge, hatte van Warden sich einen großen Sommerpalast mit der Aussicht über die Bucht von San Francisco bauen lassen. Ein Park von tausend Morgen umgab das Schloß. Als die Seuche ausbrach, schickte van Warden sie dorthin. Bewaffnete Wachen patrouillierten an den Grenzen des Parks, und nichts, weder Nahrung noch Post, wurde hereingelassen, ohne erst desinfiziert worden zu sein. Aber trotz allem kam die Seuche, tötete die Wachen auf ihren Posten, die Dienerinnen bei ihrer Arbeit, fegte die ganze Armee ihres Gefolges hinweg – wenigstens alle, die nicht flohen, um anderswo zu sterben. So war Vesta schließlich die einzige Überlebende in ihrem Palast, der zum Leichenhaus geworden war. Unter den Dienern, die fortgelaufen waren, befand sich auch der Chauffeur. Als er nach zwei Monaten wiederkam, fand er Vesta in dem kleinen Sommerpavillon, wo sie sich niedergelassen hatte. Der Mann war ein wildes Tier. Sie fürchtete sich vor ihm, lief fort und versteckte sich im Gebüsch. In der Nacht floh sie zu Fuß in die Berge – sie, deren zarte Füße und gebrechlicher Körper nie mit Steinen und Dornen in Berührung gekommen waren. Er verfolgte sie und fing sie noch in derselben Nacht. Er schlug sie. Versteht ihr? Schlug sie mit seinen furchtbaren Fäusten und machte sie zu seiner Sklavin. Sie mußte Brennholz sammeln, das Feuer anfachen, kochen und alle entwürdigende Lagerarbeit verrichten – sie, die nie in ihrem Leben mit ihren Händen gearbeitet hatte!

Er zwang sie, all das zu tun, während er selbst, ein echter Wilder, dabeilag und zusah. Er tat nichts, gar nichts, es sei denn, daß er gelegentlich Wild jagte oder Fische fing.«

»So gehört es sich auch für einen Chauffeur«, erklärte Hasenscharte den andern Knaben leise. »Ich entsinne mich noch an ihn, ehe er starb. Er war ein ganzer Kerl! Der beste von allen! Alles geschah nach seinem Willen. Ihr wißt, daß seine Tochter meinen Vater heiratete, und ihr hättet sehen sollen, wie er mit Vater umsprang! Der Chauffeur war ein verfluchter Kerl! Wir Kinder bewunderten ihn. Als er einmal in Stimmung war, langte er mit seinem Stock, den er immer bei sich trug, nach mir aus und schlug mir ein gehöriges Loch in den Kopf.«

Hasenscharte rieb sich bei dieser Erinnerung den Rundschädel. Dann wandten sich die Knaben wieder dem Alten zu, der verzückte Worte über Vesta, die Frau des Stammvaters der Chauffeure, vor sich hinmurmelte.

»Ich sage euch, daß ihr gar nicht begreifen könnt, wie schrecklich es für sie war. Der Chauffeur war ein Diener, begreift, ein Diener! Mit gekrümmtem Rücken hatte er vor solchen gestanden, wie sie es war. Kraft Geburt und Heirat war sie eine Königin des Lebens gewesen. Die Geschicke von Millionen solcher Menschen, wie er es war, hielt sie in ihrer kleinen weißen Hand. Und in den Tagen vor der Seuche wäre die geringste Berührung mit einem Kerl, wie er es war, eine Entweihung für sie gewesen. Oh, ich habe es erlebt! Ich erinnere mich noch der Frau des großen Magnaten Godwin. Es war im Flughafen. Sie wollte gerade in eines ihrer eigenen lenkbaren Luftschiffe steigen, als sie ihren Schirm fallen ließ. Ein Diener hob ihn auf und beging den Fehler, ihn ihr eigenhändig zu reichen – ihr, einer der ersten, königlichsten Frauen des Landes. Wie vor einem Aussätzigen wich sie zurück, bedeutete ihrem Sekretär, den Schirm zu nehmen, und befahl ihm, den Namen dieses Geschöpfes festzustellen und dafür zu sorgen, daß er sofort seines Dienstes enthoben wurde. Und eine solche Frau war auch Vesta van Warden. Und sie wurde jetzt von dem Chauffeur geschlagen!

... Bill – so hieß er, Bill, der Chauffeur. So lautete sein Name. Er war ein primitiver, erbärmlicher Mensch, und er ermangelte völlig jeder Verfeinerung und Ritterlichkeit einer kultivierten Seele.

Nein, es gibt keine absolute Gerechtigkeit, denn ihm fiel Vesta van Warden, dieses Wunder der Weiblichkeit, anheim! Wie schmerzhaft dies für mich war, werdet ihr, meine Enkel, nie begreifen, denn ihr seid selbst primitive kleine Wilde, die nichts kennen als ihre Wildheit. Warum hatte Vesta nicht mein werden können? Ich war ein Mann von Kultur und Bildung, Professor an einer großen Universität, wenn sie sich auch in den Zeiten vor der Seuche nie so weit herabgelassen haben würde, von meiner Existenz Kenntnis zu nehmen. Und nun denkt erst, zu welch abgrundtiefer Erniedrigung sie durch die Hand des Chauffeurs verdammt war!

Nichts Geringeres als die Vernichtung der gesamten Menschheit war notwendig gewesen, es mir zu ermöglichen, ihr in die Augen zu blicken, mich mit ihr zu unterhalten und ihre Hand zu berühren – und, ach, sie zu lieben und zu wissen, daß sie mir freundlich gesinnt war. Ich habe gute Gründe zu der Annahme, daß sie, ja, sie, mich wiedergeliebt haben würde, wäre der Chauffeur nicht gewesen. Warum mußte die Seuche, die acht Milliarden Menschen vernichtete, gerade diesen einen, den Chauffeur, das Böse an sich, verschonen.

Als der Chauffeur sich einmal zum Fischen begeben hatte, flehte sie mich an, ihn zu töten. Mit Tränen in den Augen flehte sie mich an, ihn zu töten! Aber er war ein starker, gewalttätiger Mann, und ich fürchtete mich. Ich sprach jedoch mit ihm. Ich bot ihm mein Pferd, mein Pony, meine Hunde, alles, was ich besaß, wenn er mir Vesta überlassen wollte. Er aber lachte mir ins Gesicht und schüttelte den Kopf. Er war sehr beleidigend. Er sagte, daß er, der frühere Diener, jetzt die größte Dame des Landes zur Dienerin hätte, die ihm sein Essen kochen und seine Brut pflegen müßte. ›Ihr habt eure Tage vor der Pest gehabt‹, sagte er. ›Jetzt aber ist meine reiche Zeit gekommen, und es ist eine verdammt gute Zeit! Ich möchte um nichts in der Welt wieder mit früher tauschen.‹

So sprach er, wenn auch nicht wörtlich. Er war ein gemeiner, niedriger Mann, und scheußliche Flüche regneten von seinen Lippen. Zu mir sagte er auch, wenn er mich dabei erwischte, daß ich seiner Frau Augen machte, so würde er mir den Hals umdrehen und ihr eine Tracht Prügel versetzen. Was sollte ich tun? Ich fürchtete mich. Er war eine wilde Bestie. In der ersten Nacht, nachdem ich das Lager entdeckt hatte, unterhielten Vesta und ich uns lange über unsere entschwundene Welt. Wir sprachen über Kunst, über Bücher und Dichtung, und der Chauffeur hörte zu, grinste und verhöhnte uns. Unsere Redeweise, die er nicht verstand, verstimmte und ärgerte ihn, und schließlich konnte er sich nicht mehr halten und rief: ›Dies ist Vesta van Warden, einst die Frau van Wardens, des Magnaten, eine berühmte Schönheit, die jetzt mein Weib ist. Nun, Herr Professor Smith, die Zeiten haben sich geändert. Los, Weib, zieh mir die Mokassins aus, aber ein bißchen schnell! Ich möchte Herrn Professor Smith zeigen, wie gut ich dich erzogen habe.‹

Ich sah, wie sie mit den Zähnen knirschte und wie die Flamme der Empörung ihr ins Gesicht stieg. Er ballte die Faust, um sie zu schlagen, und ich fürchtete mich, und mein Herz war krank. Mir war sehr elend zumute. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu bezwingen. So stand ich auf und schickte mich zum Gehen an, um nicht Zeuge einer solchen Unwürdigkeit zu sein. Aber der Chauffeur lachte und drohte mir mit Prügel, wenn ich nicht bliebe und zuschaue. Und so mußte ich am Ufer des Temescalsees am Lagerfeuer sitzen und sehen, wie Vesta, Vesta van Warden, niederkniete und dieser grinsenden, haarigen, affenartigen menschlichen Bestie die Mokassins auszog ... O ihr, meine Enkel, wißt nichts hiervon. Ihr habt es nie anders gekannt, und ihr versteht es nicht. ›Schockschwerenot noch mal‹, grinste der Chauffeur, während sie die schreckliche Arbeit ausführte, ›ein bißchen störrisch ist sie ja manchmal, Professor, ein bißchen verstockt. Aber eine Backpfeife macht sie demütig und sanft wie ein Lämmchen.‹ Und ein andermal sagte er: ›Wir müssen uns vermehren und die Welt wieder füllen. Sie, Professor, können nichts tun, Sie haben keine Frau, und Zustände wie im Garten Eden lasse ich nicht zu. Aber ich bin nicht stolz. Ich will Ihnen etwas sagen, Professor‹ – er zeigte auf ein kleines, kaum einjähriges Kind – ›hier ist Ihre Frau; sie müssen allerdings warten, bis sie groß ist. Ist das nicht großmütig? Wir sind hier alle gleich, wenn ich auch die dickste Kröte im Sumpf bin. Aber ich bin nicht hochnäsig – durchaus nicht. Ich tue Ihnen, Professor Smith, die Ehre, die große Ehre an, Sie mit meiner und Vesta van Wardens Tochter zu verloben. Ist es nicht ein Jammer, daß van Warden das nicht erlebt?‹

Drei Wochen unendlicher Qual verbrachte ich im Lager des Chauffeurs. Als er dann schließlich meiner oder der ungünstigen Wirkung, die ich seiner Ansicht nach auf Vesta ausübte, müde geworden war, erzählte er mir eines Tages, daß er im Jahre zuvor bei einer Wanderung durch die Cintra-Costa-Berge nach der Straße von Carquinez Rauch gesehen hätte. Das bedeutete, daß es dort noch andere menschliche Wesen gab, ein unschätzbares, köstliches Wissen, das er mir drei Wochen lang vorenthalten hatte! Ich brach sofort mit meinen Hunden und Pferden auf und folgte dem von ihm angegebenen Weg, bis ich die Straße von Carquinez erreicht hatte. Ich sah zwar keinen Rauch am anderen Ufer, entdeckte aber bei Port Costa eine kleine stählerne Barke, auf der ich meine Tiere einschiffen konnte. Alte Leinentücher, die ich fand, dienten mir als Segel, und bald fächelte mich eine südliche Brise über den Meeresarm hinüber nach den Ruinen von Vallejo. Hier, im Weichbild der Stadt, fand ich die Spuren eines erst kürzlich verlassenen Lagers. Zahlreiche Muschelschalen verrieten mir, warum die Menschen hier an den Strand der Bucht gekommen waren. Dies war der Santa-Rosa-Stamm, und ich folgte seinen Spuren den alten Schienenweg entlang durch die Salzsümpfe bis in das Sonomatal. Bei dem alten Backstein-Gutshaus von Glen Ellen stieß ich auf das Lager.

Es waren alles in allem achtzehn Menschen. Zwei waren alte Männer, davon einer ein Bankier namens Jones. Der andere war Harrison, ein früherer Pfandleiher, der die Oberin vom staatlichen Irrenhaus in Napa geheiratet hatte. Von allen Einwohnern Napas und all der anderen Städte und Dörfer in diesem üppigen, volkreichen Tal war sie die einzige Überlebende. Ferner fand ich hier drei junge Männer: Cardiff und Hale, die Farmer, und Wainright, der ein einfacher Tagelöhner gewesen war. Alle drei hatten Frauen gefunden. Hale, einem rohen, ungebildeten Bauern, war Isadore zugefallen, nach Vesta die erste aller Frauen, die die Seuche überstanden hatten. Sie war eine der bekanntesten Sängerinnen gewesen. Die Seuche hatte sie in San Francisco überrascht. Sie unterhielt sich stundenlang mit mir und erzählte mir ihre Erlebnisse. Sie war in die Wälder von Mendocino geflüchtet, und dort hatte Hale sie gefunden und entführt. Aber Hale war trotz seiner Unbildung ein guter Kerl. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, und sie war weit glücklicher mit ihm als Vesta mit ihrem Chauffeur. Die Gattinnen Cardiffs und Wainrights waren einfache Frauen, arbeitsgewohnt und kräftig – eben von der rechten Art für das neue wilde Leben, das sie zu führen gezwungen waren. Es kamen ferner noch zwei ausgewachsene Schwachsinnige aus der Idiotenanstalt in Eldredge und fünf oder sechs Halbwüchsige und Kinder dazu, die nach der Begründung des Santa-Rosa-Stammes geboren waren. Endlich muß ich noch Bertha nennen. Sie war eine gute Frau, Hasenscharte, trotz des Hohns deines Vaters. Sie nahm ich zur Frau. Sie wurde die Mutter deines Vaters, Edwin, und auch des deinen, Huh-Huh. Und unsere Tochter Vera heiratete deinen Vater, Hasenscharte – deinen Vater Sandow, den ältesten Sohn Vesta von Wardens und des Chauffeurs. Und so ging es zu, daß ich das neunzehnte Mitglied des Santa-Rosa-Stammes wurde. Nach mir kamen nur noch zwei Außenstehende hinzu. Der eine war Mungerson, ein Abkömmling der Magnaten, der allein die Wildnis Nordkaliforniens acht Jahre lang durchwandert hatte, ehe er nach dem Süden gelangte und sich zu uns gesellte. Er wartete zwölf Jahre, bis er meine Tochter Mary heiraten konnte.

Der andere war Johnson, der Mann, der den Utah-Stamm begründete. Utah hieß das Land, aus dem er stammte, ein Land, das weit von hier, jenseits der großen Wüste im Osten liegt. Erst siebenundzwanzig Jahre nach der Seuche gelangte Johnson nach Kalifornien. Johnson war ein starker Mann, der seinen eigenen Willen hatte. Deshalb trennte er sich von den Santa Rosanern und gründete den Utah-Stamm zu San José. Der Stamm ist nur klein – er zählt neun Angehörige –, aber wenn Johnson auch tot ist, waren sein Einfluß und die Kraft seiner Herkunft doch so groß, daß die Utahs ein starker Stamm werden und eine führende Rolle in der wiederkehrenden Zivilisation des Planeten spielen werden. Sonst gibt es, soweit wir wissen, nur noch zwei Stämme: die Los Angelitos und die Carmelitos. Die Carmelitos stammen von einem Mann und einer Frau ab. Er hieß Lopez und war ein Nachkomme der alten Mexikaner und ein sehr dunkelhäutiger Mann. Er war Kuhhirt auf den Weiden von Carmel und seine Frau Hausmädchen in dem großen Del-Monte-Hotel gewesen. Erst vor sieben Jahren sind wir mit den Los Angelitos in Berührung gekommen. Sie bewohnen ein gutes Land, aber es ist zu heiß.

Ich schätze die Bevölkerung der Erde heute auf dreihundertfünfzig bis vierhundert Köpfe – vorausgesetzt natürlich, daß sich nicht irgendwo noch kleine verstreute Stämme befinden. Gibt es solche, so haben wir jedenfalls noch nie etwas von ihnen gehört. Seit Johnson durch die Wüste zu uns kam, hat man weder aus dem Osten noch sonst irgendwoher je ein Wort oder ein Lebenszeichen gehört. Die große Welt, die ich als Knabe und Jüngling kannte, ist dahin. Sie ist nicht mehr. Ich bin der letzte, der die Seuche erlebt und die Wunder weit zurückliegender Zeiten gekannt hat. Der letzte von denen, die einst diesen Planeten – seine Festländer, seine Meere und seinen Himmel – bezwungen haben, die Götter waren gegen uns, die wir jetzt als primitive Wilde an den Wassern Kaliforniens leben. Aber wir vermehren uns schnell deine Schwester, Hasenscharte, hat schon vier Kinder. Wir vermehren uns schnell und machen uns daran, den neuen Aufstieg der Zivilisation vorzubereiten. Zu gegebener Zeit wird der Druck der Überbevölkerung uns zwingen, uns auszubreiten, und nach hundert Generationen werden wir uns vielleicht aufmachen und über die Berge wandern. Langsam wird Generation auf Generation sich über den Kontinent verbreiten und, wenn auch der Osten bevölkert ist, die ganze Erde von neuem überfluten. Langsam wird es gehen, sehr langsam; wir haben so hoch zu klimmen, denn wir sind hoffnungslos tief gefallen. Wäre nur ein einziger Physiker oder Chemiker am Leben geblieben! Aber es sollte nicht sein, und wir haben alles vergessen.

Der Chauffeur begann das Eisen zu bearbeiten. Er baute die Schmiede, die wir bis auf den heutigen Tag benutzen. Aber er war faul, und er nahm all sein Wissen von Metallen und Maschinen mit ins Grab. Was verstand ich von solchen Dingen! Ich war Historiker und kein Chemiker. Die anderen Männer aber, die am Leben geblieben, waren ganz ungebildet. Nur zweierlei vollbrachte der Chauffeur: Er braute starke Getränke und pflanzte Tabak. Im Rausch tötete er Vesta. Ich bin fest davon überzeugt, daß er sie in sinnloser Trunkenheit tötete, wenn er auch dabei blieb, daß sie in den See gefallen und ertrunken sei. Und, meine Enkel, laßt euch vor den Medizinmännern warnen. Sie nennen sich Ärzte und treiben Spott mit einem einst edlen Beruf, in Wahrheit aber sind sie Medizinmänner, Teufel-Teufel-Männer, die nur für den Aberglauben und die Finsternis wirken. Sie sind Lügner und Betrüger. Wir aber sind so gesunken, daß wir ihre Lügen glauben. Sie werden im selben Maße zunehmen wie wir und werden versuchen, uns zu beherrschen. Aber dennoch: Sie sind Lügner und Scharlatane! Seht euch den jungen Queraug an, der sich als Arzt aufspielt und Heilmittel gegen Krankheiten, für gute Jagd und Schönwetter gegen Fleisch und Felle tauscht; der den Todesstock schickt und tausend Greuel verübt. Ich sage euch, daß er lügt, wenn er behauptet, diese Dinge vollbringen zu können. Ich, Professor Smith, Professor James Howard Smith, sage, daß er lügt!

Ich habe es ihm ins Gesicht gesagt. Warum hat er mir nicht den Todesstock gesandt? Er weiß eben, daß es bei mir nichts hilft. Aber du, Hasenscharte, du bist so tief im schwärzesten Aberglauben versunken, daß du sterben würdest, wenn du nachts aufwachen und den Todesstock an deiner Seite finden würdest. Und du würdest sterben, nicht durch die Kraft des Stockes, sondern weil du ein Wilder mit dem dunkel umnachteten Geist eines Wilden bist.

Die Pfusch-Ärzte müssen vernichtet und alles Wissen, was verloren ging, muß wiederentdeckt werden. Deshalb erzähle ich euch immer wieder solche Dinge, an die ihr euch erinnern sollt und die ihr euern Kindern erzählen müßt. Ihr müßt ihnen sagen, daß Wasser, wenn es durch Feuer erwärmt wird, ein wunderbares Ding, Dampf genannt, entwickelt, das stärker als zehntausend Männer ist und alle Arbeit für sie verrichten kann. Und es gibt noch andere, sehr natürliche Dinge. Im leuchtenden Blitz lebt ein ähnlicher starker Sklave, der den Menschen in alten Zeiten dienstbar war und es eines Tages wieder werden muß.

Etwas ganz anderes ist das Alphabet. Es läßt mich die Bedeutung feiner Ziffern verstehen, während ihr Knaben nur rohe Bilderzeichnung kennt. In der trockenen Höhle auf dem Telegrafen-Hügel, wohin ihr mich so oft gehen seht, wenn der Stamm unten am Wasser ist, habe ich viele Bücher aufgestapelt. In denen steckt großes Wissen. Dort habe ich auch den Schlüssel zu dem Alphabet hinterlegt, so daß einer, der die Bilderschrift lesen, auch die Ziffernschrift verstehen kann. Eines Tages werden die Menschen wieder lesen können, und wenn bis dahin meiner Höhle nichts zustößt, wird man wissen, daß einst ein Professor James Howard Smith lebte, der das Wissen der Alten für sie rettete.

Noch eine kleine Erfindung gibt es, die die Menschen unweigerlich wieder machen werden. Sie nennt sich Schießpulver. Sie ermöglicht es, sicher und auf weite Entfernung zu töten. Gewisse, in der Erde gefundene Substanzen bilden, im rechten Verhältnis gemischt, dieses Schießpulver. Welche Substanzen es sind, habe ich vergessen oder vielleicht auch nie gewußt. Aber ich wünschte, ich wüßte es. Dann würde ich Schießpulver verfertigen, Queraug töten und das Land vom Aberglauben befreien –«

»Wenn ich erwachsen bin, werde ich Queraug alle Ziegen und alles Fleisch und alle Felle, die ich erlangen kann, geben, damit er mir sein Wissen beibringt«, erklärte Huh-Huh. »Und wenn ich alles weiß, müssen alle anderen mir gehorchen. Wahrlich, sie sollen im Staub vor mir liegen!«

Der Alte nickte feierlich mit dem Kopfe und murmelte: »Seltsam ist es, die Überbleibsel der europäischen Sprache von den Lippen eines schmutzigen kleinen, in Felle gekleideten Wilden zu vernehmen! Die ganze Welt ist auf den Kopf gestellt. Seit der Seuche ist sie auf den Kopf gestellt!«

»Du willst, daß ich dir gehorche«, brüstete sich Hasenscharte vor dem angehenden Medizinmann. »Aber wenn du mir den Todesstock schickst und die Sache klappt nicht, dann werde ich es dir heimzahlen, und du wirst nichts zu lachen haben – verstanden, Huh-Huh?«

»Ich werde Großpa an das Schießpulver erinnern«, sagte Edwin sanft. »Und dann werde ich euch allen Beine machen. Du, Hasenscharte, wirst für mich kämpfen und jagen, und du, Huh-Huh, wirst den Todesstock für mich senden und alle vor mir zittern machen. Und wenn ich Hasenscharte dabei erwische, daß er dir den Kopf einschlagen will, Huh-Huh, dann werde ich ihm mit dem Schießpulver kommen. Großpa ist kein solcher Narr, wie ihr glaubt, und ich werde auf ihn hören, und eines Tages werde ich euer Herr und Meister sein.«

Traurig schüttelte der Alte den Kopf und sagte: »Das Schießpulver wird kommen. Nichts wird es hindern können – es wird immer die alte Geschichte bleiben. Der Mensch wird sich vermehren, und der Mensch wird kämpfen. Das Schießpulver wird es dem Menschen ermöglichen, Millionen von Menschen zu töten, und nur auf diesem Wege – durch Feuer und Blut – wird einst eine neue Zivilisation entstehen. Aber wozu? Wie die alte Zivilisation dahinschwand, so wird auch die neue vergehen. Alles vergeht. Nur die kosmische Kraft und die ewig fließende Materie bleiben, immer zeugend, immer Reaktionen bewirkend und die ewigen Typen schaffend: den Priester, den Soldaten und den König. Aus Kindermund kommt die Weisheit aller Zeiten. Manche werden kämpfen, manche herrschen und manche beten. Und alle anderen werden arbeiten und leiden, während auf ihren blutigen Leichnamen immer wieder, in alle Unendlichkeit, die erschreckenden Schönheiten und überragenden Wunder des zivilisierten Staates aufgebaut werden.

Vielleicht sollte ich die Bücher, die ich in der Höhle verwahre, vernichten, aber ob sie vernichtet werden oder ob sie bleiben: All ihre alten Wahrheiten werden wieder ans Licht kommen, ihre alten Lügen werden leben und von Mund zu Mund gehen. Und wozu das alles?«

Hasenscharte sprang auf, warf einen schnellen Blick auf die weidenden Ziegen und auf die Nachmittagssonne. »Heh!« murmelte er, zu Edwin gewandt. »Der alte Narr spricht von Tag zu Tag wirrer. Laß uns ins Lager gehen.«

Während Hasenscharte und Huh-Huh mit Hilfe der Hunde die Ziegen zusammentrieben, hielt sich Edwin bei dem Alten, um ihn hinter den anderen durch den Wald zu führen. Als sie die alte Landstraße erreichten, blieb Edwin plötzlich stehen und sah sich um. Hasenscharte, Huh-Huh und die Hunde und Ziegen gingen weiter. Edwin betrachtete eine kleine Koppel wilder Pferde, die über den harten Sand angetrabt kam. Es waren etwa zwanzig, Fohlen, Jährlinge und Stuten. Das Leitpferd, ein herrlicher Hengst, stand jetzt im Schaum der Brandung und sog mit zurückgeworfenem Kopf und hellen, wilden Augen den Salzduft der See ein.

»Was gibt es?« fragte der Großvater.

»Pferde«, lautete die Antwort. »Es ist das erstemal, daß ich sie am Strande sehe. Die Berglöwen werden von Tag zu Tag häufiger und treiben sie herab.«

Die tiefstehende Sonne schoß fächerförmige rote Lichtbündel vom Horizont über den bewölkten Himmel. Und ganz nahe, im weißen Chaos des Wogenpralls am Gestade, bellten die Seelöwen ihr Frühlingslied, kletterten aus dem Meer auf die schwarzen Felsen, kämpften und liebten.

»Komm, Großpa«, bat Edwin.

Der alte Mann und der Knabe, zwei mit Fellen bekleidete Wilde, kehrten um und folgten den Ziegen in den Wald.


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