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Nordwärts liefen wir von den Bonin-Inseln, um Robbenherden aufzustöbern, und nordwärts ging die Jagd hundert Tage lang durch eisiges Winterwetter und mächtige Nebel, die uns zuweilen eine Woche lang die Sonne verbargen. Es war wilde, schwere Arbeit, ohne einen Trunk und ohne auch nur den Gedanken daran. Dann segelten wir südwärts nach Yokohama, mit reicher Beute an eingesalzenen Häuten und einem erstklassigen Löhnungstag in Aussicht.

Ich brannte darauf, an Land zu kommen und Japan zu sehen, aber der erste Tag war der Arbeit an Bord gewidmet, und erst gegen Abend gingen wir in die Boote. Der Kapitän hatte den Jägern Geld für uns gegeben, und sie warteten in einem japanischen Wirtshaus auf uns, um es uns dort auszuhändigen.

Wir fuhren in Rickschahs nach dem Lokal; das hatten unsere Leute ganz mit Beschlag belegt. Jedermann hatte Geld, und jeder gab aus. Nach den hundert Tagen schwerer Arbeit und völliger Enthaltsamkeit beschlossen wir, strotzend vor Gesundheit und überströmend von guter Laune, die Disziplin und Umstände so lange zurückgedämmt hatten, zunächst ein oder zwei Glas zu trinken. Und danach wollten wir die Stadt besehen.

Es war die alte Geschichte. Als der warme Zauber erst durch unsere Adern rann und unsere Stimmen und Gefühle löste, erkannten wir, daß wir keine Unterschiede machen – nicht mit einem Kameraden trinken, und es einem andern abschlagen konnten. Wir waren alle Kameraden, die Mühen und Stürme miteinander erlebt, die zusammen an den Riemen gesessen und dieselben Schooten und Taljen miteinander gehalten, sich auf der Wache abgelöst und zusammen außenbords auf dem Klüver gelegen, wenn er in die See getaucht war, und zusammen Ausschau nach denen gehalten hatten, die fehlten, wenn er sich wieder hob. So tranken wir mit jedem, und jeder gab aus, und unsere Stimmen erhoben sich, und wir erinnerten uns unzähliger kameradschaftlicher Handlungen, vergaßen unsere Streitigkeiten und wortreichen Zänkereien, und sahen einer im andern den besten Kameraden von der Welt.

Es war noch früh am Abend, als wir in die Wirtschaft kamen, und in dieser ersten Nacht war diese Wirtschaft das einzige, was ich von Japan zu sehen bekam – eine Kneipe, die einer Kneipe in der Heimat oder irgendwo sonst in der ganzen Welt sehr ähnlich sah.

Wir lagen zwei Wochen im Hafen von Yokohama, und alles, was wir von Japan zu sehen bekamen, waren die Hafenkneipen. Gelegentlich brachte einer von uns durch einen besonders starken Rausch etwas Abwechslung in die Geschichte. In einer derartigen Verfassung vollbrachte ich eine wahre Heldentat, indem ich in tiefer Mitternacht nach dem Schoner schwamm und mich in aller Stille schlafen legte, während die Hafenpolizei nach meiner Leiche fischte und meine Kleider ausstellte, um mich zu identifizieren.

Ich erfreute mich jedenfalls mehrere Tage lang einer nicht geringen Berühmtheit unter den japanischen Seeleuten und in den Wirtshäusern an Land. Es war ein Ereignis, das man sich merkte und mit Stolz erzählte. Noch heute, nach zwanzig Jahren, erinnere ich mich seiner mit einer heimlichen Wallung von Stolz.

Unter lustigem Singen lichteten wir schließlich den Anker und verließen den Hafen von Yokohama, um nach San Francisco zu fahren. Wir schlugen die nördliche Route ein und kreuzten den Stillen Ozean in einer schnellen Fahrt von siebenunddreißig Tagen. Uns stand ein ordentlicher Löhnungstag bevor, und in diesen siebenunddreißig Tagen schmiedeten wir Pläne, wie wir unser Geld am besten gebrauchen wollten.

Der erste Beschluß jedes einzelnen von uns – der altbekannte der auf der Heimreise befindlichen Angehörigen des Vorderkastells – lautete: »Vorsicht vor den Logierhaus-Haien!« Denn man bedauerte, soviel Geld in Yokohama verbraucht zu haben. Und schließlich hing jeder seinen Lieblingsphantomen nach. Victor zum Beispiel wollte, sobald er in San Francisco sei, ohne rechts oder links zu sehen, durch den Hafen und die Barbarenküste gehen und eine Anzeige in die Zeitung setzen. Er wollte Kost und Logis in einer einfachen Arbeiterfamilie suchen. »Dann«, sagte Victor, »will ich eine oder zwei Wochen lang eine Tanzschule besuchen, um Bekanntschaften mit jungen Mädchen und Männern zu machen. Dann werde ich zu Gesellschaften eingeladen werden: so reiche ich mit dem Geld, das ich jetzt bekomme, bis zum nächsten Januar, und dann fahre ich wieder.«

Nein – trinken wollte er nicht wieder. Er wußte, wie es dann kam, und namentlich, wie es ihm ergehen würde – »kommt der Wein, geht der Witz«, und sein Geld war weg, ehe er es merkte. Er wußte aus eigner bitterer Erfahrung, daß er die Wahl hatte zwischen einem dreitägigen Gelage unter den Haien und Harpyien der Barbarenküste und einem ganzen Winter voll Vergnügen und Geselligkeit, und er war nicht einen Augenblick im Zweifel, welche Wahl er treffen sollte.

Und Axel Gunderson, der sich nichts aus Tanz und Geselligkeit machte, sagte: »Ich kriege eine ganze Menge Geld. Jetzt kann ich heimreisen. Es ist fünfzehn Jahre her, daß ich meine Mutter und die ganze Familie zuletzt sah. Wenn ich abgemustert habe, schicke ich mein Geld im voraus nach Hause. Dann heuere ich auf einem guten Schiff an und verdiene auf diese Weise noch mehr. Rechnet das zusammen, und es kommt mehr Geld heraus, als ich mein ganzes Leben je beisammen hatte. Zu Hause bin ich dann wie ein Fürst. Ihr habt keine Ahnung, wie billig alles in Norwegen ist. Ich kann allen Leuten Geschenke machen und mit dem Gelde um mich werfen, daß man mich für einen Millionär hält; und ich kann ein ganzes Jahr dort bleiben, ohne wieder zur See zu gehen.«

»Dasselbe will auch ich tun«, erklärte der Rote John. »Es ist drei Jahre her, daß ich zuletzt eine Zeile von Zuhause hatte, und zehn, daß ich dort war. In Schweden ist es ebenso billig wie in Norwegen, und meine Leute sind richtige Bauern. Ich schicke meine Heuer nach Hause und fahre auf demselben Schiff wie du um Kap Horn herum. Jetzt machen wir's richtig.«

Und wie Axel Gunderson und der Rote John sich nun die ländlichen Freuden und festlichen Gebräuche in ihrer Heimat ausmalten, verliebte sich jeder in die des andern, und sie gelobten sich feierlich, zusammen heimzureisen und zuerst sechs Monate in dem Heim des einen in Schweden und dann sechs Monate in dem des andern in Norwegen zuzubringen. Und den Rest der Reise waren sie unzertrennlich.

Der Lange John war kein Familienmensch. Aber er war des Vorderkastells müde. Auch er wollte mit Logierhaus-Haien nichts zu tun haben. Er wollte sich ebenfalls ein Zimmer bei einer ruhigen Familie mieten, eine Navigationsschule besuchen und sein Steuermannsexamen machen. Und so ging es allen. Jeder einzige schwor, daß er diesmal vorsichtig sein und sein Geld nicht verschwenden wolle. »Kein Seemannsquartier, keinen Alkohol!« war die Losung unseres Vorderkastells.

Die Leute wurden geizig. Nie hatte man solche Sparsamkeit gesehen. Sie wollten nicht das geringste in der Kleiderkammer kaufen. Die alten Lumpen waren noch gut genug, und sie nähten Flicken auf Flicken und kehrten sogenannte ›Heimreisefetzen‹ von ungeahnter Schäbigkeit heraus. Sie sparten sogar an Streichhölzern und warteten, bis zwei oder drei sich ihre Pfeife gestopft hatten, um dasselbe Streichholz benutzen zu können.

Als wir endlich durch die Bucht von San Francisco nach dem Hafen fuhren, waren die Agenten der Logierhäuser längsseits, sobald die Quarantäneärzte uns hatten passieren lassen. Sie kamen in ganzen Schwärmen an Bord, priesen ihre Häuser an und hatten jeder eine Flasche Whisky in der Tasche. Aber wir winkten großartig und mit vielen Flüchen ab. Wir wollten nichts von ihren Logierhäusern wissen und nicht einen Tropfen von ihrem Whisky trinken. Wir waren nüchterne, fleißige Seeleute, die ihr Geld besser gebrauchen konnten.

Dann kam die Abmusterung vor dem Heuerbas. Wir traten, die Taschen voller Geld, auf den Bürgersteig hinaus – umlauert von den Haien und Harpyien. Und wir sahen uns an. Wir waren sieben Monate zusammen gewesen, und jetzt trennten sich unsere Wege. Nur der letzte Abschied von den Kameraden mußte noch gefeiert werden. Das war nun mal üblich! »Los, Jungens!« sagte unser Steuermann. Und da lag die schon unvermeidliche Kneipe! Und ein Dutzend anderer daneben. Und als wir nun in die von dem Steuermann gewählte eintraten, war der Bürgersteig draußen schwarz von Haien. Einige von ihnen kamen mit hinein, aber wir wollten nichts mit ihnen zu tun haben. Da standen wir nun an dem langen Schenktisch – der Steuermann, der Bootsmann, die sechs Jäger, die sechs Bootssteuerer und die Ruderer. Von den letztgenannten waren es nur fünf, weil wir einen von uns, mit einem Sack Kohlen an den Füßen, zwischen zwei Schneestürmen bei Kap Jerimo versenkt hatten. Wir waren neunzehn, und es war das letzte Glas, das wir miteinander trinken sollten. Nach sieben Monaten Mannesarbeit draußen in der Welt in Sturm und Stille sollten wir uns nun zum letzten Male sehen. Wir wußten es, denn die Wege der Seeleute führen weit auseinander. Und wir neunzehn tranken das erste Glas, das der Steuermann ausgab. Dann sah uns der Bootsmann mit sprechenden Augen an und bestellte noch eine Runde. Wir hatten ihn ebenso gern wie den andern – wir mochten sie beide leiden. Sollten wir mit dem einen trinken und mit dem andern nicht?

Und Peter Holt, mein eigener Jäger (er ging im nächsten Jahre mit Mann und Maus auf der ›Mary Thomas‹ unter), bestellte eine Runde. Die Zeit verging, ein Glas nach dem andern kam auf den Schenktisch, unsere Stimmen wurden lauter, und die Würmer begannen zu kriechen. Es waren sechs Jäger, und jeder forderte im heiligen Namen der Kameradschaft, daß wir, alle Mann, ein Glas mit ihm trinken sollten. Es waren sechs Bootssteuerer und fünf Ruderer, und alle huldigten derselben Anschauung. Unsere Taschen waren voller Geld, und unser Geld war ebenso gut wie das anderer Männer, und unsere Herzen waren frei und großmütig.

Neunzehn Runden. Was konnte König Alkohol mehr verlangen? Er setzte bei diesen Männern seinen Willen durch. Sie waren bereit, die Pläne zu vergessen, die sie mit so großer Liebe geschmiedet hatten. Sie taumelten aus der Kneipe direkt in die Arme der Haie und Harpyien. Sie leisteten keinen Widerstand mehr. Zwei Tage bis eine Woche dauerte es, bis ihr letzter Groschen verschwunden war und die Wirte der Logierhäuser sie an Bord von Schiffen brachten, die weite Reisen machen sollten. Victor war ein Prachtkerl, ein wahrer Hüne, und durch eine Bekanntschaft hatte er das Glück, ins Rettungskorps zu kommen. Nie sah er die Tanzschule, und nie annoncierte er wegen eines Zimmers in einer Arbeiterfamilie. Und der Lange John kam nie auf die Navigationsschule. Als die Woche um war, befand er sich als Ersatzheizer an Bord eines Flußdampfers. Der Rote John und Axel schickten ihr Geld nicht in die Heimat. Statt dessen wurden sie zusammen mit den übrigen an Bord von Segelschiffen gebracht, die um den ganzen Erdball herum sollten. Ihre Logierwirte hatten sie dort angebracht, und sie mußten den Vorschuß abarbeiten, den sie weder gesehen noch ausgegeben hatten.

Was mich rettete, war der Umstand, daß ich Heim und Familie besaß. Ich fuhr über die Oakland-Bucht und warf noch schnell einen Blick auf den Todesweg. Nelson war verschwunden – erschossen, als er in der Trunkenheit den Behörden Widerstand geleistet hatte. Sein letzter Partner saß im Gefängnis wegen der gleichen Geschichte. Whisky-Bob war verschwunden. Der Alte Cole, der Alte Smoudge und Bob Smith – auch sie waren verschwunden. Ein anderer Smith, der von der ›Annie‹, mit den Revolvern im Gürtel, war ertrunken. Franzosen-Frank sollte sich irgendwo am Flusse versteckt halten, weil er etwas ausgefressen hatte. Andere trugen die gestreifte Tracht in San Quentin oder Folsom. Der dicke Alec, der König der Griechen, den ich in den alten Tagen von Benicia gut gekannt, war, nachdem er zwei Männer totgeschlagen hatte, geflohen und lebte irgendwo in der Fremde. Fitzsimmons, mein Kamerad bei der Fischereipolizei, hatte einen Messerstich durch die Lunge bekommen und war langsam an Tuberkulose zugrunde gegangen. Und so ging es die belebte, gutgehaltene Straße des Todes hinab, und nach allem, was ich von den Opfern wußte, trug König Alkohol die Schuld, mit einziger Ausnahme des Smiths von der ›Annie‹.

*

Meine Begeisterung für das Hafenviertel von Oakland war ganz verschwunden. Weder sein Aussehen noch sein Leben und Treiben sagten mir zu, und so kehrte ich denn zur Oaklander Volksbibliothek zurück und las die Bücher jetzt mit größerem Verständnis. Dazu fand meine Mutter auch, daß ich mir jetzt die Hörner abgelaufen hätte, und daß es Zeit für mich sei, mir eine feste Stellung zu suchen. Meine Familie brauchte auch Geld. So nahm ich denn eine Stellung in der Jutemühle an – zehn Stunden täglich zu zehn Cent die Stunde. Trotz meiner Zunahme an Kraft und Leistungsfähigkeit erhielt ich also nicht mehr als seinerzeit in der Konservenfabrik. Dafür wurde mir aber eine Lohnerhöhung auf fünf viertel Dollar täglich nach einigen Monaten in Aussicht gestellt.

Und jetzt begann, soweit König Alkohol in Betracht kam, eine Periode der Unschuld. Monat auf Monat verging, ohne daß ich ein einziges Glas zu sehen bekam. Noch nicht achtzehn Jahre alt, gesund und mit arbeitsgehärteten, aber unverletzten Muskeln, brauchte ich wie ein junges Tier Zerstreuung, Anregung, etwas anderes als immer nur Bücher und mechanische Arbeit.

Ich trat in den Verein christlicher junger Männer ein. Das Leben dort war gesund, man trieb Sport, aber mir war es zu kindlich. Ich war kein Knabe, kein Jüngling mehr trotz meiner jungen Jahre. Unter Männern war ich zum Mann geworden. Ich kannte geheimnisvolle, wilde Dinge. Ich lebte auf einer andern Seite des Lebens als die jungen Leute, die ich im V. C. J. M. traf. Ich redete eine andere Sprache, besaß ein trüberes und schrecklicheres Wissen. Das würde nun zwar nichts geschadet haben, wenn sie mir mehr entgegengekommen wären und mir in geistiger Beziehung geholfen hätten. Aber ich hatte aus meinen Büchern mehr gelernt als sie. Ihre mageren physischen und ihre mageren intellektuellen Erfahrungen ergaben zusammen eine negative Summe, die von ihrer heilsameren Moral und ihrem gesunden Sport nicht aufgewogen wurde.

Kurz gesagt, diese Kleinkinderbewahranstalt langweilte mich bald. Die reine strahlende Jugend war mir verschlossen – dank König Alkohols früherer Verwandtschaft. Und doch, in der guten Zeit, die kommen wird, wenn der Alkohol ausgeschlossen ist aus den Bedürfnissen und den Einrichtungen der Männer, werden der V. C. J. M. und ähnliche Vereine undenkbar bessere, weisere Versammlungsstätten sein für Männer, die jetzt die Kneipen aufsuchen, um sich selbst und einander zu finden. Indessen leben wir ja jetzt dem heutigen Tage und können nur von den Zuständen reden, wie sie heute und hier sind.

Ich arbeitete zehn Stunden täglich in der Jutemühle. Es war ewig dieselbe Plackerei an der Maschine. Ich wollte leben. Ich wollte mich anders betätigen, als an einer Maschine für zehn Cent die Stunde. Ungeahnte und beunruhigende Fähigkeiten und Neigungen entwickelten sich in mir.

Zu diesem Zeitpunkt traf ich glücklicherweise Louis Shattuck, und wir wurden Freunde.

Louis Shattuck war ein wahrhaft unschuldiger Mensch, ohne einen einzigen lasterhaften Zug, und dabei doch ein verteufelter Bursche, selbst vollkommen überzeugt, ein verdorbenes Stadtkind zu sein. Und ich war kein Stadtkind. Louis war hübsch, anmutig und interessierte sich sehr für Mädchen. Der Umgang mit ihm war anregend und fesselnd.

Ich wußte nichts von Mädchen. Mein ganzes Bestreben, ein Mann zu sein, hatte mich zu sehr in Anspruch genommen. Dies war eine gänzlich neue Lebensphase, die mir bisher entgangen war. Und wenn ich sah, wie Louis sich von seinen Freunden verabschiedete, oder den Hut vor einem Mädchen seiner Bekanntschaft zog und neben ihm auf dem Bürgersteig ging, war ich ganz erregt und eifersüchtig. Dies Spiel wollte ich auch gern spielen.

»Schön, dann gibt es nur eine Möglichkeit für dich,« sagte Louis, »du mußt dir ein Mädchen anschaffen.« Was leichter gesagt, als getan ist. Laßt mich euch das beweisen, wenn ich darüber auch von meinem Thema abschweifen muß. Louis kannte die Mädchen nicht in ihrem häuslichen Leben. Er hatte keinen Zutritt zu dem Heim eines Mädchens. Und mir, der ich fremd in dieser neuen Welt war, ging es natürlich ähnlich. Ferner hatten jedoch weder Louis noch ich die Möglichkeit, eine Tanzschule oder öffentliche Tanzlokale zu besuchen. Wir hatten kein Geld dazu. Er war bei einem Grobschmied in der Lehre und verdiente nicht viel mehr als ich. Wir lebten beide bei unsern Eltern und mußten zu Hause bezahlen. Wenn wir das getan und uns Zigaretten und die notwendigsten Kleider und Schuhe gekauft hatten, blieb jedem von uns für den persönlichen Gebrauch eine Summe, die zwischen siebzig Cent und einem Dollar die Woche schwankte. Wir legten diesen Überschuß zusammen und teilten ihn, und zuweilen lieh einer dem andern noch seinen Anteil, wenn man es für ein besonders prachtvolles Abenteuer mit Mädchen brauchte; wie zum Beispiel für eine Fahrt nach dem Blair-Park und zurück – was allein zwanzig Cent kostete; und Vanilleeis für zwei – dreißig Cent; oder Kuchen in einer Konditorei, was billiger war und nur zwanzig Cent kostete.

Ich ließ mich nicht von dieser Geldknappheit anfechten. Die Verachtung für das Geld, die ich bei den Austernräubern gelernt, hatte mich nicht verlassen. Mit philosophischer Ruhe vertat ich jetzt die Zehn-Cent-Stücke, wie ich früher die Dollars verschwendet hatte.

Aber wie sollte ich eine Freundin kennenlernen? Es gab keine Familie, in die Louis mich hätte mitnehmen können. Und Louis brauchte seine verschiedenen Mädchen selbst; und wie es nun einmal in der Natur der Sache liegt, konnte er mir auch keines von ihnen abtreten. Er konnte sie höchstens überreden, Freundinnen für mich mitzubringen; aber die fand ich stets blaß und langweilig im Vergleich zu denen, die er sich selbst ausgesucht hatte. »Du mußt es wie ich machen«, sagte er schließlich. »Ich habe sie mir einfach genommen. Nimm dir auch eine.«

Und er weihte mich ein. Man darf nicht vergessen, daß Louis und ich sehr knapp daran waren. Wir hatten genug zu tun, um Kost und Unterkunft zu bezahlen und uns einigermaßen auszustaffieren. Wir trafen uns abends nach der Arbeit des Tages an der Straßenecke, oder in einem kleinen Konfitürengeschäft in einer Seitenstraße, unserm einzigen Vergnügungslokal. Hier kauften wir unsere Zigaretten und gelegentlich für einen Groschen ›Boltjes‹. Ja, Louis und ich schämten uns nicht, Süßigkeiten zu essen – wenn wir sie kriegen konnten. Keiner von uns trank. Keiner von uns besuchte die Kneipe.

Aber zurück zu den Mädchen. Nach Louis' Anweisung sollte ich sie mir in sehr primitiver Weise aussuchen und kennenlernen. Früh am Abend schlenderten wir die Straßen auf und ab. Die Mädchen schlenderten, ebenso wie wir, paarweise. Und schlendernde Mädchen werden stets schlendernde junge Männer ansehen. Und bis auf den heutigen Tag gebrauche ich in jeder Stadt, in jedem Dorfe, in dem ich mich – jetzt in meinen reiferen Jahren – befinde, meine durch alte Erfahrung geübten Augen und beobachte das Spiel zwischen den schlendernden jungen Männern und Mädchen, die einfach so schlendern müssen, wenn die Frühling- und Sommerabende rufen.

Unglücklicherweise war ich in dieser arkadischen Periode meines Lebens, trotzdem ich mich von der andern Seite des Lebens hart durchgearbeitet hatte, furchtsam und schüchtern. Immer wieder feuerte Louis mich an. Aber ich kannte die Mädchen nicht. Sie waren für mich nach meinem frühreifen Mannesleben etwas Fremdes und Wundersames. Wenn der kritische Augenblick kam, fehlte es mir stets an Mut und Keckheit.

Dann zeigte Louis mir, wie ich es machen sollte – ein gewisser, beredter Blick, ein Lächeln, ein Gruß, ein Wort, Zaudern, Kichern, schüchterne Unsicherheit – und, hast du nicht gesehen, war die Bekanntschaft gemacht, und Louis winkte mich heran, um mich vorzustellen. Wenn wir dann aber paarweise weiterschlenderten, stellte ich fest, daß Louis unweigerlich den besten Bissen erwischt und mir das lahme Schwesterlein überlassen hatte.

Allmählich lernte ich natürlich durch die zahlreichen Erfahrungen, die ich machte, und es gab manches Mädchen, vor dem ich meinen Hut zog und mit der ich am Abend spazierengehen konnte. Aber die Liebe wollte nicht gleich kommen. Ich war angeregt, interessiert und suchte weiter.

Und es dauerte nicht lange, so lernte ich doch die Liebe eines Mädchens kennen, all ihre tiefe Zärtlichkeit, all ihre Herrlichkeit und ihre Wunder. Ich will sie Haydee nennen. Sie war zwischen fünfzehn und sechzehn. Ihr Kleidchen reichte ihr bis zu dem Rand des Stiefelschaftes. Wir saßen nebeneinander in einer Versammlung der Heilsarmee. Weder sie noch ihre Tante, die neben ihr saß, waren bekehrt; da die Tante aber vom Lande war und noch nie etwas von der Heilsarmee gesehen hatte, waren sie aus Neugier für eine halbe Stunde hingegangen. Und Louis saß neben mir und beobachtete sie – ich glaube nicht, daß er etwas anderes tat, als sie eben zu beobachten, denn Haydee war nicht sein Typ.

Wir sprachen nicht miteinander, aber in dieser bedeutungsvollen halben Stunde suchten unsere Augen sich scheu, mieden sich wieder scheu, kehrten scheu zurück und trafen sich scheu von neuem. Sie hatte ein schmales, ovales Gesichtchen, trug eine schottische Mütze, und ihr braunes Haar schien mir das schönste Braun, das ich je gesehen hatte. Und seit dem herrlichen Erlebnis dieser halben Stunde habe ich immer an die Liebe auf den ersten Blick geglaubt.

Allzufrüh brachen die Tante und Haydee auf. Mich interessierte die Versammlung nicht länger, und nach einem angemessenen Zwischenraum von wenigen Minuten ging ich mit Louis ebenfalls. Als wir hinausgingen, machte mir eine Frau im Hintergrund des Saales ein Zeichen, erhob sich und folgte mir. Ich will sie hier nicht beschreiben. Sie war von meiner eigenen Art und hatte zu meinem Kreise in der Zeit der Austernräuberei gehört. Als Nelson erschossen wurde, starb er in ihren Armen, und sie erkannte mich als einen seiner Kameraden. Sie mußte mir erzählen, wie Nelson gestorben war, und ich wollte noch mehr darüber hören; daher ging ich mit ihr über den breiten Schlund, der zwischen der Liebe eines Knaben zu einem braunhaarigen Mädchen und dem wilden Leben, das ich einst geführt hatte, klaffte.

Als ich alles gehört hatte, eilte ich fort, um Louis zu finden, voller Furcht, meine erste Liebe, nachdem ich sie kaum gesehen, verloren zu haben. Aber Louis war zuverlässig. Sie hieß – Haydee. Er wußte, wo sie wohnte. Täglich kam sie bei der Grobschmiede vorbei, wo er arbeitete, wenn sie in die Lafayette-Schule ging. Ferner hatte er sie gelegentlich mit Ruth, einer andern Schülerin, zusammen gesehen, und Nita, die uns die Boltjes in dem Konfitürengeschäft verkaufte, war mit Ruth befreundet. Ich brauchte also nur in den Laden zu gehen und Nita zu bewegen, daß sie Ruth ein paar Zeilen für Haydee gab. Ließ sich das machen, so brauchte ich also nur diese Zeilen an Haydee zu schreiben.

Und so geschah es. Und in verstohlenen halbstündigen Begegnungen lernte ich all die süße Tollheit junger Liebe kennen. Sie mag wohl nicht die stärkste und gewaltigste Liebe der Welt sein, aber sicher ist sie die süßeste. Oh, wenn ich jetzt daran zurückdenke! Niemals hatte ein Mädchen einen unschuldigeren Liebhaber, als ich es trotz meiner frühreifen Gottlosigkeit und Wildheit war. Ich, dem man als Fürsten der Austernräuber gehuldigt hatte, der in der weiten Welt als Mann unter Männern gelebt, der jedes Boot zu segeln verstand, bei Sturm und Finsternis auf hohem Mast gesessen hatte und mit dem Abschaum des Hafenviertels in den Kneipen lärmte – ich wußte nicht, was ich diesem zarten kleinen Mädchen sagen sollte, dessen kurzer Rock noch nicht bis zum Stiefelrand reichte, und das gerade so wenig vom Leben wußte, wie ich abgrundtief erfahren war oder mich doch glaubte. Ich entsinne mich, wie wir einmal auf einer Bank im Sternenlicht saßen. Es war fußbreit Raum zwischen uns. Wir blickten uns verstohlen an, unsere Ellbogen lagen dicht nebeneinander auf der Banklehne; und ein- oder zweimal berührten sich unsere Ellbogen. Und während ich die ganze Zeit wahnsinnig glücklich war und in den vornehmsten und ausgesuchtesten Wendungen sprach, um ihre empfindlichen Ohren nicht zu beleidigen, zerbrach ich mir den Kopf, was sie jetzt von mir erwartete. Was erwartet ein Mädchen von einem Burschen, wenn sie beide auf einer Bank sitzen, um zu ergründen, was Liebe ist? Was erwartete sie, daß ich tun würde? Erwartete sie, daß ich sie küssen würde? Erwartete sie, daß ich es versuchen sollte? Und wenn sie es erwartete und wenn ich es tat, was würde sie von mir denken?

Oh, es war klüger als ich – jetzt weiß ich es –, das unschuldige Mädchen in dem kurzen Röckchen. Sie ermutigte mich nach Mädchenart. Sie hielt ihre Handschuhe in der einen Hand, und ich weiß noch, wie sie mir scherzend mit diesen Handschuhen einen leichten Schlag auf die Lippen gab. Ich wäre fast ohnmächtig vor Entzücken geworden; das war das Wunderbarste, was ich je erlebt hatte. Und ich erinnere mich noch des schwachen Duftes dieser Handschuhe, den ich in dem Augenblick, als sie meine Lippen berührten, einatmete.

Dann folgte der Kampf zwischen Begreifen und Zweifeln. Sollte ich dies kleine Händchen mit den duftenden Handschuhen, die soeben meine Lippen berührt hatten, in meiner Hand fangen? Sollte ich es wagen, dieses Händchen zu küssen, oder meinen Arm um ihren Leib zu legen? Oder sollte ich es wagen, ihr näherzurücken?

Nein, ich wagte es nicht. Ich tat nichts. Ich saß nur da und liebte sie aus ganzem Herzen. Und als wir uns diesen Abend trennten, hatte ich sie nicht geküßt. Ich weiß noch, wie ich sie das erstemal küßte, als wir uns an einem andern Abend trennten – es war ein herrlicher Augenblick, als ich meinen ganzen Mut zusammennahm und es wagte. Wir brachten es nie weiter als zu einem Dutzend verstohlener Stelldicheins, und wir küßten uns vielleicht ein dutzendmal – wie Knaben und Mädchen sich küssen, leicht, unschuldig und voller Verwunderung. Wir gingen auch nie zusammen aus – selbst nicht vormittags. Ein einziges Mal teilten wir für fünf Cent Bonbons. Aber ich war immer tief überzeugt, daß sie mich liebte. Ich wußte, daß ich sie liebte; ein Jahr und länger dachte ich an nichts anderes, und ihr Andenken ist mir heute noch teuer.

*

Wenn ich mit Leuten verkehrte, die nicht tranken, dachte ich selbst nie daran. Louis trank nicht. Er konnte es sich ebensowenig leisten wie ich. Wir waren gesunde und normale Antialkoholiker. Wäre er Alkoholiker gewesen, so würden wir getrunken haben, ob wir es uns hätten leisten können oder nicht.

Jeden Abend nach Beendigung unseres Tagewerks, wenn wir uns gewaschen, die Kleider gewechselt und Abendbrot gegessen hatten, trafen wir uns an der Ecke oder in dem kleinen Konfitürengeschäft. Aber die warmen Herbsttage waren bald vorbei, und an kalten oder regnerischen Abenden war die Straßenecke kein angenehmer Treffpunkt. Und das Konfitürengeschäft war nicht geheizt. Nita, oder wer sonst den Laden besorgte, hielt sich in den Pausen in dem geheizten Hinterstübchen auf. Zu diesem Raum hatten wir keinen Zutritt, und im Laden war es ebenso kalt wie draußen.

Louis und ich erörterten die Situation. Es gab nur eine Möglichkeit: die Kneipe, die Versammlungsstätte für Männer, der Ort, wo sie mit König Alkohol verkehrten. Ich entsinne mich noch gut des kalten, feuchten Abends, als wir ohne Überzieher – wir konnten uns keine leisten – loszogen, um uns eine Kneipe zu wählen. Kneipen waren immer warm und behaglich. Wir gingen freilich nicht hin, weil wir Lust zum Trinken hatten. Andererseits wußten wir auch, daß die Kneipe kein Wohltätigkeitsinstitut ist. Man konnte sich dort nicht häuslich niederlassen, ohne etwas zu genießen.

An Geld besaßen wir nur sehr wenig. Man konnte schwer etwas sparen, wenn man Fahrgeld für sich und ein Mädchen bezahlen sollte. Wenn wir allein waren, brauchten wir kein Fahrgeld, wir gingen stets. In dieser Kneipe wollten wir daher sehen, soviel wie möglich für unser Geld zu bekommen. Wir ließen uns ein Spiel Karten geben und spielten eine Stunde lang Ekarté. In dieser Stunde gaben Louis und ich je einmal aus, und zwar bestellten wir Bier – das billigste Getränk, zehn Cent für zwei Glas. Welche Verschwendung! Wie ungern taten wir es!

Wir sahen uns die Männer an, die hereinkamen. Es schienen ältere Arbeiter, meist Deutsche zu sein, die sich kannten und gruppenweise zusammensetzten, und mit denen wir nur sehr wenige Berührungspunkte hatten. Wir wurden einig, daß wir nicht wieder in diese Kneipe gehen wollten, und entfernten uns niedergeschlagen mit dem Gefühl, einen Abend verloren und zwanzig Cent für Bier verschwendet zu haben.

An den folgenden Abenden machten wir weitere Versuche, und schließlich führte uns unser Weg ins National, eine Wirtschaft an der Ecke der Zehnten und der Franklinstraße. Hier fanden wir Leute, die besser zu uns paßten. Hier traf Louis einen oder zwei Bekannte und ich selbst mehrere alte Schulkameraden. Wir sprachen von alten Tagen, was aus diesem Kameraden geworden wäre, was jener jetzt täte, und natürlich tranken wir ein Glas, während wir schwatzten. Sie gaben aus, und wir tranken; und dann kamen wir nach den Gesetzen des Trinkens an die Reihe. Das war schmerzhaft, denn eine Lage kostete vierzig bis fünfzig Cent.

Als der kurze Abend vorbei war, fühlten wir uns sehr angeregt; aber wir waren auch pleite. Unser Taschengeld für die ganze Woche war draufgegangen. Wir kamen zu dem Ergebnis, dies sei die richtige Kneipe für uns, nur müßten wir in Zukunft vorsichtiger mit dem Ausgeben sein. Den Rest der Woche galt es nun, sparsam zu leben. Wir hatten nicht einmal Fahrgeld. Ja, wir mußten zwei Mädchen aus West-Oakland versetzen, mit denen wir gerade angebandelt hatten. Wir sollten sie am nächsten Abend in dieser Stadt treffen, und nun hatten wir nicht das Fahrgeld, um sie nach Hause zu bringen. Gleich vielen andern, denen das Geld ausgeht, mußten wir eine Zeitlang vom Schauplatz verschwinden – wenigstens bis Sonnabend abend, dem Löhnungstag. So trafen Louis und ich uns denn in einem Mietsstall, wo wir mit zugeknöpften Jacken zähneklappernd Ekarté und Kasino spielten, bis die Zeit unserer Verbannung vorbei war. Dann kehrten wir ins National zurück und gaben nicht mehr aus, als anstandshalber für Behaglichkeit und Wärme nötig war. Zuweilen hatten wir Pech, und einer von uns verlor zweimal hintereinander in einem Sancho-Pedro-Spiel zu fünfen. Eine solche Katastrophe bedeutete jedesmal eine Ausgabe von fünfundzwanzig bis achtzig Cent, je nachdem, was die Gewinner sich bestellten. Gewöhnlich aber konnten wir den üblen Folgen der Niederlagen entgehen, indem wir uns hinter dem Schenktisch ein Konto errichten ließen. Natürlich wurde dadurch der Tag der Abrechnung nur hinausgeschoben, und wir wurden nur verleitet, mehr auszugeben, als wenn wir hätten bar bezahlen müssen. Als ich Oakland plötzlich im nächsten Frühjahr verließ, um auf Abenteuer auszuziehen, schuldete ich dem Kellner einen Dollar und siebzig Cent, wie ich noch genau weiß. Als ich nach langer Zeit wiederkam, traf ich ihn nicht mehr. Ich schulde ihm heute noch diesen Dollar siebzig, und für den Fall, daß er zufällig diese Zeilen lesen sollte, teile ich ihm mit, daß ich meine Schulden gern bezahlen möchte.

Den Fall mit dem National habe ich erzählt, um zu zeigen, wie man immer wieder zu König Alkohol gezogen, getrieben und gejagt wird, solange die jetzige gesellschaftliche Ordnung mit ihren Kneipen an allen Straßenecken besteht. Louis und ich waren zwei kräftige junge Leute, die sich nichts aus dem Trinken machten, auch kein Geld dazu hatten. Und doch wurden wir durch die Umstände, das kalte, regnerische Wetter, getrieben, Zuflucht in einer Kneipe zu suchen, wo wir einen Teil unserer armseligen paar Kröten vertrinken mußten. Mancher Kritiker wird natürlich äußern, wir hätten in den V. C. J. M., in die Abendschule oder in ein öffentliches Heim für junge Leute gehen können. Ich kann darauf nur antworten, daß wir das eben nicht taten. Das ist eine unumstößliche Tatsache. Wir taten es nicht. Und heute, in diesem Augenblick tun Hunderte und Tausende von jungen Leuten dasselbe, was Louis und ich taten. Sie gehen zu König Alkohol, der ihnen einen warmen, gemütlichen Empfang bereitet, sie willkommen heißt, ihren Arm unter den seinen zieht, um sie seine bequeme Straße zu führen.

*

Die Jutemühle hielt nicht ihr Versprechen, meinen Lohn auf ein und einen viertel Dollar täglich zu erhöhen, und ich, ein freier Amerikaner, dessen direkte Vorfahren in allen Kriegen seit den alten Indianerkämpfen vor der Revolution gefochten hatten, ich machte von meiner Unabhängigkeit Gebrauch und ging.

Ich war noch entschlossen, ruhig an Ort und Stelle zu bleiben, und sah mich daher nach neuer Arbeit um. Eines war klar: nur Facharbeit lohnte sich. Ich mußte ein Gewerbe lernen und entschied mich für die Elektrizität. Der Bedarf an Elektrotechnikern war ständig im Steigen begriffen. Aber wie sollte ich Elektrotechniker werden? Ich hatte kein Geld, das Technikum oder die Universität zu besuchen; zudem hielt ich nichts von Schulen, ich war ein Mann der Praxis. Zudem glaubte ich auch noch an die alten Mythen, die damals, als ich Knabe war, das Erbgut eines jeden amerikanischen Knaben waren.

Jeder Straßenjunge konnte Präsident werden. Jeder Knabe, der eine Anstellung in einem Geschäft fand, konnte mit Fleiß, Energie und Nüchternheit von Stellung zu Stellung steigen und schließlich Juniorchef der Firma werden. Dann war es nur eine Frage der Zeit, daß er Seniorchef wurde. Sehr oft – so lautete die Mythe – bekam er zum Lohn für seine Ausdauer und seinen Fleiß die Tochter seines Chefs zur Frau. Ich hatte mir nun zu dieser Zeit so viel Selbstvertrauen im Umgang mit Mädchen erworben, daß ich ganz sicher war, die Tochter meines Chefs zu bekommen. Das war ganz sicher. Alle Knaben in der Mythe taten es ja auch, sobald sie das nötige Alter dazu erreicht hatten.

So sagte ich denn der Abenteurerlaufbahn für immer Lebewohl und ging zum Kraftwerk einer unserer Oaklander Straßenbahnen. Ich traf den Oberingenieur selbst in einem vornehmen Privatbureau. Ich war ganz geblendet, aber ich redete gerade von der Leber weg. Ich erzählte ihm, daß ich gern Elektrotechniker werden wolle, daß ich mich nicht vor der Arbeit fürchte, und daß er mich nur anzusehen brauche, um zu wissen, daß ich stark und gesund sei. Ich sagte ihm, daß ich gern von der Pike auf dienen und mich hocharbeiten und mein aus Dummheit oder Nachlässigkeit, am wenigsten aus den verfeuerten Kohlen herausbekommen.« Der Oberingenieur strahlte wieder. »Sie sehen, wie wichtig es ist, mit den Kohlen Bescheid zu wissen, und je mehr Sie davon lernen, ein desto besserer Arbeiter werden Sie werden – wertvoller für uns und wertvoller für Sie. Nun, sind Sie bereit anzufangen?«

»Jederzeit«, sagte ich zuversichtlich. »Je eher, je besser.«

»Ausgezeichnet«, antwortete er. »Kommen Sie morgen früh um sieben.«

Ich wurde hinausgeschickt, um über meine Pflichten belehrt zu werden. Mir wurde auch die Zeit meiner Beschäftigung mitgeteilt: zehn Stunden täglich, einschließlich Sonn- und Feiertage, mit einem einzigen freien Tag im Monat, bei einem Lohn von dreißig Dollar monatlich. Ich war nicht gerade begeistert. Schon vor Jahren hatte ich in der Konservenfabrik einen Dollar täglich für zehnstündige Arbeit erhalten. Aber ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich heute trotz meines Alters und meiner Kräfte nicht mehr als früher verdiente, weil ich eben kein Facharbeiter war. Jetzt sollte es anders werden. Jetzt arbeitete ich, um ein Fach zu lernen, ich arbeitete für Laufbahn und Glück und für die Tochter des Oberingenieurs.

Und ich begann am richtigen Ende – ganz am Anfang nämlich. Das war es, worauf es ankam. Ich brachte den Heizern die Kohlen, die sie in die Öfen schaufelten, wo ihre Energie in Dampf verwandelt wurde, der wiederum, im Maschinenraum, in die Elektrizität umgewandelt wurde, mit der Elektrotechniker arbeiteten. Dies Bringen der Kohlen war sicherlich der wahre Anfang – wenn es dem Oberingenieur nur nicht einfiel, mich in die Kohlengrube zu schicken, aus der die Kohle kam, um mir dadurch noch ganz besonders das Verständnis für den Werdegang zu erleichtern.

Arbeiten! Ich hatte mit Männern gearbeitet, aber ich entdeckte, daß ich keine Ahnung gehabt hatte, was Arbeit eigentlich war. Zehn Stunden! Für Tag- und Nachtschicht mußte ich Kohlen schaufeln, und trotzdem ich selbst in den Mittagsstunden arbeitete, war ich nie vor acht Uhr abends fertig. Ich arbeitete zwölf bis dreizehn Stunden täglich und wurde dabei nicht einmal wie in der Konservenfabrik für die Überstunden bezahlt.

Ich kann das Geheimnis ebensogut schon hier offenbaren. Ich leistete die Arbeit von zwei Männern. Vor mir hatte ein reifer, kräftiger Arbeiter die Tagschicht, und ein anderer ebenfalls reifer, kräftiger Arbeiter die Nachtschicht besorgt. Sie hatten jeder vierzig Dollar den Monat bekommen. Der Oberingenieur, der bemüht war, den Betrieb soviel wie möglich zu verbilligen, hatte mich überredet, die Arbeit von beiden Männern für dreißig Dollar monatlich zu leisten. Ich dachte, er wollte einen Elektrotechniker aus mir machen. Tatsächlich wollte er der Gesellschaft fünfzig Dollar monatlich ersparen.

Aber damals wußte ich noch nicht, daß ich zwei Männer ersetzte. Niemand sagte es mir. Im Gegenteil, der Oberingenieur verbot jedem, es mir zu sagen. Wie zuversichtlich war ich am ersten Tage! Ich arbeitete aus Leibeskräften, füllte die eiserne Schubkarre mit Kohlen, lief damit zur Wage und wog die Ladung, fuhr sie dann in den Heizraum und schüttete sie auf den Eisenplatten vor den Heizern aus.

Arbeiten! Ich leistete mehr als die beiden Männer, die ich ersetzte. Sie hatten nur die Kohle angefahren und auf die Platten geschüttet. Während ich dies aber mit den Tagkohlen tat, mußte ich gleichzeitig die Nachtkohlen an der Wand des Heizraumes aufschichten. Nun war der Heizraum nur klein. Er war ursprünglich nur für einen Nachtkohlenschaufler eingerichtet. Ich mußte daher die Kohlen für die Nachtschicht immer höher schaufeln und dann den ganzen Haufen mit starken Planken stützen. Zu oberst mußte ich die Kohlen dann nochmals mit der Schaufel aufschichten.

Ich triefte von Schweiß, hielt aber nie inne, obgleich ich mich der völligen Erschöpfung nahe fühlte. Gegen zehn Uhr morgens hatte ich so viel von meiner körperlichen Kraft verbraucht, daß ich hungrig wurde und ein dickes Stück Butterbrot von meiner Mittagsration aß. Ich verschlang es im Stehen, schwarz von Kohlenstaub, mit zitternden Knien. Um elf Uhr hatte ich auf diese Weise mein ganzes Frühstück verzehrt. Aber was tat das? Ich dachte, daß ich dadurch instand gesetzt wäre, die ganze Mittagszeit durchzuarbeiten. Und dann arbeitete ich weiter, den ganzen Nachmittag hindurch. Es wurde dunkel, und ich arbeitete bei elektrischem Licht. Die Tagheizer gingen, und die Nachtheizer kamen. Ich schuftete weiter.

Um halb neun wusch ich, hungrig und wankend, auf, zog mich um und schleppte meinen schmerzenden Körper zur Straßenbahn. Es waren drei Meilen bis zu meiner Wohnung, und ich hatte eine Freikarte bekommen, jedoch mit der Einschränkung, daß ich nur sitzen durfte, solange keine zahlenden Passagiere den Platz brauchten. Wenn ich auf einen Außensitz sank, betete ich, daß kein Passagier meinen Platz beanspruchen möchte. Aber der Wagen füllte sich, auf halbem Wege stieg eine Frau ein, und es war kein Sitzplatz für sie. Ich versuchte aufzustehen und bemerkte zu meinem Erstaunen, daß ich nicht konnte. Der kalte Wind, der mir entgegenwehte, hatte meinen todmüden Körper auf dem Platz erstarren lassen. Der Rest der Fahrt verging damit, daß ich meine schmerzenden Glieder und Muskeln streckte und auf der unteren Stufe stehenblieb. Und als der Wagen an meiner Ecke hielt und ich ausstieg, wäre ich beinahe gefallen. Ich humpelte durch die beiden Straßen bis zum Hause und wankte in die Küche. Während meine Mutter sich daranmachte, das Essen zu bereiten, hieb ich in das Butterbrot ein: aber ehe noch mein Hunger gestillt oder das Fleisch gebraten war, schlief ich ein. Vergebens versuchte meine Mutter mich wachzurütteln, damit ich äße. Da es mißglückte, führte sie mich mit meinem Vater in meine Kammer, wo ich wie tot auf mein Bett fiel. Sie entkleideten mich und deckten mich zu. Am nächsten Morgen kam der Kampf mit dem Erwachen. Mich schmerzte der ganze Körper, und, was am schlimmsten war, meine Handgelenke waren dick geschwollen. Aber ich hielt mich für das entgangene Abendbrot schadlos, indem ich ein riesenhaftes Frühstück zu mir nahm, und als ich loshumpelte, um meine Straßenbahn zu erreichen, hatte ich ein doppelt so großes Frühstückspaket als gestern bei mir.

Arbeiten! Laßt einen jungen Mann, der eben achtzehn geworden ist, versuchen, zwei ausgewachsene Kohlenschaufler auszustechen. Arbeiten! Lange vor der Mittagszeit hatte ich das letzte Krümchen meines riesigen Frühstücks verzehrt. Aber ich war entschlossen, ihnen zu zeigen, was ein tüchtiger junger Kerl konnte, wenn er wollte. Das Schlimmste war, daß meine Handgelenke immer mehr anschwollen und schließlich ganz versagten. Die meisten wissen, wie weh es tut, wenn man sich den Knöchel verstaucht. Dann stellt euch vor, wie schwer es war, Kohlen zu schaufeln und die schwerbeladene Schubkarre zu fahren mit zwei verstauchten Knöcheln.

Arbeiten! Mehr als einmal sank ich auf die Kohlen hin, wo mich niemand sehen konnte, und schrie vor Wut, Kummer, Erschöpfung und Verzweiflung. Der zweite Tag war der schwerste, und das einzige, was mir ermöglichte, ihn zu überstehen und nach dreizehnstündiger Plackerei noch die letzten Nachtkohlen an Ort und Stelle zu schaffen, war der Umstand, daß der Tagheizer mir die Handgelenke verbunden hatte, so daß sie wie in Gipsverbänden lagen. Die Verbände entlasteten meine Gelenke von dem Druck, dem sie bisher ausgesetzt gewesen waren, und sie waren so stramm, daß die Schwellung nicht weiter um sich greifen konnte.

Und in dieser Verfassung fuhr ich fort, mich zum Elektrotechniker auszubilden. Nacht auf Nacht humpelte ich heim, schlief ein, ehe ich mein Abendbrot essen konnte, und wurde entkleidet und zu Bett gebracht. Morgen auf Morgen hinkte ich, mit immer riesigeren Frühstückspaketen in der Tasche, zum Haus hinaus, um an die Arbeit zu gehen.

Ich las meine Bibliotheksbücher nicht mehr. Ich traf mich nicht mehr mit den Mädchen. Ich war nichts als Arbeitstier. Ich arbeitete, aß und schlief, und meine Sinne waren ganz abgestumpft. Alles war wie ein Alp. Ich arbeitete jeden Tag einschließlich Sonntag, und erst in weiter Ferne winkte mir mein freier Tag am Ende des Monats. Dann wollte ich vierundzwanzig Stunden im Bett liegen und schlafen und mich ausruhen.

Das Merkwürdigste, was ich bei der Geschichte erlebte, war, daß ich weder trank noch überhaupt an Trinken dachte. Und dabei wußte ich doch, daß Männer bei sehr schwerer Arbeit fast immer trinken. Ich hatte es so oft gesehen und es oft auch selbst früher getan. Aber ich kam jetzt nie auf den Gedanken, ein Glas könne mir gut tun. Ich erwähne dies, um zu zeigen, daß meine Konstitution nicht im geringsten auf Alkohol eingestellt war. Und es ist bemerkenswert, daß sich später, nach Verlauf vieler Jahre, im Verkehr mit König Alkohol doch der Drang in mir entwickelte.

Ich hatte oft bemerkt, daß mich der Tagheizer neugierig anstarrte. Schließlich sprach er mich eines Tages an. Ich mußte ihm zuerst versprechen, nie ein Wort verlauten zu lassen. Der Oberingenieur hatte ihm verboten, mir etwas zu sagen, und wenn er es jetzt doch tat, riskierte er seine Stellung. Er erzählte mir von dem Tag- und dem Nachtkohlenschaufler und von dem Lohn, den sie bekommen hatten. Ich tat für dreißig Dollar monatlich dasselbe, was sie für achtzig geleistet hatten. Er hätte es mir früher erzählt, sagte der Heizer, wäre er nicht ganz sicher gewesen, daß ich unter der Arbeit zusammenbrechen und gehen würde. Wie die Dinge lagen, beging ich Selbstmord, und dazu ganz zweckloserweise. Ich drückte nur den Arbeitslohn, meinte er, und machte zwei Leute arbeitslos.

Da ich ein amerikanischer Junge, und zudem ein stolzer amerikanischer Junge war, legte ich die Arbeit nicht gleich nieder. Das war töricht von mir, ich weiß; aber ich war entschlossen, so lange zu arbeiten, bis der Oberingenieur sah, daß ich es tun konnte, ohne zusammenzubrechen. Dann wollte ich gehen, und er wußte dann, was für einen tüchtigen Menschen er verloren hatte.

Und so tat ich es denn auch – redlich und töricht. Ich arbeitete, bis die letzte Stunde kam und ich um sechs Uhr die letzte Nachtkohle geschaufelt hatte. Dann gab ich es auf, Elektrotechniker zu werden, indem ich die Arbeit von zwei Männern für den Lohn eines Jungen tat, ging nach Hause und legte mich hin, um bis zum Ende des Tages zu schlafen. Glücklicherweise war ich nicht so lange bei dieser Arbeit geblieben, daß ich einen Schaden davongetragen hätte – obwohl ich noch ein ganzes Jahr einen Verband um meine Handgelenke tragen mußte. Aber die Folge dieser Arbeitsorgie war, daß mir die Arbeit zum Ekel wurde. Ich wollte nicht mehr arbeiten. Der Gedanke an Arbeit wirkte abschreckend. Es war mir einerlei, ob ich es je zu etwas brachte. Die Fachausbildung konnte zum Kuckuck gehen. Es war zehnmal besser, lustig durch die Welt zu fahren, wie ich es getan hatte. So stürzte ich mich denn wieder kopfüber ins Abenteurerleben und wanderte ostwärts auf dem Schienenstrange.

* * *

 


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