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Diese physische Abneigung gegen den Alkohol habe ich nie überwinden können. Aber ich habe mit ihr gekämpft. Bis zum heutigen Tage bekämpfe ich sie jedesmal, wenn ich ein Glas trinke. Der Gaumen hört nie auf, zu rebellieren, und auf ihn kann man sich verlassen, wenn man wissen will, was gut oder schädlich für den Körper ist. Aber Männer trinken nicht um der Wirkung willen, die der Alkohol auf den Körper ausübt. Sie trinken wegen der Wirkung auf das Gehirn; und ist der Körper auch nur der Mittler – um so schlimmer für ihn.

Und doch waren, trotz meiner physischen Abneigung gegen den Alkohol, die Kneipen in meiner Jugend mein liebster Aufenthalt. Wenn ich, in dichten Nebel gehüllt, auf dem schweren Kartoffelwagen saß und mir die Füße aus Mangel an Bewegung eingeschlafen waren, während die Pferde sich langsam über den sandigen Weg zwischen den Dünen hinschleppten, gab es eine lichte Vision, die mir den Weg nie zu lang werden ließ. Diese lichte Vision war die Wirtschaft in Colma, wo mein Vater, oder wer sonst fuhr, stets abstieg, um etwas zu trinken. Und ich stieg auch ab, um mich an dem großen Ofen zu wärmen und einen Pfefferminzbonbon zu bekommen. Nur einen Pfefferminzbonbon, aber das war ein fabelhafter Luxus. Kneipen hatten also ihr Gutes. Wenn ich nachher hinter den trabenden Pferden saß, konnte ich eine ganze Stunde an diesem einen Bonbon lutschen. Ich leckte ganz wenig daran und lutschte, bis er zu einem ganz winzig kleinen, herrlichen Plättchen geworden war. Und dies Plättchen durfte ich ja nicht überschlucken. Ich lutschte und sog daran, drehte es immer wieder mit meiner Zunge um, schob es bald in die eine, bald in die andere Backe, bis schließlich das Ende kam und es in kleinen Tröpfchen durch meine Kehle rann und träufelte. Horace Fletcher hätte, soweit es Pfefferminzbonbons betraf, nichts gegen mich einwenden können. Ich liebte die Kneipen. Besonders in San Francisco. Dort gab es die herrlichsten Leckerbissen – merkwürdige Brote und Kuchen, Käse, Würste, Sardinen –, wunderbare Nahrungsmittel, wie ich sie nie daheim auf unserm mageren Tische sah. Und einmal, das weiß ich noch, mischte mir der Kellner ein süßes Getränk aus Fruchtsaft und Selterwasser. Mein Vater brauchte nichts dafür zu bezahlen. Der Kellner spendierte, und er wurde das Ideal eines guten freundlichen Mannes für mich. Jahrelang träumte ich Wachträume von ihm. Obwohl ich damals erst sieben Jahre alt war, sehe ich ihn heute noch mit gleicher Deutlichkeit vor mir, obgleich ich ihm nie wieder begegnet bin. Die Kneipe befand sich im Süden der Market Street in San Francisco, auf der Westseite der Straße. Wenn man eintrat, lag der Schanktisch links vom Eingang. Rechts, an der Mauer, stand der Freilunchtisch. Es war ein langer, schmaler Raum, und im Hintergrunde, hinter den angestochenen Fässern, standen kleine runde Tische und Stühle. Der Kellner hatte blaue Augen und schönes, weiches Haar, das unter einem schwarzen Käppchen hervorlugte. Ich entsinne mich, daß er eine braune Strickjacke trug, und ich weiß noch genau die Stelle, von der er die Flasche mit dem roten Fruchtsaft nahm. Er sprach lange mit meinem Vater, und ich nippte an meinem roten Trank und betete den Spender an. Und noch nach Jahren pflegte ich sein Gedächtnis.

So stieß ich trotz meiner abschreckenden Erfahrungen immer wieder auf König Alkohol, der, siegreich und allgegenwärtig wie immer, auf mich lauerte und mich an sich zog. Hier war es die Nebenbedeutung der Kneipe, die einen tiefen Eindruck auf das empfängliche Gemüt des Kindes machte. Und hier war ein Kind, das sich seine ersten Urteile über die Welt bildete und die Kneipe prachtvoll und wunderbar fand. Weder Läden noch öffentliche Gebäude oder menschliche Wohnungen öffneten mir ihre Türen und erlaubten mir, mich an ihrem Herd zu wärmen oder von der Götterspeise zu essen, die auf den schmalen Borden an der Wand stand. Ihre Türen blieben mir stets verschlossen; die Türen der Kneipen aber standen immer offen. Und immer und überall fand ich Kneipen, auf Wegen und Pfaden, in engen Gassen und geschäftigen Hauptstraßen, erleuchtet und freundlich, im Winter warm, im Sommer dunkel und kühl. Ja, die Kneipen waren eine herrliche Stätte, und sie waren mehr als das.

Als ich zehn Jahre alt war, hatte meine Familie die Ranch verlassen und war in die Stadt gezogen. Und hier begann ich nun als Zeitungsjunge. Einer der Gründe hierfür war, daß wir Geld brauchten. Ein anderer, daß wir Beschäftigung brauchten. Ich hatte den Weg zur Volksbibliothek gefunden und las nun bis zur Nervenzerrüttung. Auf den armen Ranchs, auf denen ich gelebt hatte, gab es keine Bücher. Durch ein wahres Wunder hatte ich vier Bücher geliehen bekommen, prachtvolle Bücher, und die hatte ich verschlungen. Eins war das Leben Garfields; das zweite Paul du Chaillus afrikanische Reisen; das dritte ein Roman von Quida, von dem die letzten vierzig Seiten fehlten; und das vierte Irvings ›Alhambra‹, dieses hatte mir eine Schullehrerin geliehen. Ich war ein schüchternes Kind. Ich brachte es nicht wie Oliver Twist fertig, um mehr zu bitten. Als ich der Lehrerin ›Alhambra‹ wiedergab, hoffte ich, sie würde mir ein anderes Buch leihen. Und da sie es nicht tat – wahrscheinlich hielt sie mich für sehr unbegabt –, weinte ich den ganzen Heimweg, die drei Meilen von der Schule bis zur Ranch. Ich wartete sehnsüchtig darauf, daß sie mir wieder ein Buch leihen würde. Viele Stunden versuchte ich mir selbst so viel Mut einzuflößen, daß ich sie bitten konnte, aber nie erlangte ich die erforderliche Kühnheit.

Und dann kam Oakland, und auf den Regalen jener Volksbibliothek entdeckte ich die ganze große Welt. Hier gab es Tausende von Büchern, die ebensogut wie meine vier Wunderbücher, und einige, die sogar noch besser waren. Die Bibliotheken waren damals noch nicht auf Kinder eingerichtet, und ich erlebte seltsame Abenteuer. Ich erinnere mich, wie mich im Katalog der Titel ›Die Abenteuer des Peregrine Pickle‹ reizte. Ich füllte einen Bücherzettel aus, und der Bibliothekar händigte mir die gesammelten, unverkürzten Werke von Smollett in einem Bande aus. Ich las alles, hauptsächlich jedoch Geschichte und Abenteuer, und alle die alten Reisenden und Entdecker. Ich las morgens, nachmittags und nachts. Ich las im Bett, ich las bei Tisch, ich las auf dem Schulwege, und ich las in den Pausen, wenn die andern spielten. Ich fing an, reizbar zu werden. Jedem sagte ich: »Geh weg. Du machst mich nervös.«

Und nun, mit zehn Jahren, war ich also als Zeitungsjunge auf der Straße. Ich hatte keine Zeit zum Lesen. Ich hielt mich daran, um zu lernen, wie man sich durchschlägt, wie man dreist und frech wird und die Leute verblüfft. Meine Einbildungskraft und Neugier allen Dingen gegenüber machten mich anpassungsfähig. Dabei galt meine Neugier nicht am wenigsten den Kneipen, und in mehr als einer von ihnen ging ich ein und aus. Ich erinnere mich noch jetzt der langen Reihe Kneipen von einer Ecke zur andern auf der Ostseite des Broadways, zwischen der Sixth und Seventh Avenue.

Das Treiben in den einzelnen Kneipen war sehr verschieden. Hier redeten Männer laut, lachten mächtig, und die Atmosphäre trug das Gepräge einer gewissen Größe. Dort war alles alltäglich, und es geschah nichts Außergewöhnliches. In einer dritten wieder war immer Leben, zuweilen sogar unheimliches, wenn Fäuste hieben und Messer stachen, das Blut floß und breitschultrige Polizisten in geschlossenem Trupp hereinkamen. Große Augenblicke für mich, der ich den Kopf voll hatte von all den wilden, heftigen Kämpfen der tapferen Abenteurer zu Wasser und zu Lande. Es gab keine spannenden Erlebnisse, wenn ich durch die Straßen trottete und meine Zeitungen durch die Türen steckte. Aber in den Kneipen lag selbst über den Trunkenbolden, die sich, sinnlos berauscht, auf den Tischen oder Sägespänen wälzten, ein Schimmer des Geheimnisvollen und Wunderbaren.

Und mehr noch: es war nichts gegen die Kneipen einzuwenden. Die Väter der Stadt sanktionierten sie und gaben ihre Bewilligung. Sie waren nicht die schrecklichen Stätten des Lasters, als die ich Knaben sie beurteilen hörte, die nicht wie ich Gelegenheit hatten, sie kennenzulernen. Schrecklich mochten sie sein, aber höchstens schrecklich wunderbar, und gerade das schrecklich Wunderbare möchte ein Junge ja kennenlernen. Auch Seeräuber, Schiffswracks und Schlachten waren schrecklich, und welcher richtige Junge gäbe nicht seine unsterbliche Seele, um mit dabei zu sein?

Übrigens sah ich in den Kneipen auch Reporter, Redakteure, Rechtsanwälte, Richter, deren Namen und Gesichter ich kannte. Sie drückten der Kneipe das Siegel bürgerlicher Billigung auf. Sie bestätigten mein Gefühl, das mich an die Kneipe fesselte. Auch sie mußten hier ja etwas Ungewöhnliches finden, dieses gewisse Etwas, nach dem ich suchte und tappte. Was das war, wußte ich nicht; aber etwas mußte es schon sein, denn die Kneipe zog die Männer an, wie der Honigtopf die Brummer. Ich hatte keine Sorgen, und die Welt erschien mir hell und licht; ich ahnte daher nicht, daß diese Männer Vergessen von ewiger Plackerei und altem Gram suchten.

Nicht, daß ich damals getrunken hätte. Von meinem zehnten bis zu meinem fünfzehnten Jahre rührte ich selten ein Glas an, aber ich kam ständig in Berührung mit Trinkern und Orten, wo getrunken wurde. Der einzige Grund, weshalb ich nicht trank, war, daß ich den Geschmack nicht leiden konnte. Im Laufe der Zeit arbeitete ich als Hilfsjunge auf einem Eiswagen, stellte Kegel auf einer Kegelbahn auf, die zu einer Wirtschaft gehörte, und fegte Kneipen an Sonntagsausflugsorten aus.

Die gemütliche dicke Josie Harper hatte eine Kneipe an der Ecke der Telegraph Avenue und der Thirty-ninth Street. Hier trug ich ein Jahr lang eine Abendzeitung aus, bis ich nach der Hafengegend von Oakland versetzt wurde. Als ich das erstemal bei Josie Harper einkassierte, bot sie mir ein Glas Wein. Ich genierte mich, es abzuschlagen, und trank daher. Aber später richtete ich es so ein, daß ich kam, wenn sie nicht da war, und ließ mir das Geld von ihrem Kellner geben.

Als ich den ersten Tag auf der Kegelbahn arbeitete, rief der Kellner, wie es üblich war, uns Jungen, um uns etwas zu trinken zu geben. Die andern baten um Bier. Ich sagte, daß ich Ingwerbier haben möchte. Die Jungens kicherten, und ich bemerkte, daß der Kellner mich mit einem merkwürdig forschenden Blick beehrte. Er öffnete jedoch eine Flasche Ingwerbier. Als wir nachher wieder auf der Kegelbahn waren, klärten mich die Jungen in einer Spielpause auf. Ich hatte den Kellner beleidigt. Eine Flasche Ingwerbier kostete der Wirtschaft bedeutend mehr als ein Glas Lagerbier; wenn ich meine Stelle behalten wollte, mußte ich Bier trinken. Zudem war Bier nahrhafter. Ich konnte besser danach arbeiten. Das Ingwerbier hatte keinen Nährwert. Seitdem konnte ich mich nicht mehr drücken, ich trank Bier und wunderte mich, was man daran gut finden konnte. Ich war überzeugt, daß mir in dieser Beziehung etwas fehlte.

Was ich damals wirklich liebte, waren Bonbons. Für fünf Cents konnte ich fünf ›Kanonenkugeln‹ kaufen – dicke Klumpen, die prachtvoll lange vorhielten. An einem einzigen konnte ich über eine Stunde kauen und lutschen. Ferner gab es einen Mexikaner, der dicke Tafeln Kaukonfekt für fünf Cents das Stück verkaufte. Es gehörte ein viertel Tag dazu, um mit einer von ihnen fertig zu werden. Und manch lieben Tag bestand mein ganzes Frühstück aus einer dieser Tafeln. Wahrlich: in ihnen fand ich Nahrung, aber nicht im Bier.

*

Aber die Zeit rückte mit reißender Schnelligkeit näher, da ich meinen zweiten Gang mit König Alkohol ausfechten sollte. Als ich vierzehn Jahre alt war, den Kopf voll von alten Reisebeschreibungen und Bildern tropischer Inseln und ferner Küsten, durchfuhr ich mit einer kleinen Schwertjolle die Bucht von San Francisco und den Meeresarm von Oakland. Ich wollte zur See gehen. Ich wollte fort von der Eintönigkeit und Alltäglichkeit. Ich war in der Blüte meiner Jugend, durchdrungen von Romantik und Abenteuern, und ich träumte von dem wilden Leben der wilden Welt des Mannes. Ich ahnte nur wenig, daß alles Wirken und Weben in dieser Welt des Mannes eng mit dem Alkohol verknüpft war.

Da geschah es eines Tages, als ich gerade die Segel meiner Jolle hißte, daß ich Scotty traf. Er war ein etwas anrüchiger Bursche von siebzehn Jahren und, wie er mir selbst erzählte, als Schiffsjunge von einem englischen Schiff in Australien durchgebrannt. Er hatte sich gerade auf einem andern Schiff nach San Francisco durchgearbeitet; und jetzt wollte er gern auf einem Walfänger heuern. Jenseits der Bucht, in der Nähe des Liegeplatzes der Walfänger, lag die Schaluppe ›Faulpelz‹. Der Wächter war ein Harpunierer, der seine nächste Fahrt auf dem Walfänger ›Bonanza‹ zu machen gedachte. Ob ich Scotty nicht in meiner Jolle zu dem Harpunierer bringen wolle?

Ob ich wollte! Hatte ich nicht Dutzende von Geschichten und Gerüchten über den ›Faulpelz‹ gehört – jene große Schaluppe, die gerade von den Sandwichinseln gekommen war, wo sie Opium geschmuggelt hatte? Und der Harpunierer, ihr Wächter! Wie oft hatte ich ihn gesehen und um seine Freiheit beneidet! Er brauchte das Wasser nie zu verlassen. Er schlief an Bord des ›Faulpelzes‹, während ich an Land mußte, um zu Bett zu gehen. Der Harpunierer war erst neunzehn Jahre alt (ich habe nichts als sein eigenes Wort dafür gehabt, daß er wirklich Harpunierer war), aber er war eine viel zu strahlende, ruhmvolle Persönlichkeit, als daß ich je hätte wagen dürfen, ihn anzusprechen, wenn ich in ehrfurchtsvoller Entfernung um das Schiff herumsegelte. Ob ich Scotty, den durchgebrannten Matrosen, zum Besuch bei dem Harpunierer nach dem Opiumschmuggler bringen wolle? Ob ich wollte!

Der Harpunierer kam an Deck, um unsern Anruf zu beantworten, und lud uns ein, an Bord zu kommen. Ich spielte den Seemann und Erwachsenen, hielt die Jolle so weit ab, daß sie den neuen weißen Anstrich der Jacht nicht schrammte, und brachte sie achtern an eine lange Leine, die ich nachlässig mit zwei Halbstichen festmachte. Wir gingen hinunter. Es war das erste Schiffsinnere, das ich je gesehen hatte. Die Kleidungsstücke an der Wand rochen muffig. Aber was tat das? War es nicht das Zeug eines Seemanns? Mit Kord gefütterte Lederjacken, Röcke aus blauem Lotsenstoff, Südwester, Seestiefel, Ölzeug. Und überall war deutlich zu spüren, wie es an Platz fehlte – die engen Kojen, die Drehtische, die unglaublichen Kisten. Hier gab es einen selbsttätigen Kompaß, Schiffslampen in Doppelringen, blaugeränderte Karten, die nachlässig aufgerollt und weggesteckt waren, Signalflaggen in alphabetischer Ordnung und einen Marine-Teilzirkel, der ins Holzwerk gesteckt war, um als Kalender zu dienen. Endlich erlebte ich etwas! Hier saß ich nun zum erstenmal in einem Schiff, einem Schmuggler, als Kamerad anerkannt von einem Harpunierer und einem durchgebrannten englischen Matrosen, der sagte, daß er Scotty hieß.

Das erste, was der neunzehnjährige Harpunierer und der siebzehnjährige Matrose taten, war, zu zeigen, daß sie Männer waren und sich wie Männer zu benehmen wußten. Der Harpunierer deutete an, wie ungeheuer wünschenswert ein Gläschen sein würde, und Scotty durchsuchte seine Taschen nach Geld. Dann verschwand der Harpunierer mit einer rosa Flasche, um sie in irgendeiner heimlichen Kneipe füllen zu lassen, denn in dieser Gegend wurden Wirtschaften nicht konzessioniert. Wir tranken das billige Gesöff aus Biergläsern. Trinken war das Zeichen der Männlichkeit. So trank ich denn mit ihnen, Glas auf Glas, hintereinander weg, obgleich das verdammte Zeug nicht mit einer Tafel Kaukonfekt oder gar einer delikaten ›Kanonenkugel‹ verglichen werden konnte. Ich schauderte und würgte an jedem Schluck, verbarg jedoch mannhaft alle diese Anzeichen von Schwäche.

Mehrere Male im Laufe des Abends füllten wir die Flasche von neuem. Alles, was ich besaß, waren zwanzig Cents, aber ich holte sie hervor wie ein Mann, wenn ich auch mit Bedauern an die riesigen Mengen von Bonbons dachte, die ich dafür hätte kaufen können. Der Branntwein stieg uns allen zu Kopfe, und der Harpunierer und Scotty redeten von der Fahrt an der Ostküste, den Stürmen bei Kap Horn und den Pamperos von La Plata, von Marssegelbrisen und Passatwinden, Taifunen im Stillen Ozean und zertrümmerten Walfängerbooten im Nördlichen Eismeer.

»Du kannst nicht schwimmen in dem eisigen Wasser«, sagte der Harpunierer vertraulich zu mir. »In einer Minute bist du fertig und gehst unter. Wenn ein Wal dein Boot zerschmettert, ist das einzige, was du tun kannst, daß du dich quer über einen Riemen legst, so daß du immer noch oben schwimmst, wenn die Kälte dich auch erledigt.«

»Natürlich«, sagte ich dankbar und mit einem Ausdruck, der deutlich zeigte, daß mir auch noch mal beim Walfang im Nördlichen Eismeer das Boot zerschmettert werden würde. Und wirklich, ich verleibte seine Warnung als eine ungewöhnlich wertvolle Lehre meinem Gedächtnis ein und verstaute sie in meinem Gehirn, wo sie bis zum heutigen Tage aufbewahrt blieb.

Aber ich selbst konnte nicht reden – wenigstens im Anfang nicht. Du lieber Himmel! Ich war erst vierzehn und nie in meinem Leben auf dem Ozean gewesen. Ich konnte nur den beiden Seeratten zuhören und meine Mannhaftigkeit beweisen, indem ich ehrlich ein Glas nach dem andern mit ihnen trank.

Allmählich begann ich die Wirkung des Schnapses zu spüren; die Reden Scottys und des Harpunierers strömten durch den engen Kajütsraum des ›Faulpelzes‹ und durch mein Gehirn wie ein starker Hauch des weiten, freien Meeres. Und in meiner Einbildung erlebte ich die Jahre, die kommen sollten, und durchschweifte die wilde, tolle, strahlende Welt auf unzählige Abenteuer.

Wir wurden offener. Unsre Hemmungen und die schweigsamen Augenblicke schwanden. Es war, als kennten wir uns schon seit Jahren, und wir gelobten uns, in Zukunft zusammen zu fahren. Der Harpunierer erzählte von Mißgeschick und heimlicher Schande. Scotty weinte über seine arme alte Mutter in Edinburgh – eine Dame von vornehmer Herkunft, wie er behauptete –, die jetzt in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte, aber ihren letzten Groschen gegeben hatte, um die schwere Summe zu bezahlen, die die Reeder für seine Ausbildung verlangt hatten. Sie hatte davon geträumt, ihn einmal als Offizier eines Kauffahrteischiffes und als Gentleman zu sehen, und jetzt war ihr das Herz gebrochen, weil er in Australien desertiert und mit einem andern Schiff als einfacher Matrose vor dem Mast gefahren war. Und Scotty bewies es. Er zog ihren letzten traurigen Brief aus der Tasche und weinte, als er ihn vorlas. Der Harpunierer und ich weinten mit ihm und schworen, daß wir alle drei mit dem Walfänger fahren, viel Geld verdienen und, immer noch gemeinsam, eine Pilgerfahrt nach Edinburgh machen und der lieben Dame das Geld in den Schoß legen würden.

Und wie König Alkohol sich seinen Weg durch mein Gehirn brannte, meine Zurückhaltung wegfegte und meine Bescheidenheit schmolz, indem er durch mich, mit mir und als mein zweites Ich redete, erhob auch ich meine Stimme, um mich als Mann und Abenteurer zu zeigen, und prahlte des langen und breiten, wie ich in meiner offenen Jolle bei heulendem Südweststurm durch die Bucht von San Francisco gekreuzt sei, als selbst die Leute auf den Schonern zweifelten, daß ich heil hinüberkäme. Ferner erzählte ich – oder König Alkohol, was auf dasselbe hinauskam – Scotty, wenn er auch gewohnt sei, auf offener See zu fahren, und wenn er auch die kleinste Trosse auf einem großen Schiff kennte, so könnte ich ihn doch im kleinen Boot in Grund und Boden segeln.

Das beste war, daß meine prahlerische Behauptung stimmte. Immerhin hätte ich bei meiner gewöhnlichen Zurückhaltung und Schüchternheit nie den Mut gehabt, Scotty zu verraten, wie ich seine Segelkunst einschätzte. Aber das ist eben die Art König Alkohols, daß er die Zunge löst und die geheimsten Gedanken verrät.

Scotty, König Alkohol oder beide waren natürlich über meine Bemerkungen sehr gekränkt. Und ich war auch nicht bange. Ich konnte es mit jedem Matrosen von siebzehn Jahren aufnehmen. Scotty und ich kochten vor Wut wie ein paar junge Hähne, bis der Harpunierer eine neue Runde ausgab, um uns wieder zu versöhnen. Und das geschah denn auch, wir schlangen einer den Arm um den Hals des andern und schworen uns feierlich ewige Freundschaft – ganz wie der Schwarze Matt und Tom Morrisey es in der Küche auf der Ranch in San Mateo gemacht hatten. Und wie ich mich jener Begebenheit entsann, wußte ich, daß ich jetzt selbst ein Mann war – trotz meiner vierzehn Jahre –, ein Mann, der ebenso groß und männlich war wie jene beiden ausgewachsenen Riesen, die sich an jenem denkwürdigen Sonntagmorgen vor langer Zeit geprügelt und wieder vertragen hatten.

Um diese Zeit hatten wir das Stadium des Singens erreicht, ich vereinte meine Stimme mit der Scottys und des Harpunierers, und wir sangen abgerissene Stücke von Matrosenliedern. Hier, in der Kajüte des ›Faulpelzes‹, hörte ich zum erstenmal ›Weht den Mann runter‹, ›Die fliegende Wolke‹ und ›Whisky, Johnny, Whisky‹. Oh, es war prachtvoll! Ich fing an, den Sinn des Lebens zu verstehen. Es gab keine Oaklandbucht, keinen ermüdenden Rundgang mit Zeitungen von Tür zu Tür, keine Einlieferung, kein Kegelaufstellen. Die ganze Welt war mein, alle ihre Wege lagen vor meinen Füßen, und König Alkohol verwirrte meine Einbildungskraft und setzte mich instand, dem abenteuerlichen Leben, nach dem ich mich sehnte, vorzugreifen.

Wir waren keine gewöhnlichen Sterblichen. Wir waren drei berauschte junge Götter, unglaublich weise, herrlich genial, und unsre Macht hatte keine Grenzen. Ach – ich sage es jetzt, nach Jahren –, könnte König Alkohol einen immer auf dieser Höhe halten, dann würde ich nie mehr einen nüchternen Atemzug tun. Aber diese Welt verschenkt nichts. Man bezahlt nach eisernen Regeln – für jede Stärke, die man gewinnt, die entsprechende Schwäche; für jede Höhe eine angemessene Tiefe; für jeden Augenblick eingebildeter Gottähnlichkeit eine entsprechende Stunde im Schleim der Kriechtiere. Jeden Fußbreit der Tage und Wochen, in strahlend tollen Augenblicken verlebt, muß man mit einer Verkürzung des Lebens bezahlen, und oft dazu noch mit blutigen Wucherzinsen.

Intensität und Dauer sind ebenso alte Feinde wie Feuer und Wasser. Sie vernichten sich gegenseitig. Sie können nicht zusammen bestehen. Und ein wie großer Zauberer König Alkohol auch ist, so ist er doch ebensogut ein Sklave des Organismus wie wir Sterblichen selber. Wir bezahlen für jeden Marathon-Lauf, und auch König Alkohol kann nicht dazwischentreten und uns von der Steuer befreien. Er kann uns auf die Höhen führen, aber er kann uns nicht oben halten, sonst würden wir alle seine Untertanen sein. Und es gibt keinen Untertan König Alkohols, der nicht bezahlen muß für den wahnsinnigen Tanz, den er nach der Pfeife seines Herrschers tanzt.

Aber hinterher ist gut reden. Der vierzehnjährige Bengel, der mit dem Harpunierer und dem Matrosen in der Kajüte des ›Faulpelzes‹ saß, wußte nichts davon, er atmete mit weitgeöffneten Nüstern den muffigen Geruch des Seemannszeugs ein und brüllte im Chor mit: ›Ein Yankeeschiff kommt den Fluß herab – pullt, Jungens, pullt!‹

Wir wurden allmählich benebelt und redeten alle auf einmal. Ich besaß eine glänzende Konstitution, einen Magen, der altes Eisen verdauen konnte, und ich war noch in vollem Schwunge, als Scotty schon nachzulassen anfing. Seine Rede wurde unzusammenhängend. Er suchte nach Worten und konnte sie nicht finden, und die, die er noch fand, konnten seine Lippen nicht formen. Sein vergiftetes Bewußtsein begann ihn zu verlassen. Seine Augen verloren ihren Glanz, und sein Blick wurde ebenso stumpfsinnig wie seine wiederholten Versuche, zu reden.

Mit dem schwindenden Bewußtsein gaben auch sein Gesicht und sein Körper nach. (Der Mensch kann ja nur durch einen Willensakt aufrecht sitzen.) Scottys schwindelndes Hirn konnte nicht mehr seine Muskeln kontrollieren. Alle Verbindungen waren unterbrochen. Er versuchte, noch ein Glas zu trinken, ließ es jedoch zu Boden fallen. Da begann er zu meinem Erstaunen bitterlich zu weinen, taumelte aber schließlich in eine Koje und schlief auf der Stelle ein.

Der Harpunierer und ich tranken weiter und grinsten uns überlegen über Scottys Zustand an. Die letzte Flasche wurde geöffnet, und wir tranken sie unter uns zur Begleitung von Scottys Schnarchen. Dann verschwand auch der Harpunierer in seiner Koje, und ich blieb allein, unbesiegt, auf dem Schlachtfelde.

Ich war sehr stolz, und König Alkohol war es mit mir. Ich konnte also etwas vertragen. Ich hatte zwei Mann – Glas für Glas – unter den Tisch getrunken. Und ich stand noch fest auf den Füßen, als ich an Deck ging, um meine brennende Lunge frische Luft schöpfen zu lassen. Bei diesem Gelage auf dem ›Faulpelz‹ merkte ich, was ein guter Magen und ein starker Kopf fürs Trinken bedeuten – eine Erkenntnis, die mir in den nächsten Jahren eine Quelle des Stolzes wurde, die mir aber schließlich viel Kummer bereiten sollte. Der glücklichste Mann ist, wer nur wenige Gläser vertragen kann, ohne sich zu berauschen. Der unglücklichste, wer viele Gläser vertragen kann, ohne es zu spüren, und zahllose Gläser nehmen muß, um auch nur angeregt zu werden.

Die Sonne ging gerade unter, als ich an Deck des ›Faulpelzes‹ kam. Unten gab es Kojen genug, so daß ich es nicht nötig gehabt hätte, nach Hause zurückzukehren. Aber ich wollte mir selbst zeigen, was für ein Mann ich war. Dort achtern lag meine Jolle.

Der letzte Teil einer sehr starken Ebbe lief durch eine Stromrinne gegen einen Seewind von vierzig Meilen die Stunde. Ich konnte die großen Schaumkämme sehen, und an Tal und Gipfel jeder Welle war deutlich die Richtung des Sogs zu erkennen. Ich setzte Segel, warf los, setzte mich ans Ruder, nahm die Schoot in die Hand und jagte zur Rinne hinaus. Die Jolle hahlte über und stampfte wie verrückt. Der Schaum begann zu sprühen. Es war die Höhe der Exaltation. Im Fahren sang ich ›Weht den Mann runter!‹ Ich war kein vierzehnjähriger Knabe, der in kleinen Verhältnissen in der schläfrigen Stadt namens Oakland lebte. Ich war ein Mann, ein Gott, und selbst die Wellen huldigten mir, als ich sie meinem Willen unterwarf.

Es war tiefste Ebbe. Ganze hundert Meter Schlick waren zwischen Bollwerk und Wasser. Ich hahlte das Schwert hoch, lief in voller Fahrt in den Schlick, holte das Segel ein, und, achtern stehend, wie ich es oft bei Ebbe getan hatte, begann ich die Jolle mit dem Riemen vorwärtszuschieben. Da begann ich die Herrschaft über mich zu verlieren. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel kopfüber in den Schlamm. Und wie ich jetzt vom Kopf bis zu den Füßen im Schlamm zappelte und das Blut mir von den Armen troff, die ich gegen einen muschelbewachsenen Pfahl geschrammt hatte, merkte ich erst, daß ich berauscht war. Aber was tat das? Jenseits der Rinne lagen zwei starke Seemänner, die ich unter den Tisch getrunken hatte, in ihren Kojen.

Ich war ein ganzer Mann. Ich stand noch auf meinen Füßen, wenn auch bis zu den Knien im Schlamm. Mit Verachtung schob ich den Gedanken von mir, wieder ins Boot zu klettern. Ich watete durch den Schlick, schob die Jolle vor mir her und sang das Lied meiner Mannhaftigkeit in die Welt hinaus.

Ich mußte dafür bezahlen. Mehrere Tage war ich krank, recht krank, und an den Stellen, wo ich mir die Arme an dem Pfahl geschrammt hatte, bekam ich eine schmerzhafte Vergiftung. Eine ganze Woche konnte ich sie nicht gebrauchen, und das Ankleiden war eine wahre Tortur für mich.

Ich schwor: ›Nie wieder!‹ Das Spiel war es nicht wert. Der Preis war zu hoch. Ich hatte nicht etwa einen moralischen Katzenjammer. Meine Abneigung war rein physisch. Kein noch so erhabener Augenblick wog diese Stunden des Elends und der Verzweiflung auf. Als ich wieder in meine Jolle kam, mied ich den ›Faulpelz‹. Ich wäre gern bis auf die andere Seite der Rinne gekreuzt, um nur nicht dem Schoner zu begegnen. Scotty war verschwunden. Der Harpunierer war noch da, aber ich schnitt ihn. Als er einmal beim Bollwerk an Land ging, versteckte ich mich. Ich fürchtete, daß er mich wieder zum Trinken auffordern würde; vielleicht hatte er eine volle Whiskyflasche in der Tasche.

Und doch – und hier spürt man die Zauberkraft König Alkohols –, und doch war das Gelage an jenem Nachmittage auf dem ›Faulpelz‹ ein Purpurschimmer in der Eintönigkeit meiner Tage gewesen. Ich vergaß es nie. Meine Gedanken kehrten immer wieder dahin zurück. Unter anderm war ich zu den Triebfedern und Quellen männlicher Tatkraft gelangt. Ich hatte Scotty weinen sehen über seine eigene Schlechtigkeit und die traurige Lage, in der seine Mutter, eine feine Dame in Edinburgh, sich befand. Der Harpunierer hatte mir schrecklich wunderbare Dinge über sich erzählt. Ich hatte Myriaden lockender und entflammender Winke erhalten über eine Welt jenseits der meinen, in die ich wenigstens ebensogut paßte wie die beiden Burschen, die mit mir getrunken hatten. Ich war hinter die Seelen von Männern gekommen. Ich war hinter meine eigene Seele gekommen und hatte ungeahnte Fähigkeiten und eine unerwartete Größe gefunden.

*

Ich war kaum fünfzehn Jahre alt und arbeitete viele Stunden täglich in einer Konservenfabrik. Monatelang war mein kürzester Arbeitstag zehn Stunden. Rechnet man zu diesen zehn Stunden wirklicher Arbeit die Mittagszeit, ferner den Weg zur Arbeit und wieder heim, die Zeit, die Ankleiden, Frühstücken, Abendbrotessen und Zubettgehen in Anspruch nahmen, so blieben von den vierundzwanzig Stunden des Tages kaum mehr als die neun, welche die Gesundheit eines Jünglings für den Schlaf fordert. Von diesen neun Stunden stahl ich mir, wenn ich im Bette lag und ehe mir die Augen zufielen, immer noch ein Stündchen zum Lesen.

Aber manchen Abend wurde nicht vor Mitternacht Feierabend gemacht, und zuweilen arbeitete ich achtzehn und zwanzig Stunden am Tage. Einmal stand ich sechsunddreißig Stunden hintereinander an meiner Maschine. Wochenlang konnte ich nie vor elf Schluß machen, war um halb eins im Bett und wurde um halb sechs am nächsten Morgen geweckt, um mich anzukleiden, zu essen, zur Arbeit zu gehen und um sieben – sobald das Pfeifen ertönte – an meiner Maschine zu stehen.

Da blieb mir kein Augenblick für meine geliebten Bücher. Aber was hatte König Alkohol zu schaffen mit dieser anstrengenden, heldenmütigen Arbeit eines kaum fünfzehnjährigen Burschen? Er hatte sehr viel damit zu schaffen. Laßt es mich erzählen. Ich fragte mich, ob das der Sinn des Lebens sei – ein Arbeitstier zu sein? Ich wußte, daß kein Pferd in Oakland soviel Stunden täglich zu arbeiten hatte wie ich. Wenn das Leben hieß, so machte ich mir wahrlich nichts daraus, zu leben. Ich dachte an meine Jolle, die am Bollwerk lag und Entenmuscheln ansetzte; ich dachte an den Wind, der täglich über die Bucht wehte, an Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, die ich nie mehr sah; an das Beißen der Salzluft in meiner Nase, an das Beißen des Salzwassers in meiner Haut, wenn das Boot überkrengte. Ich dachte an alle Schönheit, alles Wunderbare und Sinnbetörende, das die Welt mir jetzt vorenthielt. Es gab nur eine Möglichkeit, der tötenden Plackerei zu entrinnen: Ich mußte zur See gehen. Ich mußte mein Brot auf dem Wasser verdienen. Und dieser Weg führte unweigerlich zu König Alkohol. Ich wußte das nicht. Und als ich es erfuhr, war ich tapfer genug, nicht zu meinem furchtbaren Leben an der Maschine zurückzukehren.

Ich wollte dort sein, wo der Wind des Abenteuers wehte. Und der Wind des Abenteuers wiegte die Schaluppen der Austernräuber in der Bucht von San Francisco von den nächtlichen Kämpfen bei den Austernbänken bis zu den Märkten am Morgen auf den Kais der Stadt, wo Händler und Gastwirte kauften. Jede Plünderung einer Austernbank war ein Verbrechen. Als Strafe stand Gefängnis, gestreifte Tracht und Gänsemarsch darauf. Aber was tat das? Die Männer in der gestreiften Tracht hatten einen kürzeren Arbeitstag als ich an meiner Maschine. Und mit der Austernräuberei und dem Gefängnis war eine unsagbar größere Romantik verbunden, als mit dem Dasein als Sklave der Maschine. Und hinter allem, hinter dem ganzen brausenden Übermut meiner Jugend lockte die Romantik, das Abenteuer.

Daher redete ich mit meiner Mammy Jennie, meiner alten Amme, an deren schwarzen Brüsten ich gesogen hatte. Sie war wohlhabender als meine Familie. Sie pflegte Kranke für einen guten Wochenlohn. Ob sie ihrem ›weißen Kinde‹ Geld leihen wollte? Ob sie das wollte! Was sie hatte, gehörte mir.

Dann suchte ich Franzosen-Frank auf, den Austernräuber, der, wie ich gehört hatte, seine Schaluppe ›Razzle Dazzle‹ verkaufen wollte. Ich fand ihn auf der Alabamaseite der Oaklandbucht in der Nähe der Webster Streetbrücke vor Anker liegen, und er hatte Gäste an Bord, die er mit Wein bewirtete. Er kam an Deck, um mit mir zu verhandeln. Er war bereit, zu verkaufen. Aber heute sei Sonntag. Zudem habe er Gäste. Morgen wolle er den Kaufvertrag aufsetzen, und ich könne das Boot übernehmen. Inzwischen müsse ich aber nach unten kommen und seine Freunde begrüßen. Es waren zwei Schwestern da: Mamie und Teß; eine Frau Hadley, die sie bemutterte; der ›Whisky-Bob‹, ein jugendlicher Austernräuber von sechzehn Jahren, und schließlich Healey, ›die Spinne‹, eine schwarzbärtige, zwanzigjährige Hafenratte. Mamie, die Nichte der Spinne, wurde die Königin der Austernräuber genannt; sie pflegte den Vorsitz bei den Zusammenkünften zu führen. Der Franzosen-Frank war in sie verliebt, was ich damals aber noch nicht wußte; sie weigerte sich aber standhaft, ihn zu heiraten.

Franzosen-Frank füllte ein Rotweinglas aus einer großen Korbflasche, um das Geschäft zu begießen. Ich dachte an den Rotwein auf der italienischen Ranch und schauderte innerlich. Whisky und Bier waren längst nicht so widerlich. Aber die Königin der Austernräuber blickte mich an, und sie hielt selbst ein geleertes Glas in der Hand. Ich besaß meinen Stolz. Wenn ich auch erst fünfzehn war, so konnte ich mich doch nicht weniger männlich zeigen als sie. Außerdem waren ihre Schwester, Frau Hadley, der junge Austernräuber und die bärtige Hafenratte da, und alle hielten Gläser in den Händen. War ich ein Milch- und Wassersäufer? Nein, tausendmal nein! Ich goß das volle Glas hinunter wie ein Mann.

Franzosen-Frank war in gehobene Stimmung versetzt worden durch den Verkauf, den ich durch zwanzig Dollar Handgeld bindend gemacht hatte. Er schenkte mehr Wein ein. Ich hatte die Stärke meines Kopfes und meines Magens kennengelernt und war sicher, wenn ich mit einer gewissen Mäßigkeit trank, mich nicht für eine ganze Woche zu vergiften. Ich konnte ebensoviel vertragen wie sie; außerdem hatten sie schon ziemlich viel getrunken, ehe ich kam.

Wir begannen zu singen. Die Spinne sang den ›Einbrecher von Boston‹ und ›Schwarze Lulu‹. Die Königin sang ›Wenn ich Flügel hätte‹. Und ihre Schwester Teß sang ›Ach, hüte mir mein Töchterlein‹. Die Lustigkeit wuchs. Ich entdeckte, daß ich gut ein Glas vorbeigehen lassen konnte, ohne daß man es bemerkte oder mich zur Ordnung rief. Wenn ich auf der Kajütentreppe stand, so daß Kopf, Schultern und die Hand, die das Glas hielt, draußen waren, konnte ich zudem hin und wieder den Wein über Bord schütten.

Ich dachte etwa so: Es ist eine Eigentümlichkeit dieser Leute, daß sie diesen schlechtschmeckenden Wein mögen. Schön, laß sie! Über den Geschmack läßt sich nicht streiten. Meine Männlichkeit erfordert indessen ihrer merkwürdigen Ansicht gemäß, daß ich auch so tue, als möchte ich den Wein. Schön. Ich werde so tun. Aber ich werde nicht mehr trinken, als unvermeidlich ist.

Und die Königin begann mir schöne Augen zu machen, mir, dem jüngsten Rekruten der Austernräuberflotte, der kein Untergeordneter, sondern Besitzer und Herr eines Schiffes war. Sie ging an Deck, um Luft zu schöpfen, und nahm mich mit. Sie wußte natürlich, was ich mir nicht träumen ließ, daß der Franzosen-Frank unten raste. Dann gesellte Teß, die auf dem Kajütendeckel saß, sich zu uns; dann die Spinne und Bob; und zuletzt Frau Hadley und Franzosen-Frank. Und wir saßen da, die Gläser in der Hand, und sangen, während die dicke Korbflasche herumging; und ich war der einzige wirklich Nüchterne von allen.

Und ich genoß die Stunde, wie keiner von ihnen sie genießen konnte. Hier in dieser Welt der Abenteuer mußte ich unwillkürlich des vergangenen Tages gedenken, als ich in der stickigen Luft vor der Maschine saß und endlos und mit Aufwendung aller Kräfte immer dieselben mechanischen Bewegungen wiederholte. Und jetzt saß ich hier, das Glas in der Hand, in glühender Kameradschaft mit den Austernräubern, Abenteurern, die nicht die Sklaven einer elenden Routine sein wollten, die allen Zwanges und aller Gesetze spotteten, und die allein in ihren eigenen Händen ihr Leben und ihre Freiheit hielten. Und König Alkohol war es, der mich diesen freien Seelen ohne Furcht und Tadel zugesellte.

Und die Abendbrise wehte mir ihren Tangduft in die Lunge und kräuselte die Wellen in der mittleren Rinne. Vorn kam im Fluge das Fährboot daher und ließ die Pfeife gellen, damit die Zugbrücke aufgezogen würde. Schlepper mit roten Schornsteinen kamen vorbei, und die ›Razzle Dazzle‹ wiegte sich auf den Wellen in ihrem Kielwasser. Eine Zuckerbark wurde von der ›Boneyard‹ in die offene See geschleppt. Die sinkende Sonne warf ihren Schimmer auf die schäumenden Wellen, und das Leben war groß. Und die Spinne sang:

»O, it's Lulu, black Lulu, my Darling,
O, it's where have you been so long?«

Hier war endlich ein Hauch von dem Geiste des Aufruhrs, von Abenteuer, Romantik, von den Dingen, die verboten sind und doch herausfordernd und großartig getan werden. Und ich wußte, daß ich morgen nicht wieder zu meiner Maschine in der Konservenfabrik zurückkehren würde. Morgen war ich ein Austernräuber, ein Freibeuter, so frei, wie das Jahrhundert und die Wasser der Bucht von San Francisco es erlaubten. Die Spinne hatte schon zugesagt, als einzige Mannschaft und zugleich als Koch mit mir zu fahren, während ich selbst alle Arbeit an Deck verrichten sollte. Morgen wollten wir Proviant und Wasser einnehmen, das Großsegel heißen (das größte Stück Leinwand, unter dem ich je gefahren war) und mit der ersten Brise und der letzten Ebbe anfahren. Dann wollten wir die Schooten loslassen, bei Beginn der Flut die Bucht hinunter bis zu den Spargelinseln laufen und dort vier Meilen von der Küste ankern. Und zuletzt sollte mein höchster Traum in Erfüllung gehen: Ich sollte auf dem Wasser schlafen. Und am nächsten Morgen sollte ich auf dem Wasser erwachen; und alle meine Tage und Nächte sollte ich von jetzt an auf dem Wasser verleben.

Und als Franzosen-Frank sich anschickte, seine Gäste fortzubringen, bat die Königin mich, sie in meiner Jolle an Land zu rudern. Ich verstand nicht, warum er so schnell andern Sinnes wurde und Whisky-Bob seine Jolle rudern ließ, während er selbst an Bord der Schaluppe blieb. Ebensowenig verstand ich die Bemerkung der grinsenden Spinne: »Was! Du hast wohl keinen schwachen Punkt?« Wie sollte ich es wohl in meinen Jungenskopf bringen können, daß er, ein ergrauter Mann von fünfzig, eifersüchtig auf mich war?

*

Unserer Verabredung gemäß trafen wir uns früh am Montagmorgen in Johnny Heinholds ›Letzter Chance‹ – natürlich einer Kneipe –, um den Abschluß zustande zu bringen. Ich bezahlte den Restbetrag, erhielt den Kaufvertrag, und dann schmiß er eine Runde. Es war offenbar ganz selbstverständlich und folgerichtig, daß der Verkäufer etwas von dem eingenommenen Gelde in der Wirtschaft ausgab, wo das Geschäft abgeschlossen worden war. Zu meiner Überraschung traktierte Franzosen-Frank jedoch das ganze Lokal. Daß er und ich tranken, erschien mir nicht mehr als billig; aber warum mußte Johnny Heinhold, der Besitzer der Wirtschaft, der hinter dem Schenktisch stand, eingeladen werden? Ich stellte mir sofort vor, daß er also an jedem Glase, das er selbst trank, verdiente. Ich konnte auch mehr oder weniger gut verstehen, daß die Spinne und Whisky-Bob eingeladen wurden, waren sie doch Freunde und Schiffskameraden; aber warum mußten auch die Schauerleute, Bill Kelley und Soup Kennedy, mit dabei sein?

Dazu kam noch Pat, der Bruder der Königin, so daß wir alles in allem acht waren. Es war früh am Morgen, und alle bestellten sich Whisky. Was sollte ich machen in dieser Gesellschaft großer Männer, die alle Whisky tranken? ›Whisky‹, sagte ich nachlässig, als hätte ich es schon tausendmal gesagt. Und was für ein Whisky! Ich goß ihn hinunter. Brrr! Ich kann ihn heute noch schmecken. Und ich war entsetzt über den Preis, den Franzosen-Frank bezahlen mußte – achtzig Cent. Achtzig Cent! Das war eine Schande für meine sparsame Seele. Achtzig Cent – acht Stunden Lohn für meine Plackerei an der Maschine – durch unsere Kehlen gegossen, und das in einem Nu, im Handumdrehen; und man behielt nichts als einen schlechten Geschmack im Munde. Darüber war nicht zu streiten: Franzosen-Frank war ein Verschwender.

Ich wäre am liebsten gegangen, hinaus in den Sonnenschein, aufs Wasser zu meinem prächtigen Boot. Aber alle blieben stehen, auch die Spinne, meine Mannschaft. Es war mir ganz unbegreiflich, warum sie stehenblieben. Ich habe mir später oft überlegt, was sie wohl von mir, dem Neuling, gedacht haben mögen, der jetzt hier in ihrem Kreise willkommen geheißen war, mit ihnen am Schenktisch stand und nicht eine einzige Runde ausgab. Franzosen-Frank, der, ohne daß ich es ahnte, seinen Ärger gestern abend verschluckt hatte, begann jetzt, als er das Geld für die ›Razzle Dazzle‹ in der Tasche hatte, merkwürdig gegen mich zu werden. Ich spürte den Unterschied in seinem Wesen, sah den abschreckenden Schimmer in seinen Augen und wunderte mich. Je mehr ich die Männer kennenlernte, desto seltsamer wurden sie. Johnny Heinhold lehnte sich über den Schenktisch und flüsterte mir ins Ohr: »Er hat's auf dich abgesehen. Nimm dich in acht.«

Ich nickte zum Zeichen, daß ich verstanden hatte, wie ein Mann nicken muß, der über die Männer Bescheid weiß. Aber im geheimen war ich bestürzt. Du lieber Himmel! Wie sollte ich, der schwer gearbeitet und Abenteuerromane gelesen hatte, der erst fünfzehn Jahre alt war und sich nicht träumen ließ, daß ihm die Königin der Austernräuber auch nur einen Gedanken schenkte, und der nicht wußte, daß Franzosen-Frank wahnsinnig in sie verliebt war – wie sollte ich ahnen, daß ich ihn blamiert hatte? Und wie sollte ich ahnen, daß die Geschichte, wie die Königin ihn in seinem eigenen Boot abgewiesen hatte, und zwar in dem Augenblick, als ich in Sicht gekommen war, im Hafen schon von Mund zu Mund ging? Und wie sollte ich ferner ahnen, daß die Zurückhaltung ihres Bruders Pat gegen mich etwas anderes bedeutete als angeborene Mürrischkeit?

Whisky-Bob zog mich einen Augenblick beiseite. »Halt die Augen offen«, murmelte er. »Laß dir's sagen. Franzosen-Frank ist gefährlich. Ich fahre jetzt mit ihm den Fluß hinauf, um einen Schoner für die Austernfischerei zu finden. Wenn er zu den Bänken zurückkommt, so sei vorsichtig. Er sagt, er will dich überrennen. Wenn er nach Dunkelwerden in der Nähe ist, so wechsle den Ankerplatz und lösch' das Ankerlicht. Verstanden?«

O gewiß, ich hatte verstanden. Ich nickte und dankte ihm, wie ein Mann dem andern für einen Wink dankt. Dann schlenderte ich zu der Gruppe am Schenktisch zurück. Nein, ich gab nichts aus. Ich ließ mir nicht träumen, daß man das von mir erwartete. Ich brach mit der Spinne auf, und noch heute klingen mir die Ohren, wenn ich mir vorzustellen versuche, was sie von mir gesagt haben müssen.

Ich fragte die Spinne beiläufig, was mit dem Franzosen-Frank wäre.

»Er ist mächtig eifersüchtig auf dich«, lautete die Antwort.

»Meinst du wirklich?« sagte ich und verließ dann die Sache, als sei sie nicht wert, daß man darüber nachdächte.

Aber ich überlasse es jedem, sich vorzustellen, wie meine fünfzehnjährige Männlichkeit vor Stolz schwoll, als ich erfuhr, daß Franzosen-Frank, der fünfzigjährige Abenteurer, der alle Meere der ganzen Welt befahren hatte, eifersüchtig auf mich war – und das wegen eines Mädchens, das den romantischsten aller Namen trug: Königin der Austernräuber. Ich hatte so etwas wohl in Büchern gelesen und auch als persönliche Möglichkeiten in einer fernen Zeit der künftigen Reife betrachtet. Oh, ich fühlte mich wie ein unvergleichlicher junger Teufel, als wir an diesem Morgen das mächtige Großsegel heißten, den Anker lichteten, nach dem Drei-Meilen-Schlage nach Lee überholten und bei scharfem Winde in die Bucht hinausjagten.

So entrann ich der tötenden Plackerei an der Maschine, und so kam ich zu den Austernräubern. Zwar hatte es mit Trinken begonnen, und allem Anschein nach wurde das Trinken bei diesem Leben fortgesetzt. Aber sollte ich deswegen davor zurückschrecken? Wo immer das Leben frei und groß war, wurde getrunken. Romantik und Abenteuer schienen stets Arm in Arm mit König Alkohol ihre Straße zu wandern. Wollte ich die beiden kennenlernen, konnte ich dem dritten nicht ausweichen. Oder ich mußte eben zurück zu meinen Volksbibliotheksbüchern, von den Taten anderer Männer lesen und selbst keine begehen, sondern weiter für zehn Cent die Stunde an der Maschine in einer Konservenfabrik fronen.

Nein; von dem herrlichen Leben auf dem Meere konnte mich die Tatsache nicht abschrecken, daß die Seeratten ein sonderbares, kostspieliges Verlangen nach Bier, Wein und Whisky hegten. Was tat es, wenn zu ihrem Glück das merkwürdige Vergnügen gehörte, mich trinken zu sehen? Wenn sie wieder dies widerwärtige Getränk kauften und in mich hineingossen, nun schön, dann trank ich es eben. Das war der Preis, den ich für ihre Kameradschaft zu zahlen hatte. Und ich brauchte mich nicht zu betrinken. Hatte ich mich doch auch nicht an jenem Nachmittage betrunken, als ich den Kauf der ›Razzle Dazzle‹ abschloß, obgleich nicht einer von den andern nüchtern geblieben war. Nun schön, in Zukunft wollte ich es ebenso machen: trinken, wenn es ihnen Vergnügen machte, daß ich trank, mich aber wohl hüten, zuviel zu trinken.

* * *

 


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