Paul Lindau
Der Prozeß Graef
Paul Lindau

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Der Mörder der Frau Marie Ziethen

Herr Ernst Barre, Landgerichtsdirektor in Trier, hat über den vielbesprochenen Prozeß Ziethen in Elberfeld in den »Preußischen Jahrbüchern«, 68. Band, 5. Heft, eine sehr eingehende und von ihm selbst als aktenmäßig bezeichnete Darstellung veröffentlicht, die den Nachweis zu führen bestimmt ist, daß die Elberfelder Geschworenen den des Gattenmordes beschuldigten Albert Ziethen mit Recht verurteilt haben. Am Schlusse seines Aufsatzes wendet sich Herr Barre gegen meine früheren im »Berliner Tageblatt« und in »Nord und Süd« veröffentlichten Ausführungen, die zu dem entgegengesetzten Schluß gelangen. Diese Veröffentlichung gibt mir Veranlassung, ein drittes Mal den denkwürdigen Kriminalfall, und diesmal so vollständig wie möglich, vor der Öffentlichkeit zu besprechen.

Ziethen ist nach meiner Überzeugung unschuldig verurteilt worden. – Es ist etwas Fürchterliches um die sogenannte öffentliche Meinung, und das gefährliche Wort; »Volkes Stimme – Gottes Stimme«, das man auch in diesem Prozeß anführte, hat schon entsetzliches Unheil angerichtet. Prozesse wie der Mordprozeß Ziethen zeigen die große Gefahr, die für die Geschworenen und die Richter darin besteht, sich bei der Beurteilung des Tatsächlichen von dem Eindruck des Persönlichen allzusehr beeinflussen zu lassen. Ziethens Verurteilung ist hauptsächlich aus dem Grunde erfolgt, daß er seine Frau beständig geschlagen, daß er wüste Drohungen gegen sie ausgestoßen hat und ihr um so feindseliger gesinnt war, als sie der Vereinigung mit seiner Geliebten hindernd im Wege stand. Von dieser Anschauung mußten die Geschworenen ebenso wie die Untersuchungsbehörde durchdrungen sein, um den Beweisstücken, die für die Schuld vorgebracht werden konnten, die fürchterliche Bedeutung beizulegen, die sich meiner Überzeugung nach als trügerisch erweisen muß.

Es ist kein Kleines, wenn ein vielleicht unschuldig Verurteilter, und wäre er auch ein durch und durch schlechter Mensch, seine Tage im Zuchthaus zu beschließen hat. Das einzige Motiv, das mich bei meiner nicht mühelosen Arbeit geleitet hat, ist, nach meinen geringen Kräften dazu beizutragen, daß dem Wunsch, den der Herr Staatsanwalt Uhles an die Spitze seines Plädoyers gegen Ziethen gestellt hat, entsprochen werde: nicht einen beliebigen Täter zu finden, sondern den wirklichen Täter zu ermitteln!

 

Zunächst muß der Tatbestand des Verbrechens festgestellt werden.

Das Haus Bachstraße 91 in Elberfeld war am 25. Oktober 1883 der Schauplatz einer entsetzlichen Gewalttat. Das Haus gehörte dem in Wriezen a. d. Oder im Jahre 1845 geborenen Albert Ziethen, der sich 1871 mit Marie Härtel verheiratet hatte. Ziethen war gelernter Barbier, betrieb aber nebenbei eine kleine, ganz einfache Gastwirtschaft und zugleich einen Vogel- und Samenhandel. Er lebte in guten finanziellen Verhältnissen und hatte sogar ein gewisses Vermögen erworben.

Das Haus hat mit dem Nachbarhaus zur Rechten einen gemeinsamen Hof, auf dem eine Wasserpumpe steht. Auf der linken Seite ist es durch eine kleine Seitengasse vom benachbarten Haus getrennt. Es hat zwei Eingänge: von der Bachstraße aus und von dieser Seitengasse aus. Tritt man durch die Tür der Seitengasse ins Haus, so liegt gerade gegenüber die Treppe, die in die oberen Stockwerke führt, links befindet sich eine Tür zu der im Erdgeschoß gelegenen Küche. Von der Bachstraße aus tritt man in einen Vorflur, in dem rechter Hand die Tür zum Wirtszimmer, geradeaus die Glastür zum Haarschneide- und Barbierkabinett führt. Vom Wirtszimmer aus gelangt man durch eine Tür in einen Hinterraum, der seinerseits rechts eine Tür zum Hofraum mit der Wasserpumpe besitzt, links durch eine Tür mit der Küche verbunden ist.

Zum Ziethenschen Haushalt gehören folgende Personen: Albert Ziethen, seine Frau Marie, geborene Härtel, ihre zwei kleinen Kinder, der siebzehnjährige Barbierlehrling Albert Wilhelm, der fünfzehnjährige Barbierlehrling August Vollberg und das siebzehnjährige Hausmädchen Johanne Tasche. Im ersten Stock wohnte damals der Handelskaufmann Wilhelm Frenzel mit seiner verwitweten Tochter Auguste Storck. Im selben Stockwerk befanden sich auch das Schlafgemach des Hausmädchens sowie die Wohn- und Schlafstuben der Familie Ziethen. Im zweiten Stock wohnten Frau Hüßmann und Frau Julie Henkel, dort war auch die Schlafkammer der beiden Barbierlehrlinge, die unmittelbar neben dem Schlafzimmer der Frau Henkel lag. Soviel zu dem Haus Bachstraße 91 und seinen Bewohnern.

Am 25. Oktober, in der Mitternachtsstunde zwischen elf und zwölf, wurden sämtliche Bewohner des Hauses durch die aufgeregten Rufe des Barbiers Ziethen aus dem Schlaf aufgeschreckt. Ziethen polterte die Treppe herauf und rief dem Mädchen Johanne Tasche laut zu, sie möge sofort aufstehen, man habe seiner Frau die Hirnschale eingeschlagen. Die durch diese Rufe erschreckten Hausbewohner begaben sich schnellstens nach unten ins Erdgeschoß und fanden die Frau in der Wirtsstube auf dem Boden liegen mit einer furchtbaren, tödlichen Wunde – mit zerschmetterter Stirn. Man mußte zunächst an einen Raubmord denken, denn alles machte den Eindruck, als ob ein heftiger Kampf zwischen dem Angreifer und seinem Opfer dem Verbrechen vorangegangen wäre. Aus der Wunde hatte sich reichlich Blut ergossen, und in dieser Blutlache lagen die abgerissenen falschen Zöpfe der Frau Ziethen, ein zerbrochener Kamm; die Geldtasche war ihr abgerissen und das Geld auf dem Boden gerollt, auch ein Armband lag dort. Die Wand war mit Blut bespritzt, Teile des Gehirns und Knochensplitter lagen umher. Die Unglückliche hatte die Beine in die Höhe gezogen, ihre Röcke waren aufgestreift. Der erste das Zimmer betretende Zeuge, der Hausbewohner Frenzel, zog ihr die Kleider herunter, bemühte sich um sie und versuchte sie aufzurichten, während Ziethen wie ein Wahnsinniger im Zimmer auf und ab lief und erst nach Frenzels wiederholter Aufforderung den Arzt holte.

Inzwischen füllte sich das Wirtszimmer. Vorübergehende traten ein, Beamte kamen, die Ärzte; und die erste und natürlichste Frage nach dem Täter wurde übereinstimmend dahin beantwortet: Niemand anders als der Ehemann selbst ist es gewesen!

Ziethen schien in der Tat des Verbrechens dringend verdächtig. Er war ein roher, gewalttätiger Mensch, der seine Frau in empörendster Weise zu mißhandeln pflegte, der sie braun und blau schlug und die wüstesten Drohungen gegen sie ausstieß. Er hatte eine Geliebte in Köln, eine gewisse Emma Alberts, die früher in der Ziethenschen Wirtschaft Hausmädchen gewesen war. Diese Alberts hatte schon ein Kind von ihm und sah jetzt wieder ihrer Niederkunft entgegen. Er besuchte sie regelmäßig jeden Donnerstag in Köln und machte für sie nicht unerhebliche Geldausgaben. Auch an diesem 25. Oktober, einem Donnerstag, hatte er den Nachmittag und Abend mit Emma Alberts in Köln verbracht. Die unseligen Verhältnisse der Ziethenschen Ehe waren in den Kreisen, die von Ziethen überhaupt etwas wußten, allgemein bekannt. Es hatte also durchaus nichts Undenkbares, daß der Mann, der seine Frau in Gegenwart von Zeugen schon halb erwürgt, sie in unmenschlicher Weise mißhandelt und ihr gedroht hatte, sie »kaputt«zumachen, der schauderhaften Drohung die schauderhafte Tat habe folgen lassen.

Versuchen wir aber zunächst, die Ereignisse des 25. Oktober 1883, die mit der Ermordung der Frau Ziethen zusammenhängen, in allen Einzelheiten genau chronologisch nach den glaubwürdigsten Angaben der Untersuchungsbehörde und der Zeugen zu schildern.

 

Gegen 3 Uhr nachmittags verließ Ziethen seine Wohnung. Er traf um 4 Uhr 11 in Köln ein. Seine Geliebte, Emma Alberts, holte ihn von der Bahn ab. Er erledigte verschiedene Geschäfte und ging unter anderem zweimal, einmal gegen fünf und einmal gegen sieben, zu dem Instrumentenschleifer Mergenbaum, um seine Rasiermesser schleifen zu lassen, die er mitgenommen hatte. Er führte dann noch eine geschäftliche Unterredung mit dem Vogelhändler Adolph Bonvie und war am Abend gegen acht mit der Alberts in der Restauration Kränkel. Dort traf er den Bruder des Vogelhändlers, Michael Bonvie, und unterhielt sich mit ihm. Der Alberts bekam das Bier nicht gut, sie hatte einen Magenkrampf, und sie hielten sich deshalb nicht lange bei Kränkel auf. Ziethen begleitete die Alberts nach ihrer Wohnung und blieb da noch kurze Zeit. Etwa um Viertel zehn war er auf dem Deutzer Bahnhof. Ein Schaffner sagte zu ihm: »Sie haben aber noch viel Zeit, der Zug geht erst um neun Uhr vierundvierzig ab.« Ziethen trank mit dem Schaffner und dem Bremser im Wartesaal noch ein Glas Bier und einen Schnaps, sprach seine Verwunderung über den billigen Preis des Schnapses aus und stieg dann, als der Zug vorgefahren war, ein. Der Schaffner öffnete ihm ein kleines dreisitziges Abteil zweiter Klasse, in dem er bis Elberfeld allein blieb.

Während der Abwesenheit Ziethens hatte sich in der Elberfelder Wirtschaft folgendes zugetragen:

Der Lehrling August Wilhelm war trotz seiner Jugend schon dem Schnaps ergeben. Er hatte sich bereits mehrfach von seinem Meister derbe Züchtigungen zugezogen, weil er betrunken gewesen war. Auch an diesem Nachmittag benutzte er die Abwesenheit Ziethens dazu, sich zu betrinken. Um vier Uhr nachmittags ging Wilhelm mit dem Anstreicher Hugo Roll, der im Hause zu tun gehabt hatte, in den hinter der Küche gelegenen Schuppen. Auch der jüngere Lehrling Vollberg scheint den beiden einen gelegentlichen Besuch gemacht zu haben. Wilhelm hatte da eine Flasche Schnaps versteckt, die er wahrscheinlich vom Ziethenschen Lager gestohlen hatte; dies war auch schon früher vorgekommen. Roll und Wilhelm machten sich nun daran, die Flasche zu leeren. »Wir tranken um die Wette, wer am meisten vertragen konnte«, sagte Wilhelm, »wir haben die ganze Flasche hintereinander getrunken.« Nach dem Schnapsgenuß erschien Wilhelm seinem Zechkumpan Roll »etwas angeheitert«. Die Trunkenheit muß sich dann im Laufe des Nachmittags weiter gesteigert haben, denn zwischen sechs und sieben Uhr sah ein Gast des Ziethenschen Lokals, wie Wilhelm torkelte. Frau Ziethen sagte zu dem Gast Hermann Schnabel: »Sehen Sie, der Junge ist wieder besoffen!« Schnabel hatte auch die Überzeugung, daß Wilhelm betrunken war, entgegnete aber beschönigend: »Vielleicht stolpert er nur vor lauter Diensteifer.«

Eine Stunde später, zwischen sieben und acht, kam der Zigarrenhändler Ritter in die Wirtschaft, um 600 Stück Zigarren, die Ziethen bestellt hatte, abzugeben. Da war Wilhelm in der Hinterstube damit beschäftigt, Vogelfutter abzufüllen. Er benahm sich dabei sehr ungeschickt und verschüttete viel davon. Als Ritter ihn darauf aufmerksam machte, entgegnete der Lehrling bloß: »Ach was! Das kommt alles auf den großen Haufen!« Auch auf den Zigarrenhändler machte Wilhelm den Eindruck starker Trunkenheit. Ritter fragte ihn, wann der Meister zurückkomme, und Wilhelm antwortete, er könne schon um halb zehn kommen, es könne aber auch halb zwölf werden.

Um 10 Uhr abends begab sich das Hausmädchen Johanne Tasche zur Ruhe. Zu dieser Zeit waren in den unteren Räumen noch Frau Ziethen und die beiden Lehrlinge anwesend. Einige Zeit darauf sagte der jüngere Vollberg, er wolle nun auch zu Bett gehen, und forderte Wilhelm auf, mit ihm zu kommen. Hier widersprechen sich die Berichte bei der Zeitangabe. Nach dem Bericht der »Elberfelder Zeitung« will Vollberg nach zehn Wilhelm aufgefordert haben, ebenfalls schlafen zu gehen, während nach den gerichtlichen Angaben Vollberg kurz nach halb elf nach oben gegangen sei.

Wilhelm kam aber nicht mit; er sagte, Vollberg möge doch noch warten, er wolle noch einmal ausgehen. Wilhelm begab sich nun zu der in nächster Nachbarschaft wohnenden Frau Bertha Küsters. »Wo kommst du noch so spät her?« fragte ihn diese. »Ist Ziethen nicht zu Hause?« – »Er ist noch nicht da, wie gewöhnlich donnerstags«, entgegnete Wilhelm. Er fragte darauf nach Auguste Kesting, einer jungen Fabrikarbeiterin, mit der Wilhelm ein Liebesverhältnis hatte und mit der er sich bei Küsters zu treffen pflegte. Er hatte einen auffallend roten Kopf. Frau Küsters sah, daß er angetrunken war, und sagte zu ihm: »Es wäre besser für dich, wenn du nach Hause gingst!« Nach fünf Minuten verließ Wilhelm dann die Küstersche Wohnung und kehrte in die Ziethensche Wirtschaft zurück, wo Vollberg auf ihn wartete. Aber er mußte allein zu Bett gehen, denn Wilhelm ging noch einmal fort. Um halb elf, sagte er in der Voruntersuchung, begab er sich in die benachbarte Gastwirtschaft von Faßbender, Karlstraße 24, und bestellte dort einen Kognak. Auf dem Hof des Hauses wohnte Auguste Kersting, die er schon vergeblich bei Küsters gesucht hatte. Er nippte also bloß an dem Schnapsglas und ging sogleich durch die Hintertür zum Hof hinaus. Da er Auguste aber nicht fand, kam er sofort wieder zurück, setzte sich an den Tisch, trank den Kognak aus und entfernte sich. Der Vater der Kesting, der von den Beziehungen seiner Tochter zu Wilhelm keineswegs erbaut war, saß auch in der Kneipe, und es ist erklärlich, daß Wilhelm sich in dieser Gesellschaft nicht recht geheuer fühlte und deshalb sehr rasch wieder ging. »Wie sieht der Junge heute wieder aus«, sagte Frau Faßbender, als Wilhelm das Lokal verlassen hatte. Auch dem Wirt war das Aussehen Wilhelms aufgefallen: »Er sah sehr aufgeregt aus und hatte auffällig rote Backen.«

Wilhelm ging nun nach der Ziethenschen Wohnung zurück und blieb dort vor der Tür stehen. Der Wächter Feiber kam um diese Zeit – es muß etwas nach halb elf gewesen sein, Feiber sagt: halb elf – an der Ziethenschen Wirtschaft vorüber und redete Wilhelm an: »Noch nicht Feierabend?« – »Nein«, erwiderte Wilhelm, »es ist noch ein Gast da. Und der Ziethen ist noch nicht hier.«

Da Ziethen mit dem Halb-zehn-Uhr-Zug nicht angekommen war, wußte Wilhelm, daß er bis gegen halb zwölf von Ziethen nichts zu fürchten hatte, also ungestraft über die übliche Zeit aufbleiben konnte. Der Wächter sah auch, daß noch Licht in der Gaststube war. Das ist der letzte Zeuge, der mit Wilhelm vor dem Verbrechen gesprochen hat.

Das Licht blieb übrigens noch etwa eine halbe Stunde brennen. Zwischen halb elf und vor elf – in der Voruntersuchung sagte er präziser »um drei Viertel elf« – sah der Zeuge Pietscher, als er durch die Bachstraße kam, in der halbgeöffneten Tür eine männliche Person stehen. Da brannte im Hausflur jedenfalls noch das Licht. Der Wächter Feiber sah das Licht noch bei seinem nächsten Rundgang um 11 Uhr. Der Zeuge Straubel, der um 11 Uhr Feierabend gemacht hatte, kam fünf Minuten nach elf am Ziethenschen Hause vorüber. Da war alles still, aber das Licht brannte noch. Als aber der Wächter nach 11 Uhr wieder bei dem Haus vorbeikam, war das Licht aus. Da die Rolläden in der Wirtsstube heruntergelassen waren, konnte man von draußen nicht sehen, ob in der Wirtschaft Licht brannte; aber das Licht auf dem Vorflur, das bis dahin gesehen worden war, war nun gelöscht.

Im Nachbarhaus, Bachstraße 93, das mit dem Ziethenschen einen gemeinsamen Hof hat, wohnten Frau Lövenich und Frau Dahlmann. Auf diesem Hof stand eine Pumpe, die bei dem Wassermangel, der damals gerade herrschte, ein eigentümlich kreischendes Geräusch von sich gab. Die Hoftür, die aus dem Ziethenschen Hinterraum auf den Hof führte, fiel, wenn sie geschlossen wurde, ebenfalls mit einem sehr charakteristischen Geräusch ins Schloß. Die Nachbarinnen wußten also ganz genau, wenn jemand von Ziethens auf den Hof ging und die Pumpe benutzte.

Frau Lövenich hatte auf die Uhr gesehen, als sie sich zu Bett legte. Es war ein Viertel vor elf. Sie war noch nicht eingeschlafen, als sie hörte, wie die Ziethensche Hoftür geöffnet und heftig gepumpt wurde. Sie hörte das eigentümliche Knarren mit absoluter Deutlichkeit. Nach ungefähr fünf Minuten hörte sie erneut die Pumpe knarren und die Tür schlagen. Sie hat nicht nach der Uhr gesehen, sie glaubte, daß es etwa fünf Minuten nach elf gewesen sei, vielleicht etwas später. Frau Lövenich sagte zu ihrem Dienstmädchen: »Bei Ziethens muß wieder etwas los sein.« Und das Mädchen antwortete: »Es ist jedenfalls Streit.«

Auch Frau Dahlmann hörte zur selben Zeit verworrene Stimmen und Zanken. Sie glaubte zunächst, daß der Skandal vom Engelberg käme, da sich dort die berüchtigsten Lokale der Stadt befinden. Kurz nach 11 Uhr hörte auch sie auf dem Hof die Pumpe gehen, nachdem unmittelbar vorher bei Ziethen die Hoftür hastig auf- und zugemacht worden war.

Wer hatte nun Streit gehabt? Wer hatte die Ziethensche Hoftür auf- und zugeschlagen? Wer hatte die Pumpe kreischen gemacht? Ziethen kann es nicht gewesen sein, er befand sich ja noch im Zug, der, wenn man selbst die für Ziethen ungünstigsten Voraussetzungen annimmt, just um dieselbe Zeit erst in den Elberfelder Bahnhof einfuhr. »Kurz nach elf«, hatte Frau Dahlmann, »fünf Minuten nach elf, vielleicht auch etwas später«, hatte Frau Lövenich gesagt. Um 11 Uhr 08 Minuten hielt der Deutzer Zug aber erst am Elberfelder Bahnsteig. Wilhelm war allein unten mit Frau Ziethen geblieben. Kein anderer kann Streit gehabt, kein anderer die Hoftür geöffnet, kein anderer den Pumpenschwengel in Bewegung gesetzt haben.

Einige Zeit darauf ging der Wirt Schwartmann durch die Bachstraße. Er behauptete, es sei 11 Uhr 20 gewesen, aber er muß sich geirrt haben, so spät kann es noch nicht gewesen sein. Denn um 11 Uhr 20 war es in der Ziethenschen Wohnung schon sehr lebhaft, wie wir später sehen werden. Da stöhnte und wimmerte die unglückliche Frau, da waren Frenzel und Tochter, die Dienstmagd Johanne und andere im Zimmer. Das hätte dem Zeugen, der für alles Auffällige ein offenes Auge und Ohr hat, unmöglich entgehen können. In der Ziethenschen Wirtschaft aber war es, als Schwartmann vorüberging, ganz still. Die Hausbewohner waren also durch Ziethens Rufe noch nicht geweckt, und aus der Wirtschaft kam noch Licht. Der Wächter Feiber hat nun aber, als er zum drittenmal beim Hause vorüberkam, gesehen, daß das Gaslicht »nach elf« ausgelöscht worden war. Um 11 Uhr 20 brannte es jedenfalls nicht mehr, denn die auf der Straße stehenden Zeugen haben gesehen, daß das Gas erst wieder angesteckt wurde, als Ziethen das Haus verließ. Das war aber unbedingt nach 11 Uhr 20. In der Wirtsstube selbst, die nach der Entdeckung des Verbrechens durch die von Ziethen aus der Küche herbeigeholte Petroleumlampe nur mangelhaft beleuchtet worden war, wurde das Gaslicht erst nach Mitternacht auf Anordnung des Arztes angezündet.

Weshalb sind nun diese Zeitbestimmungen für die Beobachtungen des Zeugen Schwartmann so wichtig? Wir müssen festhalten, daß er also zweifellos früher als 11 Uhr 20 an dem Ziethenschen Haus vorübergekommen ist – nach 11 Uhr, das unterliegt keinem Zweifel, denn »alle anderen Wirtschaften hatten schon geschlossen«, vor elf ein Viertel, denn im Hause war alles ruhig und das Licht im Vorflur, das beim dritten Rundgang des Wächters Feiber »nach elf« gelöscht war, brannte noch! Schwartmann hat nämlich um diese Zeit in der Tür des Ziethenschen Hauses einen Menschen in gebückter Stellung mit unbedecktem Kopf die Straße hinauf- und hinunterblicken sehen, der auf ihn den Eindruck eines »Lauernden« machte, »als ob er auf jemand warte oder sich nach jemand umsähe«. Da sich in unmittelbarer Nähe der Haustür eine Straßenlaterne befindet, konnte er ihn gut sehen. »Ziethen war es nicht, den kenne ich!« Schwartmann ging weiter, sah sich aber noch einmal nach dem Menschen um, weil er es als etwas Ungewöhnliches bemerkte, daß die Tür um diese Zeit noch offenstand. Das »frische, rote Aussehen der Person« fiel ihm auf.

Es war Wilhelm. Er hat selbst zugegeben, daß er vor dem Haus gestanden und nach Ziethen ausgeschaut hat Es muß zwischen zehn Minuten nach elf und spätestens ein Viertel zwölf gewesen sein. Eine spätere Zeit ist unmöglich, denn von da an bis Mitternacht war beständig Bewegung vor und in dem Hause. Da waren Polizeibeamte, Wächter, Ärzte, Passanten. Übrigens gibt auch Wilhelm selbst zu, daß er vor das Haus getreten ist, bevor er sich die Stiefel auszog und nach oben ging. Das kann aber nicht nach ein Viertel zwölf gewesen sein, wie wir sogleich sehen werden.

Zeuge Schwartmann, der in seinen Aussagen ungemein präzise ist und durchaus vertrauenswert wirkt, hat also Licht im Vorflur brennen sehen. Um 11 Uhr hatte es auch der Wächter Feiber noch gesehen, »nach elf« hatte er bemerkt, daß es gelöscht war. Man darf daraus schließen, daß Wilhelm, nachdem er von der Straße wieder ins Haus zurückgekehrt war, nun das Licht gelöscht hat. Es ist möglich, daß die Vorgänge sich um einige Minuten verzögert haben können, daß also Wilhelm erst unmittelbar vor 11 Uhr 15 auf die Straße herausgetreten ist und daß er in diesem Falle Ziethen selbst hat kommen hören.

Er löschte also das Gaslicht auf dem Vorflur, zog sich nun die Stiefel aus und schlich auf Strümpfen die Treppe hinauf bis an seine und Vollbergs Schlafkammer. Das Knarren der Stufen wurde gehört, sowohl von Frau Hüßmann, die im selben Stockwerk wohnt – sie hörte »das Knarren der Treppe von unten bis auf die Dachetage« –, wie auch von Frau Henkel, deren Schlafzimmer sich dicht neben der Schlafkammer der Lehrlinge befindet. Sie hörte Wilhelm auf Strümpfen die Treppe heraufkommen, an seine Tür klopfen, die Tür aufgehen, und vernahm dann deutlich, wie Wilhelm die Stiefel, die er offenbar in der Hand getragen hatte, auf den Boden setzte. Beide Zeuginnen stimmen in der Zeitangabe absolut darin überein, daß die Treppe unter den Schritten Wilhelms geknackt hat, kurze Zeit bevor sie das Schreien Ziethens im Erdgeschoß und auf der Treppe hörten.

Auf Wilhelms Klopfen war Vollberg aus dem Schlaf aufgewacht und hatte ihm die Tür geöffnet. Vollberg, der ganz schlaftrunken war, fragte nur: »Ist Ziethen da?« – »Nein«, antwortete Wilhelm, »Frau Ziethen hat mich ins Bett geschickt.« Da schlief Vollberg auch schon wieder ein.

Diese Tatsachen hatten sich ereignet, als sämtliche Hausbewohner Ziethen unten im Hause laut schreien hörten. Die Ankunft des Barbiers in seinem Hause läßt sich beinahe auf die Minute feststellen, und die Zeitbestimmung stimmt mit allen von den Zeugen gemachten Angaben vollkommen überein.

Zeitbestimmungen haben bei gerichtlichen Feststellungen sicherlich immer ihr Mißliches und Trügerisches. In diesem Falle aber drängt alles darauf hin, auf die möglichst genaue Ermittlung der Zeit einer jeden festzustellenden Einzelheit Bedacht zu nehmen. Denn zwischen der Zeit, in der Frau Ziethen von Unbeteiligten, von ihrer Dienstmagd und dem jüngeren Lehrling, noch lebend und gesund gesehen worden ist, und dem Augenblick, da das Haus durch Ziethens Schreckensruf geweckt wird und der erste herbeieilende Hausgenosse Frenzel die Frau mit zerschlagener Hirnschale in der Wirtsstube liegen sieht, liegt ein verhältnismäßig sehr knapper Zeitraum. Gegen halb elf hat der Lehrling Vollberg die Wirtsstube, in der sich nur noch Frau Ziethen und Wilhelm befanden, verlassen. Um dieselbe Zeit hat Wilhelm mit dem Nachtwächter Feiber auf der Straße vor dem Ziethenschen Haus gesprochen. Da war alles ruhig. Da war das Verbrechen also unbedingt noch nicht begangen. Ein Viertel nach 11 Uhr hat Ziethen die Hausbewohner geweckt. Auf diese Dreiviertelstunde, von halb elf bis ein Viertel zwölf, kommt alles an!

Für die Zeitbestimmungen, die hier in Betracht kommen, ist noch folgendes zu bemerken. Für die Elberfelder Ortszeit, die auch in der amtlichen Mitteilung der Königlichen Eisenbahndirektion angegeben worden ist, ist die Elberfelder Rathausuhr maßgebend. Und auf die Rathausuhr hat sich – wie wir noch sehen werden – der wichtigste Zeuge für die Zeitbestimmung berufen. Die andere öffentliche Uhr, die hier in Betracht kommt, ist die an der Lutherischen Kirche, die ebenfalls richtig, das heißt in Übereinstimmung mit der Rathausuhr gegangen sein muß. Bei der Ermittlung der Tatsachen spielt dann noch eine dritte Uhr eine Rolle; es ist diejenige, die in der Ziethenschen Wirtschaft hing. Es ist festgestellt, daß die Lehrlinge diese Uhr zehn Minuten bis eine Viertelstunde vorzustellen pflegten, um früher Feierabend zu haben. Wilhelm hat aus freien Stücken angegeben, daß er auch an dem fraglichen Tag wie gewöhnlich die Uhr vorgestellt habe, und wir werden diese zehn Minuten bei den Angaben, die sich auf die Ziethensche Uhr berufen, in Abzug zu bringen haben und alsdann in der Tat zur vollkommenen Übereinstimmung mit allem übrigen nach der Elberfelder Ortszeit Bestimmten gelangen.

Durch eine wundersam zu nennende Fügung ist im Mordfall Ziethen eine genaue Zeitbestimmung möglich. Der Augenblick, in dem Ziethen in Elberfeld ausgestiegen ist, steht auf die Minute fest. Für die übrigen Zeitbestimmungen sind die schlagenden Uhren des Rathauses und der Lutherischen Kirche maßgebend. Die Zeitangaben, die wir für die entscheidenden Augenblicke unserer Darstellung zugrunde zu legen haben, rühren von vollständig objektiver Seite her: von der Eisenbahndirektion und von den Beamten der Polizei.

Auf die genaueste Feststellung der Zeit drängt im Mordfall Ziethen also alles hin. Wenn der des Mordes bezichtigte Ehemann etwa zehn Minuten, bevor er selbst durch seine Alarmrufe die Hausbewohner von der Tat unterrichtet und die Unglückliche in ihrem Blut gefunden wird, an einem anderen, wenigstens sieben Minuten vom Tatort entfernten Platz gesehen worden ist, wenn ihm also für das Vollbringen der Tat höchstens ein paar, keinesfalls mehr als drei Minuten geblieben sind, dann kommt allerdings alles auf die Minute an! Dann muß die Frage, ob es überhaupt möglich ist, die erwiesenen Tatsachen in den knappen Zeitraum dieser paar Minuten einzuzwängen, äußerste Wichtigkeit erlangen!

Ziethen hatte, wie er sagt, während seiner Fahrt von Köln nach Elberfeld geschlafen. Der fragliche Zug hatte nach der amtlichen Meldung der Königlichen Eisenbahndirektion einige Minuten Verspätung. Um 11 Uhr 08 nachts, nach Elberfelder Ortszeit, hatten die Reisenden, die in Elberfeld abstiegen, den Zug verlassen können. Im Warteraum wurde der Zeuge Krämer von Ziethen, der vom Bahnsteig kam, angerannt, so daß Krämer dem Ziethen, den er genau kennt, zurief: »Kerl, bist du toll?« Damit wissen wir also Ziethens genaue Ankunftszeit. Der Barbier, der, wie er selbst sagt, fröstelte, begab sich nun sehr rasch nach Hause, so daß er vor dem Zeugen Krämer, der gemächlich seines Weges ging, bald einen Vorsprung hatte. Die Entfernung vom Bahnhof Döppersberg bis zur Ziethenschen Wohnung beträgt nach behördlicher Messung siebeneinhalb bis acht Minuten. Unterwegs hatte Ziethen noch einen kleinen Aufenthalt bei Bekannten, die vor einer Wirtschaft standen und über Berlin sprachen. Selbst wenn dieser Aufenthalt ein ganz geringfügiger gewesen ist, selbst wenn er durch sein schnelles Tempo einige Zeit gewonnen hat, so kann er unmöglich früher als 11 Uhr 14 bis 11 Uhr 15 in seiner Wohnung angelangt sein; und diese Zeit wird auch von allen, die von Ziethens Schuld überzeugt sind, als die wahrscheinliche angenommen.

Ziethen fand die Haustür verschlossen. Darüber kann kein Zweifel bestehen, denn die Tür wurde erst später von ihm selbst geöffnet, als er zum Arzt eilte. Er trat also durch die Haustür der Seitengasse ein und gelangte so zuerst in die Küche. Er hörte ein Wimmern. Er entledigte sich in aller Eile des Mantels und eines Paketes, in dem er verschiedene Kleinigkeiten aus Köln mitgebracht hatte, nahm die Petroleumlampe, die in der Küche noch brannte, und eilte nach vorn in das Wirtszimmer. Das Gaslicht fand er gelöscht.

Da lag seine Frau auf dem Boden und wimmerte und stöhnte. Ziethen erklärte, daß er seiner Frau zu Hilfe gesprungen sei, sie aber bei ihrem Anblick vor Schreck nicht habe hochbringen können. Unmittelbar darauf stürzte er jedenfalls wieder hinaus und schrie nach dem Hausmädchen Johanne Tasche. Zwischen dem Augenblick, da die unter Wilhelms Schritten knarrenden Stufen gehört wurden, und dem Rufen Ziethens lag ein Zeitraum von etwa drei Minuten. Dieser Schrei ist, wie man unbedingt hervorheben muß, im ganzen Haus vernommen worden, und so wissen wir also mit großer Genauigkeit, daß es da gerade 11 Uhr 15 bis 11 Uhr 17 war. Damit stimmen auch alle anderen, gänzlich unanfechtbaren Zeitangaben, die wir noch erfahren werden, überein.

»Johanne! Johanne! Schnell, stehen Sie auf! Stehen Sie auf! Meine Frau liegt unten in ihrem Blut!« schrie Ziethen ganz entsetzt unten an der Treppe. Dann lief er wieder ins Wirtszimmer zurück. Nach kurzer Zeit lief er aufs neue die Treppe hinauf und schrie: »Mein Gott! Johanne! Johanne! Stehen Sie auf! Was ist meiner Frau passiert? Sie schwimmt im Blut! Man hat ihr den Hirnschädel eingeschlagen!«

Im ersten Stock arbeitete zu dieser Zeit noch die Tochter des Hausbewohners Frenzel, die junge Witwe Storck, an ihrer Nähmaschine. Sie hatte schon vorher Klagelaute und Wimmern gehört, aber keinen besonderen Wert darauf gelegt, da sie meinte, in der Nachbarschaft weine ein kleines Kind. Als sie den ersten Ruf Ziethens hörte, ging sie ins Nachbarzimmer, in dem ihr Vater schon ein paar Stunden schlief, und weckte ihn. Frenzel, der mit Ziethen auf denkbar schlechtestem Fuß stand, antwortete seiner Tochter: »Laß mich zufrieden! Wir haben mit Ziethens nichts zu tun.« Gleich darauf aber hörte er den zweiten Ruf Ziethens an Johanne, die unmittelbar neben Frenzel ihre Schlafkammer hatte. Nun sprang er doch aus dem Bett und lief im Hemd hinunter; seine Tochter folgte ihm. Als er die unglückliche Frau in der Wirtsstube liegen sah, kniete er nieder und richtete sie hoch, indem er ihren Kopf stützte. Sie wimmerte entsetzlich, brachte aber keinen artikulierten Laut hervor. Frenzel, der also als erster Zeuge Frau Ziethen erblickte, schilderte ihre Lage so: Sie lag auf dem Rücken, und zwar so, daß man einen Teil ihres Körpers nackt sehen konnte. Ihre Röcke waren hochgestreift, ihre Haarzöpfe lagen etwa in Kopfhöhe zwei Fuß entfernt vom Körper auf dem Boden in einer Blutlache. Die Geldtasche war vom Riemen gerissen und lag unweit davon daneben, wo auch einige Geldstücke zerstreut lagen.

Frenzel gab Ziethen den natürlichsten Rat: »Laufen Sie schnell zu einem Arzt!« Ziethen überhörte das entweder oder war zu aufgeregt, um die Aufforderung zu erfassen. Er rannte wie ein Toller im Zimmer umher und fragte einige Male: »Mariechen, wer hat dir das getan?« Als Antwort erhielt er nur stöhnende Jammerlaute.

In der Stube war es ziemlich dunkel. Ziethen wollte das Gaslicht anzünden und steckte ein Streichholz an; er merkte aber, daß der Gashahn geschlossen war. Er öffnete den Hahn, und da er zunächst an Raubmord dachte, war es natürlich, daß er sich nach der daneben befindlichen Geldkassette umsah, in der etwa dreitausend Mark lagen. Er fand sie unversehrt und stellte die Kassette in die Barbierstube. Inzwischen hatte sich Johanne Tasche angezogen, »sehr schnell, aber vollständig«. Sie behauptet, daß das etwas fünf Minuten in Anspruch genommen habe, es wird aber wohl etwas weniger gewesen sein. Sie kam nach unten, und Ziethen fragte, wann sie sich schlafen gelegt habe, dann rief er ihr mit lauter Stimme zu: »Wecken Sie gleich den August!« August Wilhelm ging gewöhnlich nach dem Hausmädchen zu Bett und war nach Ziethens Auffassung vielleicht imstande, nähere Auskunft darüber zu geben, was sich in der Wirtsstube noch ereignet hatte, nachdem Johanne um zehn Uhr zu Bett gegangen war.

Das Mädchen sprang die zwei Treppen hinauf und klopfte an die Tür. Aber Wilhelm antwortete nicht. Sie klopfte darauf noch einmal; und da antwortete Wilhelm, als wenn er aus tiefstem Schlaf erwache. Das war natürlich eine Komödie, denn er konnte noch gar nicht geschlafen haben, man hatte ihn ja erst einige Minuten vorher auf der Treppe gehört, und er hatte sich wohl soeben erst entkleidet. Nun hörte auch Vollberg, der etwa sechs bis sieben Minuten vorher Wilhelm die Zimmertür geöffnet und gleich wieder weitergeschlafen hatte, von den Vorfällen. Er sah, als er aufwachte, Wilhelm entkleidet aufrecht im Bett sitzen, und das Licht in der Kammer, das Vollberg beim Schlafengehen gelöscht hatte, brannte – es war also von Wilhelm entzündet worden. Wilhelm lief nun, bloß mit der Hose bekleidet, nach unten. Vollberg kleidete sich rasch vollständig an und brauchte dadurch etwas längere Zeit. Er sah neben Wilhelms Bett auf dessen Koffer ein Messer liegen, das er genau kannte, weil es seinem Schlafgenossen gehörte. Wilhelm hatte es offenbar in der Hast vergessen. Vollberg schloß das Messer, steckte es in die Tasche und nahm es mit nach unten, um es dort Wilhelm zu übergeben. Als er aber das entsetzliche Schauspiel sah, das sich ihm darbot, als er die Wirtsstube betrat, war er so erregt und ergriffen, daß er das Messer vergaß und es erst später wieder, etwa nach einer reichlichen Stunde, in seiner Tasche entdeckte, als er seine Kammer aufsuchte und sich entkleidete. Er legte es auf denselben Platz, von dem er es weggenommen. Seitdem ist das Messer nicht wieder gesehen worden – es blieb verschwunden.

Als Johanne Tasche, nachdem sie Wilhelm geweckt, zum zweitenmal die Wirtsstube betrat, blickte sie nach der dort hängenden Uhr. Sie zeigte genau halb zwölf. Auch die Witwe Storck bekundet, daß um diese Zeit die Wirtsstubenuhr halb zwölf gezeigt habe. Diese beiden übereinstimmenden Aussagen beweisen, daß die Ziethensche Uhr etwa zehn Minuten vorgegangen sein muß, denn um diese Zeit – etwa zwei Minuten später – kamen zwei Vorübergehende, die Schlag ein Viertel zwölf am Rathaus vorbeigegangen waren, in die Nähe der Ziethenschen Wirtschaft, die fünfeinhalb Minuten vom Rathaus entfernt liegt. Es ist außerdem, wie wir noch hören werden, sicher erwiesen, daß es zur Elberfelder Ortszeit genau halb zwölf war, als Ziethen sich auf seinem Wege zum Arzt an der Lutherischen Kirche befand.

Nun kam Wilhelm. Er machte einen äußerst verlegenen Eindruck und wollte um keinen Preis in die Wirtsstube. Ziethen fragte ihn: »Wann bist du zu Bett gegangen?« Wilhelm antwortete: »Ein Viertel vor elf.« – »Wer war zuletzt hier?« – »Dort steht noch ein Glas! Da hat ein Herr mit einem hellgrauen Mantel gesessen.« – »Lauf schnell zu einem Arzt!« – »Das kann ich nicht, ich habe ja nur meine Hosen an.«

Daraufhin nun stürzte Ziethen davon, nachdem er Wilhelm gesagt hatte, er solle auf die Kassette in der Barbierstube gut aufpassen. Ziethen zündete das Gaslicht im Vorflur an – das sahen die jetzt vor dem Haus stehenden Zeugen – und schloß die Haustür auf. Ziethen rannte davon in Richtung Friedrichstraße, wo der Arzt Dr. Dahmann wohnte.

Diese letzten Vorgänge im Ziethenschen Hause waren auch von der Straße her beobachtet worden. Ziethens Nachbar, der Metzgermeister Funccius, der an dem Abend mit seinen Leuten sehr lange gearbeitet hatte und die Zeit am anderen Morgen zu verschlafen fürchtete, war auf die Straße gegangen, um den Wächter zu rufen. Es ließ sich aber keiner sehen. Er blieb einige Zeit vor seinem Hause, Bachstraße 97, stehen, drei schmale Häuser weit vom Ziethenschen entfernt, und pfiff. Da hörte er den Lärm im Ziethenschen Hause, hörte wimmern, hörte eine laute Stimme, die er mit Sicherheit als die Ziethens erkannte, hörte den Ruf »August!«, hörte eine andere Stimme, die leiser sprach und die er nicht erkennen konnte, sah nach einer Weile zwei Leute des Weges kommen, die an ihm vorübergingen und vor dem Ziethenschen Hause, in dem auch sie den Lärm hörten, stehenblieben. Dann wurde das Haus aufgeschlossen. Ziethen stürzte heraus. Funccius, der mit ihm nichts zu tun haben wollte, blieb vor seinem Haus stehen, hörte aber die Worte, die Ziethen mit den beiden Personen wechselte, die vor seinem Hause stehengeblieben waren. Funccius, der die Gewohnheiten des Hauses kannte und wußte, wie es bei Ziethens zuging, dachte natürlich an eine Schlägerei und daß Ziethen wieder einmal seine unglückliche Frau mißhandelt habe. Er sah in der ganzen Zeit niemand in das Haus hineinkommen, sah nur später Ziethen heraustreten. Die Zeit kann er nicht genau bestimmen, da seine Uhr nicht richtig ging. Wir sind jedoch in der Lage, über den Zeitpunkt von Funccius' Beobachtungen genaue Angaben zu machen. Da er Ziethen nicht in das Haus hat eintreten sehen, kann es nicht vor 11 Uhr 14 gewesen sein. Da er den Barbier das Haus hat verlassen sehen, nachdem er etwa fünf Minuten auf der Straße gestanden hat, muß er etwa ein Viertel zwölf oder kurz danach vor seine Haustür getreten sein.

Auf diese Aussage des Metzgermeisters Funccius hat der Staatsanwalt besonderes Gewicht gelegt und sie als besonders belastend für Ziethen hingestellt. Es ist mir unerfindlich, weshalb. Funccius hat die volle Wahrheit gesagt, aber absolut nichts Neues. Er hat das »August!« gehört, das, wie Johanne Tasche aussagt, Ziethen ihr mit lauter Stimme zugerufen hat, als er ihr den Befehl gab, sofort den Lehrling zu wecken. Er hat die unglückliche Frau stöhnen hören, er hat Ziethens erregte Stimme vernommen, der auf der Treppe laut schreit, der seine Frau fragt, wer sie geschlagen habe, er hat die leisere Stimme Frenzels gehört – alles das sind bekannte Tatsachen, die absolut nichts Belastendes für Ziethen haben.

Die Bedeutung, die der Staatsanwalt der Aussage des Metzgermeisters beigelegt hat, erklärt sich aus dem Mißverständnis, daß man angenommen hat, Funccius sei Zeuge des Verbrechens selbst gewesen und habe gehört, wie Ziethen August Wilhelm, den angeblichen Zeugen von Ziethens Mordtat, gerufen habe und wie dieser dann mit leiser Stimme geantwortet hat. Abgesehen davon, daß diese Zeugenschaft Wilhelms, wie wir später noch sehen werden, eine höchst fragwürdige ist, abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit, daß Ziethen, wenn er der Mörder wäre, so laut schreien und mit Stentorstimme den Zeugen seines Verbrechens herbeizitieren würde, abgesehen davon, daß Ziethen den August Wilhelm so laut ruft, wenn der Junge doch in allernächster Nähe ist, haben auch die Aussagen von Frenzel und seiner Tochter sowie von Johanne Tasche einwandfrei bestätigt, daß Ziethen den Befehl, August zu wecken, mit lauter Stimme gegeben hat. Es ist unzweifelhaft richtig, daß Funccius den Namen »August« gehört haben kann, nur galt der Ruf nicht dem Lehrling, sondern dem Hausmädchen. Funccius' Aussage bestätigt nur bekannte Tatsachen: die arme Frau hat gewimmert, Ziethen hat laut geschrien, Frenzel hat mit Ziethen gesprochen, Ziethen hat nach August verlangt.

Die beiden Leute, die an Funccius vorübergekommen sind und, als sie den Lärm im Ziethenschen Hause gehört haben, stehenblieben, waren Hermann Klees und Frau Heinrichs. Sie sind in bezug auf die Feststellung der Zeit von höchster Wichtigkeit, weil ihre Aussagen unanfechtbar sind. Im allgemeinen ist noch zu bemerken, daß es nicht auffällig erscheinen kann, wenn so viele Zeugen, die in diesem Prozeß aufgerufen worden sind, sich über die Zeitbestimmung mit einer Genauigkeit ausdrücken, die unter anderen Umständen wohl verdächtig wäre. Es war ja gerade die Zeit des Nachhausegehens, des Tagabschlusses, des Schlafengehens; da sieht man eben auf die Uhr. – Klees und Frau Heinrichs waren am Rathause vorübergekommen, als es gerade dort ein Viertel zwölf schlug. Klees überzeugte sich noch durch einen Blick auf die nahe Postuhr, daß er sich nicht in der Zeit geirrt hatte. Die des Nachts beleuchtete Postuhr spielt in Elberfeld etwa dieselbe Rolle wie die der Akademie in Berlin. Es geht wohl niemand vorüber, ohne einen Blick darauf zu werfen.

Vom Rathaus bis zum Ziethenschen Haus braucht man bei gewöhnlicher Gangart etwa fünfeinhalb Minuten. Die beiden Zeugen haben sich nicht aufgehalten. Nehmen wir zuungunsten Ziethens sogar an, daß sie im Plaudern etwas langsamer gegangen sind, so kommen wir immer auf die Zeitbestimmung: zwischen 11 Uhr 22 oder 23 sind Klees und Frau Heinrichs vor dem Ziethenschen Haus angelangt – nicht später. Und das stimmt ganz genau überein mit allen anderen feststehenden Tatsachen. Sie hörten ganz deutlich, wie Ziethen mit lauter Stimme an seine Frau die Frage richtete, wer sie geschlagen habe, wer ihr das getan habe? Als sie ganz kurze Zeit sich dort aufgehalten – nach Klees' Angaben etwa zwei bis drei Minuten –, wurde die Tür von innen aufgeschlossen, nachdem vorher das Licht im Vorflur angegangen war, und Ziethen stürzte heraus. Er rief ihnen zu: »Ich komme eben aus Köln, finde meine Frau mit zerschlagener Hirnschale, will zum Arzt laufen!« Während er in Richtung auf die Karlstraße zulief, traten Klees und Frau Heinrichs in die offene Tür.

Während er lief, schrie Ziethen laut nach einem Wächter: »Wenn man die Polizei sucht, findet man Tag und Nacht keine!« Den Ruf hörten verschiedene Leute, die das bezeugten, auch der Nachtwachtmeister Adam Weinrich, der daraufhin an Ziethen herantrat und ihn fragte, was er eigentlich wolle. »Ich suche einen Wächter!« rief Ziethen. »Sehen Sie mich dafür an«, antwortete Weinrich. »Ach, Herr Wachtmeister«, sagte daraufhin Ziethen, »ich komme eben aus Köln, man hat meine Frau so furchtbar geschlagen! Sie liegt in ihrem Blut, aber sie lebt noch. Nehmen Sie den ganzen Tatbestand auf!« Er bezeichnete dem Wachtmeister seine Wohnung und eilte mit dem Ruf »Ich laufe zum Arzt!« davon. Der Wachtmeister Weinrich gibt die Zeit seines Zusammentreffens mit Ziethen ganz genau und korrekt an: zwischen 11 Uhr 20 und halb zwölf. Er begab sich sofort in die Bachstraße 91.

Von da an hatte Ziethen nur noch einen kurzen Weg zum nächsten Arzt und begegnete dabei dem Wächter Bergmann, den er mit den Worten anrief: »Wächter! Wächter! Auf der Bachstraße findet man keinen Wächter! Ich komme aus Köln, finde meine Haustür verschlossen, gehe durch die Hintertür, und wie ich in die Wirtsstube trete, stolpere ich über meine Frau, die am Boden liegt und in ihrem Blut schwimmt!« Diese Äußerung ist ebenfalls als belastend für Ziethen aufgefaßt worden, weil er gesagt habe, er sei über seine Frau gestolpert, während er doch andererseits angegeben habe, er habe sie stöhnen hören, habe seine Sachen abgelegt und sie dann in der Wirtsstube gefunden. Die Verschiedenheit in diesen Aussagen ist doch wohl so unerheblich, daß es überflüssig erscheint, darauf eingehen zu müssen. Daß Ziethen in seiner wohl begreiflichen Aufregung die Geschichte in der atemlosen Begegnung auf der Straße nicht ganz korrekt erzählt hat, kann doch nichts Auffallendes, geschweige etwas Belastendes sein! Die Begegnung mit dem Wächter Bergmann fand kurz vor halb zwölf statt, etwa 11 Uhr 27 oder 11 Uhr 28, wofür Bergmann präzise Zeitvergleiche hat. Da er jedoch für die Bachstraße nicht zuständig war, begab er sich nicht dorthin, sondern setzte seinen Rundgang fort

Vor der Tür des Arztes Dr. Dahmann in der Friedrichstraße 3 angelangt, zerrte Ziethen furchtbar an der Glocke. Es wurde ihm nicht unmittelbar geöffnet. Der Arzt war nicht zu Hause, und die Frau des Doktors hatte sich schon zur Ruhe gelegt. Die Minuten dünkten ihm eine Ewigkeit. Er schellte aufs neue sehr heftig, so daß ihn die Frau des Arztes, als sie öffnete, fragte, ob er denn verrückt sei. Ziethen machte auf sie den Eindruck eines Wahnsinnigen. Er erzählte ihr etwas von seiner schwer verwundeten Frau, die in den letzten Zügen liege; sie wies ihn mit dem Bescheid ab, daß ihr Mann nicht zu Hause sei, und gab ihm die Adresse des Dr. Hertmanni in der Höchstenstraße 18. Darauf rannte Ziethen nach der ihm bezeichneten Wohnung. Auf dem Wege dahin begegnete ihm der Wächter Bergmann zum zweiten Male, unterhalb der Lutherischen Kirche. Da schlug es gerade halb zwölf. Hier haben wir also die dritte präzise Zeitangabe, die vollkommen mit den übrigen und auch mit allen festgestellten Tatsachen übereinstimmt.

Dr. Hertmanni war zu Hause. Er war gegen 11 Uhr schon einmal geweckt worden, um zu einem Kranken zu kommen. Er hatte jedoch den Boten abgefertigt und war im Bett geblieben. Ziethen schrie ihm entgegen: »Um Gottes willen, gehen Sie mit! Ich komme aus Köln! Ich finde meine Frau im Raubmord erschlagen!« Er machte es so dringlich, daß der Arzt aufstand und sich ankleidete, um sich nach der Ziethenschen Wohnung zu begeben.

Ziethen wartete nicht auf ihn, sondern lief schnellstens nach der Karlstraße zurück. Da wohnte im ersten Stock des Hauses Nr. 28, dessen Erdgeschoß das Ehepaar Hermannspann innehatte, sein Schwager Ernst Härtel. Zwischen ihm und Ziethen bestanden gar keine Beziehungen mehr. Seit Jahren war weder Frau Ziethen bei ihrem Bruder noch Ziethen bei seinem Schwager noch Härtel bei Ziethen gewesen. Der Vorfall im Ziethenschen Hause aber war derart, daß er alle kleinen persönlichen Bedenken vergessen ließ, und es ist ganz natürlich, daß Ziethen, dem das Gewissen schlagen mochte bei dem Gedanken, wie schlecht er die arme Frau behandelt hatte, die jetzt in ihrem Blute lag, zu ihrem Bruder lief. Das Haus war geschlossen. Ziethen klopfte auf die Fensterläden im Erdgeschoß. Hermannspann fragte: »Wer ist da?« Da antwortet die Simme von außen: »Der Ziethen! Ich komme jetzt von Köln. Man hat meine Frau erschlagen. Ich muß zu meinem Schwager Härtel.« Hermannspann und Frau sprangen sofort aus dem Bett, liefen im Hemd hinaus und öffneten Ziethen die Tür. Ziethen stürzte die Treppe hinauf und klopfte an Härtels Tür, aber dieser schlief so fest, daß er nicht wachzukriegen war. Da stieß Hermannspann mit dem Besenstiel unter die Decke, und Härtel erwachte nun. Ziethen wiederholte ihm den Grund seines Kommens und lief davon.

Auch hier ist die Zeitbestimmung vollkommen richtig. Hermannspann sagt: »Als Ziethen klopfte, war es ungefähr ein Viertel vor zwölf.« Er hat sich dort etwa drei Minuten aufgehalten und gegen 11 Uhr 48 das Haus wieder verlassen.

Auf dem Weg von seinem Schwager nach Hause – es sind nur ein paar Schritte – begegnete Ziethen am Schneidepunkt der Karl- und der Bachstraße dem Revierwächter Feiber, den er anrief und in sehr aufgeregtem Ton ebenfalls über den Tatbestand informierte: »Ich komme eben aus Köln und finde meine Frau mit zerschlagenem Kopf.« Der Wächter schloß sich Ziethen sofort an, und die beiden betraten gleichzeitig das Haus Bachstraße 91. Das war also etwa zehn Minuten vor zwölf, eine Minute mehr oder weniger.

Was hatte sich nun in der knappen halben Stunde zwischen 11 Uhr 20 oder 22 bis 11 Uhr 50, während deren Ziethen abwesend war, im Hause ereignet?

In der Wirtsstube waren außer der unglücklichen Frau Ziethen der Hausgenosse Frenzel mit seiner Tochter, das Hausmädchen Johanne Tasche und der Lehrling August Wilhelm zurückgeblieben. Frenzel, der die Schwerverwundete immer noch stützte, rief Wilhelm heran: »Kommen Sie und helfen Sie Ihre Meisterin hochheben!« Wilhelm antwortete: »Ich kann es nicht!« Gleich darauf muß er sich entfernt haben, denn als Klees und Frau Heinrichs nun das Zimmer betraten, fanden sie ihn nicht mehr in der Wirtsstube. Erst nach etwa drei Minuten kam Wilhelm aus der Küche zurück. Er stellte sich eigenartigerweise erneut schlaftrunken und fragte, als er Frau Ziethen mit blutüberströmten Gesicht vor sich sah: »Was ist denn los? Wer ist das? Was ist das?« Dem Hausmädchen Tasche fiel das Benehmen Wilhelms auf, denn sie wußte ja, daß er von den schrecklichen Vorgängen bereits unterrichtet war. »Das kannst du wohl sehen«, sagte Klees zu Wilhelm, »da liegt eure Frau ganz zerschlagen.« Da schlug Wilhelm die Hände zusammen, setzte sich hinten an den Tisch und starrte die Frau an.

Gleich nach Klees und Frau Heinrichs – es kann sich nur um Sekunden handeln – war auch der Schlosser Wilhelm Boos, der vorübergekommen war, in das Haus eingetreten. »Gott sei Dank«, rief Frenzel aus, »daß einer kommt! Wollen Sie nicht einmal die Frau festhalten!«

Bevor noch Boos dem Wunsche Frenzels entsprechen konnte, betrat schon der Polizeiwachtmeister Weinrich das Zimmer, ungefähr zwei Minuten, nachdem Klees und Frau Heinrichs hineingekommen waren. Weinrich war, wie wir wissen, von Ziethen selbst geschickt. Zwei weitere Vorübergehende kamen hinzu. Der Wachtmeister war von dem entsetzlichen Anblick tief erschüttert. Funccius sah ihn gleich darauf ganz verstört das Haus verlassen. »Ach Gott«, sagte Weinrich, »wie sieht das da aus!« Der Schlosser Boos folgte ihm auf dem Fuß und redete ihm zu: »Herr Wachtmeister, nehmen Sie doch den Tatbestand auf!« Nur widerstrebend kehrte der Beamte ins Zimmer zurück und erfüllte seine schwere Pflicht.

Boos nahm nun Frenzel die unglückliche Frau ab und stützte ihren Kopf. Frau Ziethen, die bis dahin nur gewimmert und gestöhnt hatte, schien sich allmählich etwas zu erholen. Der Polizeiwachtmeister Weinrich fragte sie: »Wer hat Sie geschlagen?«

Darauf antwortete Frau Ziethen: »Der Anstreicher.«

»Welcher Anstreicher?«

»Roßbach.«

Die Frage nach dem Täter wurde nun von Weinrich mehrfach wiederholt. Es ist nicht ganz entschieden, wie die Fragen gestellt wurden. Die einen behaupten, der Wachtmeister habe immer nur die Frage gestellt: »Wer hat Sie geschlagen?« Andere behaupten, er habe gefragt: »Hat Sie Ihr Mann geschlagen?«, wieder andere, er habe gefragt: »Hat Sie wirklich der Anstreicher Roßbach oder hat Sie Ihr Mann geschlagen?« Kurz und gut, die Frau antwortete endlich: »Der Ziethen, mein Herr Gemahl.«

Diese Antwort erschien bei den trostlosen ehelichen Verhältnissen als die natürliche, ja, sie wurde allgemein erwartet, und sobald Frau Ziethen ihren Mann, allerdings in einer auffällig gezierten Weise, genannt hatte, waren alle davon überzeugt, daß sie jetzt die Wahrheit gesagt habe. Weinrich zweifelte selbst nicht einen Augenblick daran, daß Ziethen der Täter sei. Der Privatarzt, den Ziethen herbeiholen wollte, genügte dem gewissenhaften Beamten nicht, er schickte zum Kreiswundarzt Dr. Berger, den Klees sofort holte, während zwei andere Personen sich nach dem Rathaus begaben, um dort im Auftrage Weinrichs die Meldung über die Vorfälle zu erstatten.

Das waren die Vorgänge, die sich in der Wirtsstube in der Bachstraße abgespielt hatten, als Ziethen etwa gegen 11 Uhr 50 vom Laufen erhitzt und keuchend, das Zimmer wieder betrat, gefolgt von dem Wächter Feiber. Kaum hatte er den Fuß über die Schwelle gesetzt, so trat der Wachtmeister auf ihn zu und sagte: »Sind Sie der Ziethen? Dann sind Sie verhaftet!« Ziethen fragte: »Warum denn?« Weinrich antwortete: »Wissen Sie, wer der Mörder ist? Sie selbst sind es! Ihre Frau hat gesagt, daß Sie sie ermordet haben!« Ziethen war starr vor Schreck, seine Knie wankten, seine Arme zitterten.

In dem Augenblick, da er abgeführt werden sollte, sprang Wilhelm aus dem Hinterraum hervor und rief: »Wie können Sie das wagen? Mein Meister ist der Mörder nicht!« Das wiederholte er noch einmal. »Ich weiß es genau, daß es mein Meister nicht gewesen ist!« Da versetzte der Wachtmeister: »Wenn du das so genau weißt, daß es Ziethen nicht gewesen ist, dann wirst du wohl wissen, wer es gewesen ist. Du kannst gleich mitkommen.«

Der Wächter Schliepköter, der inzwischen hinzugekommen war, führte Ziethen sofort ab, während der Wächter Feiber August Wilhelm mitnahm. Ziethen begab sich an der Seite Schliepköters direkt nach dem Rathaus, ohne sich umzusehen oder etwas zu reden, während Wilhelm zu dem Wächter Feiber sagte: »Ich muß den Ziethen etwas fragen.« – »Ach was«, entgegnete Feiber, »jetzt wird nicht mehr gefragt!« Wilhelm versuchte auf dem Wege zum Rathaus, noch mehrmals mit Ziethen zu sprechen, was der Wächter jedoch jedesmal verhinderte.

Die Entfernung von der Ziethenschen Wohnung bis zum Rathaus beträgt, wie wir wissen, etwa fünf Minuten. Ziethen dürfte also etwa drei oder vier Minuten vor zwölf auf dem Rathaus eingeliefert worden sein. Und das stimmt wiederum ganz genau überein mit den Angaben der Polizeibeamten, die ihn dort in Empfang nahmen. Der Gefangenenaufseher Hermann Splittgerber sagte: »Es war ungefähr zwölf Uhr, als Ziethen auf die Wachstube gebracht wurde.« Polizeisergeant Holle bestätigte diese Angabe.

Nach Ziethens Verhaftung, etwa um Mitternacht, kam der von Weinrich herbeigerufene Kreiswundarzt Dr. Berger. Weinrich teilte ihm mit, daß der Mörder bereits ermittelt und verhaftet sei. Frau Ziethen erschien dem Kreiswundarzt damals besinnungslos und nicht vernehmungsfähig.

Fünf Minuten darauf kam der von Ziethen gerufene Dr. Hertmanni. In der Wirtsstube hatte bis dahin nur die Petroleumlampe gebrannt. Es war sehr dunkel. Dr. Hertmanni ließ das Gaslicht anstecken. Nun wurde die Kranke erneut nach dem Täter gefragt. Sie machte verschiedene Angaben, nannte ihren Mann, aber auch andere. Beide Ärzte hatten die Überzeugung, daß bei der Schwere der Verwundung die vollkommene Zurechnungsfähigkeit der Frau Ziethen als ausgeschlossen zu betrachten sei.

Auch der Bruder der Verwundeten, Ernst Härtel, war inzwischen hinzugekommen, ebenso die Nachbarin Frau Dahlmann. Die Arzte waren darüber einig, daß Frau Ziethen sofort nach dem Krankenhause zu transportieren sei. Eine Droschke wurde herangerufen, die Frau wurde hineingehoben und zwischen eins und zwei im Städtischen Krankenhaus aufgenommen.

Der von den Vorfällen indessen benachrichtigte Polizeikommissar Gottschalk ordnete die Bewachung des Hauses an. Die Wächter Crefeld und Bünger wachten in der Nacht in der Wirtsstube, die der Schauplatz des fürchterlichen Verbrechens gewesen war. Sie bemerkten auch einen in der Tischlade eingeklemmten Hammer, der das Öffnen des Tischkastens erschwerte. Sie legten diesem Werkzeug aber vorläufig keine besondere Bedeutung bei, da, nach der entsetzlichen Wunde zu schließen, der Schlag mit einem viel wuchtigeren Gegenstand, vermutlich einem Beil, geführt worden war.

Bei dem Gefangenenaufseher Splittgerber und dem Polizeisergeanten Holle wurde also Ziethen von den begleitenden Wächtern eingeliefert, mit ihm Wilhelm. Der Lehrling wurde ohne Befragung oder Untersuchung in eine Zelle gebracht, es kümmerte sich zunächst kein Mensch um ihn.

Ziethen dagegen wurden sogleich alle Gegenstände, die er bei sich hatte, abgenommen: ein Portemonnaie mit etwa sechzig Mark, ein Notizbuch, ein Schlüsselbund, ein kleines Taschenmesser, lauter Gegenstände, die von den Polizeibeamten mehr oder minder aufmerksam geprüft wurden, aber völlig harmlos erschienen. Während diese Gegenstände betrachtet wurden, sagte Ziethen: »Sie erlauben wohl, daß ich mir die Hände wasche?«, drehte den Hahn an der Wasserleitung auf und wusch sich. Ziethen selbst gibt zu, daß er das getan hat, weil er Blut an den Händen gehabt habe; das hat man als stark belastend gewertet, weil Ziethens Mieter Frenzel ausgesagt hat, daß der Beschuldigte seine Frau gar nicht angefaßt habe, man also schließen konnte, daß er sich bei der Ausübung des Verbrechens die Hände blutig gemacht hatte. Frenzels Aussage kann sich aber doch nur auf den Zeitraum beziehen, währenddessen er selbst im Wirtszimmer war. Ziethen ist ja aber schon vor ihm unten gewesen, und es erscheint doch wohl sehr glaublich, daß Ziethen, als er seine Frau auf dem Boden liegen sieht, sie aufzurichten versucht und sich dabei die Hände befleckt hat. Daß er nachher, als Frenzel die Frau hielt, sie nicht mehr angefaßt hat, sondern in diesen wenigen Minuten wie ein Rasender im Zimmer umherlief, auf die Treppe eilte, den Gashahn aufdrehte, das Geld ins andere Zimmer trug, das ist bekannt, und es liegt also auch nicht der geringste Grund vor, etwa die Aussage Frenzels zu bezweifeln. Ziethen hatte sicherlich einige Blutflecken an seiner Hand: wären diese Flecken aber während des Verbrechens an seine Hände geraten, so hätten doch zweifellos auch die Kleider und seine Wäsche Blutspuren zeigen müssen.

Der Kreiswundarzt Dr. Berger hatte sich von der Ziethenschen Wohnung nach dem Rathaus begeben, um den ärztlichen Befund amtlich zu protokollieren. Er ließ sich auch Ziethen vorführen, der ihm von Weinrich als der Mörder bezeichnet worden war, untersuchte dessen Kleidung genau. Er fand nichts Auffälliges, namentlich keine Blutspuren. Wohl aber fand er am Stiefel eine angespritzte gelblichweiße Masse von der Größe einer Erbse, die seiner Meinung nach Gehirnmasse zu sein schien. Dr. Berger legte dem mit Recht keine Bedeutung bei. Es war erwiesen, daß Ziethen in dem Zimmer auf und ab gelaufen war. Der Doktor hatte selbst gesehen, wie da der Boden, mit Blut und Gehirnmasse besudelt war. Es war also ganz erklärlich, daß etwas an den Stiefel gespritzt sein konnte. »Mich selbst«, sagte Dr. Berger bei seiner Vernehmung, »hätte das auch anspritzen können.«

Ziethen wurde nun in seine Zelle gebracht. Inzwischen kamen die beiden Polizeikommissare Gottschalk und Kirchhoff, die von dem Verbrechen in Kenntnis gesetzt worden waren. Sie ließen sich den der Tat Verdächtigen wieder vorführen. Er mußte sich ausziehen. Die Kleider wurden ganz genau untersucht. Auch sie fanden nicht das geringste Verdächtige daran. Die beiden Kommissare besichtigten auch die Gegenstände, die Ziethen abgenommen worden waren. Die Schneide des kleinen Taschenmessers zeigte einige dunkle Flecken, und Ziethen wurde gefragt: »Essen Sie denn Schwarzbrot?« Auch dem Messer wurde von Seiten der untersuchenden Beamten einstweilen keine besondere Bedeutung beigelegt, da die Verwundung des Opfers offenbar nicht von einem Stich mit dem Messer herrühren konnte.

Wilhelm saß noch immer in seiner Zelle, er wurde gar nicht untersucht.

Am andern Morgen begab sich Polizeikommissar Gottschalk in die Ziethensche Wohnung. Er fragte den Lehrling Vollberg: »Habt ihr denn keinen Hammer?« Vollberg bejahte die Frage, und nun machten die Wächter Crefeld und Bünger die Angabe, daß sie einen Hammer in der Schublade gesehen hätten. Da lag der Hammer in der Tat. Er hatte sich gegen eine Seitenwand gestemmt, und man konnte die Schublade nur mit Schwierigkeit öffnen. Auf den ersten Blick ergab sich, daß der Hammer bei dem Verbrechen eine Rolle gespielt hatte. Zwischen Stiel und Eisen waren deutliche Blutspuren zu erkennen. Der Stiel fühlte sich feucht an und war abgeschabt. Am Boden fand man dann auch die dazugehörigen Holzspänchen, die mit Blut getränkt waren. Hammer und Blutspänchen wurden von dem Polizeikommissar beschlagnahmt und in Sicherheit gebracht.

Nun erinnerte sich Gottschalk an das Taschenmesser, das er bei Ziethen gesehen hatte, und jetzt hatte das Messer, das zum Abschaben des Hammerstiels vielleicht gebraucht sein konnte, eine erhöhte Wichtigkeit erlangt. Er begab sich wieder nach dem Rathaus, ließ sich das Messer vorzeigen und besichtigte es nun mit peinlichster Genauigkeit. Da entdeckte er, an der Schneide eingeklemmt, ein für das Auge kaum erkennbares Partikelchen, und der Kommissar glaubte, daß es das Bruchteil eines abgeschabten Spänchens sein könne. Er bezeichnete seinen Fund als ein »Werk der Vorsehung«. Gottschalk ließ sich umgehend Ziethen vorführen und sagte ihm auf den Kopf zu: »Jetzt werden Sie nicht mehr leugnen, daß Sie der Mörder sind! Wir haben an Ihrem Messer ein Holzspänchen gefunden, das mit Blut durchtränkt ist und das Sie von Ihrem Hammer abgeschabt haben!«

Ziethen wußte gar nicht, worauf das hinauswollte. Da er das als Spänchen bezeichnete Partikelchen noch nicht gesehen hatte, vermutete er jedenfalls etwas anderes, etwas Gewichtigeres, und antwortete: »Wenn an meinem Messer sich ein Holzspänchen befindet, das von meinem Hammerstiel herrührt, dann ist es hineingebracht worden, dann ist es gefälscht! Es ist gar nicht möglich, daß an meinem Messer Holz von dem Hammer sein kann. Ich habe das Messer zum letztenmal in Deutz gebraucht, als ich mir eine Zigarre abgeschnitten habe, seitdem nicht wieder. Die Herren, die meine Sachen untersucht haben, hatten es gestern alle erst in der Hand, keiner hat etwas gesehen! Wenn jetzt etwas daran gefunden wird, dann muß es über Nacht jemand darangebracht haben!«

Die Deduktion lag für den, der das Partikelchen nicht gesehen hatte, nahe. Wäre Ziethen das kleine Ding vorgelegt worden, dann würde er nicht – was man ihm wiederum sehr verübelte – die Beamten der Fälschung bezichtigt haben, dann würde er einfach erklärt haben: »Das Ding kann ohne weiteres im Messer gewesen sein. Wie es hineingekommen ist, weiß ich nicht. Was es ist, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur das eine, daß ich den Hammer nicht benutzt und nicht abgeschabt habe und daß das Dingchen also nicht vom Hammerstiel kommen kann.« Das Partikelchen hatte nämlich die Größe von etwa einem Millimeter! Was der Sachverständige bei der mikroskopischen Untersuchung dazu sagt, werden wir noch hören.

Nun wurden auch bei nochmaliger genauester Untersuchung an der Manschette ein paar dunkle Pünktchen entdeckt, von der Größe eines Nadelstichs, so winzig, daß sie bisher den spähenden Augen aller entgangen waren und später bei der Verhandlung umrändert werden mußten, um von den Geschworenen überhaupt erkannt zu werden; sie widersetzten sich endlich ihrer Winzigkeit wegen auch jeder chemischen Untersuchung, so daß die Anklage für ihre Auffassung, daß dies kleine Blutspritzer waren, keinen Anhaltspunkt hat gewinnen können.

Ziethen selbst hatte bisher an einen Raubmord geglaubt, hatte es aber im Laufe der Untersuchung auch als möglich hingestellt, daß Wilhelm die Tat begangen haben könne.

Der Lehrling erfuhr dies durch den Untersuchungsrichter, der indessen auch seine Vernehmung eingeleitet hatte. Da machte Wilhelm plötzlich eine sehr wichtige Aussage, die zu allen seinen früheren Angaben in vollkommenem Widerspruch stand. Er behauptete, daß er Zeuge gewesen sei, wie Ziethen seine Frau mit dem Hammer erschlagen habe. In allen von ihm beschriebenen Einzelheiten der Tat verwickelte er sich in Widersprüche, machte die abweichendsten Angaben; aber in der Hauptsache blieb er dabei: er habe gesehen, daß Ziethen seine Frau mit dem Hammer niedergeschlagen habe.

So hatte man denn die direkte Beschuldigung durch zwei Zeugen: durch das Opfer selbst, das allerdings infolge der furchtbaren Verwundungen in seinen Aussagen nicht ganz zuverlässig war und vieles sagte, was sich widersprach, sodann aber durch einen Augenzeugen, durch den mitverhafteten Lehrling August Wilhelm. Man hatte außerdem, allerdings als einziges Beweismoment, das Partikelchen im Messer.

Es soll durchaus zugegeben werden, daß es einem so brutalen und gewalttätigen Menschen wie Ziethen, der seine Frau braun und blau schlug und eine Liebste in Köln aushielt, zuzutrauen war, seine Frau erschlagen zu haben. Aber wenn die niedrigen Charaktereigenschaften und das wüste Treiben ein Individuum auch zu ruchloser Tat vollkommen qualifiziert, so beweist das doch nun und nimmermehr, daß dieses Individuum das Verbrechen auch wirklich begangen hat. Es bedarf vielmehr noch der besonderen Beweise dafür, daß die Tat unzweifelhaft von ihm und keinem anderen vollführt worden ist. Der allgemeine Hinweis auf die unbestreitbare Wahrheit, daß ein Mann wie Ziethen des Gattenmordes fähig sei, genügt doch nicht, ihn dieses furchtbaren Verbrechens bereits als überführt anzusehen.

Man hat daher Schuldbeweise gesammelt. Man hat die Aussage der sterbenden Frau, die Aussage des mitverdächtigen Wilhelms und das sogenannte Partikelchen als genügende Beweise für diese Schuld angesehen!

Prüfen wir jetzt diese drei hauptsächlichen, ja einzig wirklichen Belastungsmomente.

 

Zunächst haben wir uns mit der Aussage der Frau Marie Ziethen zu befassen.

Eine unglückliche Frau, die mit zerschmettertem Schädel daliegt, wird angesichts des offenen Grabes doch keine so fürchterliche Lüge aussprechen, eine Lüge, die einen Unschuldigen um Leben und Freiheit bringen muß! Sie wird diese fürchterliche Lüge doch nicht mit dem heiligen Eid bekräftigen und mit einem Meineid in die Grube fahren! Das ist doch undenkbar! – In diesem Sinne hat sich der Vorsitzende des Schwurgerichtshofes wiederholt während der Verhandlungen ausgesprochen und dadurch der Aussage der Marie Ziethen, daß ihr Mann sie erschlagen habe, eine schreckenerregende Bedeutung gegeben.

Von den Gutachten der Sachverständigen wird noch zu reden sein: Aber, so war die Meinung der Anklage, spricht nicht schon die Tatsache, daß Frau Ziethen überhaupt hat vom Untersuchungsrichter eidlich vernommen werden können, spricht nicht die andere Tatsache, daß ihr der Priester die Letzte Ölung gegeben hat, allein schon dafür, daß die Frau in der Tat zurechnungsfähig gewesen sein muß? Und wenn dies der Fall ist, so besitzt ihre grausige Anklage an und für sich schon die genügende Beweiskraft, um alle anderen Beweise entbehrlich zu machen!

Nun, die eidliche Vernehmung der sterbenden Frau beweist nichts weiter, als daß der untersuchende Beamte sie allerdings für vernehmungsfähig gehalten hat. Vom Seelsorger darf ich füglich schweigen; bei ihm ist die weitherzige Auffassung vollkommen berechtigt, menschlich und barmherzig. Der Priester, der an das Sterbebett der Kranken gerufen wird, wird ihr die Tröstungen der Religion nicht versagen, wenn er hoffen darf, daß in der Sterbenden auch nur ein letzter Schimmer von dämmerndem Bewußtsein vorhanden ist.

Ganz anders aber der Untersuchungsrichter, zu dessen Beruf es nicht gehört, der Unglücklichen in ihrer letzten Stunde eine Wohltat zu erweisen, der von ihr vielmehr einen Dienst, den er zu fordern allerdings berechtigt und verpflichtet ist, zu begehren hat: die Mitwirkung an der Ermittlung eines Verbrechens im Interesse der Gesellschaft, für den Sieg der Wahrheit.

Aus der Gesamtheit aller Zeugenaussagen, aus den von ihnen berichteten Tatsachen – nicht aus den von ihnen geäußerten Meinungen, die subjektive Kundgebungen sind und keine objektive Bedeutung zu beanspruchen haben – glaube ich nun den Beweis zu führen, daß im Widerstreit der Sachverständigengutachten diejenigen, die die Zurechnungsfähigkeit der Frau Ziethen auf das entschiedenste in Abrede stellen, das Recht getroffen haben. Lichte Momente, in denen etwas Bewußtseinverwandtes in der Unglücklichen aufleuchtete, mögen allerdings vorhanden gewesen sein. Daß aber diese lichten Momente immer nur dann vorhanden waren, wenn die Frau ihren Mann als Mörder bezeichnet hat, das ist dann doch eine Hypothese, deren Wagnis Schaudern erregt!

Verzeichnen wir jetzt in chronologischer Reihenfolge alles, was über die Äußerungen der Marie Ziethen durch Zeugenaussagen bekannt geworden ist.

Der erste, der Frau Ziethen in ihrem Blut sah, der durch Ziethens Alarmschrei herbeigerufene Hausbewohner Frenzel, richtete sie bekanntlich auf und fragte sie: »Wer hat Ihnen denn etwas getan?« Darauf vermochte die Frau nicht zu antworten, sie wimmerte nur und stöhnte.

Nach einiger Zeit kam der Polizeiwachtmeister Weinrich, den Ziethen auf der Straße getroffen und zum Tatort geschickt hatte, in die Wirtsstube und machte sich um die Unglückliche zu schaffen. Er war sich der Wichtigkeit der Frage, die er an Frau Ziethen richten würde, vollkommen bewußt. Er fragte sie zunächst, ob sie sprechen könne, und als sie mit »Ja« antwortete, fragte er weiter, wer das getan habe. »Ich hatte mir Leute herbeigeholt und ihnen gesagt: ›Paßt auf, ich werde sie fragen, wer sie mißhandelt hat.‹« Über die Art und Weise, wie die folgenden Fragen gestellt und die Antworten gegeben sind, schwanken bekanntlich die Angaben der verschiedenen Zeugen. Wir werden alle Versionen geben.

Weinrich fragte nach seiner Aussage: »Wer hat Sie geschlagen?« – »Der Mann.« – »Was für ein Mann?« – »Der Anstreicher Roßbach.« – »Frau Ziethen, haben Sie verstanden? Können Sie sprechen? War es wirklich der Anstreicher Roßbach, der Sie geschlagen hat?« Nach einer halben Minute Pause: »Nein, es war mein Mann, der Ziethen.« Das wiederholte sie dreimal.

Nach Frenzels Angabe fragte Weinrich: »Frau Ziethen, wer hat Sie geschlagen?« – »Der Anstreicher Roßbach.« – »Wer hat Sie geschlagen?« – »Der Anstreicher Roßbach.« – Der Wachtmeister fragte ein drittes Mal. Darauf antwortete Frau Ziethen: »Niemand.« Danach sagte sie dreimal hintereinander: »Mein Mann, der Ziethen, hat mich geschlagen.«

Nach der Angabe von Frenzels Tochter hat Weinrich die dritte Frage so gestellt: »Hat Sie nicht Ziethen, Ihr Mann, geschlagen? Oder wer hat Sie geschlagen?«

Nach Aussage des Hausmädchens Johanne Tasche fragte Weinrich: »Wer hat Sie geschlagen? Ist es nicht Ziethen, Ihr Mann, gewesen?« Und diese Frage hat er drei- bis viermal wiederholt.

Für uns hat die Fragestellung nur eine untergeordnete Bedeutung, da wir die Ansicht vertreten, daß Frau Ziethen überhaupt nicht gewußt hat, was sie sagte, und es also auch gar nicht darauf ankommt, was und wie man sie fragte. Wir konstatieren nur, daß sie zuerst antwortete: »Der Anstreicher Roßbach« und dann erst ihren Mann bezeichnet.

Nach einiger Zeit kam der vom Wachtmeister herbeigerufene Kreiswundarzt Dr. Berger ins Ziethensche Haus. Der Wachtmeister teilte ihm mit, daß Frau Ziethen ihren Mann als den Täter bezeichnet und daß er infolgedessen Ziethen habe abführen lassen. Dr. Berger fragte nun Frau Ziethen wiederum: »Hat Ihr Mann Sie geschlagen?« – »Ja.« – »Womit hat er Sie geschlagen?« – »Mit der Faust.« – »Weiter konnte ich nichts aus ihr herauskriegen; ich wartete noch etwas, weil die Frau nicht klar war, und stellte noch eine Frage: ›Hat ein anderer Mann Sie geschlagen?‹ – Darauf sagte sie ebenfalls: ›Ja.‹«

Wenige Minuten darauf kam der von Ziethen gerufene Arzt Dr. Hertmanni, der an Frau Ziethen dieselbe Frage richtete: »Wer hat Sie geschlagen?« Sie antwortete etwas Undeutliches, das Dr. Hertmanni als »Werner« verstand. Er fragte darauf noch einmal: »Wer?« Darauf antwortete sie: »Er selbst.« Er wiederholte die Frage zum drittenmal und erhielt die Antwort: »Der Wachtmeister.« Darauf fragte Dr. Hertmanni: »Hat Ihr Mann Sie geschlagen?« – »Ja.« – »Hat der Wachtmeister Sie geschlagen?« – »Ja.« – »Die Frau«, schließt Dr. Hertmanni, »war offenbar nicht bei Besinnung. Sie machte fortwährend unzweckmäßige Bewegungen, wischte sich Blut und Gehirnmasse ins Gesicht und mußte mit Gewalt davon abgehalten werden.«

Das sind die Äußerungen der Frau Ziethen in der Wirtsstube, und auf Grund einer dieser Äußerungen ist Ziethen verhaftet worden!

Daß die Frau zu der Zeit geistig vollkommen umnachtet war, kann wohl nicht dem geringsten Zweifel unterliegen. Darüber sind auch die beiden Arzte in vollstem Einvernehmen. Die Verhaftung ist also zunächst erfolgt auf die Aussage einer Person, die sich in dem Augenblick, da sie diese schwerwiegende Aussage machte, in vollkommen unzurechnungsfähigem Zustand befand!

Frau Ziethen wurde nun noch in der Nacht nach dem Krankenhaus übergeführt. Der Arzt des Krankenhauses, Dr. Franz Peters, verband sie. »Ihr Zustand wechselte sehr. Sie war zeitweise unruhig und wollte sich den Verband vom Kopf reißen. Dann phantasierte sie, indem sie leise vor sich hin sang. Zuzeiten verfiel sie in einen Zustand teilnahmsloser Ruhe. Ich habe nicht gehört, daß sie aus eigenem Antrieb gesprochen hätte.« Über den allgemeinen Zustand der Frau Ziethen befragt, spricht sich Dr. Peters dahin aus: »Es schien mir, als ob die Frau schwer besinnlich sei, aber doch auf Fragen, soweit es ihr Bewußtsein zuließ, passende Antworten gab. Daß sie mit klarem Bewußtsein wie ein gesunder Mensch geantwortet habe, das kann ich nicht sagen. Ebensowenig kann ich sagen, daß sie die Tragweite ihrer Antworten kannte. Das Singen war Delirieren. Aus der Beschaffenheit der Wunde ist zu schließen, daß die Frau gewiß nicht bei klarem Bewußtsein wie ein gesunder Mensch gewesen ist.«

Inzwischen war der Polizeikommissar Gottschalk von dem Vorfall unterrichtet worden, hatte sich zunächst aufs Rathaus begeben, die Ziethen abgenommenen Gegenstände betrachtet und ihn selbst genauestens untersucht. Er ging von da nach dem Krankenhaus, um wenn möglich die Frau Ziethen zu sprechen. »Mit der Krankenschwester Johanne Clauberg trat ich ans Bett. Frau Ziethen lag mit geschlossenen Augen da. Auf gestellte Fragen nach dem Täter antwortete sie widersprechend. Sie antwortete verschiedene Namen, einmal den Namen Sturm. (Das war der Name eines früheren Barbierlehrlings, der bei Ziethen gelernt hatte.) Dann zweimal ihren Mann. Die Frau wimmerte und sagte, sie sei mit einem Gegenstand von Funccius geschlagen worden, (Funccius ist der Nachbar, der Metzgermeister.) Ich sollte doch unter der Treppe nachsehen, dort würde man ihn finden. Ich erkannte, daß die Frau verwirrt war, und ging zum Rathaus zurück.«

Der Krankenwärterin Johanne Clauberg gab sie zunächst auf die immer wiederholte Frage nach dem Täter widersprechende Antworten. Sie nannte mehrere Namen, zuerst den Namen Roßbach, dann Funccius. In der Nacht nannte sie den Namen ihres Mannes nicht. Am folgenden Morgen, am 26. Oktober, beantwortete sie die Frage so: »Mein Mann, der Herr Ziethen.« Die Clauberg fragte sie sehr oft, und Frau Ziethen antwortete: »Mein Mann.« Oder auch: »Mein Herr Gemahl.« Die Zeugin fragte: »Wer hat Sie geschlagen?« – oder auch: »Ist es Ihr Mann gewesen, der Sie geschlagen hat?« Einmal so, das andere Mal so. Zu einer späteren Zeit antwortete die Kranke einmal: »Nicht mein Mann.« Die Schwester entgegnete: »Wer hat es denn getan?«, worauf Frau Ziethen antwortete: »Ja, wer soll es denn getan haben?« – »Womit hat man Sie geschlagen?« – »Mit einem Schlüssel.« Ein andermal antwortete Frau Ziethen auch: »Mit einem Hammer«, und zwar freiwillig, nicht auf die Frage: »Sind Sie mit einem Hammer geschlagen worden?«, sondern auf die Frage: »Womit sind Sie geschlagen worden?« Die Krankenschwester sagt: »Ihre Antworten waren nicht immer zutreffend. Sie fing zuweilen an zu singen.« Auguste Probach, die als Kranke in demselben Zimmer des Städtischen Krankenhauses lag, in das Frau Ziethen gebracht worden war, fragte sie ebenfalls mehrfach nach dem Täter. Sie antwortete gewöhnlich: »Mein Gemahl, der Herr Ziethen.« Einmal fragte die Zeugin: »Nicht wahr, Ihr Mann hat Sie geschlagen?« Darauf antwortete Frau Ziethen: »Nein, mein Mann hat es nicht getan.«

Am Nachmittag des Freitags, 26. Oktober, kam die Schwester der Frau Ziethen, Frau Segerath, um die Kranke zu besuchen. Die Schwester fragte: »Mariechen, wer hat dich geschlagen?« Frau Ziethen antwortete: »Das weißt du doch wohl! Der Albert, wie immer!«

Nach Angabe der Frau Probach lag Frau Ziethen gewöhnlich teilnahmslos da und sprach nur, wenn sie gefragt wurde. Die Antworten erschienen der Zeugin richtig. »Sie drückte sich nur eigenartig aus. Ihre Antworten waren zuweilen komisch oder drollig.« Wenn Frau Ziethen zuviel gefragt wurde, gab sie gar keine Antwort mehr. Auf die Frage, womit sie geschlagen worden sei, antwortete sie der Frau Probach: »Mit einem Ochsenziemer.« Zum Essen und Trinken meldete sie sich nicht. »Sie schmeckte so mit dem Mund, dann gaben wir ihr etwas.«

Eine andere Mitkranke, die in demselben Zimmer lag, war die Dienstmagd Marie Schied. Sie bestätigt, daß Frau Ziethen verschiedene Namen genannt und ihren Mann als »Herrn Ziethen, meinen Herrn Gemahl« bezeichnet habe und daß sie auf die Frage ihrer Schwester geantwortet habe: »Der Albert, wie immer.« Sie fügte hinzu, daß Frau Ziethen ihrer Schwester auch gesagt habe, Ziethen habe sie mit einem Stöckchen geschlagen, auch ihr selbst gegenüber hat sie als Gegenstand, mit dem sie verwundet worden sei, ein »Stöckchen« bezeichnet. »Wenn man sie nicht fragte, sprach sie auch nicht. Frau Ziethen sang sehr viel«, beendete Marie Schied ihre Aussage.

Am selben Freitag, dem 26., begab sich auch der Landgerichtsrat Lenders, der die Untersuchung gegen Ziethen leitete, in das Krankenhaus. Er fand Frau Ziethen völlig teilnahmslos. Sie gab auf seine Fragen gar keine Antwort. Der Untersuchungsrichter erkannte daher, daß sie vernehmungsunfähig sei, und zog sich zurück.

Am Sonnabend, am 27. Oktober, gegen Mittag, begab sich der Polizeikommissar Kirchhoff zu Frau Ziethen. Der Beamte hatte keinen Protokollführer bei sich und hat also die Fragen und Antworten zum Teil erst später aus dem Gedächtnis niederschreiben können. Frau Ziethen lag mit geschlossenen Augen im Bett. Er trat heran und sagte: »Ich bin der Kommissar Kirchhoff. Wollen Sie mir antworten?« – »Ja.« – »Hören Sie mich auch?« – »Ja.« Sie behielt die Augen dabei geschlossen. »Frau Ziethen, wollen Sie mir sagen, wer Sie geschlagen hat?«

»Ich weiß es nicht.«

Nach einer kleinen Pause fragte Kirchhoff weiter: »Frau Ziethen, wollen Sie mir sagen, wer Sie geschlagen hat?«

»Das hat mein Herr Gemahl getan.«

»Womit sind Sie geschlagen worden?«

»Ich glaube, mit einem Ochsenziemer.«

»Hatten Sie denn Streit mit Ihrem Mann?«

»O was!«

»Wo waren Sie, als Sie geschlagen wurden?«

»Vorn im Zimmer.«

»Wo kam denn Ihr Mann her?«

»Ich glaube, von hinten.«

»Wo war Ihr Mann denn gewesen?«

»Sie wollen auch alles wissen!«

Auf eine weitere Frage erhielt der Kommissar keine Antwort. Er schrieb inzwischen Fragen und Antworten nieder und ließ die Frau einstweilen in Ruhe. Nach längerer Pause wandte er sich wieder an Frau Ziethen und fragte: »Wo war der Wilhelm, als Sie geschlagen wurden?«

»Ich weiß es nicht.«

»War Wilhelm schon zu Bett?«

»Ich weiß es nicht.«

»Womit hat Ihr Mann Sie geschlagen?«

»Wohl mit einem Schlüssel.«

Auf weitere Fragen erhielt der Kommissar keine Antwort mehr. Er ließ Frau Ziethen durch die Wärterin etwas Wein zur Stärkung reichen, dann fragte er sie erneut: »Haben Sie Ihre Geldkassette auf den Tisch gestellt?«

»Nein.«

»Wo war denn die Kassette?«

»Sie soll wohl im Schoß gestanden haben.«

»Wo waren denn Ihre Gehilfen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Womit hat Ihr Mann Sie geschlagen?«

»Mit einem Schlüssel.«

»Wann kam Ihr Mann nach Hause?«

»Um die Zeit.«

»Hatten Sie denn Streit mit Ihrem Mann, ehe Sie geschlagen wurden?«

»O was!«

»Wo war denn Ihr Mann gewesen?«

»Das weiß ich nicht.«

Es mußte wiederum eine Pause eintreten, während der der Kommissar die von ihm gestellten Fragen und die Antworten, die er darauf erhalten hatte, niederschrieb.

Nach einiger Zeit fragte er weiter: »War der Anstreicher auch in Ihrem Hause?«

»Nein, der war nicht da.«

»Wo waren Sie, als Sie geschlagen wurden?«

»Vorn im Zimmer.«

»Wo war Ihr Mann?«

»Hinten im Zimmer. Er kam nach vorn und guckte umher.«

»Sagte Ihr Mann etwas?«

»Nein, er sagte nichts.«

»War der Wilhelm auch im Zimmer?«

»Ja, der war hinten.«

»Was machte er denn dort?«

»Er räumte auf.«

»Womit hat Ihr Mann Sie geschlagen?«

»Mit einem Ochsenziemer.«

»Woher nahm er denselben?«

»Unter der Treppe.«

Auf weitere Fragen erfolgte keine Antwort, und während der Kommissar seine Notizen machte, begann Frau Ziethen wiederum zu singen. Der Kommissar verstand die Worte: »Was kann das alles nützen! Was purzeln soll, das purzelt doch!« Das übrige war unverständlich.

Welcher Wert diesen Aussagen der Unglücklichen beizumessen ist, braucht kaum hervorgehoben zu werden; man braucht nur aufmerksam dieses »Vernehmungsprotokoll« zu lesen. Frau Ziethen hat nichts als unsinniges Zeug geantwortet, und gleich nach der Unterredung singt sie einen Gassenhauer, ist also im Zustand des Deliriums.

Will man aus diesem Wust von Unsinnigkeiten und Besinnungslosigkeiten nur das eine Moment herausheben, die Antwort: »Mein Herr Gemahl hat mich geschlagen!«, und dieses eine Moment, das schon wegen der prätentiösen Form ernsthafteste Bedenken wachrufen muß, als den Ausdruck der Wahrheit bezeichnen? Will man wirklich diesem Zwiegespräch mit einer halb Besinnungslosen die verhängnisvolle Bedeutung eines irgendwie wesentlichen »Verhörs« zumessen? Das wäre doch furchtbar! Und wirklich – diese Unterredung ist als »Verhör«, als »Vernehmung« aufgefaßt worden!

Am folgenden Tag, am Sonntag, dem 28. Oktober, begab sich der Kreisphysikus Sanitätsrat Dr. Feldmann zu der Kranken. Als er eintrat, fragte er, wie es Frau Ziethen gehe. Man antwortete ihm: »Ziemlich gut. Sie ist gestern vom Polizeikommissar vernommen worden.« Der Doktor trat ans Bett und sagte: »Guten Tag, Frau Ziethen. Ich bin der Doktor Feldmann. Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht.«

»Sind Sie der alte oder der junge?« fragte sie.

»Diese Frage machte mich stutzig«, erklärte Dr. Feldmann bei seiner Aussage vor Gericht. »Sie bewies mir die geistige Tätigkeit der Frau, daß sie nachdachte und überlegte, sie bewies Erinnerungsvermögen und Gedächtnis.« – Das ist vielleicht ein bißchen viel deduziert, vielleicht sogar sehr viel zuviel. Ziethen erklärt auf das bestimmteste, daß er jetzt erst von einem jungen Dr. Feldmann gehört habe und daß seine Frau von einem jungen Dr. Feldmann auch nichts gewußt haben könne. Aber selbst wenn sie es gewußt hat, würde das immerhin wenig zu bedeuten haben.

»Ich bin der alte«, antwortete Dr. Feldmann.

»Ah, der Kreisphysikus«, erwiderte Frau Ziethen.

»Wer hat Sie denn geschlagen?«

»Das hat mein Mann getan. Das hat allein mein Mann getan«, erwiderte sie ruhig.

»Womit?«

»Mit einem Stock.«

»Ich fand mich nun bewogen«, sagte Dr. Feldmann, »zum Untersuchungsrichter zu gehen und ihm mitzuteilen, daß die Frau vernehmungsfähig sei.«

Die Vernehmung wurde also angeordnet und Dr. Feldmann als Sachverständiger zugezogen. Sie begann unmittelbar, nachdem Frau Ziethen die Letzte Ölung erhalten hatte. Nachdem der Priester sie verlassen, traten der Untersuchungsrichter Landgerichtsrat Lenders und Dr. Feldmann ein.

Gleich auf eine der ersten Fragen gab sie eine unsinnige Antwort. Dr. Feldmann, der von der Zurechnungsfähigkeit der Frau überzeugt war, bezeichnet das euphemistisch: »Als sie ihren Mädchennamen nennen sollte, versprach sie sich.« Sie sagte nämlich, ihr Mädchenname sei Dahmen oder Dapper. »Das kann nicht sein«, bemerkte der Untersuchungsrichter. Darauf nannte sie nach einer Weile ihren richtigen Mädchennamen, Härtel.

Nachdem die Formalitäten erledigt und sie darauf aufmerksam gemacht worden war, daß sie gegen ihren Mann nicht auszusagen brauche, bejahte sie die weitere Frage, ob sie gegen ihren Mann Zeugnis ablegen wolle. Über das Verhör liegt folgendes amtliches Protokoll vor:

»Wer hat Sie geschlagen?«

»Mein Herr Gemahl.«

»Womit hat er sie geschlagen?«

»Mit einem Stock.«

»Wohin hat er sie geschlagen?«

»Auf den Rücken.«

»Hat er Sie vielleicht mit einem Hammer geschlagen?«

»Nein, mit einem Stock.«

»Hat er Ihnen mehrere Schläge versetzt?«

»Nein, ich glaube, nur einen.«

»Sind Sie vielleicht nach dem ersten Schlag bewußtlos geworden?«

»Das weiß ich nicht, das kann ich nicht sagen.«

»Wo hat Ihr Mann Sie geschlagen?«

»In der Wirtsstube, Herr Richter.«

»War sonst noch jemand bei Ihrem Mann?«

»Nein.«

»Hatten Sie vorher Streit mit ihm gehabt?«

»Nein.«

»Also schlug er Sie ganz unerwartet?«

»Ja, er schlug mich ganz unerwartet und ohne Ursache ins Gesicht hinein, ohne etwas zu erwarten. Das ging ganz still ab.«

Darauf wurde die Zeugin, wie es das Gesetz vorschreibt, auf die Heiligkeit des Eides aufmerksam gemacht, vor dem Meineid verwarnt und vereidigt.

Zur Stärkung wurde ihr während dieser Vernehmung hin und wieder ein Löffel Rotwein gereicht. Als davon einige Tropfen verschüttet wurden, sagte sie: »Schade, das gibt Fleckchen!« Eine Minute nach der Vernehmung gab sie unverständliche Töne von sich, es schien den Anwesenden, daß sie ein Kirchenlied singe.

Es ist nicht meine Aufgabe, das Rätsel zu lösen, wie man eine Sterbende, die Aussagen wie die hier amtlich festgestellten macht, für zurechnungsfähig erklären und sie hat vereidigen können. Wenn Frau Ziethen in der Tat bei Besinnung gewesen ist, wenn sie unter vollgültigem Eid ihre Aussage gemacht hat, dann beweist das Protokoll, daß sie meineidig gewesen ist. Und das wird man der armen Frau doch nicht auch noch antun wollen!

Wenn ihre Aussage, daß sie keinen Streit mit dem Täter gehabt habe, auf Wahrheit beruht, so muß angenommen werden, daß er sie nach der tödlichen Verwundung noch weiter mißhandelt, ihr den Zopf abgerissen, den Kamm zerbrochen, das Armband abgestreift und die Geldtasche gewaltsam vom Riemen gerissen habe. Das ist doch in höchstem Grade unwahrscheinlich. Aber da es möglich ist, wollen wir diese Frage offenlassen. Für unsere Behauptung, daß, wenn Frau Ziethen mit Besinnung gesprochen und die Bedeutung des ihr abgenommenen Eides begriffen, sie einen wissentlichen Meineid begangen hat, wollen wir uns nur auf die falschen Angaben über die Art ihrer Verwundung und über das Werkzeug, dessen sich der Mörder bedient hat, berufen. Sie will mit einem Stock nur einen Schlag auf den Rücken bekommen haben, ohne vorhergegangenen Streit, und gleich darauf sagt sie, ihr Mann habe sie ohne Ursache ganz unerwartet ins Gesicht geschlagen, »das ging ganz still ab«. Sie ist aber nicht mit einem Stock auf den Rücken geschlagen worden, auch nicht ins Gesicht, man hat ihr mit einem Hammer den Schädel zerschmettert! Das ist die Wahrheit.

Es wird jedermann gestattet sein, bei der Alternative, ob die Frau angesichts des Todes wissentlich die Unwahrheit gesagt und also einen Meineid begangen oder einfach in der Besinnungslosigkeit Unsinniges gesagt habe, sich für das letztere zu entscheiden und aus dieser feierlichen Vernehmung selbst den sicheren Schluß zu ziehen, daß die unglückliche Frau vollkommen unzurechnungsfähig war und daß sie aus diesem Grunde allein gar nicht die Wahrheit sagen konnte, weil sie die Wahrheit gar nicht mehr wußte!

Unter diesen Umständen darf man aber allerdings nicht die Wucht der Anklage dadurch vermehren wollen, daß man, wie der Herr Staatsanwalt, sagt: »Die Frau hat dich, Ziethen, als den Mörder bezeichnet, und sie wird angesichts des Todes nicht die Unwahrheit sagen!« – Nur dieses eine Moment, die Nennung Ziethens als Täter, ist für die Anklage aus der ganzen Vernehmung zu gebrauchen! Alles andere entfällt von selbst, weil es widersinnig ist! Und nur in diesem einen Moment soll die Unglückliche bei Besinnung die Wahrheit gesagt haben?

Nein! Frau Ziethen hat während der ganzen Zeit deliriert, was auch der Sachverständige sagen mag. Wenn eine Frau mit zerschmettertem Schädel daliegt, wenn der Hammer gefunden worden ist mit den Blutspuren und die Frau erklärt, man habe sie auf den Rücken mit einem Stock geschlagen, dann gibt es keinen Sachverständigen der Welt, der mich glauben macht, daß diese Frau bei voller Besinnung die Wahrheit sagt, die Wahrheit überhaupt sagen kann. Und wenn unmittelbar nach solchen Aussagen die Unglückliche anfängt, fromme Lieder zu singen, so ist das Delirium erwiesen.

Um die Aussage der Frau für die Beschuldigung Ziethens nutzbar zu machen, muß man also annehmen, daß die Ärmste nur im ersten Augenblick, nur bei der Beantwortung der einen Frage: »Wer hat Sie geschlagen?«, bei Bewußtsein gewesen ist und die Wahrheit gesagt hat. Bei der Beantwortung der zweiten Frage ist sie selbst nach der Auffassung der Anklage schon nicht mehr bei Besinnung gewesen, denn sonst würde sie nicht haben antworten können: »Mit einem Stock.«

Wir rekapitulieren. Frau Ziethen hat als den Täter angegeben: den »Anstreicher Roßbach«, ihren Mann sehr oft, den sie gewöhnlich als ihren »Herrn Gemahl« oder »Herrn Ziethen« bezeichnet, den »Albert, wie immer«, »Werner«, »ihn selbst«, den »Wachtmeister«, den Nachbarn »Funccius«, den Barbierlehrling »Sturm«. Sie hat gesagt, sie sei geschlagen worden »mit der Faust«, »mit der Hand«, »mit einem Stock«, »mit einem Ochsenziemer«, »mit einem Stöckchen«, »mit einem Schlüssel«, »mit einem Gegenstand von Funccius«, »mit einem Gegenstand unter der Treppe«.

Sie hat endlich gesagt, sie sei »auf den Rücken« und »ins Gesicht« geschlagen worden. Sie hat meist teilnahmslos dagelegen, hat nie gesprochen, ohne gefragt zu werden, hat nicht einmal nach Essen und Trinken verlangt, sondern nur die Lippen bewegt, wenn sie Hunger oder Durst hatte. Sie hat sehr viel gesungen, geistliche Lieder und Gassenhauer. Sie hat ihren Antworten eine »drollige« Form gegeben.

Es kann also nach der Auffassung des Laien nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß die Frau von dem Augenblick der tödlichen Verwundung bis zu ihrem Tode geistig und seelisch vollkommen umnachtet war. »Lichte Augenblicke« hat sie dazwischen allerdings gehabt. Diese lichten Augenblicke sind auch sehr sorgfältig registriert worden. Sie hat einmal der Krankenwärterin, als diese ihr ein Tuch unterlegte und ihr sagte: »Bitte, heben Sie sich hoch!«, geantwortet: »Bitte.« Sie hat dem Arzt, der sie aufforderte, die Zunge etwas weiter herauszustecken, gesagt: »Weiter kann ich nicht.« Sie hat die Frage der Wärterin und der Mitkranken nach ihren beiden Kindern richtig beantwortet. Sie hat ihren Mädchennamen richtig angegeben und buchstabiert. Sie hat den Kreisphysikus an der Stimme wiedererkannt. Sie hat endlich, als etwas Rotwein auf die Decke verschüttet wurde, gesagt: »Schade, das gibt Fleckchen.« Diese Äußerungen beweisen allerdings, daß die Frau in den langen fünf Tagen, die bis zu ihrem Tode verflossen sind, einige hellere Augenblicke gehabt hat. Ich mache mich aber anheischig, von den ersten psychiatrischen und chirurgischen Autoritäten auf die Frage, ob einige vereinzelte vernünftige Bemerkungen die Zurechnungsfähigkeit einer tödlich verwundeten Person auch dann bestätigen, wenn diese Person nebenher das Unvernünftigste, Widersinnigste sagt, die Antwort zu erhalten: Diese helleren Augenblicke beweisen gar nichts; trotz der vereinzelten vernünftigen Bemerkungen ist die völlige geistige Umnachtung sehr wohl möglich.

Wie aber erklärt es sich nun, daß Frau Ziethen gerade ihren Mann immer wieder als den Schläger bezeichnet, während sonst ihre Angaben über die Person des Täters schwanken? Es erklärt sich sehr einfach aus der Tatsache, daß die Frau von ihrem Mann beständig mißhandelt worden war, daß sie, wenn sie auch nur ein dunkles Bewußtsein davon hatte, daß sie von einem tödlichen Schlag getroffen darniederliege, an niemand anders denken konnte als eben an ihren Mann, der sie beständig geschlagen hat. Bei der Frage: »Wer hat Sie geschlagen?« mußte immer zuerst der Name ihres Mannes sich auf ihre Lippen drängen, und am bezeichnendsten ist in dieser Beziehung die Antwort, die sie ihrer Schwester gibt: »Der Albert, wie immer!«

Außer ihrem Mann nennt sie alle möglichen anderen Personen, aber niemals August Wilhelm, den einzigen, der der Tat dringend verdächtig ist, der als der Täter angesehen werden muß, wenn Ziethen den Mord nicht begangen hat. Das muß doch sehr auffällig erscheinen!

Wie erklärt sich nun diese Erscheinung? Sie erklärt sich einfach dadurch, daß sie selbst an die Tat und an den Täter keine Erinnerung bewahrt hat. Es ist eine allbekannte, von den ersten ärztlichen Autoritäten in Dutzenden von Fällen beobachtete und festgestellte Tatsache, daß bei einem Individuum, dessen Gehirn durch ein plötzliches Ereignis stark erschüttert oder verletzt worden ist, auch nach der Genesung die Erinnerung an den entscheidenden Vorfall und an die Vorgänge vorher so vollkommen vernichtet wird, daß sogar der Versuch Dritter, nach der Genesung durch genaue Berichterstattung die Erinnerung wieder aufzufrischen, sich als erfolglos erweist.

Um das Allgemeine auf diesen besonderen Fall anzuwenden: Wenn Frau Ziethen nachweislich wieder in den Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gelangt wäre und wenn man ihr dann ganz genau die Wahrheit erzählt hätte, wenn es beispielsweise wahr gewesen wäre, was Wilhelm später ausgesagt hat, daß der durch Schnapsgenuß sinnlich erregte Lehrbube mit ihr in Streit geraten wäre, mit ihr gerungen, ihr den Zopf abgerissen und sie mit einem Hammerschlag zu Boden gestreckt habe – wenn man ihr das in allen Einzelheiten ganz genau erzählte, so wäre es sehr wohl möglich, daß sie darauf erklären könnte: »Ich weiß von nichts. Ich habe Wilhelm gar nicht gesehen. Ich weiß nichts von einem Streit, nichts von einem Hammer.« Und wenn diese Aussage selbst mit dem heiligsten Eid bekräftigt würde, so würde das noch lange nicht beweisen, daß Wilhelm es nicht gewesen ist, daß er trotz der eindeutig entlastenden Aussage der Frau die Tat nicht doch begangen hätte!

Ich habe mich mit dieser Frage an verschiedene Fachleute gewandt, denen eine ausgesprochene Autorität auf diesem Gebiet allgemein eingeräumt wird. So haben mir Herr Medizinalrat Dr. W. Sander aus Dalldorf, Herr Professor Carl Gussenbauer aus Prag, Herr Oberarzt Dr. Ganser aus Dresden und Herr Professor Dr. von Krafft-Ebing aus Wien meine Anfrage ganz im oben beschriebenen Sinne beantwortet.

Auch aus den Sachverständigenaussagen des Prozesses folgere ich, daß selbst für den durchaus unwahrscheinlichen Fall der Zurechnungsfähigkeit von Frau Ziethen ihrer Aussage über die Person des Täters kein Wert beizulegen und die selbst durch den Eid bekräftigte Aussage der tödlich Verletzten niemals als beweiskräftig angesehen werden kann.

Am 28. Oktober hatte der Untersuchungsrichter an Frau Ziethen die protokollarisch aufgenommenen Fragen gerichtet und die vermeldeten Antworten darauf erhalten. Am 30. Oktober dämmerte die unglückselige Frau von der lebenden Bewußtlosigkeit in den Tod hinüber.

Erst die Obduktion ließ die entsetzliche Schädelverwundung in ihrem ganzen ungeheuren Umfang erkennen. Die Hauptverletzung am Kopf war eine Wunde von 9,3 cm Länge in gerader Richtung nach unten, die bis zur Nasenwurzel reichte. Von dieser Hauptwunde gingen wieder Trennungen aus, von rechts nach links. Die eine Trennung war ein langes Loch von 15 cm Länge und 2 cm Breite! Der ganze Schädel, vom Haaransatz bis zur Nasenwurzel und über die volle Stirnbreite, war zerschmettert. Die Wunde reichte an der rechten Seite bis zur Schläfengegend. Die Ränder waren ungleich und klafften. Wenn man den Kopf schüttelte, fühlte man die Beweglichkeit der Knochen. An der rechten Stelle des Hinterkopfes fand sich auch eine Verletzung von oben nach unten von 3 cm Länge, welche sämtliche Weichteile durchdrang. Bei der innern Besichtigung zeigte sich das Zellengewebe blutig unterlaufen, und nach Beseitigung der Weichteile fanden sich in der Gegend des Stirnbeins, teils gelöst, teils frei, teils in geringer Verbindung, zehn größere und kleinere Knochenstücke. Das größte dieser Knochenstücke war 10 cm lang und 6 cm breit. Daneben fanden sich noch zahlreiche kleinere, einige Millimeter große Knochensplitter vor. Die Verletzung ging bis zu den Augenhöhlen herunter; diese waren zerstört, sogar das Nasenbein war gebrochen. Durch die Öffnung des Schädels hindurch sah man in einen Schlund mit braunrotem Grunde, angefüllt mit einer Schicht schwarzgeronnenen Blutes und Eiter. An der vorderen Seite ragten einige Knochensplitter in das Gehirn hinein. In der Ausdehnung von 5 bis 6 cm war der vordere Teil der beiden Hemisphären des Gehirns mit Blut und Eiter gefüllt.

Wenn sich der Laie den grausigen Befund dieser Verwundung vergegenwärtigt, so wird es ihm schwer begreiflich, wie die Frage, ob eine so verwundete Frau überhaupt bei Sinnen gewesen sein könne, noch zur Diskussion gestellt werden kann!

Die Sachverständigen im Prozeßverfahren sind darüber jedoch geteilter Meinung gewesen.

Der Kreisphysikus Dr. Feldmann hat, wie wir wissen, aus der Frage der Sterbenden: »Sind Sie der alte oder der junge Dr. Feldmann?« und der Antwort, sie sei mit einem Stock geschlagen worden, die Überzeugung gewonnen, daß die geistigen Kräfte der Frau Ziethen noch genügend stark seien, um sie als vernehmungsfähig gelten und ihre Aussage beschwören zu lassen.

Noch viel weiter geht Dr. Pagenstecher, nach dessen Meinung »alle theoretischen Deduktionen vollständig hinfällig sind, wie das ja überhaupt in unserer Wissenschaft der Fall ist«, der sich nur »an die vorliegenden Tatsachen, an weiter gar nichts anderes halten will« und zu der Ansicht gelangt: »Es kann darüber gar kein Zweifel bestehen, daß Frau Ziethen mit Bewußtsein die Fragen beantwortet hat, die an sie gestellt worden sind.« Die radikale Auffassung wird allerdings von diesem Sachverständigen allein vertreten.

Der Sachverständige Dr. Hermann Künne glaubt, daß bei Frau Ziethen, wie das die Signatur solcher Zustände sei, ein durchgehend schlafsüchtiger Zustand vorgeherrscht habe, dazwischen aber lichte Momente eingetreten seien. »Man kann wohl sagen: Es ist fast undenkbar, fast unmöglich, daß Bewußtsein vorhanden ist; aber man kann nicht mit Bestimmtheit den Schluß bilden, daß der Verletzte geistig unzurechnungsfähig sei. Um den Geisteszustand zu beurteilen, sind einzelne Äußerungen nicht maßgebend, denn gewisse Wortbilder können sich im Gehirn so festsetzen, daß sie durch eine gestellte Frage mechanisch reproduziert werden«, sagt dieser so gewissenhafte wie vorsichtige Sachverständige.

Viel weiter geht der als Sachverständige ebenfalls gehörte Kreiswundarzt Dr. Berger, der von dem Polizeiwachtmeister zuerst herbeigerufen wurde und Frau Ziethen unmittelbar nach dem Verbrechen gesehen hat. Während sie im Krankenhaus war, hat er sie nicht aufgesucht, wohl aber der Obduktion beigewohnt. Er sagt folgendes: »Die Verletzung ist von solcher Bedeutung gewesen, daß durch sie überhaupt das Denkvermögen bedeutend eingeschränkt werden mußte, daß die Frau überhaupt in einem unzurechnungsfähigen Zustand war. Sogenannte lichte Augenblicke beruhen auf subjektiven Anschauungen. Ich habe keine gesehen. Wenn ich nun den Schädel sehe und das Protokoll der Obduktion dazu nehme, dann sage ich: Frau Ziethen war unzurechnungsfähig, das Gehirn konnte nicht funktionieren.«

Der Kölner Kreiswundarzt Dr. Schmitz, der nur dem ersten Verhandlungstag beiwohnen konnte, dann wegen Erkrankung protokollarisch vernommen werden mußte, gibt sein Gutachten wie folgt ab: »Was den Geisteszustand der Frau Ziethen betrifft, so müssen die im Obduktionsprotokoll beschriebenen Verletzungen, gerade die des Zentralnervensystems, unbedingt eine Störung der geistigen Funktionen zur Folge gehabt haben. Es ist wohl möglich, daß lichte Momente vorgekommen sind, sie mußten aber ebenso rasch wieder schwinden, denn hin und wieder vorkommende klare Momente sind die Signaturen solcher geistigen Zustände. Die Größe der Verletzungen läßt nach gerichtsärztlichen Erfahrungen und klinischen Beobachtungen mit aller Bestimmtheit den Schluß gerechtfertigt erscheinen, daß das Bewußtsein der Frau, als sie die Antworten auf die gestellten Fragen, wenn auch scheinbar richtig, gegeben hat, ein klares und ungetrübtes nicht gewesen ist.«

Der Direktor der Irrenverpflegungsanstalt zu Dalldorf, Medizinalrat Dr. Sander, erklärte: »Ich bin der Überzeugung, daß die Aussagen der Frau Ziethen absolut ohne jede Bedeutung waren und daß sie mit demselben Verständnis wie ihren Mann bei geeigneten Fragen mich oder einen anderen als Mörder bezeichnen könnte.«

Ähnlich urteilt auch Herr Dr. Ganser aus Dresden, der die Ansicht vertritt, daß Frau Ziethen gar nicht gewußt habe, daß sie tödlich verletzt sei, und daß sie die immer wieder an sie gerichtete Frage: »Wer hat Sie geschlagen?« vielmehr auf die früheren Mißhandlungen, die sie von ihrem Mann erduldet hatte, bezogen hat. »Sie hat diese Frage nicht in dem Sinne verstanden, wie sie gemeint war; sie konnte sie nicht verstehen, weil sie von dem Faktum, auf welche sie sich bezog, nichts wußte.«

Herr Professor Kraft-Ebing erklärt dazu: »Die Aussage der Frau Ziethen als einer Sterbenden, Delirierenden hat für mich gar keinen Wert. Ihre Aussage: ›Ziethen, mein Mann!‹ ist reine Echosprache.«

Es erscheint dem Unbefangenen kaum faßbar, wie man aus all diesen schwankenden und unrichtigen Angaben, sowohl über die Person des Täters wie über die Tat selbst, gerade diejenigen heraussuchen kann, die Ziethen als den Täter bezeichnen, um zu sagen: Auf all die anderen Äußerungen der armen Frau kommt es hier nicht an, da hat sie sich eben geirrt; in diesem einen Punkt aber hat sie die Wahrheit gesagt, denn angesichts des Todes wird sie doch nicht lügen! Die Beschuldigungen der Frau Ziethen, dies glaube ich hiermit bewiesen zu haben, belasten den Ehemann ebensowenig wie den Anstreicher Roßbach, den Wachtmeister und all die anderen, die mit dem Verbrechen nichts zu schaffen haben.

Wir wollen uns nun mit dem einzigen Überführungsstück, das die Anklage beizubringen vermocht hat, beschäftigen, dem einzigen Objekt, das den unmittelbaren Zusammenhang Ziethens mit der Tat erweisen soll. In dem dem Angeklagten abgenommenen Messer hat man, nachdem die Abschabung des Hammerstiels festgestellt worden war und dadurch die allergenaueste Untersuchung dieses Messers, das bei der Abschabung vielleicht gedient haben mochte, geboten erschien, verschiedene winzige Körperchen entdeckt. Man hat auch bemerkt, daß an der Schneide des Messers, und zwar an dem durch die Schale gewöhnlich geschützten Teil, schwarze Fleckchen waren. Bei der ersten Betrachtung des Messers hatte man diese Kleinigkeiten übersehen, ihnen jedenfalls keinen Wert beigelegt. Nun wurde das verdächtig gewordene Messer dem Apotheker am Krankenhaus, Lehn, zu sachverständiger Untersuchung von Staatsanwalt und Untersuchungsrichter übergeben.

Nach dem Bericht der »Elberfelder Zeitung« erklärte der Sachverständige, Apotheker Lehn, er habe ungefähr in der Mitte des Messers, an der Schneide klebend, ein rötliches, nicht vertrocknetes Körperchen in der Größe einer Linse von etwa 3 mm entdeckt, das er mit Hilfe des Mikroskops als Blut konstatiert habe. Dr. Feldmann erklärte später, daß die Blutkörperchen eine runde Form hatten, und diese Form hätte das Blut der Menschen mit dem der Säugetiere gemein; es könne also kein Sachverständiger mit Bestimmtheit Säugetier- von Menschenblut unterscheiden. Hier würde die Wahrscheinlichkeit, daß Ziethen mit dem Messer einmal Fleisch geschnitten habe, das Vorhandensein eines solchen Körperchens schon erklären können. Am wichtigsten ist das zweite Partikelchen. Apotheker Lehn erklärt dazu: »Nach dem Griff des Messers zu fand ich ein 1 bis 1,3 mm langes Partikelchen, welches sich unter dem Mikroskop als Holz herausstellte, und zwar nehmen wir keinen Anstand, dieses als Holz von dem Stiel des Hammers zu erklären.« Außerdem fand sich noch »an dem Winkel des Messers ein kleines Partikelchen«, in bezug auf welches der Herr Untersuchungsrichter besonders fragte, ob dasselbe von demselben Holz wie das Holz an dem Stiele des Hammers wäre. Das Ergebnis war, daß dieses Partikelchen kein Holz, sondern »ein Teilchen einer Roggen- oder Weizenähre« war.

Demgegenüber wird in dem gerichtlichen Bericht das Gutachten des Sachverständigen in folgender Weise wiedergegeben. Auf die dem Apotheker vorgelegte Frage: »Ist das an der Schneide der großen Klinge des Taschenmessers klebende Partikelchen und das an der Seitenfläche klebende Partikelchen Holz, eventuell Holz von dem Stiele des Hammers oder frisches Menschenblut?« antwortete Lehn: »Ich erkläre, daß diese beiden Partikelchen Holz von dem Hammerstiele sein müssen. Auch hieran habe ich Blutgerinnsel gefunden.«

Die von der »Elberfelder Zeitung« gegebene Version hat entschieden mehr Wahrscheinlichkeit für sich, es ist doch kaum anzunehmen, daß ein Berichterstatter sich alle die von der »Elberfelder Zeitung« gemeldeten Einzelheiten aus den Fingern gesogen haben könne.

Demnach wären also drei Körperchen am Messer gefunden worden: ein linsengroßes, das als Blut konstatiert worden ist – als Blut, das aber auch von einem Säugetier herrühren kann und das daher von der Anklage nicht weiter berücksichtigt worden ist –, ferner das mikroskopisch untersuchte Partikelchen »von etwa 1 mm Größe«, das Holz sein und Blutspuren aufweisen soll, und endlich das dritte, das gar nicht in Betracht kommt, da es von einer Kornähre herrührt.

Nun ergeben sich noch immer folgende seltsame Widersprüche. Das kleine Dingchen, das der Polizeikommissar Gottschalk am Messer entdeckt hat, ist offenbar nicht dasselbe gewesen, das der Apotheker als »Holz« bezeichnet hat. Das Körperchen, das der Kommissar Gottschalk fand, saß »unmittelbar in der Hülle, in dem sogenannten Kreuz«. Es kann also, wenn wir richtig verstehen, nur das dritte sein, das der Sachverständige aufzählt, »an dem Winkel des Messers«, wie er sich ausdrückt, und das ist eben ein Teilchen von einer Roggen- und Weizenähre gewesen. In diesem Falle würde der Kommissar Gottschalk unrecht gehabt haben, dieses Partikelchen als ein Zeichen der Vorsehung zu bezeichnen!

Das von Gottschalk entdeckte Körperchen »saß so fest, daß ich es kaum abbringen konnte«. Demnach scheint er doch den Versuch gemacht zu haben, es mit dem Nagel oder sonstwie zu entfernen, und das läßt doch darauf schließen, daß es schon seit ziemlich langer Zeit am Messer saß. Der Satz: »Es saß so fest, daß ich es kaum abbringen konnte«, läßt wiederum keine andere Deutung zu, als daß es dem Kommissar schließlich doch gelungen ist, es abzubringen! Woher kommt es nun, daß es der Sachverständige wieder »am Messer klebend« findet?

Als belastend kann also nur das zweite Partikelchen angeführt werden, das der Sachverständige beschrieben hat und das ein losgelöstes Teilchen des vom blutbefleckten Hammer abgeschabten Holzes sein soll. Wie Probieren über Studieren geht, so geht die Anschauung über die Schilderung. Wir müssen unseren Lesern vor Augen führen, wie groß das Überführungsobjekt, dieses sogenannte Partikelchen, in Wahrheit gewesen ist. Man schaue sich auf einer Maßeinteilung einmal die Strecke an, die ein Millimeter einnimmt! Ein kaum sichtbares Pünktchen!

Hätte man Ziethen dieses winzige Ding in natura vorgelegt und ihm gesagt: »Das ist an Ihrem Messer gefunden worden«, so wäre er niemals auf den törichten Einfall gekommen zu erklären, man habe Beweisstücke zu seinen Ungunsten gefälscht und den vom Hammerstiel herrührenden Holzspan künstlich in das Messer hineingebracht.

Ziethen, der das winzige Beweisstück nicht gesehen hat, dem man darüber nur berichtet, hat sich offenbar eine ganz falsche Vorstellung von der Beschaffenheit dieses Objekts gemacht. Wie jedermann, dem man sagt, man habe im Messer ein »blutgetränktes Spänchen vom Holze des Hammerstiels« gefunden, glauben muß, daß es sich um ein Holzteilchen handelt, dessen Größe und Aussehen die Beschuldigung rechtfertigt, so hat auch Ziethen geglaubt, daß es sich um ein deutliches Beweisstück handele. Daher sein Ausruf: »Fälschung!« Von Fälschung kann selbstverständlich nicht die Rede sein, und diese Tatsache wiederum hat sich die Anklage voll zunutze gemacht. Hätte man Ziethen das winzige Dingelchen gezeigt, so würde er ohne weiteres die Möglichkeit zugegeben haben, daß das an seinem Messer gewesen sein könne, wenngleich er nicht wisse, was es sei. Ein solches Ding findet man nach meiner Überzeugung nämlich in jedem Messer, das in Gebrauch ist. Man klopfe nur einmal die Schale aus. Jedermann kann den Versuch zu jeder Zeit machen. Man nehme sein Taschenmesser, öffne die Klinge und klopfe es gehörig aus, und man wird unter zehn Fällen neunmal unbestimmbare kleine Körperchen von der Größe des hier so wichtig gewordenen winzigen Partikelchens vorfinden, über deren Ursprung und Beschaffenheit man sich keine Rechenschaft geben kann. Ich glaube nicht, daß ein Mensch imstande ist zu erklären, auf welche Weise sich solche Körperchen in ein Taschenmesser einnisten. Dazu kommt, daß Ziethen Barbier ist; er schröpft, er zieht Zähne, er ist außerdem ein Raufbold und hat nachgewiesenermaßen blutige Schlägereien gehabt. Es kann also der Zufall sehr wohl gefügt haben, daß von seinen Händen an dieses winzige, kaum erkennbare Ding sogar Menschenblut herangekommen sein könnte. Es kann aber auch Tierblut gewesen sein; er hat vielleicht mit dem Messer Wurst geschnitten. Hierzu sei auch gleich noch bemerkt, daß später auch der Polizeikommissar Gottschalk zugegeben hat, daß das Partikelchen im Messer möglicherweise durch einen Zufall an die Klinge geraten sein könne.

Ziethen war nämlich auch Vogelfänger. Da ist es also mehr als wahrscheinlich, daß er häufig im Walde Holz geschnitten hat, und es wäre gar nicht verwunderlich, wenn ein kleines Stückchen eines abgeschnittenen Zweiges am Messer haftengeblieben wäre.

Hat es nicht etwas Tragisches und Fürchterliches, daß man für die Beibringung einer Wunde, die eine Hand lang und so breit gewesen ist, daß man den Finger hineinlegen konnte und aus der das Blut sich in Strömen ergossen hat, gegen den Täter nur das Partikelchen von 1 mm Größe und einige noch winzigere Pünktchen auf der Manschette, von denen man nicht einmal hat nachweisen können, daß es sich um Blutspritzer handle, als einzige und alleinige Beweismittel hat beibringen können?

Wenn man den Geschworenen die Pünktchen auf der Manschette gezeigt und ihnen gleichzeitig gesagt hat: »Im übrigen hat sich von dem in Strömen geflossenen Blut an der gesamten Kleidung und an der Wäsche des Angeklagten auch nicht das geringste kleinste Tröpfchen gezeigt, und ob diese Pünktchen von Blut herrühren oder harmlose Fleckchen sind, wie sie sich bei genauer Betrachtung auf der Wäsche so häufig vorfinden, hat in keiner Weise konstatiert werden können« – wenn man den Geschworenen das 1 mm große Körperchen, das im Messer gefunden worden ist, vorgelegt hat und wenn diese beiden alleinigen Beweisstücke ausgereicht haben, um den Angeklagten der Schuld zu überführen, daß er seiner Frau mit furchtbaren Hammerschlägen den Schädel in grausigster Weise zerschmettert und dadurch ihren Tod herbeigeführt habe, dann muß ich sagen: Ich stehe vor einem unaufgeklärten Rätsel!

Und weiter hat absolut nichts entdeckt werden können, was irgendwie geeignet erschiene, Ziethen durch ein sachliches Beweisstück mit der Tat in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Aus diesem mit dem bloßen Auge kaum wahrnehmbaren, jedenfalls in seiner Beschaffenheit nicht erkenntlichen Teilchen Holz hat der Staatsanwalt in einer wahrhaft großartigen Hyperbel »die Brücke geschlagen vom Angeklagten zum Hammer, vom Hammer zur Tat«. Man vergegenwärtige sich die Winzigkeit eines 1 mm großen Partikelchens: Das ist die Brücke, auf der die Anklage zum Nachweis des Verbrechens geschritten ist!

Und das also sind die einzigen wirklichen Belastungen: die Aussage einer Frau mit zerschmettertem Schädel, deren Zurechnungsfähigkeit, gelinde gesagt, den allerstärksten Zweifeln unterliegt, und das mit dem Mikroskop herbeigeschaffte Partikelchen, das seinem Umfang und seinem Fundort nach die genaue Bezeichnung seines Ursprungs und seiner Beschaffenheit auf alle Fälle als überaus mißlich erscheinen läßt.

Nun mag zugegeben werden, daß sogar das Lallen einer halb Bewußtlosen und ein kaum erkennbares Atom zur Unterstützung anderer, sehr schwerwiegender Schuldbeweise herangezogen werden und so eine ernsthafte Bedeutung gewinnen könnten; daß sie aber als alleinige Beweise für die Schuld eines Angeklagten sprechen sollen, das erscheint dem ruhig und unbefangen Prüfenden kaum faßlich.

Und wenn nun gar zugunsten des Angeklagten geltend gemacht werden kann, daß alle übrigen Umstände durch und durch nur für seine Unschuld zeugen, alle Aussagen der schwersten Belastungszeugen ohne irgendwelche Ausnahme, dann darf man in der Tat mit vollster Bestimmtheit behaupten: Diese einzigen wirklichen sogenannten Schuldbeweise, diese Aussage der Frau Ziethen, dieses Partikelchen am Messer – sie beweisen gar nichts, überhaupt nichts, sie zerflattern wie Spreu im Winde!

Wir wollen uns nun den Umständen zuwenden, die für den Angeklagten sprechen und die im Verlauf der Verhandlungen nicht zu der Schärfe der Beachtung gelangt sind, die erforderlich gewesen wäre, um zu erkennen, daß Ziethen für die Zeit des Verbrechens ein Alibi besitzt.

Wenn man nicht annimmt, daß alle Zeugen Unrichtiges gesagt haben, daß auch diejenigen, die gegen den Charakter und die Handlungen des Angeklagten berechtigten Abscheu hegten, unwissentlich zugunsten des Beschuldigten ihre beeidigten Aussagen vor Gericht gemacht haben, wenn die Zeugenaussagen in ihrer Gesamtheit und in ihren Einzelheiten zutreffend sind, so kann Ziethen die Tat nicht begangen haben. Es ist real unmöglich.

Ziethen ist zur Zeit, da die Tat verübt worden ist, nicht am Tatort gewesen!

Dafür gibt es allerdings nur einen Zeugen: die Uhr. Aber die betreffenden Minuten nach der Elberfelder Ortszeit sind ganz genau festgestellt. Wir nehmen nicht die schwankenden Angaben der Privaten, wir berufen uns lediglich auf die amtliche Meldung der Königlichen Eisenbahndirektion, auf die Rathaus- und die Postuhr, auf die Uhr der Lutherischen Kirche. Danach steht, wie wir gesehen haben, folgendes fest:

11 Uhr 8 Minuten: Die in Elberfeld aussteigenden Reisenden verlassen auf dem Döppersberger Bahnhof den Zug aus Deutz, den Ziethen benutzt hat.

11 Uhr 15 Minuten: Die Rathausuhr schlägt ein Viertel zwölf, als Klees und Frau Heinrichs auf dem Wege nach der Bachstraße vorübergehen. Klees überzeugt sich durch einen Blick auf die nahe gelegene Postuhr, daß er die Viertelstunde hat richtig schlagen hören.

11 Uhr 30 Minuten: Die Uhr der Lutherischen Kirche schlägt halb zwölf, als der Wächter Bergmann Ziethen vorüberlaufen sieht.

Dazu rechnen wir noch als letzte Zeitangabe, die das Drama abschließt, die Angabe der beiden Polizeibeamten auf dem Rathaus: »Gegen 12 Uhr.« Ziethen wird als Gefangener eingeliefert.

Nehmen wir nun die für Ziethen denkbar ungünstigste Berechnung. Ziethen soll den Weg vom Bahnhof nach seinem Haus, der nach der amtlichen Schrittabmessung siebeneinhalb bis acht Minuten in Anspruch nimmt, durch starke Beschleunigung der Gangart sogar in sechs Minuten zurückgelegt haben. Demnach Ankunft Ziethens vor seinem Haus 11 Uhr 14.

Er legt seine Sachen ab. Er sieht seine Frau im Blut liegen. Er stürzt hinaus, ruft auf der Treppe die Magd Johanne Tasche. Er läuft in die Wirtsstube zurück. Da das Mädchen nicht gleich kommt und ihm jede Minute eine Ewigkeit dünkt, läuft er wieder auf die Treppe und ruft zum zweitenmal. Auf diesen Ruf eilen Frenzels herbei. Frenzel fordert Ziethen wiederholt auf, zum Arzt zu gehen. Inzwischen hat sich Johanne Tasche vollständig angezogen und kommt nach unten. Kurze Unterredung. Er schickt sie sogleich hinauf nach dem obersten Stock, um den Lehrling August Wilhelm zu wecken. Wilhelm antwortet nicht. Die Magd muß wiederholt rufen und klopfen. Sie eilt wieder nach unten. Wilhelm folgt ihr. Ziethen richtet verschiedene Fragen an ihn, empfiehlt ihm, auf die Kassette zu achten, steckt das Gaslicht auf dem Flur an, öffnet die Haustür, um zum Arzt zu laufen. Vor der Tür findet er Klees und Frau Heinrichs, die am Rathaus vorübergekommen sind, als es ein Viertel zwölf schlug. Die Entfernung vom Rathaus bis zur Ziethenschen Wohnung beträgt fünf bis fünfeinhalb Minuten. Sie sollen meinetwegen plaudernd langsamer gegangen sein und sechs bis sieben Minuten gebraucht haben. Sie sollen außerdem noch zwei bis drei Minuten vor der Tür gewartet haben. Dann hätten sie also zwischen 11 Uhr 23 und 11 Uhr 25 Ziethen in der geöffneten Haustür getroffen. Nehmen wir den Durchschnitt an: 11 Uhr 24.

Ein späterer Zeitpunkt ist unmöglich, da um halb zwölf Ziethen bereits vom Wächter Bergmann an der Lutherischen Kirche gesehen wurde und schon vom ersten Arzt kam; und auch diese Zeitangabe ist unumstößlich. Danach blieb Ziethen noch wenigstens zwanzig Minuten unterwegs – er lief nach der Höchstenstraße, rief den Arzt, weckte dann seinen Schwager, so daß er etwa 11 Uhr 50 wieder seine Wohnung betrat. Dort wurde er sofort verhaftet und nach dem fünfeinhalb Minuten weit entfernten Rathaus abgeführt und kam also – da bei der Abführung sicherlich keine Minute verlorengegangen ist – gegen 12 Uhr in der Wachstube an, genau wie es die beiden Beamten angeben.

Diese Zeiten stehen also unerschütterlich fest:

11 Uhr 14 Minuten Ankunft im Haus,

11 Uhr 24 Minuten Verlassen des Hauses,

11 Uhr 30 Minuten an der Lutherischen Kirche,

11 Uhr 50 Minuten Rückkehr und Verhaftung.

Verrückt man eine derselben auch nur um wenige Minuten, so ist es geradezu unmöglich, daß sich die festgestellten Ereignisse zur festgestellten Zeit haben zutragen können.

Den Anfang und das Ende dieses kritischen Zeitraums, von Ankunft des Deutzer Zuges in Elberfeld bis zu Ziethens Verhaftung, läßt sich somit auf die Minute durch untrügliche Zeugenaussagen feststellen, und wenn der Herr Staatsanwalt sagt, daß die »fünf Minuten, in denen das Verbrechen begangen sein könne«, sehr wohl für Ziethen hätten erübrigt werden können, so hätte er vielleicht wohl daran getan, das Exempel vorzurechnen. Nach den präzisesten Angaben der Zeit stimmt das absolut nicht.

Ziethen ist also frühestens 11 Uhr 14 in sein Haus getreten. Er hat es spätestens 11 Uhr 24 verlassen. Es bleiben ihm also zehn Minuten für das Verweilen im Haus.

Drängen wir nun alle bekannten Vorgänge während dieser Zeit so dicht wie möglich zusammen, unwahrscheinlich dicht sogar, um für Ziethen so viel freie Zeit wie denkbar zu gewinnen. Nehmen wir an, daß das Mädchen gleich den ersten Ruf Ziethens gehört und sofort aus dem Bett aufgesprungen sei, daß sie sich Hals über Kopf angezogen und dazu anstatt der von ihr behaupteten fünf Minuten nur drei Minuten gebraucht habe.

Nehmen wir an, daß das Mädchen, um von ihrer im ersten Stock gelegenen Schlafstube in die Wirtsstube zu gelangen, um dort die von Ziethen an sie gestellten Fragen zu beantworten, seinen Befehl, Wilhelm zu wecken, zu hören, die zwei Treppen hinaufzulaufen, Wilhelm, der sich schlafend stellt, zu einer Antwort zu bringen und wieder herunterzukommen, anstatt der von ihr behaupteten fünf Minuten ebenfalls nur drei Minuten gebraucht habe.

Nehmen wir ferner an, daß Wilhelm ihr auf der Ferse gefolgt sei, daß Ziethens Unterredung mit ihm, die Bestellung wegen der Kassette, das Anstecken der Gasflamme zusammen nur eine Minute in Anspruch genommen, so würden zwischen Ziethens erstem Ruf, der erfolgte, als das Verbrechen bereits begangen war, und seiner Entfernung aus dem Haus, seiner Begegnung mit Klees vor der Tür, also sieben Minuten vergangen sein.

Es war aber 11 Uhr 24, als Ziethen das Haus verließ. Demnach müßte also unbedingt um 11 Uhr 17 Frau Ziethen, in ihrem Blut schwimmend, bereits auf dem Boden gelegen haben. Um 11 Uhr 14 ist Ziethen frühestens in seiner Wohnung eingetroffen. Für das Begehen des Verbrechens und die oberflächliche Beseitigung der Spuren blieben Ziethen also unter ungünstigster Berechnung höchstens drei Minuten.

Da drängt sich die natürliche Frage auf: Kann denn das Verbrechen unter den Umständen, die festgestellt sind, in diesem Zeitraum von drei Minuten überhaupt begangen worden sein? Wir lassen einstweilen die Aussage der Frau Ziethen wie die des Wilhelm beiseite und halten uns nur an den objektiven Tatbestand.

Der Zustand, in dem Frau Ziethen gefunden wird, läßt keinen Zweifel darüber, daß den tödlichen Schlägen entweder ein heftiger Kampf vorangegangen ist, bei dem ihr der Zopf vom Scheitel, die Geldtasche abgerissen, der Kamm zerbrochen ist, oder daß nach der tödlichen Verwundung der Täter, um den Verdacht von sich abzulenken, diese Indizien einer gewalttätigen Szene künstlich geschaffen hat. Das eine wie das andere würde, wenn auch noch so wenig, doch immerhin etwas Zeit beanspruchen. Der mit den Verhältnissen durchaus vertraute Täter hat aus dem Tischkasten im Nebenraum den Hammer geholt, die Frau niedergeschlagen und der am Boden Liegenden noch mehrere wuchtige Schläge versetzt. Der Hammer mit den Blutspuren ist gefunden worden. Er hat den Hammer entweder in einem Wasserbehälter der Hinterstube oder an der Pumpe abgespült; der Hammerstiel war am andern Morgen noch feucht. Jedenfalls ist der Täter aus der Ziethenschen Wohnung noch zweimal auf den Hof gegangen und hat den Pumpenschwengel in Bewegung versetzt, wahrscheinlich um sich die blutüberströmten Hände zu waschen. Das wiederholte Anschlagen der Hoftür, das Kreischen der Pumpe ist von unanfechtbaren Zeugen gehört worden. Er hat den Hammerstiel abgeschabt, um die Blutspuren zu entfernen. Die blutigen Holzspäne sind am Boden gefunden worden. Das sind die von der Anklage selbst festgestellten Tatsachen.

Wenn die Anklage recht hat, wenn Ziethen der Mörder ist, so müssen sich die Ereignisse demnach in folgender Weise abgespielt haben:

In Ziethen, der im Laufe des Abends in Köln sich noch mit Zeugen in völlig harmloser und unverdächtiger Weise unterhalten hatte und an dem nicht das geringste Verdächtige hat wahrgenommen werden können, was auf den Mordgedanken irgendwie schließen ließe, müßte plötzlich, während er sich auf dem Weg von Deutz nach Elberfeld befand, der Gedanke aufgeschossen und zum Entschluß gereift sein, gleich nach Hause zu stürzen und seine Frau zu ermorden. Denn er ist ja wegen Ermordung, wegen Tötung mit Überlegung verurteilt worden, man hat den leidenschaftlichen Affekt beim Totschlag ausgeschlossen. Mit diesem festen Vorsatz ist er nun also schnurstracks in die Bachstraße gelaufen. Er hat sich des Pakets, das er mitbrachte, und seines Mantels schnell entledigt und seine Frau, die noch in der Wirtsstube wachte, aufgesucht. Unter dem nichtigsten Vorwand hat er sogleich einen Streit mit ihr angefangen, hat sie aber nicht, wie sonst wohl, mit der Hand braun und blau geschlagen – nicht die geringsten Spuren eines Faustschlags haben entdeckt werden können –, er hat ihr vielmehr die Haarflechten vom Kopf, die Tasche vom Leib, das Armband abgerissen, den Kamm zerbrochen und, nachdem auf diese Weise die Spuren des Raubmordes geschaffen waren, den Hammer ergriffen, die Frau durch einen wuchtigen Schlag betäubt und ihr dann mit mehreren Schlagen den Schädel zerschmettert. Er hat sich dabei sehr geschickt benommen, denn von dem aus der Wunde sich reichlich ergießenden Blut, das bei dieser fürchterlichen Verwundung überall umherspritzte und sogar die Wand befleckte, sind seine Kleidung und seine Wäsche völlig verschont geblieben. Aber der Hammer und die Hände waren blutig. Die mußten gereinigt werden. Er ist also an die Pumpe gelaufen, hat sich die Hände gewaschen, den Hammer abgespült. Ins Wirtszimmer zurückgekehrt, hat er beim helleren Lichte bemerkt, daß die Blutspuren am Hammer nicht völlig beseitigt seien. Er hat sein Taschenmesser genommen, den Stiel abgeschabt und dann den Hammer in den Tischkasten geworfen. Aber seine Hände waren noch immer blutig. Er hat sie ein zweites Mal an der Pumpe reinigen müssen. Nimmt man an, daß Ziethen ohne vorangegangenen Streit gleich beim Betreten des Zimmers die Frau niedergeschlagen habe, so müßte er jetzt erst die grausige Inszenierung der schauerlichen Mordkomödie, die auf Täuschung berechnete Herrichtung des Opfers vorgenommen haben. Nachdem er endlich den Gashahn abgedreht, hat er die Hausbewohner durch seine Schreckensrufe aus dem Schlaf geweckt.

Und das alles soll sich innerhalb des Zeitraums von drei Minuten abgespielt haben! Das erscheint doch kaum möglich!

Aber wir wollen sogar das unmöglich Scheinende als möglich voraussetzen. Wie lassen sich dann aber die weiteren, von der Anklage festgestellten Tatsachen einschachteln? Wilhelm will sich nach dem Verbrechen in Strümpfen auf sein Zimmer geschlichen haben, ist aber vorher auf der Straße gesehen worden. Wenn Wilhelm das Verbrechen nicht selbst begangen hat, sondern Zeuge des Verbrechens gewesen ist und auf Ziethens Befehl, wie er selbst aussagt, auf Strümpfen nach oben geschlichen ist, so muß doch eine Verständigung zwischen Meister und Lehrling stattgefunden haben, die auch Zeit beansprucht hat.

Zwischen dem ersten Kreischen der Pumpe und dem zweiten hat ein Zeitraum von mehreren Minuten, die Zeuginnen sagen: von fünf Minuten, gelegen. Sie sollen sich sehr stark geirrt haben, es soll nur eine einzige Minute verflossen sein. Selbst das kann aber nicht stimmen.

Wenn Ziethen seine Frau erschlägt und von Wilhelm gesehen wird, wenn er sich mit dem Lehrling über die Geheimhaltung verständigt, wenn er den Hammer und die Hände an der Pumpe zweimal reinigt, den Hammer abschabt, mit der Frau vorher Streit gehabt oder sie nach der tödlichen Verwundung entsprechend hergerichtet hat, wenn Wilhelm nach vollbrachter Tat seines Meisters Zeit hat, auf die Straße zu treten, wo er gesehen worden ist, und dann dem Befehl Ziethens, auf Strümpfen nach oben zu schleichen, nachkommt, wenn gleich darauf Ziethen, der – man verzeihe in der ernsten Sache den etwas frivolen Ausdruck, der aber allein bezeichnend ist – das gemacht hat, was die Schauspieler einen »falschen Abgang« nennen, nun atemlos zurückkehrend das ganze Haus durch sein Schreien weckt, wenn das alles wirklich wahr ist, dann ist Ziethen nicht bloß ein Mörder, nicht bloß der ruchlose Komödiant, als den ihn der Staatsanwalt schildert, dann ist er ein Mensch, der geradezu Übernatürliches vollbringt! Das alles soll sich in drei Minuten abgespielt haben, zwischen 11 Uhr 14, der frühest bemessenen Zeit für Ziethens Ankunft in seinem Haus, und 11 Uhr 17, der spätest bemessenen Zeit seiner Alarmrufe, die alle weckten. Das ist unmöglich!

Die ganze Sache wird aber noch undenkbarer, sie wird geradezu ungeheuerlich, wenn wir nun auf die Aussage Wilhelms, der die ganze Tat gesehen haben will, Bezug nehmen, und uns vergegenwärtigen, daß die Anklage sich auf diese Aussage stützt! Wilhelm hat jeden Tag etwas Neues ausgesagt, das dem vorher Gesagten widersprach. Wir wollen nun die am meisten belastende aller Aussagen, und zwar diejenige, von der die Staatsanwaltschaft sagt, daß sie die größte Wahrscheinlichkeit für sich habe, unserer Untersuchung zugrunde legen. Es ist die Aussage, die Wilhelm vor dem Untersuchungsrichter gemacht hat, nachdem er hörte, daß Ziethen dem Verdacht Ausdruck gegeben habe, Wilhelm könne selbst der Täter sein. Er erklärte damals: »Wenn Ziethen das gesagt hat, dann will ich endlich die volle Wahrheit sagen. Ich hab's gesehen, ich bin dabeigewesen, Ziethen ist der Mörder.« Er hat die Vorgänge dann im einzelnen geschildert und ist bis zur öffentlichen Verhandlung, von einzelnen Abweichungen der Details abgesehen, bei dieser Beschuldigung geblieben. Auch während der Verhandlungen hat er sich in diesem Sinne ausgesprochen, und der Staatsanwalt hat sich die Darstellung Wilhelms zu eigen gemacht und im Laufe seines Plädoyers behauptet: »Wilhelm hat die Wahrheit gesagt!«

Wir wollen einmal sehen, wie diese »wahrheitsgetreue Darstellung«, die sich auch die Geschworenen bei ihrer Urteilsfindung angeeignet haben, sich bei genauerer Prüfung verhält.

Wilhelm erzählt, er sei noch wach gewesen, als Ziethen aus Köln zurückgekommen sei. Man hat ihn nicht gefragt, weshalb er noch nicht zu Bett gegangen sei, was er wie der Lehrling Vollberg und Johanne Tasche hätte längst tun sollen. Aber gleichviel, daß er noch wach gewesen ist, unterliegt keinem Zweifel. Er will nun gesehen und gehört haben, wie Ziethen gleich nach seiner Ankunft mit seiner Frau in heftigsten Wortwechsel geraten sei. Wüste Schimpfworte fielen auf beiden Seiten, und der Beschimpfung folgte die Mißhandlung auf dem Fuße. Ziethen verließ die Wirtsstube und ging in den Vorflur an den Tisch, in dem gewöhnlich der Hammer lag, der ja auch am anderen Morgen an dieser Stelle von dem Kriminalkommissar Gottschalk dort gefunden wurde. Ziethen kehrte in die Wirtsstube zurück, und nun hörte Wilhelm einen dumpfen Schlag, hörte einen Schrei der Frau Ziethen und sah, wie sie niederfiel und Ziethen weiter auf seine Frau losschlug. Fünf Schläge auf den Kopf habe er ihr dann noch gegeben.

Zwischen dem Beginn des Wortwechsels und dem Schlag, der Frau Ziethen niederstreckte, lagen nach Wilhelms Angaben kaum drei Minuten: »Lange hat es nicht gedauert. Er fing sogleich an und war noch keine drei Minuten in der Stube, da lag auch schon die Frau da.« Nun kam Ziethen heraus, sah den Lehrling und fuhr ihn an: »Du verdammter Lausejunge! Was machst du da? Wenn du nicht den Mund hältst, haue ich dich auch mit dem Hammer nieder!« Wilhelm sprang zur Seite, und Ziethen lief auf den Hof. (Das Kreischen der Pumpe muß von Wilhelm erklärt werden!) Dort blieb er nach Wilhelms Aussage etwa zwei Minuten. Nun kehrte Ziethen ins Haus zurück. (Über das zweite Pumpen an der Wasserpumpe gibt Wilhelm gar keine Auskunft.) Er rief laut: »August! komm her!« (Das sagt Wilhelm vermutlich, um die Aussage des Zeugen Funccius zu unterstützen, und das Gericht in dem Irrtum zu erhalten, daß Funccius eine Unterredung zwischen Ziethen und Wilhelm gehört hat, nicht die Unterredung zwischen Ziethen und Frenzel.) Dann ist Ziethen auf ihn zugetreten und hat gesagt: Du bist gegenwärtig gewesen, hast alles gesehen. Schweige davon. Dann kann niemand etwas bezeugen, und man kann mich auch nicht bestrafen. Sage nichts davon. Du gehst leise die Treppe hinauf, dann können sie von dir auch nichts aussagen!« Des weiteren habe er dann zu Wilhelm gesagt, er wolle nun fortlaufen und so tun, als wenn er direkt von Köln käme, damit man glaube, die Tat sei während seiner Abwesenheit geschehen. Darauf habe er sich entfernt, und Wilhelm trat nun vor die Haustür (er muß das zugeben, weil er von dem Zeugen Schwartmann gesehen worden ist), wobei er sah, wie Ziethen in atemloser Hast die Bachstraße hinunterlief: »Er lief so schnell, daß ihn kein Pferd einholen konnte.« Nun zog sich Wilhelm die Stiefel aus und schlich sich in seine Schlafkammer, wo Vollberg ihm, wie wir wissen, öffnete.

Nach Wilhelms Auffassung ist dann Ziethen indessen in wildem Lauf ins Haus zurückgekehrt, hat es durch die kleine Seitengasse betreten und sofort laut geschrien. Ziethen ist nach der Aussage des Lehrlings etwa fünf Minuten fortgewesen.

Es erscheint einiges fragwürdig an dieser Aussage, denken wir nur daran, daß Ziethen Wilhelm laut beim Vornamen gerufen hat, um mit ihm über die Geheimhaltung des Verbrechens zu reden! Zu einem solchen Zweck schreit man doch nicht so laut, daß es auf der Straße drei Häuser weiter gehört werden kann! Auch das Rätsel bleibt unaufgeklärt, daß der Zeuge Schwartmann zwar Wilhelm vor der Haustür stehen sieht, als dieser angeblich dem in wahnsinniger Hast davonstürmenden Ziethen nachblickt, daß derselbe Zeuge aber den auf ihn zurasenden Ziethen nicht im geringsten wahrgenommen hat. Schwartmann ist ausdrücklich vom Präsidenten gefragt worden, ob er Ziethen gesehen habe. »Ziethen bin ich nicht begegnet«, hat der Zeuge geantwortet. Wir wollen das indessen auf sich beruhen lassen, denn von weitaus größerer Bedeutung sind die Wilhelmschen Zeitangaben, die der Staatsanwalt immerhin als »wahrheitsgetreu« für seine Anklage verwendet hat. Drei Minuten Streit und Totschlag, zwei Minuten Abspülen des Hammers und der Hände an der Pumpe, eine Minute Vereinbarung mit Wilhelm über Geheimhaltung, fünf Minuten Ziethens Entfernung aus dem Haus bis zur Rückkehr und dem Alarmruf. Das macht elf Minuten! Diese elf Minuten versuche man nun in die unumstößlich festgestellten Zeitpunkte einzuzwängen:

Aussteigen der Passagiere: 11 Uhr 8 Minuten. Ziethens Ankunft in der Wohnung: 11 Uhr 14 Minuten.

Zeit für das Verbrechen und seine Vertuschung nach Wilhelms Angabe elf Minuten: 11 Uhr 25 Minuten.

Um diese Zeit verläßt Ziethen aber in Wahrheit bereits seine Wohnung, um zum Arzt zu laufen. Wir wissen ferner ganz genau, daß vom ersten Ruf Ziethens bis zu dem Augenblick, da er das Haus verläßt, knappest bemessen sieben Minuten vergangen sein müssen. Nach Wilhelms Bericht hätte er also erst 11 Uhr 32 seine Wohnung verlassen können. Um 11 Uhr 30 war er aber bereits an der Lutherischen Kirche, nachdem er den Wachtmeister gerufen, sich zu Dr. Dahmann in einer Entfernung von zweieinhalb bis drei Minuten begeben und sich vor dessen Haus zweieinhalb bis drei Minuten aufgehalten hatte, also nach weiteren knapp bemessenen sechs Minuten. Dann wäre es aber, wenn Wilhelms Angaben stimmten, 11 Uhr 38 gewesen, als er an der Lutherischen Kirche vorüberkam. Es sind immer wenigstens sieben bis acht Minuten zuviel! Und da wir sicherlich zu Ungunsten Ziethens gerechnet haben, werden es genau die zehn bis elf Minuten sein, die das Verbrechen nach Wilhelms Darstellung beansprucht haben soll und die absolut nicht einzubringen sind.

Wir haben festgestellt, daß Ziethen spätestens 11 Uhr 17 die Hausbewohner durch seine Rufe erschreckt hat. Dreizehn Minuten später kam er ja schon vom ersten Arzt an der Lutherischen Kirche vorbei. Wenn Wilhelm nun, wie der Staatsanwalt meint, die Wahrheit gesagt hat, so müßte das Verbrechen, das nach seiner eigenen Darstellung elf Minuten beansprucht hat, um 11 Uhr 06 begangen worden sein. Da saß Ziethen aber noch im Eisenbahnwagen, und erst zwei Minuten später, um 11 Uhr 08, konnten die Passagiere den Zug verlassen! Es ist also tatsächlich Ziethen nicht ein einziger Augenblick geblieben, um das ihm zur Last gelegte Verbrechen unter den Bedingungen zu begehen, die selbst von der Anklage festgestellt worden sind. Es ist unmöglich, daß er der Täter sein kann!

Wenn Ziethen der Mörder nicht gewesen ist, dann kann es nur der Barbierlehrling August Wilhelm gewesen sein. Seine Angaben, so widersprüchlich sie auch im Laufe des Verfahrens waren, stellen das eine als Gewißheit hin, daß er um das Verbrechen gewußt haben muß.

Während wir in der Lage sind, Ziethen vom Augenblick seines Eintreffens in Elberfeld an auf Schritt und Tritt und Minute für Minute zu verfolgen, wissen wir von Wilhelm in der kritischen Zeit zwischen halb elf und dem Augenblick seiner Begegnung mit Ziethen in Gegenwart der Johanne Tasche und der beiden Frenzel nur Unbestimmtes, das allerdings sehr schnell bestimmbar wird, wenn wir die von ihm selbst eingeräumte und von der Anklage anerkannte Tatsache, daß Wilhelm von dem Verbrechen Kenntnis gehabt hat, in Betracht ziehen.

Vergegenwärtigen wir uns, wie Wilhelm den verhängnisvollen Tag verbracht hat. Wir wollen durch Klarlegung aller Verdachtsmomente überzeugen – das macht Wiederholungen unerläßlich und schließt den Zweck einer lediglich unterhaltenden Lektüre völlig aus, wenngleich Herr Landgerichtsdirektor Barre meine Abhandlungen zu einem unerheblichen Geplauder für oberflächliche Zeitungsleser stempeln will.

An jenem 25. Oktober spricht Wilhelm im Laufe des Nachmittags gemeinsam mit dem Anstreicher Roll der Schnapsflasche in unmäßiger Weise zu. Er ist zumindest stark angetrunken, benimmt sich ungeschickt, verschüttet das Vogelfutter, stolpert über seine eigenen Füße, und mit der vorrückenden Stunde scheint sich die Trunkenheit immer mehr zu steigern. Er hat einen glühend roten Kopf. Das Verlangen erwacht in ihm, seine Liebste aufzusuchen. Er verfehlt sie bei der Frau, bei der er sich mit ihr zu treffen pflegt. Die Hausgenossen begeben sich inzwischen zur Ruhe. Das Mädchen Johanne schläft seit 10 Uhr; der Lehrling Vollberg hat sich niedergelegt. Die beiden Frauen im zweiten Stock wollen ihr Lager aufsuchen, Frenzel im ersten Stock schläft seit 9 Uhr, nur seine Tochter, Frau Storck, ist noch wach und arbeitet an der Nähmaschine. Es ist ein Viertel elf durch. Frau Ziethen, die noch unten in der Wirtschaft wach ist, denkt daran, Feierabend zu machen.

Wilhelm verlangt es noch immer nach seinem Mädchen, das in nächster Nähe im Hause der Faßbenderschen Wirtschaft wohnt. Auch da sucht er sie vergeblich. Er trinkt noch einen Schnaps und kehrt unverrichteterdinge zur Ziethenschen Wohnung zurück. Vor der Tür spricht er noch mit dem Wächter Feiber, etwa um halb elf. Zu der Zeit ist noch ein Gast, ein Mann in hellgrauem Mantel, in der Wirtsstube, der sein Glas bald austrinkt und gute Nacht sagt. Wilhelm ist nun nach halb elf mit Frau Ziethen allein.

Was hatte der angetrunkene Bursche, der zu jeder Handleistung in diesem Zustand untauglich war, zu dieser Stunde überhaupt noch unten zu suchen? Er hätte längst im Bett liegen sollen wie Vollberg. Aber freilich, er wußte ja, daß er einstweilen noch ungestraft aufbleiben konnte. Ziethen, der mit dem Zug um halb zehn nicht angekommen war, würde nun frühestens erst zwischen ein Viertel und halb zwölf aus Köln eintreffen. Wilhelm hatte also noch eine gute halbe Stunde zu seiner Verfügung frei.

Welche Gedanken sich in dem vom Schnaps erhitzten, sinnlich erregten Burschen, der in der späten Stunde seinem Liebchen vergeblich nachgelaufen war, geregt haben mögen – bestimmen läßt es sich freilich nicht, aber berechtigte Vermutungen darüber steigen wohl in jedermann auf. Rechnen wir indessen nicht mit Vermutungen, sprechen wir von Tatsachen.

Nach 11 Uhr hören die beiden Frauen im Nachbarhaus auf dem gemeinsamen Hof die Wasserpumpe kreischen und die Hoftür zur Ziethenschen Wohnung heftig auf- und zuschlagen. Das wiederholt sich nach einiger Zeit noch einmal. Wer war aus der Ziethenschen Wohnung herausgetreten? Wer hatte gepumpt? Frau Ziethen oder Wilhelm? Nur diese beiden Personen waren in den Ziethenschen Räumen noch wach. Kein Dritter war um diese Zeit mehr zugegen, und Ziethen war noch nicht zu Hause.

Zu einer späteren Zeit sieht der Zeuge Schwartmann Wilhelm auf der Bachstraße vor der halbgeöffneten Haustür stehen. Wilhelm steht in halbgebückter Haltung da, mit auffällig roten Backen. Er lugt nach allen Seiten aus. Er lauert. Zu der Zeit brannte das Gaslicht noch. Nun wird das Licht gelöscht. Der bald darauf vorübergehende Wächter sieht, daß alles dunkel ist. Kein anderer kann es gelöscht haben als Wilhelm. Er war jetzt der einzige, der im Erdgeschoß noch wach war, der einzige außer der nun schon Schwerverwundeten, die in hilflosem Zustand dalag. Ziethen war noch immer nicht zu Hause. Nun schleicht Wilhelm die Treppe hinauf. Die beiden Nachbarinnen hören die Treppe knarren von unten bis hinauf zur Dachstube.

Nun vergehen nur wenige Minuten, und Ziethens Schreckensrufe versetzen das ganze Haus in Bestürzung. Wilhelm stellt sich schlaftrunken und antwortet erst auf Johannes wiederholtes Pochen und Rufen, das nun auch den Lehrling Vollberg weckt, der sofort wieder eingeschlafen war, nachdem er Wilhelm die Tür geöffnet hatte. Vollberg bemerkt, daß das Licht, das er zuvor gelöscht hatte, brennt und Wilhelm auf dem Bett sitzt. Wilhelm begibt sich, nur mit einer Hose bekleidet, nach unten. Als Vollberg sich anzieht, sieht er Wilhelms Messer aufgeklappt auf dem Koffer liegen, er steckt es zu sich und vergißt es dann, Wilhelm zu geben. Auf Beobachtungen des Verhaltens eines Verdächtigten ist im allgemeinen gewiß nicht viel zu geben. Das Schuldbewußtsein verrät sich durchaus nicht immer durch äußerlich erkennbare Zeichen, und die lauterste Unschuld kann sich wiederum so verdächtig gebärden, daß man auf die Schuld mit großer Wahrscheinlichkeit schließen dürfte. Wilhelms Benehmen ist aber in der Tat im höchsten Grad auffällig, und es fällt auch allen auf, ohne daß einer nur den geringsten Verdacht hat, daß der Junge das Verbrechen begangen haben könnte, denn der Verdacht aller richtet sich vom ersten Augenblick an ja gegen Ziethen.

Unten angekommen, hat Wilhelm zunächst die kurze Unterredung mit Ziethen, der ihn in keiner Weise beargwöhnt und selbst in einem solchen Zustand ist, daß er sich um den Jungen gar nicht weiter kümmert. Auffallend ist, und alle bemerken das, daß Wilhelm, der zwei Minuten vorher von Ziethen vor Zeugen darüber befragt worden ist, ob er etwas über das Verbrechen sagen könne, wer sich zuletzt in der Wirtsstube aufgehalten habe und wann er seine Schlafkammer aufgesucht hat, als er nach kurzer Entfernung die Wirtsstube wieder betritt, vor den neu hinzugekommenen Zeugen so tut, als ob er von nichts wisse. »Wer ist das? Was ist los?« fragt er, und das Mädchen Johanne begreift nicht, weshalb der Junge diese Komödie aufführt.

Es kommen andere, Beamte. Man fragt Frau Ziethen. Wilhelm zieht sich scheu in das dunkle Hinterzimmer zurück. Ziethen kehrt atemlos von seinem wilden Lauf durch die Stadt nach den Ärzten zurück. Der Polizeiwachtmeister tritt energisch auf ihn zu und sagt ihm: »Sie sind der Mörder! Sie sind verhaftet!«

Da überkommt es Wilhelm. Da regt sich übermächtig sein Gewissen. Da treibt es ihn unwillkürlich zu einer verhängnisvollen Unvorsichtigkeit. Ohne zu wissen, was er tut, springt er aus dem dunklen Hinterzimmer hervor und schreit den Wachtmeister an: »Wie können Sie es wagen, meinen Meister zu verhaften. Er ist nicht der Mörder! Ich weiß es!«

Ja, er wußte es in der Tat! Überblickt man die Aussagen aller Zeugen und berücksichtigt die Feststellungen, daß Frau Ziethen mit einem Hammer erschlagen worden ist, der sich in der Wohnung befand, dessen Stiel der Täter abgespült und mit dem Messer abgeschabt hat, dann kann es kaum noch einem Zweifel unterliegen, daß Wilhelm die Frau erschlagen hat. Wilhelm hat mit der Frau gerungen, gleichviel ob er nun wegen irgendeiner Ungehörigkeit mit ihr in Streit geraten oder von einer verhängnisvollen Wallung übermannt worden ist. Er hat ihr, während er sich mit ihr herumschlug, den Zopf und die Tasche abgerissen. So betrunken er auch war, es mochte ihm doch aufdämmern, daß er eine fürchterliche Strafe zu gewärtigen hatte, wenn der gestrenge Meister, der in einer Viertel-, spätestens in einer halben Stunde zu erwarten war, heimkehren würde. Aber der Schnaps hatte seine Sinne doch genügend umnebelt, um ihn des klaren Bewußtseins zu berauben, daß er durch ein Verbrechen das Vergehen nicht wiedergutmachen und, wenn er auch der Strafe des Meisters entgehen sollte, der Strafe der Gerechtigkeit verfallen würde. In seiner Aufregung, die vielleicht Fusel, sinnliche Lust und Todesangst in gleichem Maße geschürt haben, stürzt er in den Nebenraum, den Vorflur, ergreift den Hammer und streckt die Frau nieder. Nun, da er sein Opfer vor sich liegen sieht, überkommt ihn die bestialische Lust des Drauflosschlagens, die bei so vielen Ermordungen, namentlich mit einem stumpfen Instrument, einem Hammer, einem Holzscheit, einem Beil, beobachtet worden ist. Auch Sobbe, der den Briefträger Kossäth in Berlin mit dem ersten Schlage tödlich getroffen, hatte auf den schon Ermordeten besinnungslos weiter losgehauen, und in der Verhandlung gab er dafür die beachtenswerte Erklärung ab: »Ich wußte nicht mehr, was ich tat. Ich mußte es tun.«

Nun ist das Verbrechen begangen, das Opfer liegt zu seinen Füßen. Nun ist der Rausch vorüber, und mit Entsetzen und Schaudern blickt er um sich her. Das Blut entströmt der Wunde. Es ist überall umhergespritzt. Er selbst, seine Hände und Kleider, sind mit Blut besudelt. Ganz besonders aber der Hammer, mit dem er die tödlichen Schläge geführt hat. Er läuft hastig hinaus auf den Hof und wäscht an der Pumpe seine Hände und den Hammer. Aber das Blut haftet fest am Stiel. Als er wieder in die Stube zurückgekehrt ist, sieht er beim hellen Licht noch immer die roten Flecke am feuchten Holz. Er zieht sein Taschenmesser hervor und schabt den Stiel ab. Dann wirft er den Hammer wieder in die Schublade, aus der er ihn geholt hat. Noch immer sind seine Hände von Blut befleckt. Er geht noch ein zweites Mal an die Pumpe und wäscht sich ein zweites Mal. Er blickt auf die Uhr. Ziethen kann jeden Augenblick kommen. Er tritt auf die Straße. Vielleicht hört er ihn schon. Vielleicht bleiben ihm doch noch einige Minuten zu gründlicherer Beseitigung der verräterischen Spuren. Aber da geht jemand vorüber, von dem er sich beobachtet fühlt. Er hört wieder Schritte. Vielleicht ist es schon Ziethen. Er tritt ins Haus zurück, schließt die Haustür, zieht sich die Stiefel aus, dreht schnell den Gashahn zu und schleicht sich nun nach oben. Die Stiegen knarren unter seinen Schritten. Er klopft an die Tür. Vollberg taumelt schlaftrunken im Dunkeln aus dem Bett, öffnet ihm, fragt ihn, ob der Meister schon da sei. »Nein.« Und Vollberg schläft sofort wieder ein. Wilhelm ist in tödlicher Unruhe. Er zündet das Licht an, prüft sich und seine Gegenstände auf Blutspuren. Er mustert seine Joppe und versteckt sie, er öffnet das Messer und legt es neben sich geöffnet auf den Koffer.

Es war die höchste Zeit, daß er hinaufgeschlichen war, denn nun hört er schon Ziethen rufen. Nach einigen Minuten klopft Johanne und ruft ihn selbst. Er gibt zunächst keine Antwort, er stellt sich schlaftrunken und folgt endlich dem Mädchen nach unten, in Hemdsärmeln. Er hütet sich wohl, die Joppe wieder anzuziehen. Das Messer läßt er liegen, er vergißt es vermutlich in der Verwirrung.

So kann es gewesen sein, so kommt es dazu, daß der verstört im Hinterraum hockende Bursche vorspringt, als der Meister verhaftet wird. »Er ist nicht der Mörder! Ich weiß es!«

Lediglich auf diese Äußerung hin wird Wilhelm mitverhaftet. Kein Mensch denkt daran, daß er der Mörder sei. Den Mörder hat man ja! Das ist ja Ziethen! Das kann nur Ziethen sein! Der Junge weiß aber vielleicht um das Verbrechen mehr, als er jetzt sagen will.

In der Wachstube wird Ziethen ganz genau untersucht. Den Jungen braucht man nicht zu untersuchen, der ist ja nicht der Mörder! Nach den veröffentlichten Berichten haben die Polizeibeamten auf die Frage, ob Wilhelm körperlich untersucht worden sei, übereinstimmend »Nein« geantwortet.

Polizeikommissar Brouwers sagt: »Ich habe den Wilhelm nicht untersucht.«

Polizeikommissar Kirchhoff: »Ich habe den Wilhelm auch nicht untersucht, glaube mich aber zu erinnern, daß es der Polizeikommissar Gottschalk getan hat.«

Polizeikommissar Gottschalk: »Ich entsinne mich nicht, daß ich den Wilhelm untersucht habe, weil er mir in erster Linie gar nicht besonders verdächtig erschien.«

Es ist also zeugeneidlich durch die maßgebenden Polizeibeamten festgestellt worden: Wilhelm ist nicht untersucht worden. Auch nicht von den Sachverständigen! Diesen sind die Kleider Wilhelms nicht einmal vorgelegt worden, weder dem Kreisphysikus Dr. Feldmann noch dem Apotheker Lehn!

Ja, man hat Wilhelm sogar gestattet, am Tage nach dem Verbrechen in seiner Schlafkammer noch einmal Toilette zu machen. Die Anklage bestätigt die Tatsache, daß »Wilhelm nach seiner Verhaftung wieder zum Ankleiden auf sein Schlafzimmer geführt worden ist«, dabei wird die Möglichkeit eingeräumt, daß es ihm bei dieser Gelegenheit habe gelingen können, wichtige Überführungsstücke, wie beispielsweise das Messer, zu beseitigen!

Nicht zum Ankleiden, sondern zum Umkleiden hat Wilhelm sicherlich den Aufenthalt in seiner Schlafkammer benutzt, denn er hatte guten Grund, seine Joppe nicht wieder anzuziehen. In diesem Zusammenhang ist eine bei der Vernehmung des Zeugen Schwartmann gemachte Äußerung von besonderem Interesse, der aber von Seiten der Anklage keine Bedeutung beigemessen worden und die im Laufe der aufregenden Verhandlungen spurlos untergegangen ist. Es ist die geradezu unglaublich erscheinende Tatsache, daß Wilhelm am Tage des Verbrechens einen anderen Rock getragen hat als in der Untersuchungshaft und während der Verhandlung. Schwartmann sagt folgendes: »Wilhelm ist mir beim Untersuchungsrichter vorgeführt worden. Meine vorher von ihm abgegebene Beschreibung paßte ganz genau. Er hatte aber einen ganz anderen Rock an, und deshalb erkannte ich ihn nicht sofort.« Und auf Befragen des Untersuchungsrichters erklärt auch Wilhelm, daß er an dem betreffenden Tage wohl denselben Anzug, aber einen anderen Rock, eine kurze Joppe, getragen habe.

Was ist nun aus dieser kurzen Joppe geworden?

Die nichtssagenden Pünktchen auf Ziethens Manschetten werden unter das Mikroskop genommen, Wilhelms Joppe aber, die vielleicht, ja wahrscheinlich vom Blut der Unglücklichen über und über bespritzt war, würdigt man keines Blickes. Ja, man gestattet dem Angeklagten sogar, dies vielleicht allerwichtigste Überführungsstück auf unaufgeklärte Weise der Untersuchung zu entziehen und ein unverfängliches Kleidungsstück dafür anzulegen. Wann ist es wohl jemals vorgekommen, daß einem des Mordes Angeklagten – denn auch gegen Wilhelm lautete die Anklage, mit Ziethen »gemeinschaftlich im Oktober 1883 zu Elberfeld die Ehefrau Ziethen vorsätzlich getötet und diese Tötung mit Überlegung ausgeführt zu haben« – die Möglichkeit gewährt wird, das Kleidungsstück, das er in der Stunde des Verbrechens getragen hat, gegen ein anderes zu vertauschen? Wann ist es wohl jemals vorgekommen, daß man nach diesem Kleidungsstück, das der des Mordes Beschuldigte zur Stunde der Tat getragen, gar nicht mehr gefragt und es auf Blutspuren nicht einmal oberflächlich hat untersuchen lassen? Und was ist nun aus Wilhelms Messer geworden, das Vollberg am Abend des Mordes unmittelbar nach begangenem Verbrechen offen auf dem Koffer hat liegen sehen, das er selbst geschlossen und in die Tasche gesteckt hat, um es Wilhelm zu geben, das er nach Wilhelms Verhaftung wieder in seiner Tasche gefunden und auf den alten Platz gelegt hat und das nun gerade wie die Joppe aus der Untersuchung und aus den öffentlichen Verhandlungen wie weggeblasen ist? Spurlos!

»Leider ist das Taschenmesser des Wilhelm, welches, wenn er der Täter war, zweifellos Spuren zeigen mußte, im Laufe der Untersuchung auf eine seltsame Weise verschwunden«, sagt der aktenmäßige Bericht des Landgerichtsdirektors Barre.

Ach ja, sehr seltsam! Wilhelm selbst kann es sich nicht erklären. Zwischen dem Präsidenten des Schwurgerichts und Wilhelm, den auch der Leiter der Verhandlungen keineswegs für den Täter hält, entspinnt sich über diesen Punkt das folgende Zwiegespräch

Präsident: »Wie ist es nun mit dem Messer, welches der Zeuge Vollberg an dem betreffenden Abend neben dem Koffer gefunden hat?«

Wilhelm: »Ich weiß nichts davon.«

Präsident: »Wo hast du das Messer denn gehabt?«

Wilhelm: »Am Morgen haben wir es noch zusammen gebraucht und haben damit Wurst geschnitten.«

Präsident: »Hattest du das Messer in der Tasche, als Ziethen seine Frau schlug?«

Wilhelm: »Ja! Soviel ich mich erinnere. Auf der Wachstube hatte ich es nicht mehr. Es muß mir beim Auskleiden aus der Tasche gefallen sein.«

Diese Auskunft genügte dem Vorsitzenden. Es wird nicht weiter danach gefragt, auch nicht weiter danach geforscht! Hätten die Organe der Polizei und die anderen zur Ermittlung berufenen Behörden auf die Untersuchung der Hände, der Kleider, des Messers Wilhelms auch nur einen geringen Teil jener vollberechtigten Sorgfalt verwandt, die sie dem des Mordes verdächtigen Ziethen gegenüber anzuwenden für ihre Pflicht hielten, sie würden sicherlich an Wilhelm etwas Überzeugenderes gefunden haben als zweifelhafte Pünktchen von der Größe einer Nadelspitze, die so winzig sind, daß man sie chemisch gar nicht hat untersuchen können, daß sie umrändert werden mußten, um für das Auge der Geschworenen überhaupt sichtbar zu werden; sie würden an Wilhelms Messer etwas Beweiskräftigeres entdeckt haben als jenes einen Millimeter große Partikelchen, das die Brücke zu Ziethens Tat geschlagen hat. Es wäre dann wohl kaum vonnöten gewesen, das Mikroskop zu nehmen, und die Chemie hätte nur zu bestätigen brauchen, was sich schon dem unbewaffneten Auge in erkennbarer Gestalt darbot.

Wir haben in unserer bisherigen Untersuchung nachzuweisen versucht, wie wenig beweiskräftig die drei wichtigsten, gegen Ziethen angeführten Belastungsmomente sind: die Aussage des Opfers, das »Partikelchen« am Messer und die Aussagen Wilhelms. Wir haben darüber hinaus durch genaueste, unanfechtbare Zeitbestimmungen dargelegt, daß der Angeklagte sich zur Tatzeit keinesfalls am Tatort hat befinden können. Wir werden im folgenden sehen, wie alle diese Entlastungsmomente im Laufe der Untersuchungen und Verhandlungen – durch eine zwar begreifliche, aber keineswegs zu rechtfertigende Voreingenommenheit dem Beschuldigten gegenüber – unbeachtet geblieben sind.

Angesichts der schwerwiegenden Momente, die das Verhalten Wilhelms als ein ungewöhnlich verdächtiges erkennen ließen, muß es allerdings mehr als befremdlich, ja, es muß unerklärlich erscheinen, daß man den Lehrburschen sowohl während der Untersuchung wie auch während der Verhandlung eigentlich vollkommen unbehelligt gelassen hat – insofern nämlich unbehelligt, als man dem Gedanken, daß Wilhelm selbst der Täter sein könne, überhaupt nicht nähergetreten ist. Den von Ziethen im Laufe der Untersuchung geäußerten Verdacht, daß Wilhelm die Frau niedergeschlagen habe, hat man überhaupt nicht ernst genommen. Hatte doch Ziethen selbst zunächst gar nicht daran gedacht. Erst als ihm vom Untersuchungsrichter mitgeteilt worden war, daß Wilhelm ihn als den Mörder bezeichnet und das Verbrechen mit eigenen Augen mit angesehen zu haben behauptet hatte, erst da ist Ziethen der Verdacht aufgestiegen: wenn der Junge so lügt, wenn er mich des Mordes beschuldigt, wenn er die Vorgänge in allen Einzelheiten zu kennen vorgibt, dann kann es kein anderer gewesen sein als er selbst.

Alle Tatsachen, die Ziethens Verdacht hätten unterstützen können – Wilhelms Trunkenheit, das Kreischen der Wasserpumpe, das Schlagen der Ziethenschen Hoftür, das Knarren der Stiege, das Verschwinden der Joppe und des Messers –, alles das war ja Ziethen noch unbekannt. Er hatte keinen anderen Anhaltspunkt für seinen Verdacht als die ungeheure Lüge des Jungen. Wie Wilhelm dazu gekommen sein konnte, das Verbrechen zu begehen, darüber konnte Ziethen nur allgemeine Mutmaßungen aussprechen. Und was in dieser Beziehung von ihm vorgebracht wurde, war allerdings nicht sehr überzeugend. Er sagte: »Ich war ein strenger Meister. Ich habe den Jungen oft geprügelt. Er hat vielleicht irgendeine Dummheit begangen, Wurst gestohlen, Schnaps gesoffen. Er mochte fürchten, daß meine Frau mir das mitteilen würde. Er hat die Denunziantin gewaltsam beseitigt.« Das kann allerdings als ein genügendes Motiv zum Mord oder zum Totschlag nicht angenommen werden.

Da sagte denn auch der Untersuchungsrichter, sagte nach ihm der Vorsitzende des Geschworenengerichts: »Der Junge hat gar keinen Grund gehabt, die Frau zu ermorden. Wegen eines gestohlenen Stückchens Wurst schlägt man doch niemand nieder. Wilhelm ist ganz und gar nicht verdächtig; und hätte er nicht in einem unbesonnenen Augenblick bei der Verhaftung Ziethens eine bedenkliche Äußerung gemacht, so hätten wir uns um ihn gar nicht zu kümmern brauchen. Jetzt aber wissen wir aus dieser unbedachten Äußerung, daß er irgendwie beteiligt sein muß, und da er das Verbrechen nicht begangen hat, wird er wohl, wie er sagt, Augenzeuge gewesen sein. Vielleicht hat er auch die Tat begünstigt.«

So hat denn Wilhelm mit dem Verbrechen selbst nach der Auffassung der Polizei, des Untersuchungsrichters und der Staatsanwaltschaft nichts zu tun gehabt. Als überaus charakteristisch darf hier wohl die Tatsache bezeichnet werden, daß in seinem beredten Plädoyer der Staatsanwalt bei der Verhandlung sich so ausschließlich mit der Aufgabe befaßte, Ziethens Schuld nachzuweisen, daß er darüber den Wilhelm vollkommen vergessen konnte. Wilhelms Verteidiger mußte sich nach dem Plädoyer des Staatsanwalts erheben und fragen, ob denn mit dem Vortrage des Staatsanwalts auch die Anklage gegen Wilhelm als erschöpft anzusehen sei? Der Staatsanwalt hatte von Wilhelm überhaupt nicht gesprochen, hatte auch keinen Antrag gestellt, und erst in der Replik holte er das Versäumte nach und brachte in seiner zweiten Rede einige Unerheblichkeiten gegen Wilhelm vor, von denen Wilhelms Verteidiger sagte, sie seien wohl nicht ernst zu nehmen. Der Staatsanwalt ließ die Anklage gegen Wilhelm wegen Teilnahme am Mord überhaupt fallen und beschränkte sich darauf, für Wilhelm pro forma das Schuldig auf die Frage der Begünstigung zu beantragen, die mit einer einfachen Geldbuße geahndet werden kann. Da der Staatsanwalt selbst somit als der wirksamste Verteidiger des Wilhelm aufgetreten war, so konnte der Verteidiger mit Recht sagen: »Ich bin auf diesen Posten gestellt worden, um zu verteidigen. Aber ich vermeine keinen Angriff erfahren zu haben. Ich soll kämpfen, und ich glaube nicht, daß mir ein ernstlicher Kämpe im Blachfelde gegenübertritt. Es ist überhaupt eine eigentümliche Signatur dieses Prozesses gegenüber dem Angeklagten Wilhelm, daß von vornherein niemand an die Schuld desselben geglaubt hat.«

Ja, das ist in der Tat die Signatur! Das erklärt die ganze Führung, das erklärt auch die Verurteilung.

Was brauchte man Wilhelm oder irgendeinen andern der Tat zu verdächtigen? Man hatte ja Ziethen, den Mörder! Das war nicht erst zu erweisen, das war schon erwiesen! Es handelte sich also eigentlich nur in zweiter Linie darum, festzustellen, wie das Verbrechen begangen worden war. Die Hauptsache war die, Ziethen, den störrischen Verbrecher und verächtlichen Heuchler und Komödianten, zum Eingeständnis zu bewegen. Jede Äußerung des Angeklagten, die darauf abzielte, seine Nichtbeteiligung nachzuweisen, galt also von vornherein als Leugnen. Es galt in jedem einzelnen Fall vor allem, Ziethens Aussagen zu entkräften. Auf das einzelne, was offenbar zu Ziethens Gunsten sprechen mußte, kam es ja gar nicht an, da man sich über das Allgemeine, daß Ziethen der Mörder sei, ganz im klaren war.

In diesem Sinne ist die ganze Untersuchung geführt worden, in diesem Sinne ist die Anklage erhoben, in diesem Sinne sind die Verhandlungen vor den Geschworenen geleitet worden, in diesem Sinne war jede Verteidigung Ziethens verfehlt.

Wie erklärt sich diese unfaßbare Erscheinung? Woher diese fürchterliche und verhängnisvolle Voreingenommenheit? Sie erklärt sich, wie wir schon eingangs feststellten, aus der niederschmetternden Gewalt und der Tyrannei der »öffentlichen Meinung«.

Jahraus, jahrein hat Ziethen seine Frau, eine stille, gute und anständige Frau, in unerhörter Weise gewohnheitsmäßig mißhandelt. Die Einzelheiten, die durch die Zeugenaussagen über das eheliche Leben Ziethens in dem Prozeß zu allgemeiner Kenntnis gelangt sind, sind grauenerregend und haarsträubend. Er hat die Frau mit der Faust oder mit dem ersten besten beliebigen Gegenstand, der ihm gerade zur Hand war, in unmenschlicher Weise geprügelt. Er hat sie getreten, er hat sie fast gewürgt, er hat ihr ein Messer durch die Hand gezogen. Es gibt keine erdenkliche Scheußlichkeit, die dieses Ungeheuer von Mann nicht begangen hätte.

Zu diesen nachgewiesenen und von Ziethen durchaus nicht bestrittenen Schändlichkeiten kommt noch Ziethens Liebschaft mit der Emma Alberts in Köln. Er hatte zweifellos für das Mädchen eine starke Leidenschaft gefaßt. Sie fühlte sich zum zweiten Male Mutter. Er hatte in seinen Briefen der Hoffnung einer dauernden Verbindung mit ihr Ausdruck gegeben.

Ist es da zu verwundern, daß man bei der Kunde von der Ermordung der Frau Ziethen, die sich mit Blitzesschnelle durch die ganze Stadt verbreitete, allgemein den Verdacht aussprach, das könne nur ihr Mann getan haben? Dieser Gedanke beherrschte alle Welt, von jenem Polizeibeamten, der die erste Frage an die erschlagene Frau richtete, an bis auf die Geschworenen, die das »Schuldig« sprachen, bis auf das Publikum, das dichtgedrängt den Schwurgerichtssaal füllte und bei Verkündigung des Todesurteils in lauten Jubel ausbrach.

»Sie sind der Mörder!« hatte der Polizeiwachtmeister Weinrich Ziethen angeherrscht, als der furchtbar erregte Mann drei Viertelstunden nach seiner Ankunft in Elberfeld, von den Ärzten zurückkehrend, die Wirtsstube wieder betrat. Und was hatte den Polizeiwachtmeister zu dieser furchtbaren Beschuldigung berechtigt? Die Aussage der Frau war es nicht, konnte es nicht sein. Zu jener Zeit war Frau Ziethen nach der Aussage der beiden einzigen Ärzte, die zugegen waren, vollkommen unzurechnungsfähig. Auf das Lallen einer Unzurechnungsfähigen ist Ziethen verhaftet worden. Diese Tatsache wird auch von denjenigen Sachverständigen, die für einen späteren Zeitraum die Möglichkeit der Zurechnungsfähigkeit der Frau Ziethen nicht in Abrede stellen, unbedingt zugegeben. Die öffentliche Meinung aber gab dem Wachtmeister recht.

Als Mörder wird Ziethen untersucht, und als am andern Morgen der Polizeikommissar Gottschalk im Messer ein Krümchen findet, das alles mögliche sein kann, ein Dingelchen, kaum so groß wie ein Stecknadelkopf, sagt er, bevor dies rätselhafte Atom noch hat untersucht werden können, mit einer Sicherheit, die unter normalen Verhältnissen schier unbegreiflich wäre: »Nun, Ziethen, werden Sie nicht mehr leugnen, daß Sie der Mörder sind. Jetzt haben wir ja ein Beweisstück in Ihrem Messer gefunden!«

So ist Ziethen schon der Mörder, bevor noch die ordentliche Untersuchung eingeleitet worden ist. Sein glänzender Alibibeweis nützt ihm nichts. Die Tatsache, daß an seiner gesamten Kleidung und Wäsche nicht das geringste nachweisbare Tröpfchen Blut entdeckt werden kann, wird als unerheblich angesehen. Er bleibt darum doch der Mörder. Es ist ja der Ziethen, der diese arme Frau von jeher unbarmherzig mißhandelt hat!

Von dieser Gewißheit ist auch der Untersuchungsrichter, der sich mit der Sache befaßt, vollkommen durchdrungen. Als Ziethen vorgehalten wird, daß seine Frau ihn im Krankenhaus als den Mörder bezeichnet hat, ist er ganz außer sich. Er ruft: »Das ist nicht möglich! Das kann nicht sein! Ich bitte Sie, stellen Sie mich doch meiner Frau gegenüber. Sie kann das nicht sagen!« Der Untersuchungsrichter lehnt das ab, mit Rücksicht darauf, daß Ziethen die unbefangene Aussage durch seinen persönlichen Einfluß trüben könne.

Es wird dem Angeklagten später gesagt, jetzt endlich habe sich Wilhelm dazu bereit finden lassen, die Wahrheit zu sagen, habe ihn als Täter angegeben und die Einzelheiten des Verbrechens genau geschildert. Ziethen gerät wiederum in die größte Aufregung und beschwört den Untersuchungsrichter: »Stellen Sie mich dem Jungen gegenüber! Wenn er das sagt, lügt er ungeheuerlich. Er kann diese Lüge mir gegenüber nicht aufrechterhalten.« Auch dieses Gesuch wird vom Untersuchungsrichter mit derselben Motivierung abgelehnt, daß Wilhelm in Gegenwart Ziethens der Wahrheit nicht die volle Ehre geben werde – der Wahrheit nämlich, daß Ziethen der Mörder sei.

Ziethen hatte zunächst, als er die abgerissene Geldtasche gesehen, an einen Raubmord geglaubt. Man hatte ihn gefragt, ob er irgendwelchen Verdacht habe. Er hatte darauf auch zwei Personen bezeichnet, übelberüchtigte Individuen, schon bestrafte Verbrecher, die in seiner Wirtschaft verkehrt hatten, die die Verhältnisse des Hauses kannten. Die nach dieser Richtung hin angestellten Nachforschungen ergaben sehr bald, daß Ziethens Verdacht völlig unbegründet war. Da Ziethen aber zu diesem Zeitpunkt noch immer an dem Glauben festhielt, daß ein Raubmord vorliege, erbot er sich, dem Untersuchungsrichter eine Prämie von tausend Mark für die Ermittlung des Verbrechers zur Verfügung zu stellen. Auch diesem Ansinnen glaubte der Untersuchungsrichter keine Folge leisten zu sollen. Er fertigte es sogar mit schneidendem Hohn ab: »Wenn Sie dem Ermittler des Verbrechens eine Prämie zahlen wollen, dann geben Sie sie dem Kommissar Gottschalk« – dem Entdecker des Partikelchens!

Ein andermal sagte derselbe Untersuchungsrichter: »Sie fressen sich ja doch nicht mehr durch!« Er gibt dies auch in der Verhandlung zu: »Ja, das habe ich gesagt, denn ich hielt den Angeklagten für überführt.« Auch der Untersuchungsrichter stand also, wie er selbst zugibt, so gut wie alle anderen unter dem Druck der öffentlichen Meinung, die Ziethen und keinen anderen des Mordes beschuldigte. Ziethens Forderungen gingen nach Auffassung des Untersuchungsrichters also nicht darauf hinaus, seine Unschuld zu erweisen, sie hatten keine andere Tendenz, als seine Schuld zu verdunkeln. Ziethen wollte sich eben »durchfressen«.

Die allgemeine Antipathie, die die Person des Angeklagten einflößte, begleitete auch die Verhandlungen vom ersten bis zum letzten Augenblick. In gewissen Momenten schien eine Schwankung einzutreten, die Wucht der Tatsachen schien sich durch den Wall von Abscheu und Vorurteilen, der sich um den Angeklagten gezogen hatte, doch durchzubrechen. Da kam dann irgendein glaubwürdiger Zeuge und erzählte eine neue Scheußlichkeit, die Ziethen seiner armen Frau gegenüber begangen hatte, und das Tatsächliche verflüchtigte sich unter der Mißstimmung, die sich beim Anhören dieser häuslichen Greuel der Richter, der Geschworenen und des Publikums bemächtigte.

Daß bei einer solchen Stimmung die immerhin subtilen Zeitbestimmungen zum Nachweis von Ziethens Alibi nicht diejenige Beachtung gefunden haben, die erforderlich war, um die Vorfälle in ihrer chronologisch richtigen Folge zu überschauen und daraus die Überzeugung zu gewinnen, daß Ziethen, der schlechte Ehemann, der wüste Patron, doch nicht der Mörder seiner Frau sein konnte, das ist allerdings sehr begreiflich, wenn auch nicht entschuldbar. Auch die öffentliche Meinung kann der rasende See sein, der sein Opfer haben will!

Wie in der Voruntersuchung, so hat auch während der Verhandlungen Ziethen unter Anrufung des allmächtigen Gottes fortgesetzt seine Unschuld beteuert und nach der Verkündigung des Urteils die Worte ausgerufen: »Meine Herren, an mir ist ein Justizmord begangen worden!«

Nachdem die Vollstreckung des Todesurteils ausgesetzt und Ziethen zu lebenslänglicher Haft ins Zuchthaus eingeliefert worden war, hat er von dort aus unausgesetzt seinen Anverwandten immer und immer wieder zugeschworen, daß er vollkommen unschuldig sei, und es ihnen zur Pflicht gemacht, Wilhelm nicht aus den Augen zu lassen. Daraufhin hatten sich der Vater, der Bruder und ein Schwager Ziethens alle erdenkliche Mühe gegeben, den Aufenthalt Wilhelms, der in die Provinz gegangen war, zu ermitteln; es war ihnen auch gelungen. Sie suchten nun für Geld und gute Worte Leute, die sich an Wilhelm heranmachen und ihn aushorchen sollten, und fanden auch die ihnen geeignet erscheinenden Personen dazu. Wir müssen dabei feststellen, daß man Wilhelm mit allerhand Drohungen auf der einen Seite und allerlei Versprechungen auf der anderen Seite bearbeitet hat. Bei alledem muß man es immerhin etwas seltsam finden, daß jemand sich selbst durch Einschüchterungen und das Versprechen von goldenen Bergen dazu bestimmen lassen kann, wenn er bei gesunden Sinnen ist, einen Mord einzuräumen, den er nicht begangen hat. Womit konnte man ihm drohen? Was hatte er Schlimmeres zu gewärtigen, als ihm bevorstand, wenn er sich des Mordes beschuldigte und ihm geglaubt wurde? Und welche Belohnung konnte als ein Äquivalent für die Strafe, die seiner dann harrte, angesehen werden? Aber man könnte vielleicht entgegnen, daß Wilhelm sich über die Bedeutung einer Selbstanzeige nicht im klaren gewesen ist. Halten wir uns bei diesem Punkt also nicht länger auf.

Fast vier Jahre nach der Mordtat, in der Nacht vom 9. zum 10. Juni 1887, machte Wilhelm dem Kriminalkommissar, der durch Ziethens Verwandte Kenntnis von den beschwörenden Briefen Ziethens erlangt hatte und mit ihnen an die Unschuld des Verurteilten glaubte, im wesentlichen nachstehendes Geständnis.

Er habe am Ermordungstage, am 25. Oktober 1883, sehr viel Schnaps getrunken, habe seine Geliebte Auguste Kösting vergeblich gesucht und sei um halb elf nach Hause zurückgekehrt. Dort sei er mit Frau Ziethen allein gewesen und habe das verschüttete Vogelfutter zusammengefegt. Während des Fegens sei ihm »eigentümlich zumute« geworden. Ein unbestimmbares Gefühl, er glaubte, es sei der Durst nach Blut gewesen, habe ihn dazu getrieben, den Hammer aus dem Tisch im Vorflur zu nehmen und in dem Augenblick, als Frau Ziethen sich in der Gaststube zur Gasuhr niederbeugte, sich auf sie zu stürzen und ihr einen Schlag auf den Hinterkopf zu versetzen. Die Frau sei, ohne einen Laut von sich zu geben, nach hintenüber gefallen, er habe ihr noch drei bis vier Schläge auf die Stirn versetzt, das Blut sei umhergespritzt. Den Hammer habe er in dem Gläserspülgefäß gereinigt, mit einem Messer abgeschabt, sich an der Pumpe die Hände gewaschen und an dem Handtuch abgetrocknet. Als er Ziethen in diesem Augenblick zurückkommen hörte, sei er auf Strümpfen nach oben geschlichen. Er könne es sich nicht erklären, wie man das Blut an seiner Hose nicht bemerkt habe. Er habe dasselbe am Tage vor der Verhandlung am Schwurgericht ausgewaschen und diese Hose während der Verhandlung getragen.

Nach diesem Geständnis wurde Wilhelm am 11. Juni verhaftet.

Am 20. Juni hielt Wilhelm vor dem Richter sein Geständnis aufrecht. Er wiederholte es nochmals bei einem Verhör am 27. Juni und führte auch diesmal als Motiv der Tat die plötzlich in ihm aufwallende Sucht, Blut fließen zu sehen, an.

Bei späteren Verhandlungen änderte er Einzelheiten. Am 4. und 6. Juli sagte er aus, er sei am Abend des Mordes durch Branntweingenuß sinnlich erregt gewesen, seine Geliebte habe er nicht getroffen, der Anblick der Frau Ziethen habe auf seine Sinne gewirkt. Er habe sie mit dem Hammer niedergeschlagen, nach der Tat kein Leben mehr an ihr bemerkt und sie für tot gehalten. Nachher habe ihn eine große Angst befallen, und er habe versucht, die Spuren des Verbrechens zu beseitigen. – Bei dieser Vernehmung gab Wilhelm auch genau die Zeit an, und bei diesen Angaben ist er bei den zahlreichen Vernehmungen, die nun folgten, auch geblieben. Nachdem er um halb elf aus der Faßbenderschen Wirtschaft nach Hause kam, habe er etwa zwanzig Minuten vor elf den ersten Schlag gegen Frau Ziethen geführt. Etwa zehn Minuten nach elf habe das Attentat mit seinen Folgen sein Ende erreicht gehabt. Dieses Geständnis wiederholte Wilhelm an demselben Tage noch in Gegenwart seiner Tante, der Witwe Linden. Er vergoß dabei bittere Tränen, erklärte aber, nachdem sie sich entfernt hatte, daß er sich nunmehr ganz erleichtert fühle. Er bat, man möge die Verhandlung nur bald stattfinden lassen, aber unter Ausschluß der Öffentlichkeit, da er sich vor der Elberfelder Bevölkerung fürchte und schäme.

Am 16. Juli wurde Wilhelm wiederum von dem Untersuchungsrichter vernommen und darauf aufmerksam gemacht, daß auf die von ihm eingestandene Tat die höchste Strafe stände. Er blieb indessen dabei und erklärte, er sehe selbst der hohen Strafe mit Gleichmut entgegen. Auf die Frage des Untersuchungsrichters, weshalb er zuerst den Blutdurst als Motiv angegeben habe, erwiderte er: »Es fiel mir schwer, mit dem wahren Grund herauszukommen. Ich genierte mich. Heute bin ich froh, daß ich es los bin.«

Auf die an Wilhelm gestellte Frage, woher es wohl käme, daß Frau Ziethen ihren Mann der Tat bezichtigt habe, gab er die Antwort: »Ich erkläre mir dies daher, daß Frau Ziethen dies angenommen hat, weil Ziethen die erste Person war, welche nach vollbrachter Tat mit ihr gesprochen hat. Frau Ziethen hat mich nämlich nicht gesehen, als ich sie erschlug. Ich kam leise von hinten, während sie sich nach vorn zur Gasuhr beugte. Ich bin überzeugt, daß Frau Ziethen nicht gewußt hat, daß ich sie mit dem Hammer geschlagen habe.«

Am 19. Juli verlangte Wilhelm vor den Untersuchungsrichter geführt zu werden und erklärte diesem, er sei es satt, »für andere Leute den Kopf ins Loch zu stecken«. Er widerrief die früheren Geständnisse, zu denen er durch seine Gier nach der ihm vorgespielten Belohnung bewogen worden sei. Er erklärte, von dem Mord überhaupt nichts zu wissen. Zu seinen Angaben über die Einzelheiten, wie Ziethen seine Frau erschlagen haben solle, zu dieser falschen Beschuldigung Ziethens, wäre er durch die Vorhaltungen des ersten Untersuchungsrichters veranlaßt worden, der ihm beständig gesagt, er müsse von der Sache doch mehr wissen, als er bisher gestanden habe.

Am 29. Juli erfolgte zum ersten Male eine Konfrontation Wilhelms mit Ziethen. Der Lehrbursche ging ruhig auf Ziethen zu und reichte ihm die Hand mit den Worten: »Verzeihen Sie mir, Herr Ziethen!« Ziethen nahm die Hand nicht an, sondern fragte nach längerem Stillschweigen: »Warum bittest du mich um Verzeihung?« – »Weil ich Sie falsch beschuldigt habe«, erwiderte Wilhelm.

Es wurde Ziethen gestattet, verschiedene Fragen an Wilhelm zu richten, unter anderem, ob er mehr von dem Mord wisse. Wilhelm verneinte das. Darauf wurde ihm Gelegenheit gegeben, seinerseits Fragen an Ziethen zu richten, und Wilhelm stellte die Frage, ob Ziethen nicht durch seine Neigung zu Emma Alberts zur Tat bestimmt worden sei und das Verbrechen vielleicht durch andere habe begehen lassen. Da rief Ziethen entrüstet aus: »Ich sage es ihm nun auf den Kopf zu, daß er der Täter ist! Er kann sonst nicht so fragen!« Am 4. und 9. August beharrte Wilhelm bei dem Widerruf seines Geständnisses. Am 11. August aber weinte Wilhelm, als er dem Richter zugeführt wurde, und brach in die Worte aus: »Meine arme Tante! Mag sie mich verstoßen! Wenn sie mich nur nicht verflucht!« In dieser Stimmung legte er dann ein wiederum vollständig neues, sehr umfassendes Geständnis ab. Es enthält unzweifelhaft zahlreiche Einzelheiten, die sich mit den offenbar gesicherten Feststellungen am besten vereinbaren lassen. Wilhelm erzählte, er sei von dem vergeblichen Aufsuchen seiner Geliebten bei Frau Küsters und in der Faßbenderschen Wirtschaft angetrunken nach Hause gekommen. Die allein anwesende Frau Ziethen habe ihm Vorhaltungen wegen seines Ausbleibens und wegen des fehlenden Schnapses, den er am Nachmittag mit seinem Freund Roll ausgetrunken hatte, gemacht. Sie habe gedroht, es ihrem Manne zu sagen und sich auch nicht erweichen lassen, als Wilhelm sie dringend bat, es nicht zu tun. Darauf habe sich ein Wortwechsel zwischen ihnen entsponnen, und Frau Ziethen habe ihm einen Schlag ins Gesicht gegeben. Er habe den Schlag erwidert. Sie habe ihm darauf noch einen Schlag hinter die Ohren versetzt. Da habe er mit den Worten: »Jetzt haben Sie verspielt!« den Hammer ergriffen. Bei dem Ringen um den Hammer seien der Frau ihre Haarzöpfe entfallen. Frau Ziethen habe ihn auf einen Stuhl niedergedrückt. Wilhelm habe sich wütend losgerissen und ihr mit dem Hammer einen Schlag gegen die Stirn versetzt, so daß sie rücklings auf den Boden fiel. Dann habe er ihr noch einen weiteren Schlag mit dem Hammer gegeben. Nun habe ihn die Angst erfaßt. Jetzt erst habe er bemerkt, daß die Tür nach der Straße noch offenstand. Er sei hinausgetreten und von Schwartmann bemerkt worden. Alsdann habe er die Spuren von seinen Händen beseitigt, den Hammerstiel mit seinem eigenen Messer abgeschabt und dasselbe in der Berliner Straße aus dem Wagen geworfen, als er am folgenden Abend in der Dämmerung zum zweitenmal nach dem Arresthaus gefahren wurde. Am Abend des Verbrechens habe er das Messer auf sein Zimmer mitgenommen, dort auf einen Stuhl gelegt, mit der Waschschale bedeckt und erst am folgenden Tag zu sich gesteckt.

Am Tag, der diesem neuerlichen Geständnis Wilhelms folgte, wurde er wiederum Ziethen gegenübergestellt. Beide schwiegen geraume Zeit. Der Richter stellte an Wilhelm die Frage, ob er nicht das Bedürfnis fühle, sich Ziethen gegenüber auszusprechen. Da begann der Junge, während er sein Weinen zu unterdrücken schien, mit leiser Stimme Ziethen um Verzeihung zu bitten. Er vermochte nur zu sagen: »Verzeihen Sie mir! Ich bin es gewesen! Sie aber sind unschuldig!« Nach einer Pause sagte er dann von neuem: »Verzeihen Sie mir, daß ich Sie ins Unglück gestürzt habe!« Danach wiederholte er vor Ziethen sein Geständnis.

Am 15. August wurde Wilhelm von seiten des Untersuchungsrichters vorgehalten, daß er unmöglich sein Messer in der von ihm angegebenen Weise beseitigt haben könne. Wilhelm lächelte und gab, nach dem Grunde des Lächelns befragt, zur Antwort, er lache, weil schon wieder die Versuchung in ihm aufsteige, sein Geständnis zu widerrufen. Schließlich sagte er: »Gott mag wissen, wie es gegangen hat!«

In den beiden nächsten Vernehmungen erklärte Wilhelm, daß er Frau Ziethen nur zwei Schläge mit dem Hammer gegeben und deutlich gemerkt habe, daß nicht der erste, wohl aber der zweite Schlag die Hirnschale zerschmettert habe. Die der Frau Ziethen beigebrachte Verwundung habe nicht den großen Umfang gehabt, den der Befund ergeben. Seiner Meinung nach müsse also Ziethen nachher seiner Frau noch mehrere Schläge gegeben haben! Er will nun auch den Hammerstiel nicht mehr abgeschabt haben und erklärt, das, was er bisher über das Wegwerfen des Messers gesagt habe, sei unwahr. Er habe sich begnügt, den Hammer abzuwaschen.

Das ist die letzte Vernehmung Wilhelms, von allen unbedingt die unwahrscheinlichste.

Wie Wilhelm dazu kommt, auf der einen Seite zuzugeben, daß er die Frau erschlagen habe, dann aber wieder in Abrede zu stellen, daß die von ihm ihr beigebrachte Wunde so fürchterlich gewesen sei, wie sich bei der Obduktion herausstellte, und demnach es als eine Möglichkeit hinstellt, daß Ziethen die schon Erschlagene noch weiter habe erschlagen müssen, ist, wie so vieles in den Angaben Wilhelms, rätselhaft und unentwirrbar.

Aus allen diesen Aussagen Wilhelms haben wir nur das eine im Auge zu behalten, daß Wilhelm auch nach seinem Widerruf der früheren Angaben schließlich bei der Erklärung geblieben ist, er habe Frau Ziethen zwei Schläge mit dem Hammer versetzt. Diese Aussage hat er nicht mehr widerrufen.

Welche Beweggründe ihn aber bei der Tat in Wahrheit geleitet haben, ist nach seinen sich beständig widersprechenden Angaben unmöglich festzustellen. Betrunkenheit, Sinnenlust, Blutdurst, Angst vor Ziethen, alles, was Wilhelm im einzelnen aufführt, mag sich in jenem verhängnisvollen Augenblick zusammengetan haben, um den überreizten, fassungslosen Burschen zu der fürchterlichen Bluttat zu treiben. Die Motive für die Tat aufzufinden ist aber wohl in höherem Grad die Aufgabe des Psychologen als die des Strafrichters, für den, wenn sich die Tat selbst als erwiesen darstellt, die Erforschung der Ursache erst in zweiter Reihe in Betracht kommt. Der Beweis dafür, daß Wilhelm in Wahrheit der Täter gewesen ist, darf aber aus den festgestellten Tatsachen als unbedingt erbracht angesehen werden. Wilhelms Angaben haben dabei nur einen indikatorischen Wert, insofern sie nämlich zum Teil durchaus dazu angetan sind, die noch vorhandenen Lücken auszufüllen.

Das Elberfelder Gericht faßte nunmehr den Beschluß, das Verfahren gegen Ziethen wieder aufzunehmen. Das Kölner Oberlandesgericht hat diesen Beschluß verworfen! Der Staatsanwalt des Oberlandesgerichts hatte die eigentümliche Aufgabe zu lösen, für Wilhelm, der sich selbst des Mordes bezichtigt hatte, gewissermaßen die Rolle des Verteidigers zu übernehmen und den Nachweis zu versuchen, daß Wilhelm sich fälschlich beschuldigt habe. Er tat das, indem er behauptete, das zuletzt vorliegende Geständnis Wilhelms sei nicht geeignet, den Wiederaufnahmebeschluß zu rechtfertigen. Wolle man es als wahr annehmen, so habe er nur zwei Schläge selbst ausgeführt, und nachher müßten von Ziethen noch weitere Schläge erfolgt sein. Das ganze Geständnis sei indessen in seinen stets wechselnden Angaben unglaubhaft. Wilhelm sage offenbar nicht nach Maßgabe der Wahrheit, sondern nach einer augenblicklichen Stimmung aus. Das Geständnis könne weder als neue Tatsache angesehen werden, welche die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Ziethen rechtfertige, noch als eine solche, die die Wiederaufnahme zuungunsten des Wilhelm gestatte. Mit anderen Worten: Bei der vollkommenen Verlogenheit des Burschen habe alles das, was er gesagt habe, keine Bedeutung. Wilhelm ist in Freiheit gesetzt worden, Ziethen ist im Zuchthaus geblieben. Seiner grenzenlosen Verlogenheit also verdankt Wilhelm diese Freiheit. Man hat dem Lügner nicht geglaubt, auch wenn er die Wahrheit sprach.

 

Wenn es mir in dieser langen Darstellung, die ich so sachlich und ruhig wie irgend möglich zu halten mich bemüht habe, gelungen ist, den Nachweis zu erbringen, daß die Verurteilung Ziethens wohl dazu geeignet ist, die ernsthaftesten Bedenken wachzurufen, und daß die einem Menschen wie diesem Wilhelm eingeräumte Möglichkeit, frei herumzulaufen, nicht minder ernste Gefahren in sich einschließt, so ist mein Zweck erreicht.

Den Vorwurf »sensationeller journalistischer Behandlung« des Stoffes wird mir, wie ich hoffen darf, Herr Landgerichtsdirektor Barre nicht länger machen wollen. Er wird mir auch die Anerkennung nicht versagen, daß ich die ernsthafteste Mühe darauf verwandt habe, mich in den labyrinthischen Irrgängen der tagelangen Verhandlungen und der Aussagen von 93 Zeugen zurechtzufinden. Ich habe das gesamte Material, so vollständig es mir möglich war, zusammengetragen und meiner jetzigen Darstellung zugrunde gelegt, nämlich: die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, die als stenografisch bezeichneten Berichte über die Schwurgerichtsverhandlungen in Elberfeld vom 28. Januar bis 2. Februar 1884, die die »Elberfelder Zeitung« veröffentlicht hat,

den Bericht über die Verhandlungen, der als Broschüre im Verlag von J. H. Born in Elberfeld erschienen ist, und endlich die von Landgerichtsdirektor Ernst Barre aus den Akten geschöpften sachlichen Angaben, namentlich über die Vorgänge, die dem Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens vorangegangen sind.

Ich weiß ganz gut, daß ich kein Kriminalist bin. Wenn es sich um Feststellungen schwieriger Rechtsbegriffe, um die Anwesenheit gewisser Gesetzesparagraphen auf diesen oder jenen heiklen Fall – wenn es sich um irgend etwas handelte, das fachmännisch-juristische Schulung erheischt, so würde ich mir sicherlich nie herausnehmen, dem Direktor eines Königlichen Landgerichts entgegenzutreten. Hier handelt es sich aber nicht um Fragen der Rechtsprechung und juridische Subtilitäten, sondern ganz allein um Dinge, zu deren Verständnis der gesunde Menschenverstand genügt und zu deren Diskussion auch der Laie berechtigt ist.

Die Zeiten sind vorüber, da der Rechtsgelehrte sich mit dem stolzen »Noli turbare circulos meos« »Stört mir meine Kreise nicht« (lat.) in das Bewußtsein seiner fachgebildeten Überlegenheit und Unnahbarkeit zurückziehen durfte. Der Wert des unbefangenen Urteils, wie es der gesunde Sinn des gewissenhaften Laien fällt, hat in den wichtigsten Institutionen unserer Rechtsprechung Anerkennung gefunden: Wir haben Schöffen und Geschworene. Zum Erfassen des Tatbestandes bei einem begangenen Verbrechen, wie er sich aus dem sachlichen Befund, aus den Aussagen der Zeugen und den kontradiktorischen Darstellungen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung herausstellt, genügen klarer Verstand, ernste Gewissenhaftigkeit und allerdings auch der redliche Wille, ohne irgendwelche Voreingenommenheit für oder wider den Angeklagten Partei zu nehmen.


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