Meinrad Lienert
Das Glöcklein auf Rain
Meinrad Lienert

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V.

Auf den Dächern des ansehnlichen Dorfes Bohlishusen lag etwas Schnee. Sie sahen aus wie überzuckert. Bisan war der Winter ein harmloser Geselle gewesen und er schien es bleiben zu wollen. So recht hatte er sich nie ins Land hineingewagt. Er schien sich in den Alpen, die nun über und über seine weißen Farben trugen, verschanzt zu haben. Immer wieder, wenn er ins Hügelland vorstoßen wollte, ließ der Föhn sein Horn ertönen und jagte den kalten Nord auf den Berg zurück. Nicht einmal an den fast überschlanken Turm der Dorfkirche hatte er seine weißen Wimpel zu hängen vermocht. Der Schwalben schon gewiß, die ihn bald wieder umkreisen würden, ließ der Kirchturm seinen roten Helm in der Abendsonne, die jetzt aus ihrem Wolkenlager nach ihm sah, über das Dorf hinweg in die Welt hinausleuchten.

Aber die Kinder zu Bohlishusen hatten gar keine Freude an diesem Schwächling von einem Winter, der sie um Schlittenfahrt, Schlittschuhlauf, Schneeballschlachten, Höhlen-, Burgen-, Hoch- und Tiefbau aller Art im Schnee, ja sogar um die seltene Wonne des 212 Skigleitens auf den nicht zu nahen Höhen, so elend betrog. Kaum diese dünnschaligen Eisgumpen, die man mit dem Fuß eintreten konnte, hatte er ihnen vergönnt. So blieb einem ja vom Winter, auf den man sich doch so gefreut hatte, nichts, als die langweiligen Schulaufgaben. Doch, ein Vergnügen war der Jugend aus der letzten Schneestäuberei doch geworden; man hatte sich eine lange Eisschleife austreten können, die sich nun von der Bäckerei zum Halbmond am Dorfbrunnen vorbei bis vors Haus zum billigen Laden sänftiglich und gleißend hinabzog. Diese Schleife war den Dorfkindern jetzt gar kostbar. Sie erschien ihnen als etwas fast Unersetzliches, denn einem dürftigen Genossenbäuerlein ist eine guttuende Ziege was dem Sentenbauer drei Dutzend Kühe, die alltag einen Milchsee machen. Die Schüler und Schülerinnen, die über die wunderfeine Eisschleife mit Heijupedihee in allen Tonarten hinabglitten, nannten diese Fahrgelegenheit einfach sauglatt, das höchste Lob, das sie zu Bohlishusen und der Enden für ein Ding hatten.

Am Fenster in der Stube ob dem billigen Laden saß mit träumerischen Augen das Agnesli Hochrütiner. Es strickte an einem dreifarbigen Strumpf und verlutschte dazu mit sichtlichem Behagen ein Bonbon, deren es vor ihm auf dem Gesims hinter dem Doppelfenster ein zierliches Schälchen voll gab, lauter 213 süßsäuerliche Fruchtsteinchen, die ein buntes Geblüme und sogar das weiße Kreuz im roten Feld zeigten.

Nein, dachte das Agnesli, wie's diese Kinder da unten vor dem Haus doch mit ihrer Eisschleife so lustig haben! Nun bin ich schon ein ganzes Jahr aus der Schule und darf natürlich nicht mehr mittun, und es wäre so fein, wenn man mitschleifen könnte und dabei gar zu zweit, Hand in Hand mit einem Schulschatz. Aber natürlich läßt sich der Alex ja nie mehr sehen. Die Base weiß ihm anderes zu tun und außerdem weiß man ja, ich habe da schon hingehört, wie's das Männervolk hat, heute . . . Sie schaute mit einem müden Blick zu Mikeli hin, das am Tafeltisch, auf dem immer noch das Vesperbrot mit allem zugehörigen Geschirr stand, seine Hausaufgabe für die Schule machte. Nein, wie die alleweil mit ihrem Griffel auf der Schiefertafel herumkratzt! Es geht einem durch Mark und Bein bis in die Fingerspitzen hinaus, wollte es das Agnesli bedünken. Und dazu, es kam ins Kichern, – kaut dieses dumme Schwesterlein jeden Buchstaben, den es mit heiligem Ernst in seine Tafel hineinkratzt, zugleich ganz laut: L – M – N . . . Wahrhaftig, es ist zu spaßhaft. Laut auf lachte das Agnesli und alsdann in einen Dämmerwinkel hineinschauend, in dem das Roseli, seine ältere Schwester einfach so dalag, die Arme unterm Kopf hatte und mit glänzenden Augen zur getäfelten, weißgestrichenen Decke 214 hinaufstaunte, rief es: »Rosi, Jetzt räume einmal ab, du hast doch wohl Zeit dazu! Unsereins muß immer Strümpfe stricken und du faulst nur so auf allen Stühlen und auf dem Kanapee herum und denkst natürlich . . .« Ein kurzes Auflachen, »he, man weiß ja schon an was oder an wen du denkst.«

»Und du«, kam's vom Lotterbett im Winkel, »versaugst eine Zuckerbäckerei voll Bonbons und bist dabei noch nicht einmal zufrieden, weil du lieber gehabt hättest, die Basepatin hätte dir, als sie heute morgen hier war, von jenen Feuersteinchen gebracht, wo's so verliebte Verschen drin gibt.«

»Ja, du mußt etwas sagen, Rosi. Meinst du, ich hätte vorgestern abend, es ist ja schon ganz dunkel gewesen, nicht gesehen, wie der Ferdi mit dir immer um unser Haus Jagd gemacht hat und wie er dich gar noch in unsern Kohlenschopf hineinziehen und züngeln wollte. O!«

»Ja, o!« kam's kichernd vom Kanapee her, »er hat mich aber nicht hineingebracht. Er wollte mir übrigens nur etwas sagen, das nicht alle Leute zu hören brauchen.«

»Natürlich, daß du sein herztausiger Schatz bist, hat er dir sagen wollen, o, das kennt man!« rief das Agnesli aus. »Als ob er dir das nicht schon hundertmal gesagt hätte.«

»Aha, nicht wahr, du kleine Kröte, die sonst vor 215 den Leuten alleweil tut, als ob sie eben auf die Kommunionbank zuginge«, kam's herum, »wenn dich aber der Alex wieder wie letzthin verküßt . . .«

Es wurde plötzlich still, denn das Mikeli ließ den Griffel sinken und horchte mit Aug und Ohr in den Dämmerwinkel zu Roseli hin.

Da sprang das Agnesli auf, das mit zündroten Wangen eben einen Blick durchs Fenster auf den Dorfplatz hinab getan hatte: »Seht, seht« rief es aus, »die Base Brigitt aus der Wydlen und der Vetter Ludi, der Sauludi«, setzte sie gedämpft bei, »kommen geradeswegs am Brunnen vorüber auf unser Haus zu!«

Auch das Mikeli war aufgesprungen. Das Roseli hingegen, das so wohlig und behaglich, wie für winterlang, auf dem alten, immer wieder ächzenden Beleger hingegossen war, tat keinen Wank. »Meinetwegen«, sagte es, wie ein grünes Wieslein, auf dem die Maulwürfe zu stoßen beginnen, maienfrisch daliegend, »es ist mir gleich. Deswegen stehe ich noch lang nicht auf. Die Base Brigitt und der Chemifeger gehen ja doch nur in den Laden zum Vater.«

»Heja, aber man sollte doch gewiß einmal den Tisch abräumen«, meinte mit vorwurfsvollen Augen das Mikeli, »die Mutter hat doch gesagt, wir müssen des Vaters schwarzes Gewand, besonders seinen Zylinder und den Heiligtagrock abstauben und gehörig ausputzen.«

216 Über einen Sessel am Tisch hing ein langer, ziemlich gebrauchter Bratenrock, und auf der einfachen Kommode, unter einem Farbendruck, der den Rheinfall zeigte – es hätte auch der Niagara sein können –, stand ein ungewöhnlich hoher, altmodischer Zylinder, der wie der unferne See der Alpen, schattenhalb dunkel und im Tagheitern grünlich aussah.

»Ach was«, kam's vom Kanapee her, »bis jetzt hat das Glöcklein auf Rain noch nicht geläutet.«

»He, seht«, rief jetzt aufgeregt kichernd das Agnesli, »die Base aus der Wydlen und der Vetter Ludi mit seinem Hund, dem Fliegenschnapper, kommen nicht allein, die Buben sind bei ihnen, der Ferdi, heja, und der Alex!«

Heijo, wie wurde da das Roseli, das so traumschwer dalag und wie ans Kanapee angeklebt schien, auf einmal so federleicht. Ein Hui war's am Tisch: »Macht, macht«, rief's hastig, fast lärmend, »wir müssen abdecken und das Geschirr hinaustragen! Es ist wegen der Base.«

»Ja, ja, und wegen noch andern Leuten«, sagte das Agnesli, ebenfalls wacker beim Abräumen des Tisches zulangend. »Geh schnell und ruf der Mutter, Mikeli!« heischte das Roseli; »sie hängt mit der Magd Wäsche auf der Winde auf.«

»Ja, du hättest dabei der Mutter wohl auch helfen können, Rosi, bist alt genug dazu«, meinte das Agnesli.

217 Jedoch ihre ältere und auch größere Schwester schien das nicht zu hören. Sie riß nun selber die Tür auf und lärmte durchs Stiegenhaus hinauf: »Mutter, Mutter, die Holzhändlerin kommt!« Und durchs Stiegenhaus hinunter: »Vater, die Base aus der Wydlen und der Chemifeger kommen zu uns!«

»Ja, ja«, tönte es dumpf aus dem Keller herauf, in dem der Langhänsel eben eine Sendung Erdäpfelschnaps eingekellert hatte, »ich höre noch gut genug, brauchst nicht so zu lärmen.«

Und als nun die Frau Brigitt Anderbalm aus der Wydlen vom Rotenbach mit ihrem, wie immer auf etwas unsichern Beinen gehenden Bruder Ludi, der seinen Köter vor der Türe lassen mußte, in den billigen Laden trat, war der andere Bruder, der Hänsel, schon vorhanden. Man begrüßte sich so kurz als möglich. Man brauchte ja da in der Hinsicht nicht so viel dran zu tun. Was hatte das für einen Wert? Man war sich ja gewohnt. Alsdann aber rief der Langhänsel nach seiner Frau. Sie kam sogleich und begrüßte in ihrer übersüßen Weise die Verwandtschaft, die sich aber aus ihr nicht viel machte. Dem Ludi kam die unscheinige Frau immer vor wie ein ausgetrocknetes Zehnrappenwegglein, das vom Sonntag her liegengeblieben ist. Jedoch der Hänsel, ihr Mann, gebot ihr ziemlich barsch, sie solle den Laden hüten, er wolle mit Schwester und Bruder ins Büro.

218 Wie sie sich nun im Büro, das eine mittelgroße, nüchterne und feuchte Hinterstube voll Krimskrams war, auf den paar häßlichen Rohrsesseln, die um einen neuen tannenen Tisch standen, niedergelassen hatten, drehte der Langhänsel das Licht einer trostlosen elektrischen Birne an; denn das Lokal hatte kein Fenster, außer einem Scheiblein in der Tür. Und nun wurde er auf einmal ernst, fast feierlich. Auch die hochgewachsene, allseitig wohlumschanzte Witfrau Holzhändlerin hatte jetzt auf ihrem vollmondigen, ganz und gar unbeweglichen Gesicht so eine Art Schatten, etwas Schattenhaftes. Man konnte es für eine Mondfinsternis nehmen.

»Wie's mir scheint«, hob sie aber starkstimmig wie immer zu reden an, gradaus auf ihren langen, hagern Bruder schauend, der ihr gar ernst auf den Mund sah, »hat man da im billigen Laden auch schon einen Ton von dem Unglück vernommen. Ich komme schnurstracks vom Rotenbach her. Mein Wagen steht ja jetzt bei der Bäckerei zum ›Guten Willen‹ oben, habe dort Scheiter abgeliefert. Und darnach ist nun natürlich mein erster Gang zu dir gewesen. Der Ludi hat mich jedenfalls am Pintlein zum ›Weißen Raben‹ vorbeigehen sehen; denn er ist gleich heraus und auf mich losgefahren und hat mir die böse Neuigkeit brühwarm mitgeteilt! Was, oder nicht?« Barsch sagte sie's zu ihrem altern Bruder, redete aber, ohne auf seine 219 Antwort zu warten, weiter: »Hingegen, er ist gleichwohl nicht der erste gewesen, der mir das Unglück zu wissen tat. Man hat's mir aus der Bohlishuser Sparniskasse telephoniert. Und da die Jungen grad mit Scheitholz ins Dorf fahren wollten, bin ich mitaufgesessen, und nun wäre ich hier. Ja, und jetzt wie ist's, wie steht's auf Rain? Der fallende Baum muß ihn arg gestreift haben, als sie hinten am Raingütsch Holz umtaten. Hast du schon hinauftelephoniert, Hänsel?«

»Freilich«, machte jetzt der Langhänsel, seine tiefliegenden Augen völlig verschwinden lassend, »es soll den Großen wüst getroffen haben, so heillos, daß ich mich nicht recht getraute, oben anzufragen. Nicht wahr, ist's zum Sterben, so tut's uns das Glöcklein auf Rain früh genug zu wissen, und ist's nicht gar so schlimm, so wollen wir mit unserm Telephonieren die Leute auf dem Hof oben, die jetzt sowieso in Aufregung sein werden, nicht auch noch aus Rand und Band bringen helfen. Was hat man diesfalls von einem Telephon, was nützt das dem Hansbaschi, wenn wir anfragen? Er bekommt ja jetzt doch nichts davon zu wissen. Hinauf müssen wir, Brigitt, das ist nun die Hauptsache, so schnell als christenmenschenmöglich hinauf und schauen, was man für ihn allenfalls noch tun kann. Daß es bedenklich um den Bruder steht, ist sicher und gewiß; der Rasierer Gust hat es mir vor einer kleinen Stunde im Laufschritt ins Haus gebracht. Ich wäre 220 schon hinauf auf Rain; aber die großen Korbflaschen voll Schnaps kann man nicht über eine Winternacht draußenstehen lassen. So habe ich sie eben versorgen müssen. So bös soll es mit unserm Großen stehen, daß ich schon das Leid habe aus dem Kasten nehmen, es bereitmachen und abbürsten lassen; denn wenn wir heute abend zum Beten hinaufmüssen, so wird eben der dunkle Feiertagsaufrust auch mitmüssen . . .«

»Ja, 's Kuckucks, was, so bös steht's gar mit dem Hansbaschi?« machte eifrig, aber immerhin mit etwas verschattetem Gesicht die Holzhändlerin. »Ja, ja, das Holzen ist noch immer eine Sache gewesen, bei der man sich in acht nehmen muß. Der Meinige selig hat's auch immer gesagt. Also, eine Tanne hat ihn noch erwischen mögen im Umfallen und ihn derart zugerichtet?«

»Jawohl«, rief jetzt der Ludi wichtig, eilfertig aus; »man redet von einer Hirnerschütterung.«

»So, eine Hirnerschütterung«, machte der Langhänsel; »da könnte es am Ende doch noch länger gehen mit ihm.«

Es wollte seiner Schwester Brigitt vorkommen, sein trauerndes Gesicht habe schon wieder einen Schatten weniger, wie die Dämmerung beim Tagen, aber es sei dafür, samt dem Bockbart, länger geworden.

»Ich sag nur, schlimm und vielleicht ganz schlimm muß es mit dem Hansbaschi stehen«, fuhr der Ludi 221 zu reden fort. »Ich hab's von einem Autofahrer, der im ›Weißen Raben‹ eingekehrt ist und einen Kognak auf die Zähne genommen hat. Der ist eben, als der Baum gefallen ist, am Gütsch vorbeigesaust. Auch hat nachher die Wirtin berichtet, die grad aus der Metzg kam, es gehe schon ein Gerede im Dorf, man sei dem schwergetroffenen Rainler auf Herr und Doktor los. Ich wäre natürlich schon heim, hinauf auf Rain; aber«, machte er, seinen Schnauz nachdenklich herablassend, »man hätte am End dort oben meinen können, ich komme schon zum Erben. Zudem weiß ich ja, daß ich auf Rain nie wert ankomme oder gar willkommen bin. Ihr wißt ja, wie mich der Große seinerzeit zu Haus und Hof hinausgeworfen hat, bloß wegen so einem tränenseligen Weiberflünklein. So gehe ich nicht grad gern hinauf, wenn ich nicht muß und . . .«

»Und wir oder andere Leute so dumm sind, dir zu pumpen«, warf die Holzhändlerin ein, was der Ludi so selbstverständlich schluckte, als wäre es ein etwas gepfeffertes Gläschen Erdäpfelschnaps. Ja, ein wenig lächerte es ihn sogar. Aber seine Schwester sprach weiter: »Gleichwohl, eins ist gewiß, gut kann's mit dem Hansbaschi nicht stehen. So eine Tanne fällt nicht um wie eine Fahnenstange. Es wird ihm den Kopf erreicht und zerschlagen haben, und es kann sein, daß noch eine Blutung innerhalb dazugekommen ist.«

»Es wäre doch traurig, schade wär's, beigott, um 222 den Großen«, sagte der Langhänsel mit beelenderischem Gesicht, »jammerschade, wenn er mit Tod abgehen müßte. Am End ist er uns doch ein guter Bruder gewesen und, heja, potz Donner, ein Bauer, der weitum den schönsten Hof gehabt hat und der deshalb doch nicht den Stolzgockel machte und sich hochtrug; denn er hat jedermann das Seinige gönnen mögen und für jeden Stromer, ja für jedes Kind ein freundliches Wort gehabt.«

»Ja«, meinte jetzt der Ludi, den unappetitlichen Schnurrbart hebend und mit einem ausgehöhlten Gesicht von einem zum andern sehend, »am End, ein aufrechter Mann ist der Hansbaschi ja gewesen; das, nein, das will ich ihm nicht durchtun und wegreden. Nur gähschüssig war er und nicht der verträglichste, wenn's ihm einer oder eine nicht hat vertreffen können. Auch hat er bei all seinem freundlichen Gehaben doch immer durchstieren wollen, was er sich vorgenommen hat. He natürlich, er hat eben früh schon gewußt, daß er der Kronprinz ist. Ich wünsche ihm aber allweg nichts Böses, im Gegenteil. Meinetwegen soll ihm auch noch vom Himmel herab, soweit unseres Vaters Heimwesen geht, Gras und Korn wachsen, auch wenn ich die Ohrfeige nicht vergessen kann, die er mir der verfuhrwerkten Liebesgeschichte wegen gegeben hat, die ich mit seiner Magd, der märzentupfigen Hermine hatte. Es ist ihn ja weiter 223 nichts angegangen, auch wenn ich eine Kammer auf seinem Hof hatte. Ich kann doch gern haben, wen ich will. Es hat dem Großen ja auch niemand verboten, auf seinem Hof allenfalls das Weibervolk ein wenig zu verkurzweilen. Ich habe mit der Hermine recht abgemacht. Ja, heißt das, das arge Geschirrlein hat mich fürchterlich ausgenüsselt und mir den letzten Sack voll Silberlinge, mit denen ich vielleicht doch noch den Doktor hätte machen können, abgelesen. Aber Schwamm drüber. Die besagten Silberlinge sind samt und sonders bachab für immer; denn sie haben es nicht wie die Forellen, daß sie zur Laichzeit wieder über alle Bachwuhren hinauf zurückspringen. Hingegen, nein, an das will ich jetzt nicht mehr denken, und wenn's mit dem Hansbaschi aus und Amen sein sollte, bin ich, beim Eid, der erste, der mit ihm noch tränenden Auges auf den Friedhof geht.«

»He, jetzt an dem ist's ja vielleicht doch noch nicht«, machte der Langhänsel, »aber natürlich, man muß auf alles gefaßt sein und wenn's eben den Zug zum Schlimmen hat und einem so bestimmt ist, so sperrt man vergeblich dagegen. Jetzt, was aber jene Affäre anbelangt, Ludi, die der Große wegen deiner und seiner Magd Hermine hatte, so muß man bloß sagen: Sei du nur froh, daß dir der Hansbaschi in allen Teilen so angestanden ist und das Mensch entlöhnt hat, das ihn doch eigentlich nichts 224 angegangen ist, dich aber hingegen zu einer Art Vater gemacht hat.«

Alle drei lachten, aber der betroffene Chemifeger am lautesten. »Bruderherz«, sagte er dann, »wirst ja keinen moralischen Zustupf an mich richten und die Gesetzestafeln vom Sinai für meine Augen frisch abstauben wollen, nehme ich an. Meines Wissens bist du hiefür nicht besonders berufen, denn du bist ja auch kein Vegetarianer und Fleischverächter. Du machst dich nur so mehr hintendurch an die Fleischtöpfe Aegyptens und dergleichen kleine Freuden. Auch darf es nichts kosten, wobei du den Spruch, daß, was nichts kostet, nichts wert sei, wenig respektierst. Jedenfalls, Hänsel, bist du immer der durchtriebenste und vorsichtigste von uns allen gewesen und hat sich keiner so schön rundum warm zu halten gewußt, ohne sich zu brennen, wie du, und niemand es so verstanden weitherum, wie du, aus der hl. Ehe ein gutes Geschäft zu machen. Hast ja immer gesagt: Ja, ja, das Lieben sei etwas Schönes, es verkurzweile einem den Lebensweg noch weit über eine Handorgel, aber das hänge am End alles in der Luft und eine gute Heirat sei das zuverlässigste Fundament, um sich ein stattliches Haus drauf zu bauen. Jetzt, was du unter guter Heirat verstehst, wird heute deine Frau wissen, aber auch jeder Bettler kann's erfahren, der dir vor die Türe kommt. Also, vielgeliebter Bruder, 225 in Richtung Liebe schau für dich und ärgere dich ja nicht, wenn ich bis auf den heutigen Tag und Stunde das frische Fleisch dem Gefrierfleisch vorziehe. Dixi.«

»Heja«, gab lachend und gar nicht beleidigt der Lange herum, »man ist natürlich auch nicht von Holz und ist es nie gewesen, für das haben wir auf Rain zu fett zu essen bekommen. Und am End, was ist dabei, das Männer- und Weibervolk ist für einander geschaffen, oder? Es ist also von Natur wegen dafür gesorgt, daß man das nicht so geschwind vergißt und daß es einem weniger schnell verleidet als das Habersieben oder gar das Heubürdentragen. Gleichwohl, von dem ist jetzt heute nicht die Rede und es hat ja auch keinen Wert, was du christenlehrst, Ludi. In den Katechismus kommt's sowieso nicht. Heute, meine liebe Seele, geht's jetzt einmal um den Bruder«, sein langes, ausgetrocknetes Gesicht wurde hochernst und es sah fast aus, als wolle sich sein zäher Bocksbart in einen Weihwasserwedel verwandeln, »es handelt sich denn doch um den Bruder, um den Stammhalter der Hochrütiner. Er könnte uns wegsterben und also auch der Hof sein angestammtes Bauerngeschlecht verlieren.«

»Aber nicht für lange«, meinte, ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, der ältere Bruder, den Kopf mit den schlappen Haarsträhnen, der immer aussah, wie aus dem Sumpf gezogen, hin- und herwiegend, wie nach einer geheimen Musik. »Was meinst du, herzliebste Frau Schwester? Es ist mir so im Unterbewußtsein, du habest schon lange den Hof für einen deiner Söhne mehr oder weniger, aber eher mehr, im Auge. Und wenn ich nicht irrig bin, wie's im Lied von der Tirolerin im schwarzen Kamisol so schön heißt, so weiß das außer mir auch ein jedes Kind zu Bohlishusen und der Enden.«

Er lachte heraus, daß ein großes kupferiges Tortenmodell an der Wand Echo gab.

Seine Schwester Brigitt gab keinerlei Bescheid. Sie sah über ihren Bruder Ludi hinweg, wie über einen Kuhfladen auf offener Allmend. Ein Weilchen schauten alle sinnend, gedankenträchtig vor sich hin, aber endlich sagte die Holzhändlerin in ihrer farblosen, raschen Weise: »Also, ich sag's auch, du hast recht, Hänsel, wir wollen jetzt dann gleich nachsehen gehen auf Rain. Man muß doch, beigott, wissen, wie's mit dem Hansbaschi steht. Es wundert mich schon, daß man uns, seinen Brüdern und seiner Schwester, noch nichts angezeigt, ja nicht einmal telephoniert hat. Er hat doch jetzt dieses Schlooapelluneli, das wir aus der Molkerei weggelockt und aus gewissen Gründen ihm zugehalten haben, bei sich oben. Und da ist's mir, dieses Witfrauchen, das ja in der Stadt war und auch sonst geistigerweise Sachs genug im Kopf hat, sollte soviel Anstand wissen, uns zu berichten. 227 Hingegen wird man im Schrecken das alles eben vergessen haben. So wollen wir also aus freien Stücken hinauf. Es kann ja wohl sein, daß ich seine Haushälterin, dieses Apelluneli, beim Wachen ablösen muß und daß mich der Große überhaupt an seinem Bett haben will.«

Der Chemifeger verschüttelte lautlos lachend den Kopf und murmelte in seinen nassen Schnauz hinein: »Ja, mich auch.«

Seine Schwester blitzte ihn aus beiden Augen geradeswegs flüchtig an, aber ihr Gesicht blieb marmorglatt und kühl.

»Ja, ich komme auch mit euch hinauf«, redete der Ludi weiter, »natürlich, jetzt gleich vom Fleck weg, obwohl es für mich auf Rain ja doch nur Brosamen vom Tisch zu holen gibt. Immerhin«, setzte er nach einigem Wiegen seines Kopfes bei, »da kann man dann noch schauen. Man hat mich genug auf allen Seiten hintangehalten und übervorteilt.«

Er bekam keinen Bescheid. Der Lange auf seinem Bürosessel, der aber nur eine schmucklose Stabelle war, und die Dicke, seine Schwester, die sich auf einer Kiste voll Fensterbeschläg vertat, waren völlig in Gedanken versunken.

Das beunruhigte aber den Chemifeger nicht weiter. Er begann umständlich seine Zigarre, eine lange Brissago, die er hinterm Ohr getragen hatte, anzuzünden, 228 ab und zu auf seine sinnenden Stubengenossen schauend und mit stillem Lachen, den Kopf wie ein Gaul in den Schmeißfliegen, verschüttend.

Ja, ja, dachte der Langhänsel, seiner Schwester Worte bedenkend, unsereiner kann sich schon vorstellen, wie du auf Rain beim Bruder wachen würdest. Da dürfte man schon mehr von bewachen reden. Aber man hätte ja annehmen können, daß die Frau Brigitt sich gleich hinaufmachen würde, um ja alle Gelegenheiten in Kammer, Kasten und Truhen auszukundschaften. Was bei der allenfalls in der Schürze Platz fände, weiß man ja von der Teilung der väterlichen Nachlassenschaft her. Sicher ist, daß sie ihr schwarzes Kleid schon lange aus dem Kasten genommen hat und umsonst ist sie auch nicht so rasch hieher gefahren. Die will eben rechtzeitig genug zum Erben kommen, obwohl sie bei ihrem gangbaren Holzhandel und dem gutgründigen Hof so schon ein Schönes beisammen hat. Aber natürlich möchte sie den Rain auch noch für einen ihrer jungen Spritzlinge haben, damit ihr ja die ganze Welt gehört und sie ausrufen kann: Alles mein! Und doch hat sie heilig und gewiß schon genug beim Erben beiseite geschafft als sie seinerzeit beim Vater selig am Sterbebett wachte. Hingegen, nein, Frau Schwester, dasmal will ich meine Augen schon früh genug umgehen und, heja, auch wachen lassen. Warum sollte ich zu kurz kommen? Ich habe 229 auch drei Töchter, die mich schwer Geld kosten und die mit den Jahren erst recht ein teurer Artikel werden könnten. Unsereiner sollte nur immer geben, denn was mich diese Mädchen einmal an Aussteuer kosten werden, das läßt sich nicht ausdenken. Und ja, beim Strahl, ich will sie auch ausrüsten wie Fürstinnen, daß die Dörfler von Bohlishusen und die großgrindigen Bauern im ganzen Kanton herum veitstänzig und gallensüchtig werden vor Neid. Ich muß meinen Mädchen aber eine gehörige Morgensuppe in Silber und Gold mitgeben können, denn man nimmt sie mir eines Tags auch nicht um ein paar Glaskugeln ab, wie's bei den Wilden in Afrika Brauch sein soll, wenn die Bücher nicht lügen. So oder anders, ich habe jedenfalls, wenn's dazu kommen sollte, ein Anrecht darauf, den Hof auf Rain zu übernehmen, wie die Brigitt. Es ließe sich ja dort oben auf dem Raingütsch ganz gut ein Kurhaus bauen, das meine drei Töchter führen könnten. Da hätten sie dann unter den Kurgästen nur so auszulesen, denn je näher die Leimrute, desto eher geht der Vogel drauf. Der Gütsch ist ja ein Aussichtspunkt ersten Ranges. Jawohl, den wenigstens darf ich nicht außer Aug lassen. »Also«, hob er jetzt zu sprechen an, »wir müssen schauen, bald auf Rain zu kommen. Keinen Augenblick weiß man, ob nicht das Glöcklein dort oben auf unseres Vaters Hof zu läuten anfängt. Geschämig wär's, wenn wir 230 erst zu des Großen Todbett kämen. Wir sollten wenigstens dort sein, bevor er ins End fällt.«

»Ja, lang ist's nicht grad her, seit das Glöcklein auf Rain angeschlagen hat«, sagte der Chemifeger, »halt als dem Hansbaschi seine Erste mit Tod abgegangen ist. Wenn's aber ihm nicht läutet, wem sollte es sonst läuten? Er ist ja jetzt mutterseelenallein auf dem Hof, ein Regent ohne Parlament, denn die alte Zille ist ja letzthin im Spital gestorben und von der verstorbenen Schwägerin sind keine Kinder da. So hat's das Glöcklein auf Rain nicht streng und kann ein Faulenzerleben führen und mit Wind, Schwalben und Spatzen schäkern, wenn's der Große doch noch einmal davonbringen sollte, was wir ja gleichwohl hoffen wollen. Es könnte ja sein, daß ihm seine neue Stubenmagd und Haushälterin so gut abwartet, daß er doch noch einmal auf die dicken Beine zu stehen kommt. Sie vertrifft's ihm allweg gut, und wie's heißt, hält ihm dieses Apelluneli aus dem Schloo, von dem man das bei seinem nichtsigen Postürlein gar nicht denken sollte, die Sache in Haus und Hof, soweit es sie angeht, gut in Ordnung. Und, hat mir der alte Hansuoli gesagt, es scheine sie alles anzugehen. Sie übersehe nicht leicht etwas und sei schier, wie der liebe Gott, allgegenwärtig. Der Meister, der ja freilich doch immer der Meister sei, nehme aber von dieser Kleinen an, was 231 er weder von der alten Zille, noch gar von seiner ersten Frau, mit der's ja freilich wenig genug gewesen sei, angenommen hätte. »Seht ihr jetzt, wir haben ja diesem Weiblein auch von Anfang an gut gelost und es dem Bruder selig, he«, machte er doch etwas erschrocken, »nichts für ungut nehmt, – dem Hansbaschi als Haushälterin zugehalten, natürlich nicht bloß ihrer Tüchtigkeit wegen, auch mit Hintergedanken«, er grinste die beiden andern an, »ihr werdet ja wohl wissen mit was für welchen. Die Wiege auf der Dachwinde auf Rain müßte es merken, wenn sie uns in diese Gedanken hineinsehen und sie analysieren könnte. Brigitt, teure Schwester, du hast das Witfrauchen dem Hansbaschi ja geradezu verdolmetscht. Und es ist heilig wahr, wir alle haben gedacht, das Apelluneli, wenn wir's einmal auf Rain in der großen Stube und Umgebung haben, werde schon dafür sorgen, daß es sich drin recht und für lebenslang verankern könne. Unser lieber Bruder aber werde, wie's in der hl. Schrift heißt, so ein guter, bedächtiger Säer er sonst ist, auf diesem Feld wiederum auf die Steine säen.«

Er lachte toll auf.

»Ja«, meinte der Langhänsel, »an dieses Apelluneli mit den gleitigen Füßlein und den noch gleitigern Augen habe ich nun gar nicht mehr so recht gedacht. Da der Große sie nun schon fast anderthalb 232 Jahre auf Rain hat und dabei doch ledig geblieben ist, war's mir, es sei mit dieser Heiratsgeschichte sowieso nichts, es sei dem Hansbaschi das Weibsvolk verleidet, wenigstens so was das Heiraten angeht, er habe an der Ersten genug bekommen. Nun aber ist's mir gleichwohl, wie's jetzt steht, wir sollten und eben grad dieser kleinen Witfrau wegen, sobald als möglich, also jetzt gleich, auf Rain hinauf. Das ist ein gewixtes Ding, dieses Apelluneli. Allweg hält sie dem Großen gute Ordnung und nicht nur das, sie schaut, daß zu dem Vielen noch vieles hinzukommt. Da hat der Hansuoli recht. Man hört das von allen Seiten und kann's auch selber gewahr werden. Allerlei Neues wird auf dem Hof oben eingerichtet und geschäftet, seit das Schlooapelluneli oben wirtschaften hilft. Sie hat sogar ein großes Lager Süßmost mit der neuesten Fassung oben und macht mir auch im Schnapsbetrieb Konkurrenz. Ein Weltskrötlein! Die könnte uns nun allerlei spielen, wo's mit dem Großen so bös steht, aber alles andere eher als Tanzmusik. Sie ist doch seine Haushälterin und alleweil und jetzt erst recht, um ihn. Wie sollte man sich da wundern, wenn diese geschwinde Hummel alle Löcher, Truhen und Gelegenheiten in unserm Vaterhause, wo etwas wohlbekömmliches drin ist, absuchen und ausschmecken würde. Auch könnte sie den Bruder am End dazu bringen, ihr, wenn er noch bei Sinnen ist, 233 etwas zu vermachen. Es heißt ja, er sehe sie mehr als gern. Er ist ja freilich ein ganzer Mann und läßt sich nicht von jeder Schnur nachziehen. Hingegen so schwergründig, ja steinpickelhart sich mancher Boden gibt oder auch ist, wenn die richtige Wünschelrute kommt, kann sie doch, so gut wie der Moses, Wasser aus dem Felsen klopfen. Und kurzum, wir müssen jetzt trachten, so hurtig als tunlich auf Rain zu kommen.«

Aber die Holzhändlerin aus der Wydlen nahm's ruhiger. »Nein«, sagte sie, »so gar sprengt's nicht, wenigstens der jungen Haushälterin wegen pressiert's nicht. Das Apelluneli ist, bei all seiner Argheit und seiner Betriebsfreude, viel zu brav als daß sie hintendurch in der Weise für sich sorgen täte. In dieser Richtung findet dieses Weiblein nicht um die Ecke. Dennoch wollen wir jetzt hinauf. Es ist ja schon der Leute wegen. Nicht, daß es nachher heißt, die Verwandten, ja die eigenen Geschwister, haben sich um den Rainler wenig genug bekümmert und als er mit Tod abgegangen sei, habe er alle Trauer mitgenommen.«

»Ja, ja, brechen wir auf!« eiferte der Ludi, »lange kann ich sowieso nicht auf Rain bleiben; ich muß darnach noch zwei Kunden im Dorf besuchen.«

»O du Schluck, du heilloser Wein-, Bier- und Schnapskennel!« fuhr's der Holzhändlerin heraus. Das war ihr denn doch zu dick. »Du wirst schon einmal genug bekommen. Schäme dich!«

234 »Liebe Schwester«, antwortete der Chemifeger, »vielmehr du solltest dich schämen, daß du dem leibeigenen Bruder, der mit dir unter einem Dach geworden ist, gegessen und geschlafen hat und der wegen deiner vom Alten seinerzeit so viel Prügel bekommen hat, noch keinen Tropfen Wein, nicht einmal einen Fingerhut voll, abgekauft hast. Nimm mir ein Faß naturreinen, firnigen Kniebrecher, vinum primae qualitatis, sag ich dir, ab und meine Nase soll vor Scham noch röter werden als sie so schon ist, wenn du darnach beim ersten Schluck nicht ausrufst: Herrgott, welch ein Weinlein! Ich muß mir schnell noch ein Faß voll davon kommen lassen, ich . . .«

»Halt 's Maul. Ludi!« schnörzte unwirsch, sich erhebend, der Langhänsel. »Hast du denn kein Herz, daß du von so etwas tönen kannst, jetzt wo unser Bruder am Sterben ist, jetzt . . .«

Die Türe vom Laden her ging und ins Bureau trat, schweren Schrittes, begleitet von seiner süßlichen Schwägerin Seraphine, Hansbaschi Hochrütiner, der Bauer auf Rain.

Fast hätte der Langhänsel ein Kreuz geschlagen, auch der Ludi machte für einen Augenblick ein verdutztes Gesicht, aber dann ließ er ein Gelächter los, daß sein Hund, der Fliegenschnapper, der dem Rainler erst in den Laden und alsdann ins Bureau nachgeschlichen war, ebenfalls ein Bewillkommungsgeheul 235 erhob. Brigitt, die Holzhändlerin, jedoch zuckte mit keiner Wimper. Sie blieb völlig ruhig und kühl, wie eine Glanznacht im November. Neugierig, mit forschenden Augen schaute sie von ihrer Warenkiste aus, auf die sie sich wieder gesetzt hatte, auf den hochgewachsenen, breitschultrigen Mann, der da so ganz unerwartet vor ihnen aufgetaucht war.

Aber der Bauer auf Rain beachtete das alles gar nicht. Er begrüßte seine Geschwister wie immer, ohne Aufmachung, aber freundlich.

Aha, ging's der Holzhändlerin durch den Kopf, da sind wir jetzt einmal übel berichtet worden und bei einem Haar wären wir zu früh auf Rain hinauf. Es war also ein bloßes Gerücht, ein Geschrei im Dorf. Es kam sie innerhalb ein Lachen an. So, dachte sie, nun können die lieben trauernden Brüder ihre Zylinder und Schnitzfräcke wieder in die Kasten hineinhängen, aber auch mit meinem schwarzen Kleid pressiert's nicht. Und nun lachte sie aber laut, doch etwas nervös auf und sich erhebend und ihrem breitdastehenden Bruder Hansbaschi auf die Schulter klopfend, rief sie aus: »Ja, Großer, potz Wetter doch auch, bist du denn schon wieder völlig auf den Beinen? Ja, natürlich bist du auf den Beinen. Stehst ja mitten unter uns so fest auf dem Boden wie ein Scheitstrunk, nur gutfarbiger. Und wir haben doch gemeint, heja, so hat's im ganzen Dorf herum getönt, du liegest 236 knietief im Bett, seiest am aufgeisten und wir müssen im Galopp auf Rain, wenn wir dich noch lebendig zu sehen bekommen wollen. Es wurde uns von allen Seiten berichtet, ein Baum habe dich beim Holzschlagen erwischt und es sei mit dir Matthäi am letzten. Und nun stehst du, he, Gott Lob und Dank! nun stehst du aufeinmal unter uns, selber wie ein Baum, ah, ah, ah!«

Wunderlich lächelnd, erfreut ob der so ungewohnten Anteilnahme der Verwandtschaft, schaute der Rainler seiner Schwester wie suchend in die großen, kugelrunden Augen, die jedoch braun und kühl blieben, wie Tümpel im herbstlichen Hochmoor. Aber da hielt er sich an ihren Mund, aus dem es doch ganz warm an ihn gekommen war.

Jetzt hatte sich auch der Langhänsel ermannt. Er fiel seinem Bruder fast um den Hals, was diesen aufs höchste überraschte. So viel allerlei, was einen freuen konnte, wie jetzt in fünf Minuten, hatte ihm sein so unvertraulicher, trockener Bruder, der sonst nur an sich und das Seinige zu denken schien, während ihres ganzen Lebens nicht gesagt. Ja, was war denn da los, was hatten sie denn für ein Getue mit ihm, und, fuhr's ihm durch den Kopf, was wollen sie wohl von mir? Sie, die sich um ihn sonst wenig genug bekümmerten, machten nun seines kleinen Unfalls wegen so ein Aufhebens. Sogar der Ludi, von dem 237 er doch wohl wußte, wie er über ihn im Land herum schimpfte und in jedem Wirtshaus immer wieder erzählte, wie er ihn wegen ein bißchen Liebe aus dem Vaterhause geworfen und es ihm verunmöglicht habe, den Doktor zu machen, tat ihm jetzt übertrieben schön ins Gesicht, noch schöner als wenn er allemal auf Rain kam, um ihn anzupumpen.

»Ja, ja,« schloß der Chemifeger seine Rede, »so haben uns also diese verbrannten Siechen angelogen. Keinem Menschen kann man mehr etwas glauben. Jetzt ist an all dem Gerede, mit dem man uns Hochrütiner so heillos erschreckt hat, Großer, nämlich, es habe dich eine Tanne klaftertief in den Grunderdsboden hineingeschlagen, kein wahres Wort. So wird jetzt heutzutage gelogen. Die verfluchten Schwindler!«

»Doch, doch«, sagte der Rainler bedächtig »etwas an dem Dorfgerücht, das euch scheint's so dumm aufgeregt hat, ist gleichwohl wahr, was mich aber freut, weil ich sehe, daß ihr's mit mir doch gut meint.« Er schaute gradaus in die undurchsichtigen Augen seiner Schwester, in die halbwegs versteckten, unruhigen gleißenden Kugelchen seines Bruders Hänsel und in die gleichgültigen, liederlichen Ludis. »Ja«, fuhr er fort, »das Gerede hat einen Kern. Die fallende Tanne hat mich gestreift und zu Boden gerissen. Ich muß sogar ohnmächtig geworden sein, denn man hat mich heimtragen müssen. Und da zeigte es sich, daß mir 238 nichts, aber auch gar nichts geschehen ist. Etwas Sturm im Kopf habe ich wohl gemerkt, jedoch ein Stündlein, zwei, darnach bin ich wieder mit dem Oswald und dem Wysel unter die Kühe gehockt und bin jetzt mit dem Melker gar da ins Dorf hinunter gefahren. Und daß ich nun, wie ihr ja alle drei sehen könnt, wieder gesund und wohl unter euch stehe, hat seinen besondern Grund. Nämlich, ich will da nicht lange mit euch werweisen, will's euch grad sagen: Ich habe mich mit dem Apelluneli aus dem Schloo, mit der Frau Winterlin, die bei mir Haushälterin ist, verlobt. Und ich danke euch und komme deshalb mit meiner Botschaft noch lieber zu euch, ja, ich erachte mich fast pflichtig hiezu. denn ihr seid's ja, die mir diese durch und durch rechte Frau zugehalten habt. Ich weiß nicht warum ihr's getan habt, ihr seid ja sonst nie grad besorgt um mich gewesen, eher, müßt's mir nicht übel aufnehmen, das Gegenteil. Ihr wolltet ja immer an der Teilung nach Vaters Ableben den Kürzern gezogen haben. Nun, sei das wie's wolle, ihr habt's doch getan und mir zu einer Haushälterin verholfen, die es wohl wert ist, auf Rain Meisterin zu werden und für die ich euch immer dankschuldig bleibe. Ich habe euch das grad selber anzeigen wollen, bevor ihr's durch andere Mäuler vernehmt, denn heute, erst heute, gleich nachdem das Apelluneli auf den Unfall hin sich so sehr um mich 239 geängstigt hat und nachdem ich dabei so recht gesehen habe, wie wohl mich diese kleine Frau mag, die doch ziemlich jünger ist als ich, habe ich mir ein Herz gefaßt und sie gefragt, ob sie die Bäuerin auf Rain werden wolle, und sie hat mich angenommen.«

»Ja, das glaube ich wohl«, machte der Langhänsel, »so ein Hof.«

Sein Bruder schien ihn zu überhören, denn er schloß: »Und ich nehme an, es werde euch auch freuen, daß unser Hof auf Rain wieder eine Bäuerin und, so Gott will, unser altes Bauerngeschlecht wieder Samen bekommt.«

Der Chemifeger vermochte ein ziemlich schmutziges Gekicher nicht ganz zu unterdrücken.

Das schien jedoch den Rainler nicht im mindesten zu stören. Er nahm mit heitern, ja freudvollen Augen die Glückwünsche entgegen, mit denen ihm der Langhänsel und seine Schwester jetzt noch viel schöner taten als vorher. Ebenso tischte ihm seine Schwägerin Seraphine eine ganze Zukunft voll Butterbrote auf. Es hörte sich ganz an, als ob sie dieselben auch noch mit Honig, allerdings so einer Art Kunsthonig, bestriche. Nein, auch diese schattenhafte Krämerin, die den Hansbaschi Hochrütiner ins Büro geführt hatte, darnach in den Laden zurückgehuscht war und sich auf das erneute Hallo auch wieder eingestellt hatte, konnte sich mit Gratulieren kaum genug tun.

240 Ja, es ging nun eine Weile um den Bauer auf Rain recht lebhaft zu mit Glückwünschen, Schönfärben und Gutwetterweissagungen. Er mußte sich setzen, und der Hänsel wollte eine Flasche Wein, vom Mehrbessern, wie er sagte, aus dem Keller heraufholen, was der Hansbaschi aber durchaus nicht zugab.

Diesen so ungewöhnlichen Betrieb im Büro benutzte nun des Langhänsels Frau Seraphine. Sie gedachte ihre Töchter zu ermahnen, sie möchten doch ja schnell des Vaters Leid, Zylinder und Heiligtagrock, in den Kasten versorgen, da man ja nicht wisse, ob man mit dem Vetter Rainler nicht etwa doch in die Stube hinaufsteige.

Also glitt sie unbemerkt, wie der Schatten an der Wand, aus dem lautgewordenen Büro und hinauf durchs Stiegenhaus.

Wie sie nun die Stubentür aufmachte, mußte sie sehen, wie ihr Roseli über und über zufrieden, ja glückselig auf Ferdis, ihres Neffen Knien hockte und sich von ihm reiterösseln ließ. Das Agnesli aber und das Mikeli tanzten mit dem Alex singend, jauchzend Ringelreihen. Das Agnesli hatte des Vaters hohen, altmodischen Zylinder, der sich braun und grün zu ärgern schien ob seiner Entwürdigung, auf dem lachenden Blondkopf, und das Mikeli trug des Vaters Heiligtagrock, dessen Rockschöße nachschleppend, während der hemdärmlige Alex mit allerhöchstem Behagen eine Zigarette dampfte.

241 Das alles schien für die Frau Seraphine Hochrütiner eine durchaus freudige Überraschung zu sein. Sie vergaß über den so unterhaltenden Anblick ganz ihren gestrengen, ewig mit ihr brummenden und an ihr herumnörgelnden Eheherrn, dem sie ja in allem noch williger zu folgen und anzuhangen pflegte als der Bart einem alten Kapuziner. Ihre angeborene Leichtlebigkeit und ihre mütterlichen, etwa allzumütterlichen Augen, die alles, was ihre Töchter taten oder ließen, völlig in Ordnung fanden, sahen nun über Zylinder und Heiligtagrock ihres altgewohnten Brummlers und Plaggeistes hinweg. Sie war eben eine jener törichten Mütter, die den Kindern, aber freilich nur den eigenen, am liebsten auch noch den Honig zuckerten. Also lachte sie fröhlich in die ausgezeichnet aufgelegte Jugend hinein, und ihr sonst so wurmzeltensüßes Gesicht, das die Ladenkundschaft in einem fort zu sehen bekam, wurde jetzt wahrhaft lieblich, fast schön. Sie mußte nur immer in das frohe Treiben hineinschauen und dazu auflachen wie ein einfältiges Kind, dem der St. Niklaus goldene Nüsse ins Schürzlein wirft.

Töchter und Neffen schien ihr Verhalten völlig gewohnt; denn sie beachteten Mutter und Base nicht mehr als die munter tickende Wanduhr.

Aber da kam der Frau Seraphine etwas in den Sinn. Ihr Gesicht, das eben noch recht anziehend, wie ein frisch in die Auslage gestelltes Lebkuchenherz 242 ausgesehen hatte, wurde unversehens wieder altbacken. Mit erschrockenen Augen rief sie aus: »Kinder, der Vetter Rainler ist unten!«

Das ging aber an der Jugend, die sich in der immer dämmeriger, heimeliger werdenden Stube so überaus köstlich unterhielt, vorüber wie der eben fällige Stundenschlag der obenbemeldeten Wanduhr.

»Tut doch ja schnell den Zylinder und den Heiligtagrock des Vaters in den Kasten!« gebot nun Frau Seraphine jetzt aber doch entschiedener; »der Vetter Hansbaschi könnte heraufkommen, und darnach täte der Vater mit mir wie ein Leu und ihr lacht mich dann hinterher, wie immer, nur noch aus. Nämlich, müßt ihr wissen, der Vetter auf Rain ist ja gar nicht erschlagen worden, nicht einmal krank ist er. Kerngesund hockt er unten im Büro bei Vater und Base und dem Ludi. Heja, und denkt euch«, schrie sie jetzt geradezu, als auch diese Berichtigung des Unfalls ihres Vetters keinerlei besondere Wirkung erzielte, »denkt, hört, unser Vetter Hansbaschi, der doch schon ein bestandener Mann ist, hat sich wieder verliebt und verlobt gar auch noch, und zwar mit seiner Haushälterin, mit dem Schlooapelluneli!«

Fast entsetzt fuhr sie von der Tür weg in den Schirm des Weihbrunns an der Wand; denn wie Gummibälle sprang vor ihr alles hoch, ein Freudengebrüll brach los, und wie ein Wasserfall schossen 243 Neffen und Töchter zur Stube hinaus und durchs Haus hinunter und ins Büro hinein.

Und da hingen sie auch schon ihrem gewaltigen Vetter auf Rain um den Hals und wünschten ihm von ganzem Herzen, unter schluchzendem Gelächter Glück zu seiner Allerliebsten, zum Apelluneli.

Der Bauer Hansbaschi Hochrütiner, der sich seiner jungen, zutunlichen Freundschaft kaum zu erwehren wußte, bedankte sich, wahrhaft erfreut; aber dann schüttelte er Neffen und Nichten, wie ein Bär eine allzuanhängliche Jagdmeute, ab. Es sei jetzt eben recht, daß sie über ihn gekommen seien, sagte er; denn sie erinnern ihn daran, daß der Melker Wysel auf ihn warte und daß er vorher noch ein kurzes Geschäft beim Küfer abzutun habe.

Also mußte ihn die Jugend losgeben, und da man an den andern Verwandten nichts zu finden schien, was einen hätte zurückhalten können, so fuhren die Jungen und die Mädchen wieder ebenso rasch aus dem dumpflüftigen und unmöglich riechenden Büro hinaus und über die enge Treppe hinauf in die Stube zurück, die nun völlig dämmerhaft, ja dunkel geworden war. Fast hätte die wilde Jagd Frau Seraphine überschossen, die sich aber in den Hausgang retten konnte, aus dem sie, unter Vermeidung des Büros, in ihren billigen Laden hineinraschelte. Dieser ziemlich geräumige, aber mit allerlei Waren völlig verstellte und 244 verengte Laden war ja ihr eigentliches Heim, das sie freilich zuweilen mit ihrem Mann teilen mußte, der ihr darin scharf auf die Finger sah und über einen jeden Rappen, der einging, genau berichtet sein wollte.

Im Büro aber waren nun der Langhänsel und seine Schwester Brigitt wieder allein beisammen. Ihr Bruder Ludi hatte sich mit dem Hansbaschi davongemacht, da er hoffte, er könnte bei dem guten Wetter, das nun sein verlobter Bruder offensichtlich hatte, doch noch irgendwo im Dorf zu einer kurzen, aber nachhaltigen Weinfeuchte kommen.

Da saß nun die Holzhändlerin breit und ruhig, wie eine Streuetriste in Wind und Wetter, auf ihrer Kiste und sagte: »So ist uns also der Große wieder auferstanden von den Toten. Nein, wie doch so ein Gerücht, verfluchter als das Feuer aus einem Heustock, irgendwie herauslohen und über das ganze Land gehen kann! Was es doch für Aufschneider gibt! Ich wette einen Kloben buchener Scheiter dran, daß der Chemifeger die Hälfte dazugelogen hat, der Lump. Ja nun, es ist jetzt wie's ist, so nimmt man's auch so, wie die fleckigen Erdäpfel im Herbst. Ich mag aber natürlich dem Hansbaschi das Leben wohl gönnen, behüt uns Gott, ja!«

»He, warum denn nicht, ich und andere auch«, sagte der Langhänsel, seine glimmenden, tiefliegenden Äuglein wie unter der Asche verbergend. »Wir sind ja da gar 245 noch von einem Trauerfall in eine rechte Freude hineingekommen, alles unter einer Viertelstunde sozusagen. Wir können also eigentlich unser Feiertagsgewand getrost abbürsten und bereithängen lassen, natürlich jetzt zum Festfeiern; denn der Große wird ja bald dieses kleine, abgefeimte Weltshexlein aus dem Schloo heiraten wollen. Und, heja, und wenn er auch keine geladene Hochzeit halten sollte und mit seinem Weiblein allein in der großen Stube auf Rain und der Enden zu festen gedenkt, so haben wir doch auch allen Anlaß, meine ich, an seinem Hochzeitstag dennoch mitzufesten, so nebenher im stillen Kämmerlein.« Er kicherte in sich hinein. »Er nimmt ja jetzt doch das Witfrauchen, das wir ihm so schön zuspielen konnten, ohne daß er eine blasse Ahnung hat warum. Er nimmt dieses Apelluneli, das drei volle Jahre verheiratet war, ohne Kinder zu bekommen. Da kann man von unserm Standpunkt aus, meine ich, herzhaft zum Hansbaschi sagen: Mit Glück, Bruderherz, in den heiligen Ehestand hinein! He, beim Eid, ich sag's, es hätte uns fehlen können mit dem Großem, wenn er irgendeine Bauerntochter genommen haben würde, etwa gar aus einem Haus, in dem die Kaninchenkiste und die Wiege immer voll Jungwar sind. Ich mag ihm ja gewiß alles Gute gönnen, versteht sich; er ist unser Bruder. Hingegen, es fehlt ihm ja nichts, ist so schon der Hans im Glück auf unseres Vaters Hof, nur weil er zuerst 246 zur Welt gekommen ist. Er hat alles, was er will, und nun dann gar noch ein junges, bildsauberes Weiblein. Was braucht er da noch mehr? Wir beide aber haben Kinder, die ja auch vom Hof auf Rain herstammen. He, was wäre denn dabei, wenn sie eines Tags auch wieder etwas von diesem Hof hätten, statt daß sie nur so an sein Glockentürmchen hinaufschauen und vergeblich drumherum lauschen müssen, wie jenes närrische Kind im Märlein, das in seiner ausgebreiteten Schürze die abfallenden Sterne hat sammeln wollen. He, aber freilich, ich wünsche ja dem Hansbaschi alles Gute soweit. Lange möge er's auf Rain machen!«

Die Holzhändlerin Brigitt hatte ihrem Bruder mit unbeweglichen Augen zugehört, nur ihr Mund, der scharf wie ein Metzgermesser aussah, hatte sich bei seiner Auslassung ab und zu ein wenig verzogen. Aber jetzt sagte sie, sich erhebend: »Einen Augenblick, wie ich den Großen so durch die Tür in deinen dunklen Stinkwinkel da hineinkommen sah, war's mir, jetzt stehe das Rad an der Säge, auf der wir unser Holz so schön zum Schneiden zurechtgelegt haben, auf einmal und für immer still. He, aber nun nimmt er ja dieses Witfrauchen, das Schlooapelluneli, das so anmächelig und tüchtig ist, sogar klavierspielt und ihm allweg viel Freude macht. Ist ja eins wie ein Garten, wenn auch mehr nur für Blumen«, es zuckte schelmisch um ihre gerade Nase, »und wir mögen ihm dieses Schätzlein 247 wohl gönnen.« Ihre Augen und Langhänsels begegneten sich für einen Augenblick verständnisinnig. »Und nun«, setzte sie hinzu, laut und sicher, »nun höre ich das Wasser wieder rauschen. He, der Baum muß halt doch den Weg laufen, den wir ihm gewiesen haben.« 248 /d

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VI.

Es gab wieder eine Meisterin auf Rain. Der Bauer Hansbaschi Hochrütiner hatte seine Haushälterin, das Apelluneli Grüter aus dem Schloo, auf seinen Hof endgültig heimgeführt. Aus der kleinen umtunlichen Witwe, die ihr städtischer Name Frau Winterlin nur halbwegs kleidete, war wieder eine richtiggehende Bäuerin geworden; immerhin eine Bäuerin ungewohnter Art, die, bei aller ländlichen Einfachheit, etwas nicht alltäglich Feines in ihrem Gehaben zeigte.

Hatten sich die nachbarlichen Großbauern, die sich erst über die neue Haushälterin, dieses Porzellangeschirrlein, lustig gemacht hatten, schon früher gewundert, daß sie sich so unerwartet gut anließ, so sahen sie nun, nicht ohne Neid, auf Rain eine junge, überraschend starkwillige, angriffige Frau wirtschaften, die den Namen Meisterin mindestens so gut verdiente, wie ihre Weiber alle. Es ging ja auf diesem schönen Hof immer besser, seit sich der Rainler wieder verheiratet hatte. Es war fast, als wäre mit dem Frauchen in alles ein neues Leben gekommen. Es wollte die Bauern bedünken, das Gras, das dem 249 Rainsträßchen entlang wuchs, sei grüner und butterblumiger als vorher. Der Weg auf Rain erschien den Leuten wie eine Tanzdiele. Man hatte ihn eben bald nach der Hochzeit, auf Wunsch der jungen Bäuerin, nicht nur frisch beschottert, sondern sogar gewalzt. Auch die Dörfler sperberten hinter allen Umhängen hervor, wenn die jetzige Rainlerin gelegentlich neben dem Melker Wysel oder dem Karlima auf dem Milchwagen in ihre Gassen einfuhr und da und dort Einkäufe machte. Ja, das hatte übrigens ein jeder und eine jede schon lange vorher gedacht, daß aus dem Schlooapelluneli eine mustergültige Bäuerin werden könnte. Man vermochte es jetzt gar wohl zu begreifen, was der Chemifeger im Rausche in allen Wirtschaften herum erzählte, daß nämlich die Geschwister dem Hansbaschi Hochrütiner dieses Fündlein, einen Schatz in jeder Beziehung, sagte ja der Ludi, zugehalten hatten. Da war's nun dem Bauer mit diesem feinen, aber keineswegs zimpferlichen, sondern festauftretenden Witfrauchen wohlgeraten. Das Apelluneli aber hatte es erst recht gut gemacht, denn es war doch kein Alltägliches, daß sich ein Hühnerbauernkind in solch eine Sache einfach hineinsetzen konnte.

Ja, es ging gut auf Rain. Die junge Meisterin war überall, wo sie glaubte dabei sein zu sollen, und obwohl sie ihr Mann, der Hansbaschi, im Landwirtschaftlichen fast nie Hand mit anlegen ließ, ohne 250 etwa im Heuet, wenn's mit dem Wetter bedrohlich aussah, so sah er sie doch in allem gern um sich. Ihre Meinung aber, die er gar oft auch da einholte, wo's ihm bei seiner ersten Frau nicht im Traum eingefallen wäre, war ihm immer wichtig oder doch bedenkenswert, auch für den Stall. Sie kannte eben das Vieh weit besser als er, da Viehzucht auf ihres Oheims bergländischem Heimwesen, auf dem sie ja lange mitgetan hatte, die Hauptsache war. Auch für diese und jene andersartige Bewirtschaftung ihres jetzigen ausgedehnten Hofes im Hügelland hatte die Bäuerin immer offene und schnellerfassende Augen, was sie aber schon als Haushälterin merken ließ. Seit sie auf Rain mitbestimmen konnte, hatte sich der Viehstand daselbst schon bald etwas zum Bessern geändert. Mit dem alten Stier, der Braun- und Fleckviehrasse in einer abscheulichen Mischung darstellte, war sie rasch abgefahren. Und nun kam nach und nach eine ansehnlichere Gattung Vieh in den Stall. Das war dem einsilbigen Küher Oswald, der immer etwas an sich zu doktern und zu heilsalben hatte, eine Freude, denn das spornte auch ihn an, auf Rasse zu halten. So lernte er ein rechtes Gestell und eine gute Farbe an einem Haupt Vieh schätzen und eine bloße Milchkiste tat es ihm nicht mehr, auch wenn sie auf vier Beinen stand und allerlei Farben hatte. Es dauerte auch nicht lange, so ließ 251 die junge Meisterin den Hühnerhof erweitern und ganz modern einrichten, mit den neuesten Vorteilen. Er sah schon fast aus wie eine völlige Hühnerfarm. Das Seppeli, das rasch aufwachsende Nichtlein der verstorbenen Zille, hatte nichts anderes mehr zu tun, als den Hühnern zu sorgen, unter besonderer Aufsicht der Putzerin Theres. Das Mägdlein, von dessen schmalen Schultern die Kleider noch herabhingen, wie die Blätter von einem aufbrechenden Kastanienzweig, tat das gern, und weil es seine Sache gut machte und sozusagen einem jeden Huhn alltäglich sein Eierhäfelein handfertig begutachtete, kam es bei der Meisterin zu manchem schönen Sonderbatzen über sein Anfangslöhnlein hinaus. Es wurde auch der Gemüsebau gefördert, soweit man dafür abkömmlich war. So kam's, daß man in der Küche mit einemmal Grünes in Hülle und Fülle hatte, auf was man vorher gar zu wenig gegeben hatte. Jedoch hierin schien dem Bauer seine Frau zu weit zu gehen. Sie nahm ihm seine Dienstleute für ihren Gemüsegarten und ihren Blumenkohl zu oft in Anspruch. Sie mußte sich daher in dieser Richtung mäßigen, denn, sagte er ihr, was für einen Kleinbauer, gar ein Geißenbäuerlein, gewiß ein ordentlich lohnendes Geschäft sein könne, sei für ihn auf Rain, in Hinsicht auf das weit wichtigere Ganze, etwas ziemlich Nebensächliches. Freilich, das wolle er ja auch bekennen, daß ihm der Tisch jetzt besser 252 gefalle, seitdem zu den zwar ewig wohlschmeckenden Erdäpfeln auch noch mehr und mancherlei Gemüse drauf komme.

Die kleine Frau sah das ein und achtete seinen Willen. Dagegen vermochte sie den Bauer unschwer dazu zu bringen, daß er ihr ein rechtes Waschhaus erbauen ließ. Er hatte sogar einen Wasserschmecker kommen lassen, der mit seiner Wünschelrute eine neue, auch ziemlich ergiebige Quelle am Raingütsch in einer von Farrenkraut bestandenen Waldlichtung ausfindig machte. Sie brachte dem Waschhaus einen eigenen Brunnen und, was aber der Bäuerin das willkommenste war, auch eine Wasserleitung ins Haus. Die Köchin Kresenz war eine Zeitlang über die große Bequemlichkeit, das Wasser nur so aus der Wand drehen zu können, rein närrisch vor Freude. Bisher hatten ihr der Oswald, etwa auch der Karlima, dieser immer im Hinblick auf ein Extragläschen Trester, dabei fluchend und schimpfend, das Wasser in Mosttansen in die Küche getragen und in die paar großen Kupfergelten hineingeschüttet. Das alles war nun für alle Zukunft auf die angenehmste Weise geändert worden. Und niemand konnte jetzt verstehen, daß man das nicht schon lange getan hatte. Zum Dank an Gott und wohl auch um den Oswald in seiner blaugrauen Soldatenmütze doch immer etwa wieder in der Küche zu haben, holte die Kresenz bei ihrer 253 Base auf Römerhöhe eine grosse Flasche, eine Krausle voll Heiltrank für des Kühers Magenverstimmungen.

Es schien sich also, seit das Apelluneli erst als Haushälterin und alsdann als Meisterin auf Rain wirtschaftete, alles mehr oder weniger zum Glückhaften anzulassen.

Das war auch an den Dienstleuten, voraus bei den Mägden, gar wohl zu merken. Waren diese der Haushälterin immer etwa wieder aus dem Geleise geraten, so hatte sie die Bäuerin nun schon seit langem wieder hineingestellt. Sie ließen sich ganz nach ihrem Willen schieben. Karline, die Viehmagd, war geradezu glücklich, erlöst, als der Bauer die Haushälterin heiratete. Sie war doch recht eifersüchtig auf das geschmeidige und doch so zähwillige Frauchen gewesen, auf das Kätzchen aus dem Schloo, wie sie's nannte, obwohl sie bei allem Aufpassen nie etwas Ungerades, Seitengäßliches zu sehen bekam. Dennoch, man wußte eben bei diesem meisterlosigen Wysel, der's immer mit dem Jauchzen hatte und der an keinem Weibervölklein, an der jungen Haushälterin schon gar nicht, gleichgültig vorbeisehen konnte, nicht wohin ihn sein Blut noch treiben würde. Nun aber war das Apelluneli schon lange Bäuerin, und mit großer Befriedigung bemerkte die Karline, wie sehr sich der Wysel hütete, an seinem gewaltigen Meister vorbei nach dem Apelluneli aus dem Schloo zu schielen. Nein, wie hatten 254 nur die Leute diese kleine Bäuerin, deren Wille zäher war als Juchtenleder, Porzellangeschirrlein nennen können!

Auch die Kresenz, die den Küher Oswald so gern in der Küche sah, um ihm irgendeinen Magentrost zu geben oder ihm eine Salbe einzureiben, war über die Einheiratung der Haushälterin auf den Hof erfreut. Nun hatte man doch vor der in einer gewissen Richtung seine Ruhe. Obwohl der Oswald nicht jedem herumschwänzelnden Weiberflünklein nachhielt wie der Wysel und andere Mannskerle, so hatte er doch die Augen auch nie niedergeschlagen, wenn ihm das wirtschaftende Apelluneli in Hof und Haus begegnete. Er heiterte im Gegenteil, was ja wohl zu sehen war, immer auf, wenn das hurtige Weiblein in die Küche kam. Es schien ihm dann sein Magenleiden mehr gegen das Herz hin zu ändern. Vögeleinwohl schaute er immer drein, wenn der kleine Fuß der Stubenmagd irgendwie um ihn war. Nun aber hatte sich die Haushälterin längst in die Bäuerin verwandelt und damit schien auch alles um sie her, der Meister voran, ein anderes Gesicht bekommen zu haben. Die haushaltende Stubenmagd hatte ja den Knechten nie schöne Augen gemacht, von der Meisterin erwarteten sie erst recht keine mehr. Sie sahen nur verstohlen nach ihr, denn ganz kann man das, sagte sich die Kresenz, dem Mannsvolk, scheint's, nicht abgewöhnen.

255 »Heja«, meinte die Viehmagd Karline zur Köchin und zur Putzerin Theres eines Tags, »unsere Meisterin, dieses Apelluneli, ist ein geschwindes Spinnlein. Ich muß mich etwa geradezu umsehen nach ihr, denn es ist mir oft, sie wimmle auch wie so eine Spinne auf einem halben Dutzend Beinen herum. Sie hat ja auch ihren Hansbaschi, diese umfängliche Hummel, gehörig eingesponnen«, sie lachte auf, »und er zappelt schon lang nicht mehr.« – »Freilich«, antwortete drauf die Theres, die nun auch neben der Putzerei und Wäsche die Leute, die immer wieder in die Dienstenstube für allerlei Flicke und andere Arbeit auf die Stör kamen, zu betreuen und zu überwachen hatte, »der Meister hat sich auch willig einspinnen lassen, weil er sieht, wie warm und weich er dabei gebettet liegt. Wär's anders oder käme es anders, unser Bauer hätte sich aus allen Gespinsten bald wieder losgemacht, denn wenn's drauf ankommt, ist er doch immer wieder der Herr und Meister, der weiß, was er will. Er läßt eben sein Spinnlein, wie du das heißest, nur so machen und walten, weil er sieht, daß es Seide spinnt und immer wieder gutes Wetter auf Rain anzeigt, wahr oder nicht?«

Jawohl, das war die Meinung aller Dienstboten. Am besten konnte es die junge Bäuerin aber dem alten Meisterknecht, dem Hansuoli. Sie half ihm wo immer, da sie seine Treue und Zuverlässigkeit erfahren hatte. Er war, trotz seinem Hinkebein, überall und 256 tat seine Pflicht, so gut er's noch vermochte, unermüdlich. Auch hörte er ihre Räte und Meinungen willig an und wenn sie ihm irgendwie gut erschienen, richtete er sich auch darnach. Er hatte wohl seine langverharzten Eigenheiten. Die kleine Frau mußte ihm ein Neues, ein Ungewohntes oft ziemlich lange und allseitig dartun, bis er verstand oder verstehen wollte. Alsdann aber war er mit ganzer Seele dabei und nahm auch die Knechte mit, die ihm jetzt, seit eine so willenskräftige Bäuerin hinter ihm stand, wieder williger folgten und fast nicht mehr maulten. Nur der Karrer, der Karlima, brummte wie immer bei jeder Weisung, die er ihm gab und etwa, wenn's ihm besonders wider den Strich ging, fluchte er an den Alten hin, daß man den Teufel auf dem Scheunendach vor Entzücken Purzelbäume schlagen sah. Nun, das konnte man nicht mehr ändern, und da er den Weisungen dabei doch immer getreulich nachlebte und sich jedesmal, wie ein Schneck im Donnerwetter, irgendwie in sich hineinzog, wenn die Meisterin unversehens zu seiner gottvergessenen Litanei kam, so ließ man's ihm eben so hingehen.

Der Bauer Hansbaschi Hochrütiner hatte die für Haus, Hof und Herz so wohlbekömmliche Änderung zum Guten bald herausgefunden und er freute sich darüber ganz gewaltig. Je fester seine junge Frau, die er immer heißer liebte, da sie ihm zärtlich 257 zugetan war und so wacker und erfolgreich wirtschaften half, auf dem Rainboden abstand, je mehr sie der goldene Kern, die Sonne seiner Umwelt wurde, desto vertrauter tat er mit ihr vor Knecht und Magd. Vor den Dienstleuten fragte er seine Bäuerin um Rat und er ehrte sie wie er konnte, auf daß alle seine Leute und durch sie das ganze Land gewahr werden sollten, wie viel sie ihm gelte, wie sehr er ihr zugetan sei.

Nach einiger Zeit, schon nach anderthalb Jahren, ging er hierin soweit, daß er zu seiner Freude und zur Verwunderung seines Werkvolkes, das so etwas noch von keinem Bauern gehört haben mochte, seine Frau von einem armen, aber tüchtigen Künstler malen ließ.

Ja, das Dorf Bohlishusen unten und die Bauernsame rundum wunderten sich alle hochgradig mit, als das landbekannt wurde. So was war sonst auf der Bauernsame nicht Brauch. Man konnte doch nur in der Stadt auf solche Einfälle, derartige Wunderlichkeiten kommen. Die Geschwister des Rainlers aber entrüsteten sich über diese Komödie und Weiberanbetung, wie sie's nannten, gar sehr.

»Narrensachen und sündhafte Verschwendung dazu«, schimpfte der Langhänsel, als er von der Malerei hörte, »für was braucht denn der Große ein Gemaltes. Er hat ja dieses Schlooapelluneli leibhaftig wie und wo er's haben will, für was braucht er denn ihren Abklatsch an die Wand zu hängen. Sie ist 258 ja kein Muttergottesbild und es tut's an der Urahne, die in der großen Stube hängt und von der man auch nicht verstehen kann, wie man sie einst hat malen lassen können, nur daß alle Nachkommen auf Rain an ihre Raubvogelnase hinaufsehen müssen. Ein Porträt, es ist zum Lachen. Da wollte ich doch lieber ein einziges lebendiges Apelluneli im stillen Kämmerlein als sein abgemaltes Frätzchen in der großen Stube auf hundert Tafeln. Was hat man davon? Zudem heißt's, dieses Gemälde habe den Hansbaschi volle fünfhundert Franken gekostet. Ein Haufen Geld, um das man ein Haus über und über und noch zwei Gartenhäge dazu hätte himmelblau anstreichen lassen können.«

Auch die Holzhändlerin, die Schwester Brigitt in der Wydlen, gab kein erfreuliches Gutachten über diese einfältige, blutteure Götzendienerei, wie sie's nannte, ab. Sie kenne aber die Männer und könne so was allenfalls schon verstehen. Etwa werde auch der größte Eisenfresser und Rauzedibauz dem Weibervolk gegenüber so weißmüsleinlind, daß man ihn wie eine nasse Windel über den Hag hängen könnte. Und nun gar ein so alternder, gewesener Witwer. So einer probiere eben allerlei, auf daß ihm das neue Weiblein ja schön in der kalten Stube bleibe und wenn's am End nur in einem Rahmen an der Wand wäre.

259 Alles das wußte der Ludi bei seinem nächsten Pump auf Rain seinem Bruder ins Ohr zu raunen.

Eines Tages aber erschien das Seppeli, der verstorbenen Zille Nichtlein, im billigen Laden zu Bohlishusen, in dem es einiges einzukaufen hatte. Da erzählte es nun des Langhänsels Frau Seraphine, die ja immer nur so in ihrem Laden lebte, daß der Vetter, wie es den Bauer auf Rain immer nannte, der Meisterin nun auch noch ein nagelneues Klavier gekauft habe. Das sei so glatt und fein wie ein Spiegel, es könnte ganz gut die Haare davor machen und es gebe sogar goldige Beschläge dran, wo man Kerzen hineinstelle. Und dann, wenn die Frau Base darauf spiele, sei es einem immer, als ob es gegen Weihnachten zugehe. Sie könne heillos gut auf dem Klavier spielen, sogar mit einer Hand über die andere hinüber.

Aber da hatte Frau Seraphine schon nach ihrem Mann gerufen. Und als er mit dem gewohnten mißvergnügten Gesicht, das jetzt mit seinem Bocksbart fast einem zusammengegangenen, ledernen Geldsäckel glich, im Laden erschien, mußte das hellhaarige Seppeli nochmals alles wiederholen. Es tat's auch mit heiligem Eifer. Das Klavier der jungen Frau auf Rain wuchs sich in seiner Schilderung fast zur Kirchenorgel aus.

»Also sag Kleine, was machen denn jetzt der Meister und seine Frau auf Rain mit dieser Maschine?«, fragte der Krämer mit lauerndem Augen.

260 »Heja«, antwortete das Seppeli, »alle Sonntage gegen Abend gehen sie zusammen in die hintere Stube, wo nun das Bildnis der Meisterin hängt, das fünfhundert Franken gekostet hat. Dort hocken sie halt zusammen und die Frau des Vetters spielt das Klavier.«

Der Langhänsel lachte, was er sonst selten fertigbrachte, denn für gewöhnlich ging's nur über sein furchenreiches Gesicht, wie eine Windheitere im Regentag über einen ausgeernteten Erdäpfelacker. Dasmal aber kam ein wimmerndes Kichern aus ihm heraus, wie von einem Kind, das trockengelegt sein möchte. »Heiliges Verdienen«, rief er aus, »da möchte ich einmal sehen, wie der Große mit seinen zehn Knobelfingern auf diesem Gixkasten herumtrommelt!«

»He nein«, warf ungehalten das Seppeli ein, »der Vetter spielt nicht das Klavier, sondern bloß die Meisterin. Sie spielt immer allein und einmal hat sie gar gesungen. Und er hört ihr zu. Nur selten einmal nimmt er die Klarinette und dann spielen sie wohl auch zusammen einen Tanz auf. Alsdann hüpfen wir, ich und die Köchin, die Kresenz, und etwa gar die Putzerin Theres auch noch, in der Küche herum, wo wir's ganz gut hören. Und einmal ist der Wysel dazu gekommen. Und da hat er die Karline und das Saubethli in die Küche hinaufgeholt und hat mit ihnen getanzt, aber das Bethli hat ihm einen Klaps aufs Ohr gegeben, weil er's auflupfen 261 wollte. Und da sind die Viehmagd und das Saubethli hintereinandergeraten und haben sich zerzaust. Und der Wysel und der Oswald, der so gern neben dem Herd hockt und tabaket, haben gelacht dazu. Zuletzt hat der Wysel gar mit mir tanzen wollen, aber da habe ich mich geschämt, bin ihm davongelaufen und habe mich hinter die kupfernen Wassergelten, die wir ja schon lange nicht mehr brauchen, versteckt. Ja, das war aber gleichwohl ein lustiger Sonntagabend, als der Vetter mit der Meisterin tanzaufgespielt hat.«

Diese kleine Geschichte vom Klavier auf Rain gab aber dem Langhänsel auch wieder Anlaß, bei seiner Schwester Brigitt, als sie wieder einmal in den billigen Laden kam, über diesen Verschwender auf Rain loszuziehen, der ein so großes Geld für die kleine Kröte aus dem Schloo vertue, die doch hinten und vorn nichts zugebracht habe als ein paar hoffärtige Fähnchen, eine Bettstatt und ein paar schlechtgeleimte Stühle.

Die Holzhändlerin tröstete diesmal ihren eifernden Bruder, indem sie sagte, er solle doch des Hansbaschis jungem Weiblein solche Zückerchen unbeschrien gönnen. Es sei doch gewiß besser und den allfälligen Erben zuträglicher, sie bekomme vom Großen ein Klavier, ja ihretwegen eine ganze Kirchweih voll Drehorgeln und Handorgeln, als daß er ihr die Wiege von der Dachwinde herabhole und ein Kindlein drein bestelle, 262 das ihnen dann eine weit mißtönigere Musik machen würde.

Ja, mit dieser Gegenrede vermochte seine Schwester auch den Langhänsel einigermaßen zu geschweigen.

Der Ludi aber, als er von dem Klavier hörte, zog mit seinem Fliegenschnapper im Dorf herum, von einer Wirtschaft zur andern und verhöhnte seinen Bruder und seine Schwägerin auf Rain aufs unverschämteste, indem er sich ans Klavier höckte, wo's eines gab, denn er konnte auch etwas klimpern, und Spiel und Gesang des jungen Frauchens wiederzugeben suchte. Sein Pfahlbauhund lieferte dazu mit einem erbärmlichen Geheul die Untermalung.

Dieses wenig geschwisterliche Verhalten und auch wohl das Werweisen landauf, landab über sein und seiner Frauen Gehaben plagte den Hansbaschi Hochrütiner aber recht wenig. Es war etwas ganz anderes, was ihm so nach und nach das Herz schwer zu machen begann. Nun war er schon fast seit zwei Jahren verheiratet, aber es wollte kein Kind kommen, die Wiege unterm Hausdach hatte gute Ruhe. Ja, das schmerzte ihn immer mehr und ließ ihn zu Zeiten in ein Sinnen versinken, das ihm nicht gut bekam. Ja, es fing an, ihn kopfhängerisch zu machen. Jedoch, er nahm sich zusammen, um sich äußerlich so wenig als menschenmöglich anmerken zu lassen. Seine Frau durfte ja nichts von seiner Unruhe, von seiner sich vertiefenden 263 Enttäuschung innewerden. Er tat, was er konnte, um ihr immer das gleiche, freundliche Gesicht zeigen zu können. Immer war er lieb und gütig zu ihr und auch stets hochbeglückt von der Liebe und Treue, die sie ihm, dem älter werdenden Mann, mit großer Zärtlichkeit bewies. Auch konnte er wohl gewahr werden, wie sehr auch sie sich nach einem Kind sehnte. Wie es sie plagte, daß keines kommen wollte. Eines Tages hatte er gesehen, wie sie eine Puppe, die sie wohl noch seit Kindeszeiten unter ihren Sachen zurückbehalten hatte, im Arm wiegte und wie sie dazu herzerschütternd weinte. Leise hatte er damals die Türe zugenommen, denn nun meinte er genug zu wissen. Der heimliche, verhaltene Gram seines geliebten Apellunelis machte ihm den Kopf fast wirr.

Eines Tages kamen die Geschwister aus dem Hause auf Rain zu einem ewigen Jahrzeitgedächtnis im benachbarten Dörfchen Hergisau, aus dem ihre Mutter stammte, zusammen. Auch des Langhänsels mausgraue Frau, die Seraphine, hatte mitgehen dürfen. Das Haupt der Hochrütiner auf Rain, der Hansbaschi, hatte es so gewünscht. Es war ihm, es könnte der vernachlässigen Ladnerin auch nichts schaden, wenn sie einmal zu ihrem ehelichen Gefängnis hinaus, etwas an die frische Luft und zu einer kleinen Abwechslung komme.

So hatten sich denn alle Rainler im Kirchlein zu Hergisau versammelt, wo man für ihren Großvater, 264 wie alljährlich, eine Messe zum Trost seiner armen Seele las, während der die Hergisauer Jungfrauen das Gesangliche, etwas durch die Nase, besorgten. Nach dem Totenamt machten sich alle, die zur Familie gehörten, auf Einladung Hansbaschis, als des derzeitigen Bauers auf Rain, zu einem Neunuhrimbiß in die Wirtschaft zur »roten Traube«.

Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen, ganz Gottes, Sonne, Sonne, Sonne. Kein Schatten, nicht einmal der Schatten eines Grashalms schien der Teufel in die Helle, in die Schönheit dieses Tages hineinschwärzen zu können. Um das ländliche Wirtshaus, fast in die niedrige Stube hinein, blühten die Kirschbäume. Finken, Meisen und Spatzen, ein jeglicher Vogel in seiner Art, lobten inbrünstig den Herrn.

Da saß nun die Rainfamilie, mit Ausnahme der jungen Frau Hansbaschis, die nicht hatte abkommen können, um den Tisch mit der schweren, zerschrammten Schiefertafel. Sie tranken alle mehr oder weniger, aßen auch etwas und hielten dazu ein Plauderstündchen ab. Und was sie zusammen redeten, ging vorerst nicht über den Alltag hinaus und hatte, wie immer seit Adams, des ersten Landwirts Zeiten, mit einer umständlichen Schilderung des jüngst verflossenen Winters und Wetters und mit allerlei daraus hervorgehenden Schlüssen und Prophezeihungen für den Sommer angefangen.

265 Der Hänsel Hochrütiner war heute recht gesprächig. Zum ersten kostete ihn der vormittägliche Trauerschoppen mit Zubehör nichts und zum andern bestrebte er sich, beim Bauer auf Rain ebenfalls gut Wetter zu machen. Es lag ihm nun gar viel daran, sich den kinderlosen Bruder warm zu halten, denn er hatte das früher, wie er sich sagte, viel zu sehr versäumt. Er hatte den Gütsch auf dem Rainhof für seine Kurhauspläne auch keinen Augenblick vergessen oder gar diese Pläne abgedankt. Es sollte sich ja mit dem erstrangigen Aussichtspunkt unter allen Umständen etwas machen lassen, so oder anders. Man mußte nur warten können und die Augen offen behalten. Ebenso ließ sich heute, zur Verwunderung aller, die Schwester Brigitt, die Holzhändlerin, ungewöhnlich gesprächig an, sie, die so verschwiegene, die sonst wohl zwei Ohren aber keinen Mund zu haben schien. Bedachtsam und hartgängig im Ton berichtete sie von ihren zwei Söhnen. Sie erzählte, wie ihr Ferdi schon auf der Säge zu brauchen sei, wie er sich auch schon des Holzhandels, der eine gar heikle, schwierige Aufgabe bedeute, anzunehmen anfange. Dieser ältere Sohn sei für ihr Sägewerk wie gemacht, wogegen er im Landwirtschaftlichen auf ihrem Hof noch nicht recht drin sei und dort noch manches lernen müsse, auch das Selberzugreifen. Ein wahres Muster von einem Bauern hingegen werde ihr Alex. Der sei mit 266 dem Boden wie verwachsen. Wenn er nur im Betrieb und Dreck stecken könne, sei ihm schon geholfen. Der werde eines Tages aus Steinen wahrhaftig Brot herausbringen. Obwohl er noch fast in der Bubenhose stecke, wachse bei ihm der Bauer aus jeder Faser heraus. Das gebe nun wieder einmal ein Landwirt von altem Schrot und Korn. Er sei aber zugleich doch ihre Hauptsorge. Sie möchte ihm halt eines Tags einen rechten Hof zuhalten, denn für ihrer zwei tue es die Wydlen nicht. Und da sei es nun mehr als schwierig, ein rechtes Gut oder auch nur ein mittelgroßes Heimwesen zu bekommen, wenn man nicht einen Schelmenpreis dafür zahlen wolle.

Während aber der Langhänsel und die Schwester Brigitt, entgegen ihrem sonstigen unwirschen oder doch verschlossenen Wesen, sich wie ein fleißiges, durch Tiefen und Tobel aller Art und um alle Ecken schwänzelndes Wässerlein gehen ließen, um eine gewisse Mühle für ihr Korn in Gang zu bringen, blieb der Hansbaschi Hochrütiner ungewöhnlich ruhig, ja einsilbig. Ab und zu nickte er, etwa sprach er ein Wort, aber er schien, im Gegensatz zu seinem sonstigen, so offenen und geselligen Tudichum, heute nicht bei der Sache, ja völlig abwesend, auf irgendwie andern Gedankengängen zu sein. Der Ludi redete zwar auch noch nicht, denn er hatte immer noch den gestrigen Rausch in seinen Nachwehen zu verwerken, aber seine wie 267 zusammengepappt aussehenden Augen begannen doch allmählich sich zu öffnen, und der Mund war auch schon aufgetan. Lange wird es nicht mehr dauern, bis er wieder sein Maul in alles hineinhängt, dachte sich die fast unsichtbar dasitzende Frau Seraphine, die sich damit vergnügte, seine Wiederbelebung zu beobachten.

Was ist wohl mit dem Hansbaschi gegangen, was hat er, fragten sich der Langhänsel und die Holzhändlerin. Sollte zu Hause auf Rain etwas nicht stimmen? Seine neue Frau war ja auch nicht zur Jahrzeitmesse erschienen. War der Krieg, der ja in den meisten Stuben zwischen Mann und Frau zeitweilig fast selbstverständlich sein soll, zwischen dem Großen und seinem eigenwilligen und eben noch jungen Weiblein nun auch ausgebrochen? Nein, das konnte kaum sein; man hörte das Zusammenleben der beiden nur rühmen. Ja, was war dann aber mit dem Großen los, daß er so dahockte wie angewachsen und kaum lieber Gott sagen mochte?

Bruder und Schwester ließen sich aber in ihrer Gesprächigkeit nicht beirren. Sie fuhren fort zu reden und ihre Absichten, so verblümt als es ihnen möglich war, dem Mann auf Rain eingänglich zu machen.

Nun war aber auch der Chemifeger von seinem gestrigen Grabe oder vielmehr Graben auferstanden. Er hatte sich nämlich um vier Uhr bei der Tagwacht 268 des nächsten Haushahnes aus einem Straßengraben herausgeholfen. Und da er nun über den Tisch nicht zu Wort kommen konnte, denn man hörte auf ihn so wenig als auf das Gezwitscher der Spatzen vor dem Fenster, tuschelte er vorerst eine Weile seiner Schwägerin vom billigen Laden die Ohren voll. Als er aber von dieser Seite auch zu wenig Aufmerksamkeit und jedenfalls keinen Widerspruch erlebte, gelang es ihm, seiner Schwester Brigitt, die sich eben ziemlich geräuschvoll, verdrossen über die Unmerkigkeit ihres Bruders auf Rain, geschneuzt hatte, zuzuraunen: »Du Brigitt, schau einmal den Großen recht an, was der heute für eine Vorstellung macht. Entweder ist er übelzeitig, etwas ist, beim Eid sterb ich, krank an ihm oder dann hat er einen geistigen Bandwurm, für den ich aber keinen lateinischen Namen weiß, und trotzdem kann er existieren. Glaub's mir, Schwester, es drückt unsern hochgebauten Bruder irgendwie, obwohl er nur mäßig Schnee auf dem Dach hat. Es bedünkt mich auch, er sei die letzte Zeit – ich habe ihn zwar schon seit langem nicht mehr gesehen, er gibt mir ja fast nichts mehr – merkwürdig gealtert, oder nicht?«

Die Holzhändlerin gab keine Antwort, aber mit großen Augen, die immer kugelrunder wurden und hellscheiniger, wie die Lichter einer aus dem Tunnel kommenden Lokomotive, schaute sie auf ihren Bruder 269 Hansbaschi, in den der Hänsel hineinredete. Ja, beim Strahl, daß ihr das nicht aufgefallen war, dem Großen fehlte es irgendwo, das mußte man sagen. Er sah älter aus, und es war ihr, auch etwas grauer um die Schläfen. Also deswegen hockte er da wie ein Grabstein. Was mochte mit ihm los sein? Ja, einen Wurm hatte er in sich, das war einmal sicher, wenn auch keinen Bandwurm. Nein, sie konnte nicht aufhören, den Bruder, der gewaltigen Leibes am Tisch saß und ihr aber mit einem Male vorkommen wollte wie ein voller Sack Mehl, der keinen sichern Stand hat, anzusehen und, soweit hinein als frauenaugenmöglich, auszunehmen. Ach, daß man doch die Leute nicht durch und durchschauen konnte! Was ging nun wohl in diesem schweren Haupt, hinter diesen zwei herrischen Augen vor, die dabei auch wieder so kindlich einfältig in den Tag hineinzuträumen pflegten. An etwas kränkelte der Hansbaschi, das war einmal gewiß, irgendetwas mußte ihn plagen, denn sonst wäre er heute gewiß ein anderer. Ah, ah, ah, wenn man's nur herausbringen könnte!

Nein, der Bauer auf Rain schien sich nicht länger studieren und anreden lassen zu wollen. Wenigstens sagte er jetzt mit langsamer, fast unsicher schreitender Stimme, er wolle nun heimzu; wenn der Ludi es wünsche, könne er auf seinem Wagen mitfahren. Er müsse heim. Man sei daran, die Wasserleitung für 270 den großen Brunnen aufzutun. Es fehle dort irgendwo. Auch habe er, da der Hansuoli unpäßlich sei und es auch gar nicht recht verstehen wolle mit dem neuen Traktor, ausgiebig das Jauchefaß in der Hausmatte herumspazieren zu führen. Den Karrer könne er hiefür nicht brauchen. Der würde ihm die Maschine kaputmachen, und die andern haben anderes zu tun. Es sei ihm außerdem, es werde morgen Regen geben, was dann auf dessen Schwemme hin grad recht wäre.

»He, Hansbaschi«, meinte die Brigitt ungewöhnlichen Tones, denn sie suchte ihrer Stimme, freilich mit unzulänglichen Mitteln, Wärme zu verleihen, »so brauchst du wohl nicht zu pressieren. Das Jauchefaß und der Miststock laufen dir nicht davon. Es ist mir, wenn ich dich jetzt so ansehe, du habest wie etwas von deiner guten, rotlachten Farbe verloren. Am End übertust du dich und das wär doch einfältig und nicht zu verstehen von einem Bauer, der keine Kinder hat.«

Der Rainler schaute seine Schwester einen Augenblick fast finster, seltsam an, was sie nun aber gar wohl verstand.

»Bruder«, fuhr sie zu reden fort, »es ist halt doch so, du kannst die Stirne runzeln wie du willst. Ich hab' doch recht, du übertust dich mit deinem großen Hofwerk. He natürlich, es ist ja immer eine mühevolle Arbeit gewesen, diesem Gut vorzustehen; ich weiß das noch wohl genug von Vaters Zeiten her, der 271 sich auch zu früh abgeschafft hat. Und seitdem du nun dein Apelluneli hast, hat sich die Arbeit auf dem Hof allweg noch vermehrt. Sie hat noch dies und das Neues auf Rain eingeführt, von dem man früher nichts wußte und was mehr Verdienst, ich geb's gern zu, aber auch mehr zu tun und zu denken gibt. Deine Frau ist gar eine schaffige und eine besonders anstellige. Nun, das haben wir eben wohl gewußt und sie dir deswegen auch angeraten und ins Haus gebracht, oder nicht? Gut, also Großer, übertreib's mit der Arbeit nicht! Für wen denn? Für dich hast du haufensgenug und Nachkommenschaft, heja, 's ist einmal wahr, in Gottes Namen, und es tut uns leid genug, – ist ja noch keine herum und allem Anschein nach auch kaum zu erwarten, obwohl man da natürlich nichts sagen oder gar einen Eid drauf tun kann. He, aber Hansbaschi, das mußt du doch selber sagen, wenn doch noch Kinder anrücken sollten, was ja nicht grad wahrscheinlich ist, so wirst du gleichwohl gar zu alt bis sie dir anstehen, helfen und die Bürde gar abnehmen könnten. Du weißt wohl, wie lang es dauert, bis man an so Jungwar etwas hat, bis ihre Gigelgagelzeit einigermaßen vorüber ist. Ich meine deshalb, auf daß du dich schonen könntest und daß das Stammgut nicht in fremde Hände käme, es würde nichts schaden, wenn du etwas Junges, Verwandtes, das doch schon aus den Erdäpfelstauden 272 hinausgewachsen ist, zu dir auf den Hof nähmest. So ein junger Feger könnte sich dann nach und nach unter deiner Anleitung in den großen Betrieb hineinarbeiten. Was sagst du?«

»Brigitt«, antwortete der Bauer auf Rain, gradaus auf seine Schwester sehend, und zwar mit Augen, die sie nun für fast dunkel nahm, obwohl sie sonst hellblau wie ein auffrischender Morgen waren, »ich vermag's auf dem Hof alleweil noch zu machen und ich will's weiterhin machen. Es ist ja schön, daß du so an mich denkst und an meine Zukunft, und es ist das auch für mich etwas Ungewohntes. Also gleichwohl, ich habe noch den alten Kopf, der, wenn er will, allenfalls immer wieder etwas durchstieren kann, und ich habe Ellenbogen und noch Schmalz drin und Arme dran, die sich allseitig auf- und umtun können. He, und an Hilfe mangelt's mir auch nicht, habe Volks genug auf Rain. Ja wahr, mehr oder weniger fremdes Volk. Hingegen gedenke ich, Leute, die mir von Bluts wegen zugehören würden und näher ständen oder stehen könnten, kaum, nicht so schnell wenigstens, einzustellen und nachzunehmen. Man weiß ja«, und nun schaute er durch's Fenster, selber recht undurchsichtig werdend, ins Kirschenblust hinaus, »daß einem die Nächsten etwa die Fernsten und die Fernsten die Nächsten sein können. Ich meine, das auch schon erlebt zu haben. Auch meine Frau, das 273 Apelluneli, hat es mir bewiesen, von dem ich doch noch vor ein paar Jahren so wenig gewußt habe wie von einem Negerkind.«

»Ja, ja«, sagte die Holzhändlerin nach kurzem Schweigen, seelenruhig, als ob sie das von den nah- und fernstehenden Leuten nicht das geringste angegangen wäre, »das ist ja alles schon recht, aber, Hansbaschi, bedenk's, daß du kein heuriges Kaninchen mehr bist, bei all deiner bodenguten Postur, und daß du vielleicht eines Tags froh wärest, du hättest jemand aus der Familie zur Hand und der Rain käme nicht unter Fremde, die du ja jetzt so rühmst.«

Der Rainler blieb still, aber ein wenig nickte er doch mit dem ganzen schweren Haupt.

Nun aber kam der Ludi hoch, der schon eine Weile auf der Lauer gelegen hatte und in dem sich der Fluß seiner immerwährenden Beredsamkeit arg gestaut hatte: »Hansbaschi«, rief er gar wichtigtuerisch und vielwissend aus, »ich will ja nichts gegen unsere Brigitt geredet haben. Es ist manches wahr, was sie angezogen hat, obschon ich meinerseits einen Dreck drum gäbe, ob der Hof den Blutsverwandten oder einem Wilden aus Afrikeit zukommt, denn am End sind wir alle Menschen blutsverwandt und wild erst recht, und gar viele, die ein Mäntelchen von Samt und Seide darüber hängen, oft die wildesten. Weißt du was, Großer, ich an deiner Stelle, wenn mir die 274 Haare und die Welt immer grauer werden wollten, würde mich auf dem Hof nicht zu lange abhunden, denn auf einmal fängt man zu mürben an, die Knochen streiken allmählich und verwandeln sich in Marterwerkzeuge. Alsdann muß man andere Leute regieren lassen, muß in irgend ein Stöcklein hinaufhocken, wo man sich zu Tode langweilt und niemand zum Gespanen hat als etwa die Erinnerung an junge Jahre und altbackene Sünden. Statt dessen aber könntest du's auf deine alten Tage fein einrichten, wenn du, ja, ich sag's, den Rainhof verkauftest. Denk, was da für ein Haufe Bargeld, das ja sowieso im Bauernhaus immer rar ist, herauszuholen wäre. Du könntest darnach mit den Schulkindern mit Goldmünzen das Knöpfleinspiel machen. Ich wüßte dir auch schon einen reichen Mann in der Stadt, der schon lang gern einen großen Bauernbetrieb hätte. Der würde dich fürstlich bezahlen. Es handelt sich um einen Herrn, wie ich's von meinem Gewährsmann habe, der mit seinem landwirtschaftlichen Gut einfach etwas großhausen möchte, ohne daß er sich selber drum annehmen oder auch nur einen Rechenstiel jemals in die Hand nehmen würde. Ja, Bruderherz, mit diesem Geldsack wäre nun ein guter Schick zu machen. Was meinst, Hansbaschi?«

Der Bauer auf Rain sagte nicht ja, nicht nein. Er schaute auch weder den zu ihm heraufglotzenden Ludi, 275 noch die andern an; er lächelte nur immer wunderlich vor sich hin in den Tisch und schwieg, und mit ihm, unter dutzenderlei Gedanken, die andern.

Der Langhänsel suchte während des Chemifegers Rede blitzschnell alles wie mit einem Scheinwerfer ab. Einen Augenblick war's ihm, es wäre allenfalls auch ganz kurzweilig, für ihn oder für seine Nachkommen eines Tages bei einem absterbenden Bruder ein goldenes Nest auszunehmen, statt daß man sich um den Hof auf Rain mit seiner festzugreifenden Schwester oder mit dem liederlichen Studenten, mit dem Ludi, der doch alles gleich wieder verklopfen würde, herumstreiten müßte. Dann aber fiel es ihm ebenso blitzschnell ein, daß der Hansbaschi als privatisierender Herr das erlöste Geld verunschicken könnte, oder daß es gar, wenn er vorher stürbe, sein gewixtes Frauchen weit über den Pflichtteil an sich zu bringen verstände. Nein, für einen Verkauf des Rainhofes konnte und durfte er nicht sein, gar nicht. Jedoch, er brauchte sich ja darüber gar nicht aufzuregen, noch überhaupt mit einem Wort zu äußern. Der Hansbaschi wird seinen schönen Hof gewiß nicht, und vielleicht jetzt erst recht nicht, verkaufen. Wie hatte es der Ludi nur wagen können, dem Großen davon zu reden. Er hatte wohl noch seinen versoffenen, dünnhaarigen Schädel mit allen Gedanken in der gestrigen Weinschwemme. Aber man sah es ja, der Hansbaschi schien sich nichts aus des 276 Chemifegers Vorschlag zu machen; er mochte kaum recht hingehorcht haben. Wie sollte er auch.

Nein, er selber brauchte darüber auch kein Wort zu sagen; denn nun redete die Holzhändlerin, der es plötzlich angst und bang wurde, der große Hof auf Rain könnte ihren Söhnen entgehen, ins tiefe Schweigen hinein: »Was fällt dir denn ein, Ludi. Du bist doch wohl ein Schwätzer. Unser Hansbaschi wird just der Narr sein, seinen schönen Hof zu verkaufen. Wo denkst du hin, du Kalb! So ohne weiteres läßt man sein angestammtes Gut nicht fahren. Wenn das der Vater selig hören könnte, würde er sich nicht bloß im Grab ringsumdrehen, auf stände er und täte dir eine Saftige herunterhauen. Wie kommt dir denn so was zu Sinn, du Schluck!«

Der Ludi Hochrütiner glotzte seine Schwester fast erstaunt an. Alsdann lachte er boshaft auf und sagte: »He, geliebte Frau Schwester von der immer für mich geschlossenen Hand und dem festen Schritt und Tritt, nimm's mir nicht für ungut. Ich habe nur so gemeint. Man kann doch auch seine Meinung haben, oder nicht? Ich, wenn ich den Hof auf Rain hätte, und was ja am End auch kein Wunder wäre, denn ich bin ja auch ein Rainler . . .«

»Ja, und was für einer«, warf die Holzhändlerin dazwischen.

»So würde ich diesen Hof mit Wonne verkaufen«, 277 fuhr er weiter, »und einen Engros-Weinhandel anfangen, daß die andern Weinhändler alle verlumpen müßten und bei mir um das Gläschen des armen Mannes umschauen kämen, statt daß ich so als wenig gern gesehener Provisionsreisender um die verfluchten Wirte herum, die alle Tranksame umsonst und dazu gleich noch von mir gesoffen haben wollen, der Tausendgottswillen um ein Bestellunglein anhalten muß. He, was hauchst du mich denn so biswindig, hagelschaurig an, Brigitt? Du bist doch kein Entstaubungsapparat, oder? Man kann doch eine Ansicht haben. Geschäft ist Geschäft, sagt der Amerikaner. Übrigens meine ich's mit dem Bruder Hansbaschi so gut als gewisse andere Leute, die zum Beispiel Söhne oder doch Buben haben.«

Er ließ den Kopf sinken, und zwar bis auf sein volles Glas hinunter, das er aber sogleich mit einem Schluck und Druck leerte, um es darnach selbstzufrieden, kräftig abzustellen, wobei er, von einem zum andern sehend, eine Scholle herauslachte.

Der Bauer auf Rain, der sich schon so halbwegs erhoben hatte, setzte sich wieder. Irgend etwas schien ihn auf den Stuhl zurückzuziehen. Und jetzt brach er sein bisheriges hartnäckiges Schweigen und erklärte den andern, die ihn gespannt belauerten, daß er nicht von weitem dran denke, seinen Hof zu verkaufen, grad so wenig oder noch weniger als ihn zu verschenken. 278 Er fühle sich in allen Teilen Manns genug, und er habe es auch im Kopf noch hell, ja, es werde immer hellscheiniger um ihn, was ja freilich nicht anders sein könne, wenn einem rundum so viel Lichter aufgesetzt werden. Er wisse also schon selber so ziemlich, was er zu tun habe. Er bleibe auf seinem alten Grund und Boden, solange er ihn trage. Gern gebe er zu, daß es gut sei, wenn man sich beizeiten vorsehe und auch ins Weite denke; aber des Menschen Augen hätten ihre Grenzen, und so habe er im Sinn, herzhaft zuzuwandern, soweit er den Weg zu erkennen vermöge. Heja, und alsdann in der Zukunft könne man die Augen ja wieder offenhalten, oder sie werden einem aufgetan wie in der Gegenwart. Ins Unbekannte hinein zu werweisen begehre er nicht. Da verlasse er sich auf den Herrgott, der für wachbare Leute immer wieder einen Wegweiser an die Straße stelle. Übrigens, so nebenbei wolle er's grad auch sagen, daß er's nicht gern sehe, wenn reiche Herren, die sonst ein gutgehendes Gewerbe haben, sich auch noch auf anderer Leute Sache werfen. Allenfalls könne er's noch verstehen, wenn's einer eben aus Freude, aus einem Trieb zur Landwirtschaft tue. Gar nicht könne er's aber von den alteingesessenen Bauern begreifen, daß sie sich vom Geldsäckel, wie die dummen Schafe von der Salzlecktasche, von ihrem ererbten Boden verlocken und also enteignen lassen. Sie werden dadurch einfach, da dürfe man's 279 nun sagen, bodenlos. Wohl bekämen sie Geld dafür, vielleicht haufenweise; aber die wenigsten wissen dann dazu zu schauen und es klug zu ratsamen. Manche verwirtschaften und vertun es leichtsinnig oder dumm, weil sie meinen, mit so viel Geld habe man für ewig genug und könne den Großen und Verschwender machen bis an sein Ende. Auch die Nachkommen, die Erben solcher freiwillig enteigneter, reichgewordener Bauern machen es noch lange nicht immer gut. Manche müssen darnach vielleicht froh sein, in ein Büro hineinhocken und die Fliegen zählen zu können, statt daß sie mit der Sense auf der Schulter in den heitern Morgen ausrücken und mannhaft mit Sonne und Regen wirtschaften, kämpfen und siegen können. Und oft genug komme es vor, daß eines Tags so ein Bauerngeschlecht weder das zu leicht erworbene Geld, noch das Heimwesen der Väter mehr habe. Es sei dann gegangen wie im Märchen, wo einer an einem Topf voll Gold meinte einen Schatz zu haben, der darnach in Staub und Asche zerfiel, anstatt wie im andern Märlein, wo sich ein Korb voll Gras und Laub und Tannzapfen auf dem häuslichen Herd in lauter lötiges Gold verwandelte. »Also, Bruderherz, streng dich nicht an«, sagte er nun zum Ludi, ohne ihn jedoch anzusehen, »und du, Schwester Brigitt, und ebenso du, Hänsel«, diese beiden streifte er mit einem fast scheuen Blick, »sorgt euch alle nicht zu sehr um mich und meine 280 Zukunft. Ich sage euch Vergelt's Gott für alle eure Räte. Hingegen jetzt muß ich heimzu. Der Rainhof wartet auf mich, er kann mich brauchen, und heja, solange er mich brauchen kann, lupft mich weder eine Steinwinde noch der Alpenwind, geschweige sonst irgendwer von seinem Boden.«

Jetzt aber gab's erst recht ein tiefes und ziemlich verlegenes Schweigen, das der Chemifeger, indem er den Langhänsel und seine Schwester lachend, verwundert anglotzte, noch vertiefte.

Da half dem innerhalb ergrimmten Langhänsel und der verstimmten Holzhändlerin die Ladenhüterin, die Frau Seraphine, die bisan so herzlich unbeachtet dagesessen und zugehört hatte, aus der unangenehmen Lage, indem sie ihren Schwager Hansbaschi Hochrütiner ganz unbefangen und zuckerkandissüß fragte: »He, Schwager Hansbaschi, sagt doch einmal, wie steht's denn, ist wirklich die schöne Wiege mit den drei bekränzten Herzen, die ich einmal auf der weiten Winde auf Rain in einem Winkel zu sehen bekam, immer noch so über und über voll Spinngewebe? Wollt Ihr sie nicht endlich einmal Eurem Apelluneli in die Schlafkammer hineinstellen lassen?«

Ein Weilchen schaute der Rainler seine ihm gegenüber sonst immer so scheue Schwägerin aus dem billigem Laden fast erschrocken an, als ob er sie zum erstenmal sähe und sich nun von ihr ein Bild machen wolle; aber 281 dann lächelte er sie an, matt, übernächtig, wie die Sonne, wenn sie Wasser zieht, und antwortete, als hätte er ihre Frage gar nicht gehört: »Heja, Schwägerin Seraphine, es geht gut auf Rain, und meine Frau ist gottlob gesund und wohl. Und das ist, meine ich, die Hauptsache, oder etwa nicht?«

Damit erhob sich Hansbaschi Hochrütiner ziemlich rasch. Auffallend heftig, völlig entgegen seiner sonstigen gutmütig-ruhigen Art, stellte er seinen Stuhl wieder an den Tisch. Seine Verwandtschaft merkte gar wohl, wie ihn die Frage nach der Wiege getroffen hatte. Nun wußten sie alle auch, was ihm fehlte, was ihn heute so auffällig niedergeschlagen, kränklich, ja alt erscheinen ließ. Der Langhänsel und die Brigitt sahen sich blitzgeschwind an, und es war ihnen, sie hören eines in des andern Busen die Seele vor Wohlbehagen schnurren, wie eine Katze, die sicher ist, daß ihr die Maus, die in der Wand kratzt, nicht entgehen wird.

»Komm Ludi!« machte dumpf der Bauer. »Kannst mit mir heimfahren. Ich hab's dir versprochen, so muß ich's auch halten. Daß du's aber weißt, es wird auf dem Weg nirgends eingekehrt. Ich muß heim und es fehlt mir die Zeit, mit dir bei allen deinen vorgeblichen Weinkunden anzuhalten. Also mach und ab der Wacht!«

Und da war der Rainler, nachdem er seiner Schwester, der Schwägerin und dem Hänsel flüchtig die Hand 282 gegeben hatte, ohne sie dabei anzusehen, schon aus der Stube. Und nun folgte ihm auch der Ludi, nachdem er vorher, als sein Bruder schon vor der Türe war, sich noch rasch seiner Verwandtschaft am Tisch zugekehrt und ihr, lautlos an sie hinlachend, mit erhobenem Finger zugeraunt hatte: »Stille, stille, kein Geräusch gemacht!«

Alsdann war auch er verschwunden.

Der Langhänsel und die Holzhändlerin saßen nun ziemlich verdrossen am Tisch, sahen auf die Grübchen und Schrammen seiner gewaltigen Schiefertafel hin und hörten, mit ihren Gedanken in ganz andern Bezirken weilend, der mausgrauen Seraphine zu, die ihnen irgendetwas Alltägliches vorschwatzte, und zwar ganz so wie sie's mit ihrer Kundsame im billigen Laden zu tun gewohnt war.

Der Bauer auf Rain dagegen fuhr nun, seinen ziemlich angetrunkenen Bruder Ludi neben sich auf dem Bock des Gatterwägelchens, heimwärts.

Es ging schon gegen Mittag und immer herrlicher wurde der blühende Frühlingstag und immer weniger schien die Sonne ihren goldenen Segen in der Welt unterbringen zu können, obwohl sie Feld und Wald, Haus und Herz, ja ein jegliches Heidelschneckenhäuschen mit ihrem Glanz erfüllte. Und daher mochte es auch kommen, daß jedwedes Mücklein, das des Rainlers Wagen umtanzte und sich die Flügelchen siebenfarbig 283 durchleuchten ließ, sich für eine Durchlaucht hielt und meinte, der liebe Gott habe die ganze, landauf, landab gehende Blustfeier nur wegen seiner in Szene gesetzt.

So rumpelte denn der kleine, ländliche Wagen, vom gutgehaberten, sauber gehaltenen Griß gezogen, auf der frisch für die Autos beschotterten Straße, die für die Wanderer millionenfältig Steine des Anstoßes hatte, noch ziemlich rasch durch die sonnenfrohe, maienselige Landschaft.

Weder der Chemifeger noch sein Bruder, der sich neben ihm ausnahm wie ein wehrhafter Turm neben einer Ruine, sahen das große Fest der Umwelt. Wohl tat der Bauer ab und zu einen Blick über die reichbeblümte, von der kleinen Blume Sonnenwirbelchen über und über vergoldeten Matte und die aufgehenden, grünenden Kornfelder, aber er sah nichts von allem. Meistens staunte er auf sein weißes, dunkelüberrieseltes Roß, hörte jedoch heute aufmerksam auf seines betrunkenen Bruders Reden.

Der Ludi Hochrütiner hatte seit ihrer Abfahrt von der »Roten Traube« zu Hergisau auch nicht einen Augenblick lang das Maul halten können, obwohl er zu sehen meinte, der Große höre ihm nur mit halbem Ohr zu, da er einsilbig blieb und nur ab und zu etwas brummte, das man für ein Ja, aber ebenso gut für ein Nein nehmen konnte. Und doch hatte er ihm sehr einläßlich und wie's schien, weit über Bedarf 284 von einem Universalmittel vorgeschwatzt, das von ihm als einem Chemiker, der ja einst bis fast zum Examen studiert habe, nach Paracelsi Anweisungen zusammengegossen worden sei. Es handle sich um ein unfehlbares, durchschlagendes Tränklein bei Viehblähungen. Man solle es auf Rain nötigenfalls nur probieren. Man brauche dann den teuren Viehdoktor nicht zu rufen oder irgendeinen Pfuscher mit dem Messer wirken zu lassen. Auch die aufgetriebenste Kuh gehe nach Einnahme seines Zaubertranks wie ein Kinderballönchen an der Stubenwärme zusammen. Als der Ludi aber sah, daß seine Wissenschaft vom Bruder nur mit verächtlichem Kopfschütteln und mit dem vernichtenden Wort »Narrensache« abgetan wurde, ärgerte ihn das gar sehr, denn in dieser Richtung war er unglaublich eitel und empfindlich. Als Chemiker wollte er ernst genommen sein. Wenn er besoffen war, traute er sich alle möglichen Erfindungen, sogar das Goldmachen zu. Und als ihm nun gar, auf sein eindringliches Ansuchen, ein Darlehen von fünfzig Franken, das er bei Hansbaschi gleich nach seinen so geringgeschätzten wissenschaftlichen Darlegungen aufnehmen wollte, rundweg abgeschlagen wurde, mit dem Bedeuten, er habe ja für heute schon eine Ladung Tranksame auf seine Rechnung in Hergisau in sich lagern können, wurde er völlig mißstimmt, ja von einem brennenden Ingrimm gegen seinen Bruder erfüllt. Es stieg wieder in ihm 285 auf, daß ihn dieser wegen seiner Liebeständelei mit der roten Heroine kurzweg aus dem Rainhaus hinausgeworfen hatte. Nein, das konnte er ihm weder jemals verzeihen, noch vergessen. Daß er ihm dabei die Schulden bezahlt hatte, war doch nur ein ungenügendes Pflaster für die Wunde gewesen, die er ihm mit dem Entzug seiner Kammer und dem freien Tisch im Vaterhause geschlagen hatte. Und so sann er denn, für ein Zeitchen sich duckend und still werdend, dran herum, wie er Hansbaschi etwas zuleid werken könnte. Aber nein, da war nichts zu machen. Wie sollte er dem Großen, der da neben ihm hockte wie ein Turm, etwas anhaben können. Mit einemmal jedoch kam ihm ein Gedanke, ein Gedanke noch feuerheiß, bedünkte es ihn, wie frisch aus der Hölle bezogen. Das hätte mir eigentlich gleich einfallen können, sagte er sich.

Und nun begann er, die verwüsteten Augen zum andern erhebend, und so nahe als möglich zu ihm rückend, mit seiner vertrunkenen Stimme zu reden. »Bruder Hansbaschi«, sagte er, sein Gesicht geheimnisträchtig vorwegend, »wenn du mich kennen würdest, so durch und durch . . .«

»Ja«, machte der Bauer kurz, »ich kenne dich ja auch so durch und durch.«

»Nichts ist's«, sagte der Ludi, »so wenig kennst du mich als deine zwei hintern Backen. Und doch meint's 286 niemand besser mit dir als dein verachteter Bruder, der um jeden Silberling vor dir und seinen andern leiblichen Geschwistern knien muß, wenn er ihn bekommen will. So geht man mit mir um. Immerhin, du bist weitaus der freigebigste, wenn auch nicht immer, ich hab's ja heute wieder erleben müssen. Schwamm drüber! Ich sage dir nur, du kennst mich nicht von der Sonnenseite, nur so schattenhalb, wie du umgekehrt deinen lieben, zärtlichen Bruder Hänsel, den ausgetreten Langen, bei dem's mir immer ist, es müsse sich ihm noch, wie einem Hühnerhabicht, die Nase in einen hörnenen Schnabel verwandeln, und deine ebenso zutunliche Schwester, die Riesendame vom Rotenbach, nur von der Gutwetterseite kennst. Hast du denn nicht bemerkt, als wir heute nach der Jahrzeitmesse in der »Roten Traube« zusammengesessen sind und allerlei geredet haben, wie sich die beiden freuten, daß deine kleine Frau, das Apelluneli keine Kinder bekommt und daß du für sie oder doch für ihre aufschießende Jungwar der gute Erbvetter auf Rain bleibst. Wie die Satane haben sich der Hänsel und die Dicke gefreut, ein Schulkind hätte es gewahr werden müssen.«

Dunkelrot werdend, mit fast bösen Augen, schaute der Rainler auf seinen Bruder. »Was redest du da, du Lumpazi?!« schnörzte er ihn an, »willst du mich aufziehen?«

287 »Ja, nimm mir's nicht für übel, Hansbaschi«, fuhr der andere mit nicht immer sichergehender Zunge zu sprechen fort, »aber ich will's dir nun beweisen, wie aufrichtig ich's mit dir meine und was du, wenn's drauf und dran kommt, an mir hast. Vielleicht langt's dann doch wieder für ein paar Fränklein. Also ich stehe zu dem, was ich gesagt habe, durch alle Böden, vor Gott und Welt. Und ich sage dir im weitern aus alter Treue und weil du mir mehr gibst als die verstaubte Triste in der Wydlen und der lange Dörrling aus dem billigen Laden, samt seiner süßhölzigen Seraphine – deine lieben Geschwister haben schon lange gewußt, daß deine neue Frau, daß dieses Apelluneli aus dem Schloo ein unfruchtbares Äckerlein ist. Du hättest aber auch selber auf diesen Gedanken kommen können, wenn dich der Appetit nach ihrer schönen Seele und Umgebung nicht übernommen und blind gemacht hätte wie einen Spielhahn in der Balzzeit. He, das Witfrauchen hat ja von seinem ersten Mann auch keine Kinder bekommen.«

Er schaute aus vernebelten Augen zu seinem Bruder auf. Nein, seine Mitteilung schien diesen nicht besonders bewegt zu haben, denn, wie's ihn bedünkte, schaute der Große wie immer, gleichgültig und gedrückt freilich, seinem Roß auf den Rücken. Aha, man mußte ihm wohl noch deutlicher kommen. »Du wirst's etwa wohl heraus haben, Großer«, redete er, »wie heillos 288 gern die Brigitt den Rainhof für ihren zweiten Buben Alex hätte. Ich sage dir, sie denkt Tag und Nacht dran und vor dem Morgengebet sagt sie Rainhof und am Abend vor dem Betenläuten und dem Englischen Gruß sagt sie wieder Rainhof. Auch ist's dir doch gewiß nicht entgangen, es müßte einer ja von Stein sein, daß der Hänsel, unser geiziger Mägerling aus dem billigen Laden, drauf sinnt, mit allen Mitteln und auf allen Wegen, hau's oder stech's, zum Raingütsch, zu der schönen Aussichtshöhe auf deinem Hof zu kommen. Er möchte eben dort, aber das kannst du ja selber denken, ein Kurhaus bauen lassen, das dann seine drei Töchter, die ja auch schon den Männerhosen nachsperbern, übernehmen könnten. Sie würden dadurch, wie er meint, unter die Ganzbessern eingereiht und zu viel begehrtern Artikeln werden als im billigen Laden. Natürlich möchte er dazu auch deinen großen Teich, das Rainseelein, haben, das deine Frau in einen Fischweiher verwandelt hat, aus dem ihr nun nicht nur das Wintereis, sondern sogar haufenweise Forellen ins Hotel Alpenblick da drüben auf Gerisbüel und in das zu Hochwil stehende Restaurant Alpenblicker verkaufen könnt. So möchte der Hänsel wohl auf seinem noch höher zu stehen kommenden Kurhaus – er kann es ja Alpenblickester heißen« –, er lachte auf, »natürlich auch die Forellen haben.«

289 Nein, der Chemifeger schien nicht zu beachten, wie der Bauer auf Rain allmählich ganz düster, ja bleich zu werden begann. Er redete weiter und verschimpfte nach Herzenslust seine beiden andern Geschwister, die so erzknauserig seien und ihn so ewig unverantwortlich um seinen Erbteil verkürzt hätten. Und nun erhob er die Stimme, daß es gar vernehmlich in den herrlichen Nachmittag hineintönte: »Und nun siehst du, Bruderherz, jetzt will ich's dir sagen, damit du siehst, wie ich trotz allem an dir hange, und da haben also der Hänsel, unser Lange, und die Brigitt, ich habe es mit eigenen Ohren gehört, abgemacht, sie wollen dir das Schlooapelluneli aus der Molkerei zuhalten, bevor du eine andere nähmest. Und alsdann haben sie's ja auch mit Glimpf, he, man muß sie die Schliche nicht lernen«, er kicherte heiser in sich hinein, »auch einzurichten gewußt, daß du mit der umtunlichen, aber unfruchtbaren Witfrau eines schönen Sonntags zusammengekommen bist. Und heja, mein lieber Bruder, du bist ihnen ja auf den Leim gegangen.«

»Hat es denn das Apelluneli gewußt«, fragte jetzt dumpf, aber anscheinend ruhig, der Bauer, »daß ihr sie mit mir verheiraten wollt?«

»Heja, freilich«, gab der Chemifeger fast fröhlich zurück, »wie sollte solch eine Feine das nicht gemerkt haben! He, 's ist auch gewiß kein Verbrechen oder 290 auch nur eine läßliche Sünde für ein immerhin unvermögliches Witfrauchen, wenn es sich dazu verstehen läßt, einen Hofbauern deiner Art, einen Gaukönig, zu heiraten, oder?«

»Das nicht, das nicht«, machte jetzt der andere schwer schnaufend, fast stöhnend. Aber unversehens hielt er sein Gefährt an, und den Ludi an der Gurgel packend, brüllte er ihn an: »Sag aber, red, du dreckiger Hund, du Mistloch, habt ihr's dem Apelluneli auch gesagt, daß es mich darum heiraten müsse, damit ich eine Frau habe, die keine Kinder bekommt, auf daß ich ohne Nachkommen bleibe. Red, red, du gekotzte Pastete, oder ich bringe dich um!«

»Nein, nein, sakrament doch auch, so dumm sind wir nicht gewesen«, stieß der andere, mehr wütend als erschrocken heraus, aus einer Enttäuschung erwachend, als nun des Bruders harte Griffe sich von seinem Hals lösten, »aber, du Narr, dieses Schlooapelluneli wird es etwa wohl gemerkt haben. Wie sollte eine solch gewixte, rasche Eidechse . . .«

Er konnte nicht weiterreden. Der Bauer packte ihn aufs neue an und dasmal rundum. Ein gewaltiger Lupf und da lag der Chemifeger schon im Straßengraben und streckte alle Viere von sich, während das Gatterwägelein davonrumpelte.

Jedoch noch unerwartet bald richtete sich der Ludi im Graben halbwegs auf und, dem rasch 291 davonrollenden Wagen aus roten Augen nachglotzend, redete er vor sich hin: »Schau, schau, wie er drauflossprengt, der Große! Da hat wohl ihn oder sein Roß oder alle beide eine Hornisse gestochen, und es möchte wohl sein, daß ihr Stich in ihm zu schwären beginnt und aufschwillt, und daß es ihn noch rechtschaffen plagt. Heja wohl, das mag alles sein. Ich hätte mich aber doch zweimal besinnen sollen, bevor ich ihm das von der leerbleibenden Wiege zu wissen getan habe, denn er hat's gleich heraus gehabt, daß ich auch im Handel war. Da hat mir der Teufel einen rechten Possen gespielt, o, ich dummer Süffel! Und nun kann ich künftig den Brunnenstock auf Rain anpumpen. Immerhin, der Große ist ja ein gutmütiger Tschampp, aber wie heißt's: Ein Frost geht weiter herum als ein Hagelschauer. Und das könnte am End doch zu einem Frost für mich ausarten. He, und wenn's der Hänsel und die Dicke in der Wydlen merken, daß ich geplaudert habe, drehen sie mir meinen roten Apfel bis in die Wurzel im großen Zehen drunten zum Kragen heraus. Herr Chemifeger, wahrer Famulus des seligen Paracelsi Theophrasti Bombasti«, rief er laut aus, »da habt Ihr jetzt ein böses Tränklein zusammengebraut, für andere, jawohl, aber heja, für Euch nicht minder. O, ich dummes Luder!« 292


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