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Vorwort zur zweiten Auflage

Wer, irregeführt durch den anspruchsvollen Titel meines Büchelchens, eine wissenschaftliche Abhandlung über die Phantasie zu finden hofft, wird arg enttäuscht werden. Ich habe die Erfahrungen und Beobachtungen, die ich in einer ach! fast fünfzigjährigen Beschäftigung mit der Malerei gesammelt habe, aufgezeichnet.

Daß ich als Maler subjektiv über Malerei urteile, ist selbstverständlich. Aber ich habe nicht beabsichtigt, etwa für die naturalistische Malerei Propaganda zu machen – denn deren hat sie nicht nötig –, sondern ich schrieb die folgenden Seiten, um zu zeigen, daß jede Malerei naturalistisch sein müsse, wenn sie gut ist.

Es gibt keine blödsinnigere Behauptung, als die, welche man – wahrscheinlich gerade deswegen weil sie so blödsinnig ist – täglich liest und hört: der Naturalismus ist tot. Denn alle Kunst beruht auf der Natur und alles Bleibende in ihr ist Natur. Nicht die den Künstler umgebende nur, sondern vor allem seine eigene Natur. Wie er, der Künstler, die Welt anschaut, mit seinen inneren und äußeren Sinnen – das nenne ich seine Phantasie – die Gestaltung dieser seiner Phantasie ist seine Kunst. Als Maler gehe ich von der Anschauung aus, daher interessiert mich ausschließlich die gestaltende Phantasie, während mir die schöpferische Phantasie im Kunstwerke Axiom ist. Sie ist göttliche Eingebung, der nur auf dem Wege reinen Denkens beizukommen ist (wenn ihr überhaupt beizukommen ist). Der gestaltenden Phantasie aber dürfen wir hoffen, auf psychologisch-empirischem Wege nachspüren zu können. Oder mit anderen Worten: wir dürfen versuchen wollen, aus der Technik den Geist, der das Werk gezeugt hat, zu erklären.

Daß wenige Wochen nach Erscheinen der ersten Auflage eine zweite nötig geworden, ist ein erfreulicher Beweis, daß der Krieg wie andere Vorurteile auch das Diktum Inter arma silent Musae hinweggefegt hat.

Berlin, April 1916.
Max Liebermann


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