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V.

Der kleine, graue Herr trat mit seinem grauen Hut ruhig in das Zimmer und begrüßte Judith und Hermann höflich.

Dann wandte er sich an Judith und sagte ganz natürlich:

»Unserer Verabredung gemäß sollte ich Sie ja hier abholen, nicht wahr?«

Hermann wollte aufbrausen, Judith aber kam ihm zuvor und antwortete:

»Ja, so stand es ja im Telegramm.'

»Ganz recht, es stand im Telegramm. Wir kommen einen Tag später zum Konzert, das ist bekannt gemacht. Ich habe alles drahtlich geordnet. Wir fahren mit dem Abendzug nach Helsingör, nicht wahr, gnädiges Fräulein? Er geht in einer halben Stunde. Ich habe einen Wagen hier. Der Zug hält ja an dieser Station. Wir haben gestern abend hier gehalten.«

»Wie konnten Sie es nur wagen, hierher zu kommen?« rief Hermann aus.

»Verzeihen Sie meine Kühnheit», sagte Finsen. »Ich glaubte, Sie würden es nicht übelnehmen. Was sollte ich so lange in Helsingborg anfangen? Es ist eine langweilige Stadt mit modernen, häßlichen Häusern, keine Spur von der alten Romantik Helsingörs. Ich fuhr mit dem Nachmittagszuge hierher, um das gnädige Fräulein zu begleiten, falls sie es wünschen sollte.«

Hermann wandte ihm den Rücken.

Judith erhob sich und sagte: »Jetzt komme ich, Finsen.«

Dann ging sie zum Zimmer hinaus, ohne Hermann anzusehen. Finsen stand einen Augenblick da und sah ihr verwundert nach.

Er war gekommen, nachdem er wie ein Rasender mit dem Telegramm in der Hand im Hotelzimmer auf und nieder gestürzt war. Er hatte den Versuch machen wollen, sie mitzubekommen, aber er Halle kein richtiges Zutrauen zu dem Gelingen seines Planes gehabt. Er kam, um einen Versuch zu machen und weil er nicht anders konnte, und nun sah er, daß er im Grunde erwartet war. Der Sieg war ohne Schwertschlag gewonnen, wie das zugegangen war, begriff er nur halb. Aber als er Hermann ansah, der ganz in sich versunken dasaß, begriff er, daß Hermann der Gefallene war.

Aber er konnte hier ja nicht stehen, ohne ein Wort zu sagen.

Finsen sah sich mit einem Lächeln um, das er nur schlecht verbarg.

»Außerordentlich hübsch, Herr Doktor Falk. Sehr stilvolles Gebäude mit entzückender Lage an Sund und Wald. Alte Bibliothek, sehe ich, mit außerordentlich interessanter Rokokodecke.«

Finsen musterte die Decke mit anscheinend großem Interesse und sagte:

»Ich sehe, der Kalk ist an einigen Stellen abgefallen. Ja, alte Decken sind schwer zu erhalten. Vielleicht stehen die Regale ein wenig unsicher und reißen dadurch den Putz los?«

Er trat an eines der Regale heran und untersuchte es. »Ja, ein klein wenig unsicher steht es, und dann fällt ein wenig Kalk herunter. Natürlich.«

Er blies einige Körnchen Kalk von seinem Ärmel.

Hermann stand noch immer unbeweglich. Finsen ging lächelnd auf und nieder. Seine Laune wurde immer besser. Es war fast zu komisch, daß der Sieg so leicht errungen war.

Er konversierte unverdrossen weiter:

»Es muß hier herrlich zu wohnen sein. Ich begreife es nur zu gut, daß das gnädige Fräulein dem Verlangen nicht zu widerstehen vermochte, das herrliche Wetter in dieser Umgebung zu genießen. Sie reisen nicht mit? Ach nein, wenn man es so gut hat wie Sie! Frieden und Ruhe und alte Eleganz. Man reißt sich ungern los. Das Leben ist so kurz, und man tut recht, sich so eng wie möglich mit dem zu verknüpfen, was man lieb hat. Man kann sich beinahe nicht entschließen, es zu verlassen, wagt nicht, ihm den Rücken zu wenden. Man ist bange, daß es weg sein könnte, ehe man sich noch umgewendet hat. Weg wie ein Traum. Ja, so ist es. Das Leben ist so häßlich.«

Hermann sprang auf. Plötzlich sah er Finsen dort vor den Büchern hin und her hüpfen wie ein graues, schädliches Tier. Und er sprang auf ihn zu, schlug nach ihm, so daß der graue Hut durch das Zimmer rollte, und schrie:

»Raus mit Ihnen – raus mit Ihnen, auf den Bock hinauf, Lakai, der Sie sind! Sorgen Sie für Ihre Herrschaft und wagen Sie es nicht, sie anzurühren, solange ich es sehe.«

Hermann war leichenblaß, und an seiner Wut erkannte Finsen, wie groß die Niederlage war.

Darum nahm er ruhig seinen Hut, schüttelte lächelnd seinen großen Kopf, drehte den Schnurrbart und sagte nur:

»Das junge Blut! Ja, ja, das junge Blut!«

Dann trat Judith ein. Sie war reisefertig und trug ihre Reisetasche in der Hand. Finsen nahm sie und ging damit an den Wagen.

Hermann trat an Judith heran. Sie waren beide tieftraurig. Hermann suchte nach Worten, fand nichts zu sagen, nahm dann ihre Hand und küßte sie lange.

»So leb denn wohl, Judith. Ich kann nicht wiederholen, was ich gestern abend sagte. Ich kann nicht zu dir sagen: bleibe bei mir. Ich wünsche dir stets das beste.«

Judith erwiderte nichts. Sie nahm seinen Kopf zwischen die Hände, sah ihn lange an und küßte ihn zärtlich wie eine Schwester auf Augen und Mund.

Dann ging sie schnell zur Tür hinaus.

Hermann stand wie festgenagelt da. Er sank in die Knie. Sein ganzer Körper bebte. Mit einer Kraftanstrengung bezwang er sich. Er lief hinaus, wollte rufen, brachte aber kein Wort heraus; endlich stand er vor dem Hause. Der Wagen war gefahren. Judith war fort.

Hermann hob unwillkürlich die Arme in die Höhe und ließ sie wieder sinken. Es war ja aus. Er ging langsam in den Garten. Er fühlte sich wie betäubt. Und nach und nach konzentrierten sich seine Gedanken auf das, was geschehen war. Sein ganzes Leben war in einer so wirbelnden Hast an ihm vorbeigesaust, daß ihm davor schwindelte. Er sah sich nach allen Seiten um. Es war dunkel im Garten, dunkel und einsam. Judith war fort.

Die Schuld lag an ihm, an ihm allein. Aber er begriff jetzt, daß der Grund weit zurück in der Zeit lag. Sein ganzes Leben hatte zu dieser Niederlage beigetragen. Und plötzlich wie bei dem Schein eines aufflammenden Blitzes sah er den tiefen Zusammenhang in allem, was er vorgenommen hatte. Warum hing er in seinem Herzen an all dem alten, warum stand er außerhalb des Kampfes, der rings um ihn her gekämpft wurde, warum war da kein Platz, der seiner harrte? Weil er das Leben nicht kannte, es nie auf die rechte Weise gelebt hatte, weil er Judith nicht gefolgt war, als sie reiste.

»Judith – Judith –«, er sagte ihren Namen ganz leise und fühlte die Einsamkeit rings um sich her. Judith war weg.

Und warum schrieb er niemals die Bücher, von denen er träumte, daß er sie schreiben wollte, warum fing er das Leben, das er hinter den Werken der Dichter ahnte, nicht mit seiner Feder ein? Gerade weil er das Leben nur ahnte, es nie mit fester und gewaltsamer Hand ergriff, weil er Judith gerade in der kurzen Sekunde losgelassen hatte, wo er sie hätte festhalten sollen – ja, es war wahr, wir leben nicht in Tagen, Wochen, Monaten und Jahren, sondern in kurzen, sekundenlangen Augenblicken, die nie wiederkehren, wie flehentlich wir auch die Arme nach ihnen ausstrecken. Nein, nein, sie kehren nicht wieder. Wir bleiben allein, allein, allein. Judith war weg.

Hermann lief durch den dunklen Garten. Er wollte fort, wußte nicht, wohin, nur fort von allen Gedanken, die sein Gehirn zu zersprengen drohten. Er murmelte etwas vor sich hin und wußte nicht, was es war. Es war Judiths Name und der der Mutter und alte Versbrocken. Verse, die er an Judith geschrieben hatte, tauchten plötzlich in seinem Gehirn auf, schlichen sich über seine Lippen.

»Ein Blütenstaub fing sich in deinem Gewand,
Und ein Blumenduft weht mir entgegen;
Der Tau liegt dir schimmernd auf Fuß und auf Hand,
Und ein Rosenblatt küßt dich verwegen – –«

Verse, Verse, was wollte er jetzt damit, sie sollten verbrannt werden, verbrannt und vergessen werden, alle miteinander.

»Ich ging dich zu suchen, und Veilchen ich fand,
Ich hab' sie dir aufgehoben,
Ein Lenzgruß sie sind aus der Heimat Land,
Mit Duft und Klängen verwoben – – –«

Hermann hielt plötzlich inne. Steckte er denn so tief in lügenhaften Versen, daß sie ihm die Aussicht auf das Leben verwehrten. Schöne Poesie, nette Verse – warum gab er sie denn nicht in einem Bande mit Goldschnitt heraus wie die anderen Poeten, warum sollten die Leute nicht sein Herzweh kennen und warum sollten nicht die bleichen Ästhetiker in ein paar Jahren in seinen Erlebnissen herumwühlen können? Aber es waren ja keine Erlebnisse, es war ja alles nur erdichtet, Poesien über Träume.

Ach, das ganze war ja Lüge und Betrug. Hermann blieb abermals stehen. Was ging ihn das alles an. Er hatte ja nur eins, woran er denken mußte. Judith war weg.

Langsam schritt er dem Hause zu. Die heftige Erregung seiner Seele verebbte, die Kühle des Abends legte sich auf sein Blut.

Wie, wenn nun Judith bei ihm geblieben wäre? Er hatte ja nie so daran gedacht, wie es das Leben und die Alltäglichkeit fordern. Hätte er ihr ein Glück bereiten können, wäre sie so die Seine geworden, daß all ihr Sehnen und Denken in dem seinen aufgegangen wäre?

Jetzt, wo er ruhig war, jetzt in tiefer Nacht, wo er zum erstenmal ganz ehrlich gegen sich selbst war, mußte er bekennen, daß er nicht imstande gewesen wäre, die Verantwortung zu tragen.

Er kam in die Bibliothek. Die Lampe brannte still und klar. Hermann ließ sich schwerfällig in den Stuhl sinken, den Judith verlassen hatte. Und zum zweitenmal in seinem Leben barg er den Kopf in den Händen und wünschte, daß die Bücher über ihn zusammenstürzen möchten.

Sie drohten ihm ja von allen Seiten. Der Staub fiel bereits herab. Ein wie Leichtes würde es nicht sein, die wurmstichigen Regale umzureißen oder sich von einer der Leitern herabzustürzen und zerquetscht dazuliegen. Dann lag er in seinem Pompeji begraben – vergessen und von niemand vermißt.

Der Gedanke überwältigte Hermann, er konnte nicht ruhig sitzen, mußte zwischen den Büchern auf und nieder wandern.

Ach – es war ja Wahnsinn. Sollte nicht der Schmerz um Judith die Phantasterei aus seiner Seele treiben, jetzt hatte er die harte Wirklichkeit des Lebens, gegen die er ankämpfen konnte.

Er wußte, daß er es nicht konnte. Er wußte, daß ein jedes dieser Bücher eine Menschenseele war, deren gebundene Rede geweckt werden konnte. Er wußte, daß sein Leben reicher werden konnte als das der anderen, weil er diese Bücher mit der angestammten Liebe seiner Väter liebte. Er wollte hier bleiben, unter ihnen, er wollte sie zum Reden bringen, er wollte von Zeit zu Zeit, von Land zu Land ziehen, alles sollte sein eigen sein, er würde der König der Welt sein.

Er sah sich zwischen den Büchern um. Diese Bücher seien sein Unglück, hatte Judith gesagt. Sollte er seine Stadt verbrennen, konnte er das?

Bücher – Bücher – die Leute wußten nicht, was das war. Nur wer wie er ganz und ungeteilt mit ihnen gelebt hatte, konnte es verstehen. Die Natur war ihm nie viel gewesen, er konnte sich über sie freuen, aber sie verlieh ihm keine Gedanken. Aber wie es Menschen gibt, die sich in Wälder vertiefen, weit und am liebsten allein darin wandern, so konnte er sich in die Bücher vertiefen.

Die Bücher sind ja wie ein unendlicher Wald, das eine Buch lockt das nächste hervor, man wird niemals fertig, es ist zuweilen, als habe man sich verirrt und könne nie wieder herausfinden. Denn das eine Buch erzeugt das nächste, wie ein Baum den anderen erzeugt, man gewahrt hinter allem einen unendlichen Zusammenhang, den man verstehen zu müssen meint. Deshalb ist nichts groß und nichts klein, es sind große und kleine Glieder im Zusammenhang, aber alles füllt einen Platz aus.

Er hielt inne und hörte plötzlich seine eigene Stimme. Er sah sich um, strich sich über die Stirn und erinnerte sich an alles. Da hatte sie gesessen, das hatte sie gesagt. Nein, er konnte nicht hier bleiben. Er mußte hinaus, wenn es auch nur war, um wieder nach Hause zu kommen.

Eine unerklärliche Unruhe befiel ihn. Er begann seine Sachen zu ordnen, er verwahrte seine Papiere, stellte seine Bücher zurecht.

Judith war weg, er mußte auch weg.

Er wußte, daß sie recht hatte, und daß diese Begegnung nicht vergebens gewesen war. Er wollte der toten Stadt, die er so von Herzen liebte, Leben bringen, vorerst aber mußte er selber das Leben kennen lernen.

Er kühlte seine brennende Stirn an den Fensterscheiben. Die Lampe, die so lange matt geleuchtet hatte, erlosch plötzlich. Hermann sah, daß der Morgen zu dämmern begann.

Und schweren Herzens wandte er sich um und ging hinaus aus der toten Stadt.


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