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»Jerusalem«

In ihrer Erzählung »Jerusalem« hat Selma Lagerlöf einen der größten und tiefsten Stoffe behandelt, die sich einem schwedischen Dichter überhaupt bieten – den schwedischen Bauernstand und sein inneres Leben. Daß keines von den nordischen Reichen in dem Grade wie Schweden ein Bauernreich gewesen ist, ist allbekannt, und man kann fragen, ob in irgend einem germanischen Land die bäuerliche Bevölkerung so zeitig und so beständig als machtbesitzender, klassenbewußter Stand aufgetreten ist. Die Geschichte des schwedischen Bauers schreiben, heißt hinab in die tiefste innerste Schicht von Schwedens Kultur dringen, den Grund, auf dem alles andere ruht. Mit etwas von derselben großen und einförmigen Unerschütterlichkeit, die der Boden selbst durch die Jahrhunderte bewahrt, hat der Bauernstand in Schweden in allem Wechsel der Zeiten Vergangenheit und Gegenwart verknüpft. Eine moderne Dichtung, die wirklich dem Namen eines schwedischen Bauern-Epos entsprechen soll, muß, auch wenn sie sich heute abspielt, ein Echo der alten Sage geben. Selma Lagerlöf hat das empfunden und verstanden, und in der großartigen Einleitung zu »Jerusalem« läßt sie den Ingmar Ingmarsson, der der Patriarch ihres Werkes ist, eine merkwürdige Erscheinung haben – er sieht seinen Vater und alle seine Vorväter in einer himmlischen Bauernwohnstube. Da ist eine unberechenbare Anzahl von Bauern, die rings um die Wände sitzen und »die alle graurotes Haar und weiße Augenbrauen haben und eine große Unterlippe und seinem Vater so ähnlich sind, wie ein Ei dem anderen.« »Das ist der große Stamm,« sagt der Vater, »diese Männer hier haben alle auf dem Ingmarshof gewohnt, und der Älteste von ihnen ist noch aus der Heidenzeit.« Der Älteste von ihnen war jener Ingmar, der zuerst mit einer Steinaxt und einem Kieselmesser in den früher unberührten Urwald am Dalekarlierälf eindrang.

Volkstrachten aus dem Kirchspiel Näs
Aus »Jerusalem«

Den großen Roman des schwedischen Bauern wollte Selma Lagerlöf schreiben, und sie hat ihn auch geschrieben so wie kein anderer in unserer Literatur. Der Titel des Buches »Jerusalem« und die Fabel selbst, um die sie die vielen verschiedenen Begebenheiten und Gestalten ihrer Erzählung gruppiert hat – die Geschichte einer Sektierer-Bewegung in Dalekarlien, die mit einer religiösen Auswanderung nach Palästina schließt – kann daher auf den ersten Blick fremd und der Aufgabe des Buches nicht entsprechend scheinen. Aber bei näherer Betrachtung merkt man leicht, daß Selma Lagerlöfs genialer Instinkt auch in diesem Punkte nicht fehlgegriffen hat. Als sie den roten Faden im schwedischen Bauernleben suchte, trat ihr immer wieder der religiöse Zug entgegen. Wo etwas finden, das tiefer lag, das unauflöslicher mit dem schwedischen Volke von den ersten bekannten Zeiten an verbunden war? Henrik Schück leitet bekanntlich seine ausgezeichnete Charakteristik des schwedischen National-Charakters zu Beginn des historischen Zeitalters mit einem Zitat aus Snorre Sturleson ein, in dem zum ersten Male die verschiedenen Temperamente der drei nordischen Völker unterschieden werden. Die Schweden werden schon hier als der religiöse, ja abergläubische unter den drei Stämmen geschildert. Und wie dies schon von der Heidenzeit galt, wo die Schweden damit gehöhnt wurden, daß sie daheim hockten und ihre »Opferkugeln schleckten«, gilt es auch von weit späteren Zeiten. Jeder, der irgendeine schwedische Kulturperiode tiefer studiert hat, weiß, wie man stets auf geistliche Mystik, sehnsüchtige Gotteshingebung oder frommes Grauen stößt, sowie man nur von den Zivilisationsherden hinaus in die großen tiefen Volksschichten dringt. Die einsamen, in weißem Schnee begrabenen, von schwarzem Wald umschlossenen Bauernhöfe sind Jahrhundert um Jahrhundert die Heimstätten der religiösen Schwärmerei gewesen, wo Menschen, bald glaubenssicher als des Herrn Vorposten, bald geängstigt als die Ausgestoßenen des Himmels, ihre Gebete mit dem Rauch der gegen die Finsternis kämpfenden Feuer himmelan steigen ließen.

In der neueren Periode der Geschichte des schwedischen Bauernstandes ist es das Sektierertum, das diesem religiösen Sehnen, diesem unruhigen, oft getrübten Idealitätsverlangen vor allem Nahrung gegeben hat. Leider sind doch die sektiererischen Bewegungen in Schweden nur unvollständig bekannt. Die wenigen zuverlässigen Untersuchungen, die vorhanden sind, behandeln vorzugsweise zerstreute Episoden der Schicksale des Pietismus im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts, und es ist noch kein einziger Versuch zu einer Historik in größerem Styl gemacht worden, die den Zusammenhang zwischen all den verschiedenen Sektenbildungen klarlegen könnte. Wer eine solche kritische Geschichte über das Sektenwesen Schwedens schriebe, würde ein Werk von unermeßlichem Wert für die Kenntnis schwedischer Kultur und Psychologie schaffen.

Die Gegend Schwedens, in die Selma Lagerlöf ihre Darstellung einer christlichen Bauernbewegung und ihren Traum von Jerusalem verlegt hat, Dalekarlien, hat sich eher als die Heimat hartnäckig fortlebenden, halb heidnischen, düsteren Volksglaubens bekannt gemacht – der Sprengel »Älfdal« ist ja die klassische Gegend des Blocksbergs –, als durch sektiererische Gottesschwärmerei. Das Nordland im allgemeinen und besonders Helsingland zeigt weit ältere und leidenschaftlicher eingreifende »Weckungs«bewegungen. Das energische, kernfeste Dalekarliervolk begnügte sich lange mit alten mannhaften und barschen Andachtsbüchern – so wie Anders Nohrborgs »Seligkeitsordnung«, um nur die verbreitetste der Postillen des achtzehnten Jahrhunderts zu nennen. Als erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts auch in Dalekarlien heftige Sektenbewegungen entstanden, kamen die Impulse, wie man leicht nachweisen kann, aus anderen Landesteilen, von Helsinglands seltsamen Propheten Erik Jansson, von dem finnischen Pfarrer Fredrik Gabriel Hedberg, von Rosenius und dem Methodistenprediger Scott in der Hauptstadt u. a. Ein Ereignis im Jahre 1851 erregte jedoch ungeheures Aufsehen im ganzen Schwedenreiche und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf »die Lesersekte und Leserverfolgungen« in Orsa. Das war die Verhaftung von zwei Kürschnern, die, während sie auf den Märkten in Dalekarlien Felle kauften, religiöse Zusammenkünfte abhielten und darum auf Grund des Konventikelplakates aus dem Jahre 1726 verhaftet wurden. Es rief mit Recht Empörung im ganzen Lande hervor, daß eine so rostige Waffe, wie eine absolut veraltete und durch den Geist späterer Gesetze dementierte Verordnung im Kampfe für die Staatskirche gebraucht wurde, und seit dieser Stunde hat es in Dalekarlien immer religiöse Bewegungen und geistige Unruhe gegeben. Eine Menge verschiedenartiger Sekten ist in das alte Zauber- und Freiheitsland gedrungen, verschieden ihren Lehren nach, aber alle mit demselben subjektiven Grundton, alle mehr oder weniger »antinomistisch« – wie es in der theologischen Sprache heißt – feindlich gegen Gebote und Gesetzesworte, das Hauptgewicht des christlichen Lebens auf das Versöhnungswerk legend, dessen Wunder erlöst und selig macht, unabhängig von den Taten und der Gemütsbeschaffenheit des Individuums. Im Gegensatze zu dem alten Pietismus mit seiner gesetzlichen Richtung und seinem vielverlangenden Charakter, steht diese Religion nur als eine innere Gewißheit des Gefühls da, ein Ruf, der sich geheimnisvoll in die Herzen der Auserkorenen senkt, Ungelehrte zu Predigern macht und den Sinn der Einfältigen mit Siegeshoffnungen erfüllt.

So schildert auch Selma Lagerlöf ihre Erweckungsbewegung, und auch sie basiert auf einem wirklichen Ereignis. Ihrem »Hellgum«, der mit seinen Predigten ein ganzes Kirchspiel bekehrt und dessen beste Bewohner mit sich nach Jerusalem führt, entspricht in Wirklichkeit ein Laienprediger, namens Larsson. Die einzige Notiz, die ich über ihn finden konnte, steht in Ekmans »Geschichte der inneren Mission«. Es wird dort gesagt, daß er in Gothenburg geboren wurde, dann ist er zur See gegangen und schließlich nach einem wilden Leben Methodist geworden. Um eine wirkliche Gemeinde Christi auf Erden zu bilden – die es seiner Ansicht nach seit den Tagen der Apostel nicht gegeben hatte – veranlaßte er eine ganze Schar von Dalekarlier Bauern, nach Jerusalem auszuwandern und sich einer dort schon bestehenden amerikanischen kommunistisch-religiösen Brüderschaft anzuschließen. Das Kirchspiel Nås in Westdalekarlien war der Schauplatz seiner Tätigkeit, und sicherlich läßt Selma Lagerlöf auch dort ihr Bauern-Epos sich entrollen. Das Kirchspiel ist bekannt durch seine ernste Natur und seine ernste Bevölkerung, die an alten Sitten und Gebräuchen festhält. Der Dalekarlierälf hat da oft – wie auch die Verfasserin erzählt – die niedrigen Ufer überschwemmt. Aberglaube hat es dort immer in Hülle und Fülle gegeben, und als noch im Jahre 1857 eine Blocksberg-Epidemie in diesen Gegenden grassierte, da stellten sich die Kinder Satan als einen boshaften Alten vor, in den weißen Pelzrock des Kirchspiels Nås gekleidet.

Die Larssonsche Auswanderung nach Palästina fand vor gar nicht langer Zeit statt. Der weitgereiste Viktor Hugo Wickström hat in seinem letzten Buche: »Als Journalist rings um die Erde«, eine interessante Skizze der schwedisch-amerikanischen Kolonie »The overcomer« gegeben, wie ihre Mitglieder sich titulieren, weil sie, wie sie sagen, über all die Selbstsucht der Zeitlichkeit kommen wollen. Nach dieser Schilderung wäre es nur fünf Jahre her, seit die Schweden in die Kolonie kamen, sechzig Personen, davon siebenunddreißig aus dem Kirchspiel Nås in Dalekarlien.

Aber diese mystische Auswanderung zur Stadt des heiligen Grabes ist für uns noch in Dunkelheit gehüllt. Authentische Erzählungen darüber dürfte es kaum geben. Hingegen ist aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine verwandte Bewegung bekannt, die ebenfalls mit einer Pilgerfahrt der schwedischen Bauern in ferne Gegenden schloß, um in Freiheit die geträumte Gemeinde der Brüderlichkeit und der evangelischen Wahrheit zu gründen; und diese Bewegung war von weit gewaltigeren Dimensionen als jene, welche Selma Lagerlöf geschildert hat. Die Auswanderung umfaßte hier nicht weniger als 1500 Menschen. Das ist Erik Janssons merkwürdige Sektenbildung in Helsingland 1843 bis 1846 und seiner Anhänger Überfahrt nach Amerika. Eine interessante Abhandlung darüber wurde von dem Kandidaten der Theologie Emil Herlenius herausgegeben. Es ist äußerst lehrreich, in derselben von einem ruhigen kritischen Auge mit photographischer Genauigkeit eine Bewegung derselben Art geschildert zu sehen, wie Selma Lagerlöf sie zu tiefster Poesie umgedichtet hat. Erik Jansson war ein Bauer aus Uppland, der im Alter von einigen dreißig Jahren als Verkünder und Prophet in Helsingland auftrat. Der totenblasse Mann mit den hervorstehenden Backenknochen und den großen Vorderzähnen war ein sensueller Schwärmer und Abenteurer, eine Art geistlicher Hypnotiseur für Ungebildete; und durch seine verwirrte, schwulstige Beredsamkeit hatte er bald nicht nur Apostel und Priesterinnen um sich versammelt, sondern ganze Scharen von Bauersleuten. Mit seinen Getreuen unternahm er Predigtreisen und veranstaltete wahre Autodafés orthodoxer Andachtsschriften – darunter die Luthers – und er versuchte sich auch als Taumaturg, Kranke heilend. Nach verschiedenen heftigen Konflikten mit Gesetzen und Verordnungen, die förmliche Aufläufe veranlaßten, mußte Erik Jansson Schweden verlassen, doch gefolgt von seinen Anhängern, weit mehr als tausend an der Zahl. Es war so eine förmliche Hegira, eine geistige Auswanderung.

Die Darstellung dieser Volksemigration hat eine Menge ergreifender und kurioser Einzelheiten, die lebhaft an Selma Lagerlöfs ähnlich geartete, außerordentlich schöne Episoden am Schlusse von »Jerusalem« erinnern. Sicherlich ist es ihr nicht eingefallen, die Geschichte des Erik-Janssismus kennen zu lernen, sondern sie hat mit ihrem ganz einzigen Gefühl für Volkspsychologie die Wahrheit getroffen. Da sind z. B. Schilderungen, wie wohlbestallte Bauern die durch Generationen vererbten Höfe verkaufen, um fortkommen zu können, wie Frauen ihren Männern durchgehen und Kinder ihren Eltern, um dem Zuge zu folgen usw. Ist es nicht geradezu wie eine Szene aus Jerusalem, wenn erzählt wird, wie eine alte Frau, die an Bord des Amerikadampfers mit einem Seufzer, der dem verlassenen Heim galt, äußerte: »Freilich wissen wir, wie wir es jetzt haben, aber Gott weiß, wie es nachher wird« – als zu schwach im Glauben befunden und ans Land gesetzt wurde, als unwürdig, mit in das gelobte Land zu kommen!

Als die Erik-Janssisten nach furchtbaren Mühen nach Amerika hinüberkamen – der Prophet hatte versprochen, daß alle wirklich Gläubigen nicht seekrank werden und beim Landen Englisch können würden – kauften sie in Illinois Land und bildeten dort unter Erik Janssons despotischem Regime eine Kolonie namens Bishop Hill. Die schwedische Schwärmerei bekam in Amerika einen unangenehmen Anstrich von »business«. Erik Jansson wurde von einem Ehemann erschossen, dem er seine Frau vorenthalten wollte, aber erst zwischen 1860 und 1862 löste sich die eigentümliche Gesellschaft auf.

Ich habe in größter Kürze den Erik-Janssismus geschildert, um zu zeigen, daß das Motiv, das Selma Lagerlöf zum Leitfaden ihres großen Prosa-Epos vom schwedischen Volksleben gewählt, durchaus nicht, wie ein Uneingeweihter vielleicht zu glauben geneigt sein könnte, ein einzelstehender Fall oder eine Kuriosität ist. Schon die obenstehenden flüchtigen Andeutungen dürften zeigen, wie tief im Herzen des schwedischen Bauernstandes die religiöse Ekstase mit all ihrer Hoheit – und all ihren Abarten – wohnt. Die Wallfahrt des Dalekarlier Volkes nach Jerusalem mitten in unserer eigenen Zeit ist nur ein äußeres Symbol eines alten, geheimnisvollen Zusammenhanges. Die Sagen pflegen zu erzählen, wie Seen, die unendlich weit voneinander entfernt sind, durch verborgene Stromadern in Verbindung stehen können. Ob nicht ein solcher unterirdischer Kanal, ausgehöhlt von unendlicher Sehnsucht und Angst, von den brennenden Träumen ganzer Geschlechter auch zwischen Siljan und Genesaret gehen kann?

 

Im Vorhergehenden sind die Wirklichkeitselemente berührt, auf die Selma Lagerlöf ihre Dichtung vom schwedischen Bauernstande und dem Zweikampf in seinem Leben zwischen der irdischen Freude an der Scholle und dem Durste nach der Selbstaufopferung des Ölberges aufgebaut hat. Wir gehen nun zur Erzählung über ... Sie beginnt mit einer kurzen Einleitung – »Die Ingmarsöhne«, die Geschichte eines Bauerngeschlechtes, in eine einzige Episode konzentriert, aber so, daß man in derselben das innerste Seelenleben einer ganzen Klasse kennen lernt. Einer der zahllosen Ingmarssöhne, die Großbauern und besten Männer des Kirchspiels, die zu allen Zeiten den Ingmarshof besessen haben, hat in seiner Ehe eine Tragödie erlebt, die die endlose Reihe altväterlich frommer und fruchtbarer Ehen, welche den Stamm erhalten haben, unterbricht. Er hat sich eine schöne Braut gegen ihren Willen erzwungen, und der Groll des jungen Weibes gegen den aufgedrungenen Mann wächst zu förmlichem Haß, als dieser aus Sparsamkeitsgründen die kostspielige Hochzeit hinausschiebt: »Die Kartoffeln sind mißraten, und die Kühe sind krank geworden. Ich dachte, es wäre nicht so eilig mit der Trauung, da wir schon aufgeboten waren. Wir hatten ja erst im Frühling ein Begräbnis gehabt, und aus der Bank wollten wir doch das Geld nicht nehmen.« So argumentierte Ingmar bei sich selbst, aber Brita, das junge Weib, das nun den Taufschmaus vor der Hochzeit feiern sollte, sah darin eine tiefe Kränkung, und nach der Niederkunft erwürgte sie das Kind. So kommt Schande über den Ingmarshof. Die Frau wird ins Gefängnis gebracht. Ingmar, der einsam und geringgeschätzt umhergeht, kann nicht über das entsetzliche Ereignis hinwegkommen. »Brita war nicht schlecht, aber sie war eine Stolze,« sagt er zu sich selbst. Wie ein Funke, der niemals erlöschen will, brennt das Schuldgefühl in ihm. Die Ingmarssöhne können den Gedanken nicht ertragen, daß es ein Wesen gibt, dem sie Unrecht getan haben. Dazu sind sie zugleich zu hochmütig und zu demütig. Ingmar grübelt all die langen Jahre – bis der kritische Tag anbricht, an dem Brita ihre Strafe abgesessen hat. Ihre eigene Familie will sie nach Amerika schicken. Kein Mensch verlangt etwas so Groteskes, wie daß Ingmar sie zurücknehmen und eine Mörderin zur Hausmutter auf dem Ingmarshofe machen soll. Aber selber kann er gerade von diesem Gedanken nicht loskommen. Dieser moralisch verfeinerte Aristokrat – denn dies ist der Mann aus altem Stamme in seiner Klasse – wird von dem Unmöglichen zugleich abgestoßen und angelockt. Das ist der Kampf zwischen der Welt und der inneren Rechtfertigkeit, wie sie Gott aus besonderer Gnade den Ingmarssöhnen offenbart hat. Unter der Verkleidung des Schuldgefühls und des Wunsches, wieder gut zu machen, verbirgt sich sowohl Liebe zu dem gedemütigten und schuldigen Weibe wie das Verlangen des Verschmähten, großen Haß durch noch größeren Edelmut zu entwaffnen. So legt Ingmar Ingmarssohn seinen schwarzen Feiertagsrock und ein gestärktes Hemd an und fährt zu dem Bezirksgefängnis, um die Kindesmörderin als seine Ehefrau heimzuführen. Aber die Schilderung, wie dies abläuft und wie die beiden einander in letzter Stunde finden, ist so schön, daß nicht einmal die pietätvollste Hand sie nachschreiben möchte. Es ist eine der feinsten und tiefsten Menschenschilderungen in schwedischer Sprache, und sie verträgt es wohl, auch mit dem besten derselben Art in den Weltsprachen verglichen zu werden. Ein Kulturmensch, der nur auf dem Wege der Bücher die Klasse kennen gelernt hat, die hier geschildert wird, sollte sich vielleicht nicht über die Wahrhaftigkeit der Schilderung äußern. Aber es gibt Dokumente, die eine Art unbezwingliche und unerschütterliche Ahnung von der Wahrheit mitteilen. So ist es mit Selma Lagerlöfs Erzählung von den Ingmarssöhnen.


Faksimile eines Briefes von Selma Lagerlöf an Levertin

Übersetzung dieses Briefes von Selma Lagerlöf an Levertin

Die Einleitung zu diesem Buche ist folglich nicht ein unnötiges Beiwerk. Sie gibt der ganzen folgenden Dichtung festen Boden unter den Füßen. Sie gibt einen großen Klassentypus des Volkes, von dem späterhin im Laufe der Schilderung so viele verschiedene Individuen dargestellt werden. Wir kommen mit dieser Einleitung tief in das Land der Ingmarssöhne, unter uralte Geschlechter von Bauern, die schweigsam und gelassen hinter dem Pfluge einhergehen und den Kopf schwer zur Erde zu beugen scheinen, in irdischen Sorgen und Gedanken. Aber diese Ingmarssöhne haben mehr denn einmal gezeigt, daß ihr Sinn über die Pflugfurchen hinausfliegen kann. Mehr als einmal haben sie, wenn andere zitterten und zagten, in felsenfestem religiösen Glauben an ihre Sache das Teuerste verlassen, was ihnen eigen war, um für Recht und Freiheit zu kämpfen. Sie sind mit Engelbrecht und Gustav Wasa ausgezogen, sie haben sich stets gerührt, wenn der Glockenklang ertönte, der ihr Herz erweckte. Aus dem Erz- und Kupferlande sind Freiheitskämpen und Psalmensänger von gleicher Geschlossenheit, Persönlichkeiten aus einem Gusse hervorgegangen. Sie können auch Gut und Hof veräußern, wenn der Traum ihnen das wunderbare Mahnungs- und Verheißungswort ins Ohr flüstert: Jerusalem.

Jerusalem mit dem Ölberg
Aus »Jerusalem«

Nach dieser Einleitung beginnt Selma Lagerlöf die Erzählung von der religiösen Erweckungsbewegung. Sie beginnt tief in der Vergangenheit und ohne sich zu beeilen. Als volkstümliche Erzählerin, die sie ist, berichtet sie mit der ruhigen Breite der großen Epik und ihrem Reichtum an nebengeordneten Episoden. Die Erzählung wächst wie der über Schneefelder rollende Schneeball. Sie sammelt, wie es manchmal scheinen mag, ein wenig aufs Geratewohl Züge von links und rechts, aber erreicht doch schließlich ein großes einheitliches Resultat. Das ganze Kirchspiel kommt mit in die Geschichte, ganz Dalekarlien könnte mit hinein kommen, denn man hat den bestimmten Eindruck, daß die Verfasserin jede Hütte in der ganzen Landschaft kennt.

In ebenso hohem Grade wie die Form ist die Auffassung volksepisch. Diese Dichtung von einer Idee und einem Traume ist durch und durch konkret. Die verschiedene Art der Menschen, auf die religiöse Verkündigung und ihre Forderungen zu reagieren, interessiert Selma Lagerlöf einzig und allein, zu sehen wie der geistliche Weckruf in ihr gewohntes Dasein einschneidet. Die abstrakte Seite jeder Sektenbildung hingegen – die Lehre und ihre in verschiedenem Geiste ausgelegten Sätze, die auch ungebildete Gläubige so leidenschaftlich zu beschäftigen pflegen, beachtet sie in ihrer Schilderung wenig. Es widerstrebt ihr auch, die Erscheinung mit naturwissenschaftlichem Blick zu betrachten und eine geistige Bewegung als eine von gewissen Ansteckungsstoffen und ungünstigen sanitären Verhältnissen bedingte Seuche zu schildern. Ihre Darstellung ist unvollständig, vielleicht auch nicht ganz wahr, aber das, was sie gibt, ist doch das tiefste des Prozesses: die rein menschliche, in jeder Seele in verschiedenen Farben gebrochene Widerstrahlung ein und derselben Erleuchtung. Die religiöse Botschaft ist für Selma Lagerlöf ein seltsamer Brief aus der Ferne, der eines Abends in eines der roten Häuschen des Dorfes kommt ... Der Nachbar bekam kurz vorher oder kurz nachher einen gleichlautenden. Aber obgleich der Inhalt der beiden Briefe derselbe ist und ihre Forderungen die gleichen, so gestaltet sich doch das Drama in beiden Fällen ganz verschieden. Wozu der Kulturhistoriker so selten vordringt, der rein menschliche Widerhall der Ideen, das ist die Hauptsache in »Jerusalem«. Aus diesem Gesichtspunkt kann eine geistige Bewegung nicht wärmer, schöner und wahrer gemalt werden, als Selma Lagerlöf es getan hat.

Wer den ersten Anstoß zu der Bewegung gibt, ist, wie so oft ein Kind, das nicht begreift, was es anstellt, ein erwachsenes Kind, ein ehrsamer Schullehrer, der in dem einst altväterisch ruhigen Kirchspiel ein Missionshaus erbaut. Die Gestalt ist eine der vortrefflichsten, die Selma Lagerlöf geschaffen hat. Der alte Schullehrer hat alle Kirchspielbewohner unter seiner Zuchtrute gehabt. Er betrachtet, wie es heißt, die früheren Schüler, wie alt sie auch geworden sein mögen, immer noch als Kinder »mit kindlich-runden Grübchenwangen und frommen, stillstehenden Kinderaugen« und er fühlt sich darum auch weiter befugt, ihr geistiger Vormund zu sein. Er ist so sicher in seiner »Lebensanschauung«, wie man es nur sein kann, wenn man sehr wenig weiß, aber den minimalen Kurs, den man gelernt hat, sicher inne hat; und das Missionshaus, in dem er die schwankende Christenheit stützen will, denkt er sich als eine schöne Fortsetzung seines Schulsaals. Da soll das freie Glaubensleben gedeihen, aber in der Zucht des Herrn. Doch, die Zeit vergeht, und keine Scheidung, wie unschuldig sie auch aussehen mag, bleibt ohne Folgen. Als die alte weiße Kirche nicht mehr allein Gottes geheiligte Wohnstatt ist, als der vornehme Pfarrer mit seinem Buchschwedisch nicht mehr allein als der Verkünder des heiligen Wortes dasteht, ist in den Zaun eine Bresche gerissen. Bald wimmelt es im Kirchspiel von Predigern aus eigenen Gnaden, über die der »Geist« gekommen ist und die nun erzählen müssen, was sie beim Pfluge oder Kohlenmeiler ausgeklügelt haben. In einem Kapitel, das sicher klassisch wird, erzählt Selma Lagerlöf mit tiefsinnigem Humor, wie die Bewegung dem guten Magister über den Kopf wächst, und wie ihm die früheren Schüler Rute und Evangelium aus den Händen reißen. Zum erstenmale sieht der alte Schulmeister, daß die zarten Kinderwangen und die lichten Kinderlocken dahin sind und daß seine früheren Büblein finstere trotzige Männer geworden sind.

Nun ist der Geist des Zwiespalts über dem stillen Kirchspiel. Die Sinne zittern wie Kerzenflammen im Winde, und in dem richtigen psychologischen Augenblick findet sich Hellgum ein, der Prophet, der Verkünder, der energische Sektenführer. Hier sinkt jedoch die Schilderung um einige Grade unter ihre gewöhnliche Stärke. Selma Lagerlöfs schwedisch-amerikanischer Methodist ist eine unklare blutlose Gestalt. Die Verfasserin hat mit ihrer unendlich feinen zarten Humanität davor zurückgescheut, den richtigen volkstümlichen Winkelprediger zu geben, mit der grotesken Mischung von Schwärmerei und Salbung im Auftreten. Sie hat eine höhere Gestalt schaffen wollen, aber der Mann hat kein Leben, und man begreift die Einwirkung seiner matten Worte auf seine Umgebung nicht. Nicht einmal Selma Lagerlöfs außerordentlicher Genialität ist es hier gelungen, den Buchstaben des Pietismus lebendig zu machen.

Umso größer ist der letzte Teil des Buches, wo Hellgum selbst schon aus dem Spiele ist und nur das Bauernvolk und der Traum von der Heimwanderung nach Kanaan aus dem Wüstenleben des alltäglichen Daseins geschildert wird. Die Abteilung wird durch ein mächtiges Gemälde eingeleitet: wie ein großer Amerikadampfer auf dem atlantischen Ozean zu Grunde geht. Dieses Kapitel vom »Untergang des Univers« hat man überflüssig genannt und ohne Zusammenhang mit der Erzählung gefunden. Das ist nicht der Fall. Die wenigen amerikanischen Passagiere, die sich aus dem Schiffbruche retten, werden die Gründer der Brüderschaft in Jerusalem, der die Dalekarlier Bauern sich dann zugesellen. Eine Welle von dem Sturm auf dem atlantischen Ozean erreicht Skandinaviens ferne Küste. Es liegt etwas Großartiges in dieser fernen und wunderlichen Kausalität. Selten habe ich in einem modernen Roman so stark den Eindruck des großen, verborgenen Zusammenhanges des Alls empfangen. Es gibt nur ein einziges Weltenmeer mit vielen Namen, und kein Wellengekräusel in demselben ist ohne Folgen für die inspirierten Blicke, die den geheimnisvollen Gang der Wellen gewahren.

Nun erzählt das Buch, wie der Traum von Gottes heiliger Stadt die »Erweckten« des Kirchspieles ergreift und wie in der himmlischen Sehnsucht frostblauem Dämmerlicht mit seinem wunderbar lockenden Morgenstern alle Bande und Sorgen der Erde zerreißen und erstarren. Die, welche der Vater gerufen, was fragen sie nach leiblichen Eltern, und die der himmlische Bräutigam auserkoren, was bekümmern sie sich um die Gelöbnisse und Neigungen des Staubes? Hof und Acker, Haustiere und altes Silber, das mag gut für jene sein, die das Leben der ewigen Unstetheit leben und Schnee und Grün in dem alten Dalekarlien wechseln sehen wollen – aber was fragen sie, die nach Jerusalem ziehen, nach all diesem? Wie Öl und Wasser sich scheiden, so scheiden sich die Knechte der Erde von den Erkorenen, und mit starren Augen sehen die Ersteren von Hüttentüren und Getreidefeldern den Zug zum Morgenlande vorbeiziehen und verschwinden.

Diese bewunderungswürdigen Schlußkapitel bergen eine Poesie, eine Wärme, ein allseitiges Verstehen des Menschenlebens, das über alles Lob erhaben ist, und die Folge kurzer kleiner Schilderungen, in denen Selma Lagerlöf den Abschied der Dalekarlier Bauernschaft von Land, Familiengräbern, Heim und Anverwandten erzählt – dieser seltsame Exodus in unseren eigenen Tagen – sind Gedichte in Prosa ohne Fehl und Tadel.

So ist Selma Lagerlöfs Jerusalem. Sie hat nie Höheres erreicht. Sowie das Ganze in diesem Buche einfacher und größer ist als früher, ist auch der ganze Styl hier reiner und klarer denn je. Ihre Erzählungsweise konnte in früheren Tagen hysterisch unruhig sein, ihr Kolorit zu bauernprächtig. Hier ist alles groß, ruhig und still – ohne irgendwelche Schnörkel. Man sieht deutlicher als je zuvor, daß ihre tiefste Originalität nicht in äußerem Ton oder Apparat liegt, sondern in der außerordentlichen Breite ihrer Auffassung und ihrem naiven Gefühl für das Wesentliche in der Welt.

Die einzige Bemerkung, die sich mit Fug gegen ihre neue Dichtung richten läßt – obgleich weniger als gegen ihre früheren Bücher – ist, daß man auch nach abermaligem Wiederlesen nur mit Schwierigkeit alle diese Gestalten auseinanderhalten kann. Die Szenen haben eine gewisse Neigung, einem aus dem Gedächtnisse zu entfallen und sich zu verflüchtigen, was auf Mangel an Schärfe und Kontur im Stile deutet. Das hängt sicherlich mit der ganzen Darstellungsweise zusammen. Selma Lagerlöfs Erzählungen sind in buchstäblicherem Sinne Erzählungen, als die anderer. In allem, was sie schreibt, ist der Wortreichtum, das Leben und die Frische des mündlichen Vortrages. Man glaubt stets die tiefe Stimme einer wunderbaren Märchenerzählerin zu hören. Aber mit diesem mündlichen Vortrag und seiner impulsiven Lebendigkeit hängt wohl auch der zuweilen hervortretende Mangel an Anschaulichkeit zusammen, das Fehlen jener vom beschreibenden Künstler gewählten, unvergänglich in die Erinnerung eingegrabenen Züge.

Aber davon abgesehen, ist alles in ihrem Werke außerordentlich. Man fühlt sich ganz verlegen, wenn man das liebe lange Jahr in der Eile ein wenig leichtsinnig mit den schönen Adjektiven umgegangen ist. Man möchte am liebsten einem solchen Buch ganz neue, unberührte Epitha geben. Alte und Junge, Gebildete und Ungebildete müssen diese Erzählung gleich stark genießen können, so klar ist ihr Quell. Ich weiß nicht, was darin mehr zu bewundern ist, der Reichtum des Herzens oder der Phantasie, die Innigkeit, die nie von der billigen und liederlichen Sentimentalität der Zeit befleckt wird, oder die überlegene Erzählungskunst. Hier gilt wirklich die so oft mißbrauchte Wendung »Dichter von Gottes Gnaden«. Möge man da nur nicht an den hellenischen Apoll denken. Denn es ist die Saga des Nordens, die sicherlich unsere Dichterin aus der Taufe gehoben hat.

 

Der erste Band von Jerusalem erschien ja ein Jahr früher als der zweite und bildete tatsächlich ein Ganzes, das – streng genommen – kaum einer Fortsetzung bedurfte. Ein grandioserer Abschluß als der Auszug nach Jerusalem ist kaum denkbar. Schon dadurch geriet der zweite Teil der Arbeit von Anfang an in eine schwächere Position, und er steht auch nicht ganz in gleicher Höhe mit dem ersten. Der Stoff fällt teilweise ein wenig außerhalb Selma Lagerlöfs eigentlicher Sphäre, und eine gewisse Müdigkeit tritt hervor – eigentlich als Neigung zur Schönmalerei, was jedoch durchaus nicht hindert, daß auch diese Schilderung in vieler Hinsicht ganz einzig und außerordentlich ist.

Der Prolog zum zweiten Teile ist am wenigsten geglückt. Er will unter dem Titel »Der heilige Felsen und das heilige Grab« ein konzentriertes Bild von Jerusalems unendlicher sagenhafter Geschichte geben und zugleich den Leser in den Horizont des gelobten Landes einspinnen.

Ich weiß nicht, ob es möglich ist, eine solche Riesenaufgabe in einem Romankapitel zu lösen. Auf jeden Fall muß ein Poet, wenn ihm dies gelingen soll, auch ein Denker sein, der einer gewaltigen Synthese fähig ist, ein Historiker, der Jahrhunderte überblickt, sowie man eine Karte übersieht, und schließlich noch ein außerordentlicher Kolorist, der mit wenigen starken Pinselstrichen eine Vision der Vergangenheit zu geben vermag. Selma Lagerlöf ist nichts von alldem. Und es fehlt ihr überdies die Auffassung für die älteste und heroischste Periode von Jerusalems Geschichte – die des alten Testaments. Das Morgenland, das sie versteht, ist das der Parabeln und der Tausend und Eine Nacht, das der Bazare und Märchenerzähler. Seinen Geist sinnreicher Menschenweisheit und farbenprächtigen Abenteuers kündet sie herrlich mit ihrer Märchenphantasie. Die neutestamentarische Idylle mit ihrer heiligen Frühlingsstimmung würde sie sicherlich auch gut malen können, obwohl sie erstaunlich selten an derartige Motive gerührt hat. Aber ihr weiches Gemüt, ihr breiter Stil, ihr Mangel an Leidenschaft und Pathos lassen sie jede Spur des starken und sublimen Hauches entbehren, der das Zion der Propheten und das Jerusalem des Judenvolkes umwittert. Man lese, um dies so recht greifbar zu fühlen, eines der berühmtesten Liederbücher dieser Stadt wieder – ich meine Jesaia, den ja die Gelehrten nunmehr ein Liederbuch nennen. Sowie man nur einen Blick hineinwirft, begreift man, was hier in diesem Einleitungskapitel fehlt und warum Selma Lagerlöfs Ton versagt, sowie sie an das Jerusalem der Krieger und Priester rührt. Ihr Mund ist nicht »scharf wie ein Schwert« und ihre Seele »kein geschärfter Pfeil« aus des alten Jahves Köcher.

Umsomehr findet Selma Lagerlöf sich selbst wieder, wenn sie zu ihrem Dalekarliervolk zurückkehrt und seine Verpflanzung nach Jerusalem schildert. Die kleine Pilgerschar schwedischer Bauern, von deren Abfahrt aus Dalekarlien wir mit tränenfeuchten Augen und klopfendem Herzen in dem unvergeßlichen Schlußkapitel des ersten Teiles gelesen haben, finden wir nun wirklich in den Mauern der Zionsstadt wieder. Und abermals braust der große epische Strom der Volksdichtung ungetrübt rein und reich aus der Seele der Verfasserin. Mit großartiger Kraft, das Thema zu variieren, schildert Selma Lagerlöf all die verschiedenartigen Wirkungen, die die Wunderstadt Jerusalem auf die Nordländer ausübt: die mystische Glut, die in hellen Flammen lodert und überhitzte Sinne sprengt, die Berauschung des Südens, aber auch das Heimweh nach den Tannen und dem Schnee und den Hütten am Dalekarlierfluß, und das erschauernde Fremdheitsgefühl vor der orientalischen Natur. Wie gewöhnlich übereilt sich die Verfasserin nicht. Sie hat eine unersättliche Lust zu erzählen und unglaublich viel zu berichten, und dabei bekümmert sie der Gedanke an Einheitlichkeit nur wenig. Einige dieser Schilderungen sind außerordentlich schön – wie z. B. die von Tims Halfor, dessen kleines Töchterchen in Jerusalem begraben worden ist und der sich nun nicht denken kann, daß sie in der verdorrten südländischen Erde Grabesfrieden und Schlummer finden wird. Nichts kann die instinktive Zusammengehörigkeit mit der nordischen Erde besser und größer schildern, als die Szene, wo dieser Halfor, selbst sterbend, den ausgegrabenen Sarg der Tochter herbeiträgt und als seinen letzten Wunsch seine Landsleute anfleht, das tote Lieblingskind »unter einen grünen Hügel« zu betten, »und legt auch mich unter einen grünen Hügel«, fügt er hinzu und schließt für immer die Augen. Ein grüner Hügel, das ist die innerste Sehnsucht aller Fasern des Herzens nach Schwedens Boden, nach dem holden Grün, das selbst die müdesten und verweintesten Blicke erquickt. Es ist die Sehnsucht nach dem Tau, der in der Abendkühle glitzert und in seiner Reinheit eine Verheißung der Erneuerung des Alls ist, die Sehnsucht nach dem Rauschen des Grases auf den Gräbern, die die Erinnerungen an Eltern und Kindern vereinen. Der grüne Hügel ist der Mikrokosmos der ganzen schwedischen Erde.

Josefats Tal
Aus »Jerusalem«

Später ist es wieder die Ingmarssaga, die Geschlechtschronik des schwedischen Bauern, die überwiegend Beschlag auf die Aufmerksamkeit der Verfasserin wie auf die des Lesers legt. Es ist wieder ein Ehekonflikt, ein Kampf zwischen der Gewissenhaftigkeit und dem falschen Stolze, wie in der ersten Erzählung von den Ingmarssöhnen, die das ganze Werk einleitet.

Via Dolorosa
Aus »Jerusalem«

Mit ergreifender Wärme schildert Selma Lagerlöf, wie das Leben, das Blüten und Früchte will, das Spinngewebe von falschen Pflichten und Selbstquälerei zerreißt, in das die Gewissensqual einen Menschen zu verstricken vermag. Der jüngste der Ingmarssöhne hat die Geliebte seiner Jugend verlassen und ein reiches Mädchen geheiratet, nur um das alte Familienhaus zu retten. Ein Sprosse des alten gewissenszarten Bauernstamms, glaubt er deshalb unglücklich werden zu müssen und durch die Qual eines liebelosen Heims seine Untreue zu büßen. In einer langen, vielleicht ein wenig verwickelten, aber im Gedankengang und Gefühl außerordentlichen Schilderung zeigt Selma Lagerlöf, wie dieser germanische Selbstquäler endlich von seinem falschen Idealismus geheilt und von Liebe zu der Frau erfüllt wird, die er aus so unedlen Beweggründen gewählt hat. Es kommt also wieder zur Versöhnung auf dem alten Ingmarshof, dem ältesten und vornehmsten in Dalekarlien.

Dies ist ein kleiner Roman für sich, der sich in Palästina und Dalekarlien abspielt, er wiederholt den Gedanken der ersten Einleitungsgeschichte und ist hier weniger an seinem Platze. Es läßt sich nicht leugnen, daß das Nationalepische beiseite geschoben wird. Man kümmert sich nicht mehr um das ganze große, religiöse Motiv, das doch der Kern des schwedischen Bauernromans war. Hier ist ein unverkennbarer Mangel im Aufbau des Werkes, der die ganze Perspektive verrückt, aber davon abgesehen, hat diese letzte Ingmarsgeschichte große poetische Bedeutung.

Selten empfängt man aus einer Erzählung einen so mächtigen Eindruck von dem Reichtum des Lebens an Überraschungen und von der Fähigkeit des Daseins, durch seine Verjüngung den Glauben des Menschen zuschanden zu machen und durch seine Versöhnung seine Schuld beizulegen. Was weiß er, der ewig ungeformte, vom morgigen Tage? Was weiß er von Wachstum und Unfruchtbarkeit, von Glück und Unglück? Was er heute Untergang nennt und verzweifelt bejammert, kann morgen den Namen Rettung erhalten. Das Menschenherz, das ist das ewige Propfreis, das an allen Stämmen festwachsen und in allen Welten neue Triebe schießen kann. Mit diesem Kindervertrauen zum Leben, das so echt Selma Lagerlöfisch und der Instinkt einer gesunden Tochter der Erde ist, schließt dieses große Buch von der Zugvogelnatur schwedischer Seelen und ihrem Fluge zwischen der Gottesstadt der Religion und den Nestern der Heimat.

 

Unter all den Spukrequisiten, die Selma Lagerlöf gewissenhaft in ihrer Dichtung benutzt hat, fehlt, so viel ich weiß, ein mystisches Gerät, das doch besonders gut zu ihrer Poesie zu passen scheint. Ich meine die Wünschelrute. Aber vielleicht hat sie nur darum nichts über sie geschrieben, weil sie sie alle Tage anwendet und darum ihre Wunder nicht so besonders merkwürdig findet. Aber uns anderen dünkt es, daß es etwas Wunderbares ist um all die frischen Quellen, die unter ihrer Hand hervorgesprungen sind. Es sind vergessene Quellen, die unendlich weit zurückreichen, bis in Schwedens ferne Vorzeit – sie gehört ja auch einem uralten schwedischen Geschlechte an, von dessen Stammbaum sich Fäden zu Olof Rudbeck Schwedischer Gelehrter des 17. Jahrhunderts, der in seiner Atland zu zeigen versuchte, daß Schweden Platos »Atlantis« sei. sowohl wie zu Tegner und Geijer ziehen. Aber auch neue Quelladern hat sie aus der Erde und den Felsen entspringen lassen. Sowie uns das vergangene Decennium die Gewißheit gegeben hat, daß unbekannte Reichtümer von kostbarem Metall im Schoße der schwedischen Erde ruhen, hat sie uns den lebendigen Beweis für die unerschöpflichen poetischen Reichtümer des schwedischen Bodens erbracht. Natürlich wußte man es schon früher, aber sie hat es mit dem unwiderleglichsten und genialsten Instinkte offenbart. Und darum ist auch sie, Mutter Sveas eigenes Patenkind, unserem Herzen besonders teuer.

Selma Lagerlöf


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