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Einleitung

Selma Lagerlöf - Falun 1909
Nach einer Originalzeichnung von Carl Larsson

Selma Lagerlöf ist die wunderbarste literarische Anomalie, die ich kenne. Was man ewig veraltet wähnte, hat sie erneut, was man längst überlebt und begraben glaubte, dem hat sie eine Auferstehung bereitet, die aller Herzen ergriffen hat. In einer Zeit, die vor allem erfahren und alt erscheint, und deren Dichtung es, selbst wenn sie Jugend spielt, schwer fällt, die Fältchen an den Schläfen und das weltkluge Lächeln um den Mund zu verbergen, betrachtet sie die Welt wie ein zum ersten Male aufgeschlagenes Märchenbuch und vermag das, was sie sieht, so zu erzählen, daß all die Alten und Überklugen rings im Kreise gleichfalls wie Kinder werden und an ihren Lippen hangen. In einer Zeit, wo die Wagschale der intellektuellen Berechnung ausgesprochen die der Unmittelbarkeit überwiegt, ist sie eitel überquellende Phantasie und spricht einzig und allein aus ihres Herzens Einfalt – das Wort in seiner biblischen Bedeutung genommen. In einer Zeit des Zweifels und des Mißtrauens, die das Leben hart und unerbittlich anblickt, hat sie für alles Lebende jenes zärtliche Umfangen, jene liebestrunkene Begeisterung für Menschen, Tiere und Blumen, wie man sie beim heiligen Franciscus und anderen südländischen Heiligen mit dem Wesen glücksberauschter Singvögel findet. All dies bildet zusammen eine Dichtung, die in Fehlern und Verdiensten etwas ganz Einziges ist und mit beinahe mystischer Originalität wirkt.

Selma Lagerlöf ist im Jahre 1858 in Värmland geboren. Sie studierte für das Lehrerinnenexamen, machte von 1882–1885 das Lehrerinnenseminar in Stockholm durch und wirkte dann auch eine lange Folge von Jahren als Lehrerin an der Elementarschule für Mädchen in der kleinen südschoonischen Stadt Landskrona. Bis 1890 war sie vollkommen unbekannt. Eine Frauenzeitung in Stockholm, Idun, veranstaltete im Frühling dieses Jahres eine Preisausschreibung für Novellen »von ungefähr hundert Seiten«. Dorthin sandte Selma Lagerlöf die ersten Fragmente des Buches, das so geliebt und berühmt werden sollte, nicht nur in Schweden, sondern weit über den Norden hinaus – Gösta Berlings Saga.

Eine dem Äußeren nach einfachere und weniger erklärende Lebensgeschichte läßt sich kaum denken, und ebenso still und einfach wie diese Lebensentwicklung ist auch ihre äußere Erscheinung. Seit dem Erscheinen von Gösta Berlings Saga hat Selma Lagerlöf die engen Kreise der Kleinstadtlehrerin verlassen. Bevor sie sich wieder in einer schwedischen Provinzstadt niederließ, in Falun, dem alten Kupferbergwerk, der Hauptstadt des urschwedischen Dalekarlien, war sie lange im Süden und im Orient gereist und hatte sich in ganz Europa einen Namen gemacht. Aber noch ruht über ihrer Gestalt ein seltsames Inkognito des Genies. Nur der eigentümliche, nach innen gekehrte Blick und die tiefe Stimme frappieren. Selma Lagerlöf kann nicht Konversation machen. Erst, wenn sie etwas erzählt, bemerkt man sie. Dann wächst sie mit ihren Worten zu einer fernen Größe, den Hörer bezwingend, und Wundern erfaßt uns vor dem Geheimnisvollen ihres Genies.

Die Lehre von der Seelenwanderung ist mir nicht lieb. Sie ist zu zugänglich. Der Gedanke, daß jeder Beliebige alles Beliebige werden kann, hat etwas Aufreizendes. Es liegt schon genug Bitterkeit in den Worten des schwarzgekleideten Dänenprinzen, daß Alexanders Staub der Zapfen eines Bierfasses geworden sei. Aber noch bitterer erscheint der Gedanke, daß Alexanders Seele auf der Pilgerfahrt durch mehr oder minder wenig heldenhafte sterbliche Hüllen begriffen sein sollte. Doch wenn man Selma Lagerlöf liest, ist man nicht weit davon entfernt, an die alte Lehre zu glauben. Überall in ihren Erzählungen und besonders in den Schilderungen ihrer Frauengestalten tauchen eine Menge seltsamer Worte auf, so wie sie tief aus dem Grunde der Seelen kommen, Züge, merkwürdig wie Offenbarungen, märchenfern, aber doch von einer Wahrheit, die zauberisch und unwiderstehlich ist Siebzehnjährige Jugendschwärmerei und fünfzigjährige Frauenmüdigkeit, Mutterschaft, Nonnen-Extase, Hexenarglist und Königinnenglück, die allerverschiedensten Geheimnisse und Impulse des Frauenlebens kennt diese Schriftstellerin, deren Dasein so still und abgeschieden war. Wahrlich, Selma Lagerlöfs Seele ist durch viele Alter und Gestalten gepilgert. Sie ist eine eisgraue Vala in fernster Vorzeit gewesen, im Sturm wahrsagend, eine lebenstrunkene, entführte Jarlstochter und eine reuevolle, sich kasteiende Nonne, Troll, Heilige, Hexe und Sklavin und noch vieles mehr. Nur halb vergessener Präexistenzen Glut, Weisheit und Fröhlichkeit erfüllen ihre Erzählungen mit ihrer mächtigen Erfahrungssumme und dem wunderbaren fernen Rauschen aus vergangenen Zeiten und zerfallenen Städten. Aber nicht genug damit. In ihren Geschichten herrscht eine Logik, die nicht die gewohnte unserer Welt ist, aber in ihrem scheinbar paradoxalen Zusammenhang dem eigenen dunklen Gesetz des Lebensprozesses selbst verwandt scheint. Die rätselvolle Musik hinter dem Vorhang ertönt oft mit erstaunendem Klang in ihren Worten. Sie hat eine Gabe, Sinn in das Absurde und Konsequenz in das Zerrissene und Unzusammenhängende zu bringen, die uns verblüfft. Bisweilen bilde ich mir ein, daß sie Bekanntschaft mit den Parzen gemacht hat und daß die drei zahnlosen alten Schicksalsgöttinnen den Weg in ihr Stübchen wissen und ihr beim traulichen Nachmittagskaffee gar mancherlei erzählt haben: Lachesis, wie das Gewebe des Lebens gespannt und grundiert, Atropos, wie seine rote Kette und sein buntes Muster von dem unermüdlich bildenden Schiffchen gestaltet wird, Klotho, wie Faden und Schablonen abgeschnitten werden. In einer ihrer Erzählungen, »Eine Geschichte aus Halstanäs«, Deutsch in der Sammlung: Selma Lagerlöf, Legenden und Erzählungen, aus dem Schwedischen von Francis Maro. Verlag Kirchheim, Mainz. schildert Selma Lagerlöf einen alten pensionierten kuriosen schwedischen Offizier, der die freie Zeit seines Alters dazu verwendet, sich einen großen Läppchenteppich zu weben, in den er »sein eigenes und seiner Freunde Leben webte, in einer geringen Nachbildung dessen, was er in Gottes Webstuhl dargestellt zu sehen glaubte.«

Selma Lagerlöf
Aufnahme von James Bourn, Göteborg

Diesen wunderbaren märchenhaften Läppchenteppich kann man ein Bild ihrer eigenen Schriftstellerei nennen. Die scheckigen Läppchen fehlen nämlich nicht darin, auch nicht eine gewisse hausbackene Buntheit, deren Geschmack zuweilen zweifelhaft sein kann, aber all dies vergißt man über den unendlichen Reichtum an Mustern und Motiven, der ihn wirklich zu einer ganz einzigen Nachbildung des Weltengewebes macht.


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