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Kamerad Levi

1914/15

Als der große europäische Krieg ausbrach, war Siegfried Levi, der 26 Jahre alte Sproß eines Althändlers in Hannover, zu mehreren Militärärzten gegangen, um seine Kriegsuntauglichkeit sich bestätigen zu lassen; da aber diese gegen sein Erwarten erklärten, daß sein Körper vollkommen gesund und schwerlich Aussicht vorhanden sei, daß man bei der Einziehung der ungedienten Ersatzreservisten ihn übergehen oder entlassen werde, so hatte Levi sogleich die Überzeugung gewonnen, daß eine sofortige Meldung als Kriegsfreiwilliger seine Stellung im Heere günstiger beeinflussen werde, als wenn er erst abwarte, bis man ihn pflichtgemäß zum Kriegsdienste heranzog; wobei er ohnehin noch eine lange bange Wartezeit vor sich gehabt hätte. Nur durch eine List war es ihm schließlich gelungen, als Kriegsfreiwilliger mitgenommen zu werden, denn als nach zahllosen vergeblichen Bewerbungen ihm der Bescheid wurde, daß die 1. Kompagnie des I. Ersatzbataillons zum Linieninfanterie-Regiment 124 noch fünfzig Freiwillige einstellen werde, da fand Levi, obwohl er zwei Stunden früher als zur festgesetzten Stunde im Hofe der Regimentskaserne erschienen war, die Treppen, Gänge und Tore des weitläufigen Gebäudes von wenigstens dreihundert jungen Leuten besetzt, deren jeder darauf hoffte, daß man just ihn zum Regiment einkleiden werde. Levi versuchte gar nicht, auf die zum Musterungssaale führende Treppe zu gelangen, sondern blieb in dem menschenleeren Hofe, und da einige Fenster des obersten Stockwerkes offenstanden, irgendwo aber eine von den Maurern stehengelassene Leiter anlehnte, so stieg er sofort an einer beliebigen Stelle in die Kaserne ein, hielt sich bis zur anberaumten Stunde in einer Zelle des dritten Stockes verborgen, tappte dann bis zum Zimmer des Obersten und stand plötzlich als erster vor der Ausmusterungskommission. Auf die verwunderte Frage des Vorsitzenden: »Was wollen denn Sie hier?« rief Levi: »Fürs Vaterland sterben!« mit einer so lebendigen hellen und zum Herzen gehenden Stimme, daß die Herren, welche sich erstaunt und zweifelnd anblickten, auf die überreichten Atteste der Militärärzte hin, den Mann in die Stammrolle des Regiments einschrieben. Und so war er denn Soldat geworden, nachdem er bisher jenes von Vater und Großvater ererbte Geschäft in der Burgstraße innegehabt hatte, aus welchem dank seiner Tüchtigkeit ein in der ganzen Stadt angesehener » Salon d'antiquités« erstanden war, welcher nach Ausbruch des Krieges ein neues Firmenschild erhielt und seither als »Deutsches Haus für Altertümer« wohlbekannt ist. Da er nun frisch und fröhlich in den gewaltigen Krieg einrücken sollte, erschien er unter den hellbegeisterten blonden norddeutschen Jungen wie ein kostbares und feines, aber etwas verstaubtes Altertum aus einer fernen Vorzeit; in der Haltung ohne die martialische Straffheit; im Gang, was man latschig nennt, im ewig sorgenvollen und verloschenen Antlitz die verdrossene Gleichgültigkeit vieler über nichts mehr verwunderter Jahrhunderte, und die Beine endlich so unheilbar krumm, daß jeder Offizier oder Unteroffizier, der uns im Exerzieren ausbildete, unfehlbar seine tägliche Kasernenhofblüte von Kamerad Levis Beinen pflückte, wie etwa: die schwere Artillerie werde durch Levis Beine durchzielen, oder diese Beine bildeten das Loch in der deutschen Front, durch welches die Malefizfranzosen eines Tages in Deutschland eindringen würden, und dergleichen Späße und Spassetteln mehr. Levi nahm solche Ausstellungen mit einer unerschütterlichen Gemütsruhe entgegen, ja erzählte witzige Bemerkungen über seine Beine gerne selber und lächelte dazu wehmütig anerkennend, soweit in seinem alteingekauftem Gesicht das fröhliche Lachen zu Hause war, denn man hat ihn nur selten lachen gesehen. Während der zwei Monate unserer Ausbildung tat er, was eben befohlen wurde, aber niemals einen Handgriff mehr, und da er jede unnötige Bewegung verabscheute und dem Feldwebel beständig mit Zeugnissen aufwartete, welche ihn heute vom Reckturnen »wegen Schmerzen in der Kniekehle«, morgen vom Exerzieren »wegen Entzündung eines Nagels« befreiten, so galt er als »der größte Drückeberger« in der Kompagnie und genoß unsere allgemeine Mißachtung. Denn wir anderen waren jung und fröhlich, mit Begeisterung und Zorn wie mit Elektrizitäten geladen und im überschwänglichen Augenblick unseres Lebens zum Ausflug in den Himmel des Mutes bereit; und so wirkte solch ein Kamerad wie Bleigewicht an ausgespannten Flügeln. War es also verwunderlich, daß wir alle ihn mieden, als wenn der Teufel in ihm wäre? Leutnant von Lieven pflegte zu sagen: »Sein Gesicht verdirbt mir das ganze Vergnügen am Kriege!« Ja mehr als einer schwur heimlich, daß diesem Spötter im Felde kein langes Leben beschieden sein werde. Vor allem der Offizierstellvertreter Kracht, ein kolossaler Mann von deutschen Schrot und Korn, ein blonder Riese, der den Beinamen »der Germanenkönig« führte, konnte den lächerlichen Soldaten nicht sehn und nicht riechen und äußerte gemütlich unter Kameraden: »Ich werde ihn draußen auf eine Patrouille schicken, die das deutsche Heer von einem unnützen Mitesser befreit.«

Vier Wochen später brachen wir auf. Es war der 27. September.

Erst im Eisenbahnwagen, zu vielen Tausenden verladen, wurde mitgeteilt, wohin unsere Bestimmung führe; nicht, wie wir alle geglaubt hatten, zum Kampf gegen Frankreich, sondern ins nördliche Belgien, wo, nachdem Brüssel und Gent soeben von den Deutschen besetzt waren, ein heftiger Kampf um Antwerpen und um die Küste der Nordsee geführt werden mußte. Auf der endlos langen Bahnfahrt, wo wir an ganz kleinen Stationen stundenlang liegen blieben, bis wir schließlich, nach fast vierstündiger Fahrt, in Aachen landeten, saß Levi, ohne Waffenrock, in Hemdsärmeln in einem Winkel des großen Viehtransportwagens und erteilte strategische Auskünfte. Es war erstaunlich. Sein Gehirn besaß die merkwürdigste Kenntnis aller möglichen Personalverbindungen. Wenn man ihn nach dem Standort eines Regiments befragte, so wußte er nicht nur zu sagen, wo das Regiment gegenwärtig stünde, sondern schnurrte die Namen der Führer her; wußte in der Beförderungsgeschichte Klucks, Hindenburgs, Emmichs Bescheid, brachte fertig, sämtliche v. Bülows und v. Moltkes der Rangliste auseinander zu halten, indem er Verwandtschafts- und Personalbeziehungen, Heirats- und Erbschaftsangelegenheiten eines jeden kannte, welche doch jeden andern Menschen vollständig gleichgültig lassen. Der junge Leutnant von Lieven, der mit uns reiste, rief ein über das andere mal: »Teufel! Woher weiß er das?«, als Levi, ruhig in seiner Ecke kauernd und mit einem Bleistift Konturen von Stammbäumen durch die Luft ziehend, darlegte, daß die Lievens mit v und die mit f verschiedenen Ursprungs seien, daß der Hauptmann v. Lieven in Stargard und der Major Liefen in Königsberg unmöglich verwandt sein könnten, und daß die Familie des Leutnants mit jener fürstlichen Familie verwandt sei, welche vor hundert Jahren, wie er selber Levi geheißen habe, aber beim Übertritt geadelt worden sei. Der kleine Leutnant, auf solche Dinge zum ersten Male hingewiesen und von Levis überzeugenden Kenntnissen ganz überwältigt, begann den Vielwisser »unheimlich« zu finden, und erzählte mit Grauen, daß der Mann an Stelle der Soldatenbibel eine mit weißem Papier und vielen Bleistiftnotizen durchschossene Rangliste im Tornister trage.

Nach unserer Ausladung in Belgien begannen jene furchtbaren Märsche an den Feind heran, auf welchen wir Tag für Tag auf den großen Beginn der »Feuertaufe« warteten. Ich hielt mich nun absichtlich in der Nähe Levis, nicht nur, weil dieser Mann mich lebhaft interessierte, sondern weil seine Nachbarschaft aus dem schweren Marsche mir viele Erleichterungen brachte. Er hatte zunächst die Gewohnheit, beständig Opern- und Operettenmelodien vor sich hinzubrummeln, nach deren Rhythmen er übrigens genau wie auf dem Kasernenhof dahinschlurfte. »Meine Herren«, sagte er zu seiner Umgebung, »jeder menschliche Körper hat bestimmte Takte und Zählzeiten, nach denen er sich am leichtesten bewegen läßt; das muß man ausprobieren; was mich betrifft, so ziehe ich gegenwärtig vor die Melodien: »O teure Mutter, du darfst nicht sterben!« und »Ich hab um sechs ein Rendezvous, mit dem Schatz, mit dem Fratz, mit der Erika«; weil es Melodien sind, die der Einstellung meiner Pedale am besten entsprechen.« Dieses mechanische Dahinstolpern nach einer Million Male wiederholten Melodie schien seine Kraft zusammenzuhalten, und noch heute geschieht es, daß, wenn ich irgendeine Opernmelodie höre, wieder das Bild des wunderlichen Kameraden vor mir auftaucht, wie er in gleichmütigster Seelenruhe und mit einer fachlichen Verdrossenheit die langen sumpfigen oder hartgefrorenen Landstraßen dahinschlürft. Dabei sog er beständig an unauflöslichen Gummibonbons, von denen er freigebig allen Nachbarn abgab. »Diese Gummistangen, meine Herren«, sagte er, »habe ich sogleich nach Ausbruch des Krieges in großen Posten aus Amerika importieren lassen, denn man kann nicht wissen, wie lange sie noch zu haben sind. In Deutschland fabrizieren wir nichts Ähnliches, denn sie haben die Eigenschaft, daß man sie nicht verschlucken kann und viele Stunden lang saugen muß, ehe sie sich aufzulösen beginnen; dadurch kann man auf dem Marsche seinen Gaumen feucht erhalten; denn sehn Sie, meine Herren, was ist es für ein verkehrtes Zeugs, was die andern Herren kauen. Manche rauchen auf dem Marsche Zigaretten, das werden sie bereuen, denn es verdirbt vorzeitig die feinen Kanäle der Bronchien und die Gefäße; auch führen einige von Ihnen Kolapastillen bei sich, die anderen Zucker, wobei man in wenigen Sekunden den Bonbon auflöst, und dann hat man das Gift im Blute. Sehr vernünftig ist Herr Offizierstellvertreter Kracht, welcher getrocknete Pflaumen hat. Diese, die ich Ihnen zeige, ist die gewöhnliche Katarinenpflaume, die bessere heißt Sultanspflaume; es sollen noch bessere in der Umgebung von Tours in Frankreich wachsen, welche man Königspflaume nennt, aber am besten dienlich sind Bismarckpflaumen; man spürt nichts vom Staub der Chaussee und kann stundenlang an einer trocknen Pflaume kauen und zuletzt am Kern, der einen ganz angenehmen Bittermandelgeschmack hinterläßt. Dagegen hat Kamerad Bokelberg sein schönes Geld für Hirths Elektrische Regenerinpastillen ausgegeben, einen großen Schwindel, und Herr Leutnant v. Lieven kaut Pralinee und verdirbt seine Zähne, die, wie Sie sehen können, schon teilweise plombiert sind; das ist alles Gift, aber diese amerikanische Gummistange, höchstens zwei am Tage, das ist das Richtige.« Es geschah auch bald, daß die Levi'sche »amerikanische Gummistange« bei der Kompagnie beliebt wurde, und alle Augenblicke kam jemand und sagte herablassend: »Du, Levi, haste noch 'ne Stange?« worauf dieser aus seiner unerschöpflichen Hoseninnentasche neue Quanten des klebrigen Gummis holte ...

Aber schon am folgenden Tage erwies sich Levis strategische Brauchbarkeit in einem höheren Glanze. Das geschah in jenem großen Pferdestall, wo wir im Stroh das Nachtlager bezogen, nachdem wir uns am Mittag in dem Dorf, welches, wenn ich nicht irre, Nachtigall hieß, mit den auf andern Wegen herangeführten Regimentsteilen vereinigt hatten. Jetzt befand sich der Stab, an seiner Spitze der Oberst, bei der Truppe, und die Herren verbrachten die Nacht, während schon ferne Geschütze dumpf erdröhnten, in einem Gehöfte, zu welchem auch unsere Stallung gehörte. Der alte Oberst kam von der vorderen Bauernstube, darinnen er übernachtete, wiederholt in die Ställe, um an ihrem anderen Ende plötzlich ins Freie zu verschwinden. Es war uns aufgefallen, daß, bevor das geschah, regelmäßig der Regimentsadjutant kam und die ruhig daliegenden Mannschaften fragte, ob ihm jemand ein paar Zeitungen zum Lesen geben könne, und die guten Jungen, nicht viel nachdenkend, brachten alles, was sie an Lesestoff hatten, bis kein Bogen Papier mehr aufzutreiben war. Gegen 11 Uhr nachts, als alle schliefen, kommt wieder der Adjutant mit der Stalllaterne und purrt die Unteroffiziere um Lektüre an; keiner aber hat dergleichen, so daß er wetternd und fluchend die Stallung verläßt. Gleich darauf erscheint ein höherer Offizier, unsicher schwankend, den Mittelgang zwischen den Pferdeabteilen entlang, während wir im Stroh liegen und niemand sich stören läßt. Es ist unser Oberst, genannt »der Alte«, mit seiner elektrischen Taschenlaterne, gebückt hinhuschend, zur Ausgangstür nach dem Acker. Plötzlich steht Levi vor ihm und überreicht wohlzusammengefältelt mit einer diskreten Verbeugung ein Päckchen des feinsten Toilettepapiers, worauf der übelgelaunte Oberst die demütig dastehende Figur überfliegend, unangenehm berührt zusammenzuckt, dann aber plötzlich den Humor der Lage empfindend, dem Manne auf die Schulter klopft: »Wie heißt er?« Und dieser antwortet: »Siegfried Levi«, ohne sich von der Seite des Obersten, der im Gang vorüberschreiten will, zu entfernen. Diesem scheint die Begleitung peinlich zu sein, aber Levi mit zäher Grausamkeit benutzt diesen Augenblick, um dem Herrn eine vorher sorglich im Kopfe zurechtgelegte Rede zu halten. »Herr Oberst«, beginnt er, »der Wagen mit den Generalstabskarten.« – »Jetzt ist nicht Zeit!« Aber Levi fährt unerbittlich fort: »Der Wagen mit den Generalstabskarten muß von einem Manne bedient werden, welcher sich auf Karten und Nachschlagewerke versteht und den literarischen Apparat, den das Regiment mitführt, in Ordnung hält.« »Was kümmert Sie das?« unterbricht der Oberst, bemüht, den Mann loszuwerden, andererseits aber durch die gebildete Ausdrucksweise wie durch die Annahme des Geschenkes sich verpflichtet fühlend: »Wenden Sie sich an den nächsten Vorgesetzten; wer ist das?« »Herr Feldwebel Kracht.« »Schere er sich«, befiehlt nun der Oberst barsch in dienstlicher Tonart; aber Levi, dem keine Disziplin in den Knochen sitzt, erwidert vertraulich: »Dann darf ich mich beim Herrn Offizierstellvertreter Kracht auf den Herrn Oberst berufen?« Jetzt wird dieser zornig, brüllt: »Abtreten!« und Levi schlurft in das Stroh zurück. »Mensch«, sage ich, »wie konntest du? Jetzt hast du verspielt; der Oberst ist wütend.« Er aber wiegt, wie wenn er die Chancen einer Rechnung hüben und drüben nachwöge, sein kleines schwarzes Gaunerköpfchen und sagt; »Der Eindruck sitzt.« »Wie denn?« flüsterte ich zurück (im Dämmergrau des Pferdestalles rührten sich im Halbschlaf unsere Nachbarn). »Der Oberst wird mich nie mehr ansehn, ohne an dies da zu denken.« Dann schliefen wir ein. Wirklich stand Levi schon am nächsten Morgen im günstigen Augenblick vor dem Germanenkönig und erklärte, der Oberst habe ihn geheißen, sich beim nächsten Vorgesetzten für die Stelle des Kartenordners zu melden. Aus dieser Meldung konnte Kracht nicht klug werden (weil der Oberst allein solche Stellen zu besetzen hatte); es wäre ihm gar nicht eingefallen, für den »Schandfleck der Kompagnie« sich zu bemühen, wenn nicht der alte Oberst, der sich übertags allmählich erheiterte, auf dem Marsche den Germanenkönig gelegentlich ans Pferd herangewinkt und gefragt hätte, ob ein Mann namens Levi bei der Kompagnie sei, und ob dieser sich wohl für den topographischen Dienst eigne, woraus Kracht, der das Wort »topographisch« nicht kannte, aber herausfühlte, daß Levis Stern irgendwie im Steigen sei, von der Gelehrsamkeit des Mannes zu reden begann, welche Rede Leutnant v. Lieven, der immer nur daran dachte, daß er eigentlich selber Levi heißen solle, lebhaft bestätigte, und da dem alten Oberst von Krosigk, so oft sein Blick zufällig wieder fiel auf den nach der Melodie: »O süße Mutter, du darfst nicht sterben« dahinschlürfenden Soldaten, die peinliche Nachtszene wieder auftauchte, so war Ergebnis, daß Levi die Stelle beim Kartenwagen erhielt; und man hätte keinen besseren »geistigen Marketender« finden können; zunächst begann er eine Neuordnung des gesamten Nachschlagematerials nach einem von ihm ersonnenen vereinfachendem System, so daß für jede gewünschte Auskunft jede verfügbare Karte und jedes Nachschlagewerk sogleich zur Hand war ...

Nun begannen die furchtbaren Tage, die schrecklichen, in denen die Lust, die man atmet, eine einzige Welle kleingehackten und geschmolzenen Bleies ist, durch die man voran und immer vorangetrieben wie eine Herde halbblinder, halb irrsinniger Tiere, nichts mehr wahrzunehmen vermag als Blut und wieder Blut und jenen niemals abreißenden Schrei aus Raserei und Schmerz, welcher die Himmel erfüllt. Aber das Unsagbare werde ich nicht durch leichten Bericht über den komisch-tragischen Kameraden entweihn; müßte ich doch erzählen vom Heldentode so vieler Herrlicher ... Doch die Erinnerungen der nächsten Monate sind so voll von Bildern des Grauens, daß ich um so lieber die harmlosen Erinnerungen wieder aufnehme, die mir vom Musketier Levi geblieben sind. Zunächst geschah, wer hätte es gedacht? das Wunder der Verbrüderung des »Germanenkönigs« mit Levi. Kracht, der Hüne, der schönste Mann, den ich je gesehen habe, gegen Levi bis zum Ekel voreingenommen, erwies sich in seinem Element, sobald das Dreinschlagen begann, während er den banalen Alltagssorgen hilflos gegenüberstand. Derselbe Mann, der den Drachen totschlug, war im Kampfe gegen Mücken ahnungslos, und dieses machte sich Levi so zunutze, daß zuletzt jene Periode eintrat, wo wir uns an Levi wendeten, wenn wir bei Kracht etwas erreichen wollten, weil dieser, wie übrigens auch der kleine Lieven nichts tat, ohne Levi zu hören. Das begann mit einer merkwürdigen Stiefelgeschichte, bald nach dem ersten Nachtgefecht. Plötzlich waren die Herbstfröste eingetreten, welche unter anderem die Wirkung hatten, daß die Soldaten, wenn sie über Nacht die Stiefel auszogen, am Morgen nicht mehr in das Leder hineinkommen konnten. Viele litten unter dem Druck des Stiefelleders so sehr, daß sie am Abend im Quartier der Versuchung, den Stiefel vom geschwollenen Fuß zu ziehen, nicht widerstanden, obwohl sie wußten, daß, sobald Weitermarsch befohlen war, der Stiefel nicht über den Ballen ging, weil der inzwischen warmgewordene Fuß sich gedehnt, das Leder aber zusammengezogen hatte. Levi brachte zunächst eine Flasche Kollodium herbei und überpinselte unsern Leuten die Zehe, so daß sich eine Glasur bildete, unter deren Schutz der Druck der Stiefel nicht so schmerzhaft war, dennoch blieb das Stiefelanziehen am kalten Morgen eine der Torturen des Krieges. Da aber verfiel er auf eine einfache Auskunft. Er stopfte Stroh und Zeitungspapier in die enggefrorenen Stiefel, zündete es an, und im selben Augenblick, wo das Papier und Stroh anbrannte, fuhr man mit dem Fuß in die Flamme und trat sie aus. Der Stiefel saß wie angegossen, und die Wärme wirkte wohltuend ...

Den eigentlichen Glanzpunkt aber im Kriegsleben unseres Kameraden bildete unsere Erstürmung des Schlosses Chaudfontaine. Dies war das Schloß eines belgischen Edelmannes, aus dessen Kellerfenstern und Dachluken auf eine sehr hinterlistige Weise auf die arglos gemachten und scheinbar wohl aufgenommenen deutschen Soldaten geschossen worden war, weswegen nun ein Detachement, bei welchem auch ich und Levi waren, den Befehl erhalten hatte, das von Franktireurs besetzte alte Gebäude rücksichtslos zu säubern. Unsere mit Recht erbitterten Leute benutzten diese Gelegenheit, um in Säcken, Kisten und Kasten fortzuschleppen, was nicht niet- und nagelfest war, und wovon sie hofften, daß sie vom nächsten Rastort aus es in die Heimat an Weiber oder Eltern gelangen lassen konnten; aber, da damals eine tadellose Zucht bei unserer Truppe herrschte und das ›Requirieren‹ aus eigene Faust streng bestraft wurde, so wurden auch dieses Mal alle bestraft, welche Wertsachen aus dem Schlosse mitnahmen, die Sachen aber, soweit sie nicht auf den folgenden beschwerlichen Märschen einfach fortgeworfen wurden und liegen blieben, zuletzt dem rechtmäßigen Besitzer getreulich zurückgegeben. Da war es nun wahrhaft belustigend und lehrreich zu beobachten, wie bei der Erstürmung des Schlosses eigentlich jeder ein Andenken mitzunehmen versuchte und trotz des vierzigpfündigen Tornisters irgendeinen nutzlosen Gegenstand sich auflud, den er für wertvoll hielt und gerne mit nach Hause gebracht hätte. Levi aber inmitten alle dieses gierigen und wüsten Aufruhrs durchschlurfte in aller Seelenruhe das Parkett der Säle nach der Melodie der nicht sterbendürfenden süßen Mutter, blieb anerkennend hie und da vor einem alten Gemälde stehen, begutachtete und beaugenscheinigte die Bronzen, Ahnenbilder und Gobelins und erläuterte uns die Bedeutung der Kunstgegenstände und Altertümer, von denen er eigentlich als einziger von uns etwas verstand, ohne aber die mindeste Gier nach ihrem Besitz zu zeigen oder den Wunsch, etwas mitzunehmen, bis er in einem Seitengemach einen alten kleinen Nähtisch erspähte, auf den er zustürzte und dessen Schubladen er öffnete, worauf er mit einem wahren Freudengeheul herausnahm und in seiner großen Hosentasche verschwinden ließ: eine Rolle weißen und eine schwarzen Zwirns, viele Stecknadeln, Hosenknöpfe und eine Schere. Dieses war die ganze Beute, die er aus Chaudfontaine mit sich führte, und er war der einzige, der leicht an ihr trug und sie behalten durfte, da sie sich in der Folge als hochnützlich erwies und eigentlich der einzig positive Ertrag war, den die stolze Erstürmung von Chaudfontaine uns eingebracht hatte. –

Durch solche kleine Brauchbarkeiten entschädigte das schwarze Schaf der Kompagnie für seine vollständige Unbrauchbarkeit in Feuergefecht und Handgemenge. Ich habe ihn nie in Ruhe sein Ziel nehmen sehn, und als ich im Graben neben ihm liegend, einen in der Ferne auftauchenden Engländer fallen sah, und um Levi ein Vergnügen zu machen, sagte: »Den hast du getroffen«, da wurde dieser bleich wie ein Linnen und ließ sich von mir noch mehrere Tage nachher immer wieder bestätigen, daß ich mich geirrt haben müsse und nicht er jenen Engländer getroffen habe.

Bevor ich erzähle, wie es endete, muß ich noch einer Episode gedenken, die das nüchterne Wesen des von unmittelbarer Nützlichkeit voll ausgefüllten Menschen lebhaft mir vor die Seele stellte. Die 10. November-Nacht brachte den blutigsten Kampf, dessen ich mich entsinne. Wir hatten uns eben in die frostharte Erde eingegraben, als vom General der Befehl kam, das in kurzer Entfernung gelegene Dorf, welches von Engländern und Franzosen, vor allem aber von Engländern besetzt war, bis zum Morgen durch Sturmangriff zu nehmen. Dieser Befehl war in so schneidiger Form gehalten, daß dem Oberst von Krosigk, der das Wagnis der Erstürmung des an einen Wald angelehnten befestigten Lagers ohne genügenden Schutz durch Artillerie richtig beurteilte (denn unsere Geschütze konnten erst am Morgen zur Stelle sein), wohl die paar noch übrigen weißen Haare zu Berge standen. Der General hatte den Offizieren des Regiments als Ort des Stelldicheins für den nächsten Morgen das Dorf Grootschoote bezeichnet, ohne ein Wort darüber zu verlieren, daß dieses doch vorläufig noch in Feindeshänden war. Dieser Befehl war nicht mißzuverstehen, und wir sahen durch die Feldstecher mit Staunen wunderliche massige Bauten, hinter denen Maschinengewehre aufgefahren waren; im Feuerschein der Nacht entpuppten sie sich als kolossale Lehmpyramiden, dergleichen ich weder vorher noch nachher gesehen habe. Zu diesem Sturmangriff standen nur unsere beiden Kompagnien zur Verfügung, doch war für uns beruhigend, daß das Regiment Goslarer Jäger in der letzten Nacht unsere früheren Quartiere, eine Viertelstunde von unseren Gräben entfernt, bezogen hatte, allerdings so übermüdet nach neuntägigen Gefechten, daß wir bei diesem uns auferlegtem Sturm von Grootschoote nicht auf ihre Hilfe rechnen sollten. Das Unternehmen erwies sich verwickelter, als der General gedacht hatte. Zwar gelang es, von drei Seiten her die Truppen um Grootschoote zusammenzuziehen und in der Nacht zu stürmen, aber dann stellte sich heraus, daß der Feind im Schutze der unheimlich im Sternenlicht ragenden Pyramiden den Geschützpark gerettet und hinterm Walde zusammengezogen hatte. Furchtbare Straßenkämpfe mit den rasenden Einwohnern zwangen die Unsrigen, jedes Haus einzeln zu stürmen, indessen die Engländer dasselbe Dorf, in welchem sie eben selber gesessen hatten, rücksichtslos in Trümmer schossen. Der Schrei des gepeinigten Viehs in den Flammen, die Angst der Pferde an den Ketten, das Geheul der Hunde durch die Nacht, das Geknister Einsturz drohender Balken, schwarze Wolken überm spärlichen Mond, rauher Ost, der das Feuer schnell in Speicher und Strohdiemen, Dächer und Balken treibt, die brennende Kirche, ihr Glockenturm, tausendjährig, wie mit einem Schlage plötzlich in die wahnsinnige Nacht stürzend, Stimmen rund herum, man weiß nicht wo und wohin ... alles steht vor mir nur als eine chaotische Wahrnehmung, so wahnwitzig, so sinnlos, als stürze die irre Welt im Höllenfeuer zusammen; und in den Straßen zwischen den brennenden Häusern stauten sich menschliche Leiber so dicht, daß die Nachrückenden einfach die Bajonette gebrauchten und in das Knäuel von Mensch und Tier hineinstachen, um über aufgetürmte Hindernisse, wie an Springstangen, hinwegzukommen. Nun war von unsern Patrouillen gemeldet, daß gewaltige Artillerie hinterm Walde stehe, und während wir Stunde auf Stunde auf unsere eignen Geschütze warteten, welche zu spät nachrückten, konnten die Engländer im Schutze des Waldes mit Granaten und Schrapnells uns überschütten, ohne daß die Eroberung von Grootschoote viel nützte. Hauptmann Krüger, ein ruhig besonnener Mann, der jeden unnötigen Aufwand an Menschenmaterial vermied, wäre gern in die alte Position zurückgegangen, aber der Befehl des Generals lautete: »Dorf halten, bis Geschütze kommen.« Eine Kette von 30 Mann hielt die rückwärtige Verbindung mit den Goslarern aufrecht, indem alle 50 Meter ein Mann lag bis zum Meierhof Montjoie, wo die Jäger lagen, und die Kette entlang lief wie an einem Telegraphendraht der Wunsch: »Kommt, kommt endlich!« Obwohl unsere Leute auf dem Bauch über nächtliche Sturzäcker gleich Schlangen krochen, konnten sie sich ohne Deckung nicht halten; die Luft war Flammensud. Mitten im Feld an der dünnen Böschung, wo zwei Chausseen kreuzen, stand eine schwarz geteerte Baracke, welche der Oberst zum Mittelpunkt der Operation machte, denn als wir das Haus stürmten, fanden wir aufgeschichtet bis zum Dache über 300 englische und französische Schwerverwundete, welche man Hals über Kopf im Stich gelassen hatte. Grauenhaft zusammengepfercht in einer von Eiter und Fieberschweiß stickenden Luft lagen sie von einem jungen Unterarzt, einem ratlosen blassen Menschen, und zwei erschöpften Wärtern notdürftig bedient; aber kaum war diese Hölle Menschenelend in unsern Händen, als der Oberst rücksichtslos anordnete, sämtliche Feinde ins Freie zu tragen, weil die Baracke, die vom Walde her nicht beschossen wurde, für den Stab oder für unsere eigenen Verwundeten nötig war. Kaum hatten die Aufräumearbeiten der wimmernden, unverständliche Laute lallenden Halbtoten begonnen, als eine ungeheure Granate das Dach des gräßlichen Hauses glatt hinwegrasierte und ein Staubmeer von Balken und Splittern über Freund und Feind schüttete: jeder suchte sich aus dem Trümmerhaufen zu retten, und in dem neuentstandenen Chaos im Chaos verklang jedes Kommando. Jetzt wartete alles auf die Jäger. Nachdem Botschaft auf Botschaft zu ihnen geschickt war, laufen ich und Levi als freiwillige Ordonnanzen, um den Oberst der Goslarer zum Sturm auf den Wald, genannt forêt d' août, anzutreiben. Die Antwort: »Eine Stunde noch Ausdauer, dann sind die Goslarer nahe genug, um in Aktion zu treten.« Wir weinen beinah. Die Jägeroffiziere fluchen, man habe nicht Lust, die schwermitgenommene Truppe für uns zu exponieren; der Sturm sei zu früh erfolgt, man möge sich in die alte Stellung zurückziehen, am Morgen nochmals stürmen; und so lauter vernünftige Ratschläge, nur dem Befehl des Generals zuwider. Man befahl uns nun, in eine Scheune zu treten, wo wir 39 Infanteristen beisammen finden, des Aufbruchs harrend. Aber die Jäger, bleichwangig, übernächtig, schlafen oder liegen herum, mitten in der Feldschlacht, während der Brand von Grootschoote herüberleuchtet und unsere Kameraden auf Hilfe warten. Endlich kommt der Bescheid von der Artillerie. Jeder ist ruhlos. Levi hat sich in der Nähe quer über einen Ameisenhügel geworfen, Gesicht nach unten, er will nichts sehen und nichts hören. Plötzlich klingt das Signal: Los zum Sturm! Eine Ordonnanz des Obersten kommt in unsere Scheune, schreit gellend: »Alle Jäger zum Sturm!« und ist wieder draußen. Hörner setzen ein; überall hinter Zaun und Wand kommen die Leute hervor und schnell geordnet drängt der ganze Zug vorwärts gegen das brennende Dorf. Die wenigen Infanteristen wollen sich anschließen: Bokelberg hat die Führung, als Levi aufspringend, wütend, stoßweise ruft: »Sind wir denn Jäger?« Die Frage wirkt. Jeder ist sich klar, daß es ein Sophisma ist, denn der Oberst hat uns das Kommando: »Alle Jäger zum Sturm« geschickt, damit wir wissen, wir haben uns anzuschließen. Aber da der Wortlaut des Befehls eben nur die Jäger nannte, so konnte keiner uns einen Vorwurf machen, wenn wir ihn auslegten, als seien die 39 Infanteristen ausgeschlossen. Bis auf den ehrgeizigen Bokelberg und zwei Kameraden erklärten alle: »Wir bleiben liegen, wo wir liegen«, und dieser Entschluß rettete uns das Leben, denn jene Unternehmung mißlang.

Jetzt will ich noch kurz sagen, wie Levi zwei Tage vor seinem Tode zum Eisernen Kreuz vorgeschlagen wurde. Man hatte nämlich allen Überlebenden aus diesem Sturm eine Auszeichnung zugedacht, denn der Oberstkommandierende hatte kein ganz reines Gewissen bezüglich jenes voreiligen Befehls, der vielen tapferen Männern ohne Notwendigkeit das Leben kostete. Man suchte förmlich nach Verdienst, um den einzelnen Kämpfern »Trösterchens« geben zu können. Levi aber war von so extremer Nüchternheit, daß er auch dem wohlwollendsten Vorgesetzten schwer machte, eine Handlung zu entdecken, die, wie wir uns damals ausdrückten, »nach Heldentum roch«. Da geschah folgendes: Wir lagen vor Weihnacht in Gräben auf der Wacht, als in unserer Verpflegung Schwierigkeit eintrat. Wir waren auf Fleischnahrung angewiesen, aber den verarmten Dörfern fehlte Viehfutter. Gräßliches Grauen, wenn Hunde und Katzen, Geflügel, Schafe, die Rinder in zerstörten Dörfern heimatlos, langsam verhungernd, zwischen Trümmern irren, zuletzt sich wechselweise zerfleischend und an Wegrändern verrecken. In unsern Dörfern waren zahllose Schweine, aber nicht genug Rinder. Dann ganze Herden waren zusammengetrieben und im Vorrücken vor uns hergejagt zum Schutz gegen die Minen. Ein plötzlicher gräßlicher Aufschrei, eine furchtbare Detonation, und wir konnten über die Trümmer einer vielhundertköpfigen Herde ungefährdet den Marsch nehmen ... Aber die Schweine verwildern in den Dörfern und wagen sich an Lebende und Tote. Nun tagte eine Kommission, der auch unser Oberst v. Krosigk angehörte, um die Frage zu lösen, wie man ohne Korn, Küchenabfälle, Treber und Kleie die Schweine nutzbar mache. Plötzlich steht Levi mit der ihm eigenen ruhigen Unverschämtheit bei den Offizieren. »Sieh da«, sagt unser Oberst, »Levi, wie geht's?« Und die Antwort lautet: »Wie soll's gehen, man lebt noch.« »Ja, ja, ich erinnere mich«, sagt der Alte, verlegen vor den beiden Stabsärzten, »eine Nacht im Oktober«. »Nu, ich erinnere mich auch«, sagt Levi. Was will er nur? denkt der Oberst, ungnädig werdend, als Levi herausplatzt: »Leichenfütterung«. Die Herren sehen einander an, denn der Mann sagt da etwas, was jeder schon gedacht hatte; aber ausgesprochen hätte das keiner ohne Empörung. Mißtrauisch, den Schnurrbart kauend, den Blick starr auf Levi gerichtet, fragt der Oberst kurz: »Was meinen Sie?«, worauf dieser, tastend, wie weit er sich vorwagen solle, erwidert: »Feindesleichen«. Der Oberst spuckt verächtlich aus. Der jüngere Stabsarzt sagt: »Christenehre, Soldatengrab«, darauf überreicht ihm Levi ein Blatt Papier und man liest: »Der unterzeichnete Infanterist bestimmt, daß, wenn er fällt, sein Körper zum Nutzen des Vaterlandes zum Schweinefüttern ...« und so weiter, mit Name und Datum. Der Oberstabsarzt klopft ihm die Schulter und sagt: »Brav, Sie sind ein gut vaterländischer Mann.« »Wieso vaterländisch?« entgegnet Levi erstaunt, »wenn ich doch mal tot bin.« Am selben Tage sammelte er Unterschriften, und es waren fast dreihundert Leute, welche sagten, daß, wenn sie fielen oder stürben, es ihnen ganz gleichgültig sei, wie man mit den Körpern verfahre. Aber diese letztwilligen Verfügungen wurden nicht angenommen, und da die beiden Geistlichen mit Recht empört waren, so gab es einen Kampf der Geister, und Levi erntete Verachtung; immerhin sagte unser Oberst, die Tat Levis, der als rechtgläubiger Jude sich zur Schweinefütterung bestimmte, sei ein Beweis von Vaterlandsliebe und des Eisernen Kreuzes wert. Aber inzwischen war Levi gestorben. Die näheren Umstände waren diese: Wir waren den Tag durch Maschinengewehre und Minenwerfer belästigt, ober ohne Erfolg. Am Abend wurden wir für mehrere Tage abgelöst und bezogen Quartier in einem Elektrizitätswerk, das ganz weihnachtlich und heimatlich hergerichtet war. Doch nein: jetzt fällt mir ein, es war eine Papierfabrik, aber wir hatten in den Zimmern elektrisches Licht und sogar Läutewerk angelegt. Wir waren in sehr guter Stimmung. Die Gräben der Engländer waren nicht weit, und wir glaubten vom Fenster der hochgelegenen Fabrik die Schanzen zu erkennen. Die Nacht war kalt und klar. Viele Sterne am Himmel. Über Weihnachten sollte Waffenstillstand sein. Wir wickelten uns in Pelze. Manche hatten einen Schlafraum allein; ich teilte den meinen mit Levi. Plötzlich, ich lag schon im Halbschlaf, tönt aus der Ferne ein einzelner Schrei, ganz gräßlich. Das Zimmer ist mondhell, und ich sehe Levi lauschend im Bett aufsitzen. Was ist denn? Irgendein sterbendes Pferd; es schreit und schreit. Die Klage kommt herüber von den Schanzen der Engländer her. Plötzlich seh ich Levis Körper von einem Weinkrampf geschüttelt, und ich kehre mich zur Wand und sage nichts. Wir kennen alle diese Stunden, da wissen wir: Jetzt denkt er an sein Mädchen oder an die kleinen Geschwister zu Haus. Wir helfen einander, indem wir das nicht bemerken. Was auch ließe sich sagen; wir fühlen alle das gleiche: Grauenhaft und unvermeidlich. Aber Levi brüllt los: »Vieh, Lumpe, Schufte!« »Mensch, Mensch, was ist in dich gefahren?« »Tiere, Bestien«, brüllt er weiter. »Wer denn? Die Engländer?« »Die Menschen, Ihr!«, und da ich beleidigt zurückgebe: »Habe ich etwa den Krieg gemacht?«, sagt er etwas beruhigter: »Du bist auch aus Hannover, eine schöne Stadt und alt.« Währenddes steht er auf und beginnt sich gemächlich anzukleiden. »Wohin denn?« frage ich; aber er fährt nur fort in seinem Gedankengang. »Flötjepipen«, sagt er. »Euer verfluchter Heldentod. Ist ja doch alles Schwindel.« Ich denke: der ist krank geworden, aber kann mich unter den Fellen nicht rühren. Er nimmt seinen Revolver und sagt dabei noch einmal: »Ich pfeife auf Heldentod.« Und draußen ist er. Ich war so taumelig vor Müdigkeit, daß ich nur dachte: Immer nur unnützes Gerede; lassen wir ihn. Ich lausche in die Nacht. Nichts regt sich. Leise kommt der Schlaf. Gegen Mitternacht fahre ich empor, denn hinter dem Walde knattern Schüsse. Erst ein einzelner, dann eine ganze Reihe, auf der Seite der Engländer, alsbald von hüben bei den Unsern beantwortet. Ich schlafe weiter, hin- und hergeworfen von gräßlichen Träumen wie alle Nacht draußen. Am Morgen erst fällt mir die Sache mit Levi wieder ein. Er fehlt beim Appell. Keiner weiß Auskunft; einige meinen, er hat die Waffe gegen sich selbst gekehrt. Zwei Tage später erklärte sich sein Verschwinden. Man fand ihn, als das nördliche Ende der englischen Stellungen von uns genommen wurde, neben einem riesigen Pferdekadaver, von mehreren Kugeln durchbohrt. Wenn ich jetzt den Vorgang jener Nacht vergegenwärtige, so höre ich wieder den Schrei des Pferdes und darin die ganze Qual und das Elend der irdischen Kreatur. Diesem Notschrei folgte er rasend über alle, die ihn anhören und schlafen konnten. Das Pferd lag nahe den englischen Gräben, aber es muß ihm trotzdem gelungen sein, im Schutze der Schneenacht sich heranzuschleichen. Er gab dem Pferd den Gnadenschuß und machte dadurch den Feind aufmerksam, und als er zurückwollte, hat man ihn mit ein paar Schüssen hingestreckt. Es ist merkwürdig, daß ein Mensch, der aus lauter Berechnung zusammengesetzt war, einen so sinnlosen Tod gestorben ist.


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