Jakob Michael Reinhold Lenz
Der Landprediger
Jakob Michael Reinhold Lenz

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Zweiter Teil

Als Albertine ihren Vater und ihre Geschwister, die sie begleitet hatten, aus dem Gesicht zu verlieren und von lauter fremden und unbekannten Gegenständen sich umgeben zu fühlen anfing, verdoppelte sich die Angst ihres Herzens, und folglich auch die Tränengüsse, in welchen diese sich von ihrer frühsten Jugend an Luft zu machen pflegte. Da es ihr nun itzt besonders wegen des Abschieds von den Ihrigen an keinem Vorwand fehlte, beschloß sie, der unbeantworteten bekümmerten Fragen ihres Mannes ungeachtet, sie wolle sich einmal recht satt weinen.

Sie kamen nach einer starken Tagereise vor den Toren ihres Dorfes an. An dem Heck stand der Schulz des Dorfs mit entblößtem Haupte, nebst einigen der Angesehensten aus der Gemeine: »wir haben schon seit Sonnenuntergang auf Sie gewartet, Herr Pfarrer«, sagten sie. »Tausend Glück und Segen zu Ihrer Veränderung!« Mannheim schüttelte jedem von ihnen die Hand, ohne daß er zu antworten imstande war. Sie sahen ihm die innere Bewegung seines Herzens auf dem Gesichte wohl an, und begleiteten ihn mit entblößtem Häuptern bis vor die Tür seiner Pfarrwohnung. Dieser Anblick war ein wehendes Abendlüftchen für das ermattete Herz unserer Albertine. Sie hoben sie beim Heraussteigen aus dem Wagen; ihre Freundlichkeit schlug in dem Augenblick, als die rauhen Kerle sie sahen, einen monarchischen Thron in ihrer aller Herzen auf; sie nötigte sie herein, sagte ihrer alten Haushälterin, die sie vor sich fand, sie möchte ihnen allen ein Abendessen machen. Das wäre alles schon bestellt, versetzte jene. Nur drei aus der Gesellschaft nahmen die Einladung der jungen Frau Pastorin an, und baten sie, zu ihrem nicht geringen Erstaunen, mit ihnen vorlieb zu nehmen. Die Gemeine hätte sich die Freiheit genommen, ihren lieben Herrn Pfarrer Mannheim bei einer so außerordentlichen Gelegenheit zu bewirten. »Hier ist mein Assoziierter«, rief Mannheim, der eben mit dem vierten Gast, den er mit Gewalt beim Fortgehen noch von dem Hoftor zurückgeschleppt, in die Stube trat, »diesem wackern Mann, liebe Frau, haben wir alle Ordnung zu danken, die du in unsern Zimmern finden wirst.« In der Tat hatte er während der Abwesenheit des Pfarrers noch verschiedene Zimmer überweißen und die Decke des Hauptsaals, den der Pfarrer, so wie den ganzen neuen Flügel der Pfarrwohnung, auf seine Kosten angelegt, von neuem gipsen lassen, und ihm überdem ein Dutzend sauberer neuer Stühle hineingestellt. Der gute Mann wußte nicht, daß sich Mannheim aus der Stadt Tapeten mitgebracht. Einige andere Möblen, die Albertine in die Haushaltung mitbekam, trugen nicht wenig zur Verschönerung des Ganzen bei, und das väterliche Silberzeug und Teeservice ließen sie in den ersten Tagen ihrer neuen Einrichtung noch immer in dem freundlichen Wahn, sie sei in dem Hause ihres Vaters.

Die Abendmahlzeit war eine der feierlichsten, die jemals in dem Dorf gehalten worden. Kaum hatten sie eine Viertelstunde am Tisch gesessen, so kam eine große Prozession von Knaben und Mädchen, alle mit Wachslichtern in den Händen, in den Hof eingezogen, stellte sich unters Fenster und brachte der jungen Frau Pastorin eine förmliche Serenade mit den Musikanten, die im Dorf waren, wozu einige der besten Stimmen von ihnen von dem Schulmeister dazu verfertigte Stanzen sangen. Es ward Wein hinausgeschickt; der Schulmeister kam herein und brachte im Namen der ganzen Gesellschaft die Gesundheit des Herrn Pfarrers und der Frau Pastorin aus, wozu die draußen Stehenden mit einem herzlichen Hoch! einstimmten. So beschloß dieser erste Abend und wiegte unser junges Paar auf den Flügeln der Liebe ihrer Gemeine zu einer erquickenden Ruhe ein, die sie wegen der Reise und den mancherlei Abwechselungen so nötig hatten.

Der zweite Tag schien sich ein wenig zu bewölken. Itzt mußten Besuche abgestattet werden, und zwar zuerst bei dem Herrn des Dorfes. Mannheim ließ sich bei ihm zum Nachmittage melden; er schickte zurück und lud sie zum Mittagsessen ein. Nun hatte die Höflichkeit des gnädigen Herrn, der ohnedem eine Zeitlang in französischen Diensten gestanden war, noch eine besondere Springfeder, die war, daß Mannheim mit ihm im Handel wegen einer seiner Zehenden stund, mit deren Einfoderung er, weil er die Kniffe der Bauren nicht kannte, viele Mühe hatte. Die Dame aber und das Fräulein und sein Bruder, welche bei ihm wohnte, nebst einem weiblosen Vetter, die alle nicht aus Deutschland gekommen waren, hatten noch alle das Rauhe, Herbe und Ungenießbare des Adelstolzes, der eben dadurch, weil er seinen Rang andern fühlen läßt, alle Hochachtung, die sein Rang Vernünftigen einflößen würde, zu Boden schlägt, und den gerechten Stolz aller edlen Menschen wider sich empört, die ihm in jedem Augenblick die große Wahrheit zurückzufühlen geben: Kein Mensch kann dafür, wie er geboren ist.

Diese Art Leute beraubt sich aller wahren Schätze und Vorzüge des Lebens. Ihre Verachtung wird von denen mit ihren grenzenden Ständen mit Verachtung erwidert, und, weil sie vor ihren Obern nach ihrem angenommenen Grundsatz wieder kriechen müssen, so sind sie eigentlich die Allerverachtesten unter allen Menschenkindern. Rechnet man dazu die Leerheit in der Seele, die dieses ewige Aufblähen ihrer selbst verursacht, so wird man ihren Zustand, anstatt ihn zu beneiden, in der Tat eher zu bedauren versucht werden.

Auf der andern Seite gibt es einen Stolz der niedern Stände, der ebenso unerträglich ist. Das heißt, wenn sie einen gewissen Trotz, der zu nichts führt, als alle Verhältnisse, die unter Menschen eingerichtet sind, einzureißen, für die notwendigste Eigenschaft eines braven Menschen halten, der sich, wie sie sagen, nicht unterdrücken läßt. Sie bedenken nicht, daß eben dieser Stoß in die Rechte der andern einen Gegenstoß veranlaßt, der gerade das macht, was sie Unterdrückung nennen, und am Ende die traurige Spalte zwischen den beiden Ständen, ich meine dem Adel und dem edlen Bürger zurückläßt, die einander doch so unentbehrlich sind.

Wenn jeder Teil dem andern voraus hinlegte, was ihm gehört, würde jeder Teil auch seinerseits sich zu bescheiden wissen, nicht mehr zu fodern, und lieber aus Großmut etwas von seinen Rechten fahrenzulassen, die ihm der andere aus eben dieser Großmut mit Zinsen wieder bezahlte.

Der gnädige Herr empfing unsern Pfarrer nebst seiner Frau im Speisesaal; die gnädige Frau nebst dem Fräulein ließen sich nicht eher als nach ein Uhr sehen, da sie sich denn, nach einem kurzen Kompliment von weitem, an ihre Plätze setzten, und überhaupt taten, als ob sie der Besuch nicht anginge. Der gnädige Herr, der ein munterer Mann war, setzte die Frau Pfarrerin zu sich; Pfarrer Mannheim ging und nahm ungebeten seinen Platz zwischen der gnädigen Frau und dem Fräulein, deren Antlitz sich mit Blut übergoß, weil eben dieser Platz dem Vetter vom Hause bestimmt war. Sie geruhten wenig über Tisch zu sprechen, aßen desto mehr, richteten das Gespräch aber immer an den Herrn Onkel und Herrn Vetter, die wenig zu antworten wußten. Pfarrer Mannheim mischte sich in alles mit seiner Beredsamkeit und Weltkenntnis, und hatte bei jedem dritten Wort eine Gans auf der Zunge. Das Wort Gans schlug so oft an die Ohren der gnädigen Frau, daß sie in ihrem Innersten eine dunkle beklemmende Ahndung zu spüren anfing, daß diese öftere Wiederholung ein und desselben Worts kein bloßes Werk des Zufalls sein dürfte, und, wie denn kein Unglück und keine Furcht allein geht, gesellte sich auch zu dieser ihrer Furcht eine noch viel alpmäßig drückendere, es möchten andere in der Gesellschaft eben dieselbe tolle Ahndung haben können; kurz, sie ward so geschmeidig und freundlich gegen ihren Beisitzer, den Pfarrer Mannheim, daß es einem Zuschauer, der von ungefähr dazugekommen wäre, das Werk eines halben Wunders geschienen haben müßte. Sobald sie einlenkte, ward Pfarrer Mannheim auch artiger, und gab ihr auf eine feine Art zu verstehen, daß man einem vernünftigen Mann es durchaus von selbst zutrauen müßte, daß er gegen das, was Wohlstand und Verhältnisse erfoderten, nicht verstoßen werde, daß man ihn aber eben dadurch, daß man dächte, er könne dies und jenes bei andern Gelegenheiten mißbrauchen, in die Notwendigkeit setzte, falls er nicht ein Pinsel wäre, sich bei allen möglichen Gelegenheiten mehr herauszunehmen, als er sollte. »Und überhaupt«, sagte er, »gibt das einen peinlichen Umgang, wenn man in Gesellschaften nichts weiter zu tun hat, als auf seiner Hut zu sein, dem andern nicht zu viel einzuräumen.«

»Ja, wenn der andere ein vernünftiger Mann ist«, sagte der Onkel mit einem sehr gnädigen Blick.

»Von dem rede ich nur«, sagte der Pfarrer. »Sie trinken heute nachmittag den Kaffee im Garten mit uns«, sagte die gnädige Frau. »Haben Sie den Almanach der Grazien gelesen?« fragte das Fräulein.

Diese Fragen kamen so unmittelbar aufeinander, daß er sie nicht anders als mit einem ehrerbietigen Bückling und einem feinen Lächeln am Munde beantworten konnte. Er sagte, er wollte den Nachmittag die Gnade haben, der gnädigen Frau und dem gnädigen Fräulein einige Zeichnungen von seinen Reisen in der Schweiz zu weisen, worunter besonders die Gegenden des Pays de Vaux wären, die Rousseau in seiner Heloise so meisterhaft geschildert.

»O Sie sind ein allerliebster Mann«, sagte das Fräulein.

Die Tafel ward aufgehoben. Nun war der Damm eingerissen, der bisher die Konversation gehemmet; alles floß in Geselligkeit und Scherz und – Vertraulichkeit zusammen.

Eine harte Prüfung stand ihnen noch bevor. Als sie alle zusammen in Eintracht in der großen Sommerlaube im Garten um den Kaffeetisch saßen, und die schmeichelnden Frühlingslüfte den Erzählungen Mannheims von der französischen Schweiz einen geheimen Zauber gaben, der ihn mit Einstimmung aller zum Haupthelden auf der Szene machte – führte das Glück oder Unglück, ganz wie aus den Wolken gefallen, einen nicht eben allzureichen Edelmann aus der Hauptstadt nebst seiner Frau Gemahlin herbei, der eigentlich dort nur die sehr mäßigen Zinsen seines Kapitals verzehrte, auf dem Lande aber überall sich das Ansehn gab, als ob er einen außerordentlichen Einfluß am Hofe und besonders auf den Landesherrn habe, der ihn weiter nicht als Figuranten in der Antichambre zu kennen das Glück hatte. Diese Erscheinung war wie ein Hagelwetter nach einem Sonnenschein; alle Gesichter fielen in ihre angeborne Karikatur zurück, und Öde und Leere, wie ehmals im Chaos, herrschte nun in der Gesellschaft. Pfarrer Mannheim hielt es nicht für nötig, mit seinem Weiblein davonzuschleichen, so sehr ihm die Augen aller Anwesenden es zu raten schienen; er faßte gleich beim Eintritt des Fremden seinen Stuhl an, damit ihm dieser nicht etwan im Hurly Burly genommen werden könnte, war aber übrigens ungemein ehrerbietig und zurückgezogen bei den ersten Komplimenten. Kaum hatte der Fremde und der Hausherr sich gesetzt, so nahm er und seine Frau ihren alten Platz ein, so daß wahrhaftig für das gnädige Fräulein und den Herrn Vetter kein Stuhl mehr übrigblieb, und sie genötigt waren, den Bedienten unverzüglich nach einem zu schicken. »Das ist der berühmte wunderbare Herr Pfarrer Mannheim«, sagte der Hausherr, um diese Reibung der Gesellschaft zu maskieren, »der aus seinen Bauren Edelleute und aus seiner Kirche eine Akademie der ökonomischen Wissenschaften machen will.«

Diese hohe Ankündigung sollte auf einer Seite dem neuen Gast alle Befremdung, einen Prediger in dieser Gesellschaft zu finden, ersparen, auf der andern dem Pfarrer Mannheim auf eine sehr subtile Art eine Erinnerung geben.

Der Höfling, dessen Augen ohnehin immer zusammengezogen waren, tat, als ob er den Pfarrer Mannheim nicht sähe.

»Es ist mir wenigstens schmeichelhaft, gnädiger Herr«, sagte der Pfarrer Mannheim, »daß unser Landesfürst mich durch ein eignes gnädiges Handschreiben seines Beifalls versichert hat.«

Es war, als ob er eine Rakete unter die Leute geworfen; alle Augen waren auf ihn gerichtet.

Unterdessen kamen die Stühle für das Fräulein und den Herrn Vetter an.

»Und ich hoffe, daß nächstens«, fuhr er fort, »auf meinen untertänigsten Vorschlag, in Ansehung der Austeilung der neuen Kopfsteuer, wie mir Se. Exzellenz der Präsident von der Kammer versichert haben, eine eigene Kommission von seiten der Kammer und eine andere von seiten unsers Oberamts niedergesetzt werden soll, um die eingeschlichenen Mißbräuche zu heben, die den Landmann so sehr beeinträchtigen, als die landesfürstliche Kasse.«

»Das wäre in der Tat sehr nötig«, sagte der Herr vom Hause.

Der Höfling maß ihn mit seinen Augen, welches der Pfarrer Mannheim erwiderte.

Auf ihrer Seite tat Albertine alles Mögliche, um das Fräulein zu besänftigen, die, wegen des Vorfalls mit den Stühlen und wegen ihrer Entfernung von der neuangekommenen Hofdame, sich noch gar nicht erholen konnte. Sie sprach mit ihr von einigen neuen Kopfzeugen, die sie aus ihrer Vaterstadt mitgebracht, und von denen sie ihr das Muster schicken wollte. Das Fräulein nickte mit dem Kopf und lächelte, daß man geglaubt hätte, sie weinte. »Das, was die gnädige Frau aufhaben«, fuhr Albertine sehr laut fort, »ist eben keins von den neuesten.« Die Hofdame schlug die Augen fest vor sich nieder. »Indessen«, sagte Albertine weiter, um sie zu trösten, »ist es nach meinem Auge von unendlich mehrerem Geschmack, als die neueste Art mit den fatalen Fledermäusen und dem Gesimse auf dem Kopf.« Der Höfling wandte sein Auge bei diesen Worten, die mit einiger Laune ausgesprochen wurden, mitten in dem tiefsinnigsten Gespräch mit dem Herrn vom Hause, auf die Frau Pastorin.

Der Pfarrer Mannheim, der schon wieder als Insel dasaß, und wohl merkte, daß das tiefsinnige Gespräch der beiden Herren sich auf nichts herumdrehte, als daß beide etwas leise gegeneinander die Lippen rührten, ohne daß einer von den Worten des andern das geringste verstund – fuhr mit einer neuen Rakete zwischen ihnen drein.

»Ich muß mich sehr wundern«, sagte er und richtete sich gerade an den Herrn vom Hofe, der ihm schon durch das allgemeine Gerücht bekannt war, »daß die meisten Herren von Adel ihre Kapitalien hiesigen Kaufleuten anvertrauen, wo sie doch so unsicher stehen, und sich nicht nach Holland wenden, das wir so nahe haben, und wo ich durch sichere Briefe weiß, daß die Konkurrenz bei gegenwärtigem Kriege viel größer ist.«

»Wie meinten Sie das«, fragte der Herr vom Hofe, und rückte seinen Stuhl näher –

Pfarrer Mannheim tat, als ob er diese Frage nicht hörte, sondern stand in dem nämlichen Moment vor der gnädigen Frau, von der er sich mit einem sehr tiefen Bückling beurlaubte, alsdann seine Frau an die Hand nahm und sie denen Herren zum Abschied präsentierte, die außerordentlich höflich waren. Der Herr Vetter, der den Augenblick in den besten Humor von der Welt kam, bat sich die Erlaubnis aus, sie nach Hause zu begleiten; Pfarrer Mannheim verbat sich's, weil vermutlich sein Kutscher auf ihn wartete; der junge Herr hob sie also in den Wagen, und so endigte sich dieser Besuch.

»Wir wollen ihn einmal besuchen«, sagte der Herr vom Hause, als er fort war. »Der Mann gefällt mir besser als die Frau«, sagte die Hofdame. »Mir auch«, widerhallte das Fräulein. Der Vetter, der zurückgekommen war, lächelte, wie einer, der vergnügt ist, ohne zu wissen warum. Alles ging wieder in betäubende Stille über.


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