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VI

Die Fenster und Türen der Wirtsstube waren weit aufgerissen. Im Haus ging alles durcheinander.

Der Schwieger kam aus dem Keller mit Weinflaschen unter den Armen.

»Man sucht dich schon«, rief er Sara zu.

Die Schwieger lief Sara aufgeregt entgegen. »Wo steckst du denn? Komm schnell. Binde die Schürze um. Mach Feuer. Wir kochen. Heute wird gegessen und getrunken. Der Großbauer war hier. Er hat das ganze Dorf heute abend eingeladen. Er hat schon Gänse herübergeschickt und Fett und alles, was wir brauchen. Alles freut sich. Hörst du, wie es im Dorf summt. Jetzt darf man wieder essen und trinken. Fort sind sie, die roten Halunken. Hast du es schon gehört. Es gibt keine neuen Gesetze mehr ...« Sie lachte leise vor sich hin. Lief mit kleinen Schritten geschäftig in der Küche auf und ab. Der Mund bewegte sich weiter. In ihrer Freude wurde sie gesprächig. Achtete nicht weiter auf Sara.

Diese band sich langsam eine Schürze um, schob sich an den Küchenmöbeln weiter. Die Schmerzen zogen strahlenförmig zum Kopf. Sie hielt die Hände an die Schläfen. Im Rücken rumorte stechendes Prickeln. Die Füße waren schwer. Aber sie mußten sich bewegen. Sie zwang sie, sich weiterzuschieben. Schwer atmend machte sie das Feuer an. Hielt die kalten Hände über die prasselnde Wärme. Draußen auf der Gasse wuchs der Lärm. Schreie drangen herein. Wiehern.

Die Schwieger trieb zur Eile an. Sah nach Sara, die noch immer unbeweglich vor dem Feuer kniete.

Die Augen der Alten sprangen prüfend über das fahle Gesicht, den gekrümmten Leib, die tiefliegenden, beschatteten Augen.

Sara fühlte den Blick, schnellte hoch, glättete die Schürze.

Von draußen strömte immer stärker Johlen und Kreischen, Getrampel, Gebrüll herein.

Durch das Küchenfenster sahen Sara und die Alte einen schwarzen Strom, Frauen, Kinder, Männer durcheinanderwimmelnd, kribbelnd sich vorwärtswälzen.

Tore wurden aufgeschlagen, neue Menschen strömten herbei. Fenster wurden aufgerissen, Köpfe pflanzten sich auf.

Die Dorfgasse war schwarz von Menschen, und immer stießen noch unerwartet Gestalten dazu. Das Stimmgewirr wuchs. Wilder wurde das Durcheinander. Schrillender die Schreie. Aber man konnte noch nichts erkennen, sah nur den taumelnden Haufen. Der lichtete sich auf einen Augenblick, und eine Gestalt wurde sichtbar, gegen die sich alles wendete, die gezerrt und geschleppt wurde, die sich kaum mehr aufrecht halten konnte.

Man erblickte Mattheus, der weitergezerrt wurde. Er wehrte sich. Seine Arme kreisten mit schwindelnder Schnelligkeit, die Füße schlugen aus nach allen Richtungen, aber er wurde nur noch fester gepackt. Die Arme wurden von Händen festgeschraubt, die Füße gestoßen, bis sie sich müde ergaben. Immer lauter wurde das Kreischen.

Man brüllte: »Wohin mit ihm? Was sollen wir mit ihm machen?«

Eine Frauenstimme krächzte: »In den Fluß mit ihm. Schmeißt ihn ins Wasser. Ertränkt ihn wie einen räudigen Hund.«

Und eine andere Stimme: »Hängt ihn doch auf. Gibt's nicht genug Bäume?«

Dann wurde es still. Jeder suchte nach einem guten Gedanken. Alles schnaufte, atmete. Alle suchten wild nach etwas Neuem. Sie zogen Mattheus weiter.

Seine Stimme brach leise, kaum hörbar, aus der Masse: »Laßt mich doch frei. Man hat euch nur verhetzt. Ich habe es gesehen, wie ihr mit den Reitern gesprochen habt. Hab ich denn euch etwas Böses getan? Hasset ihr mich, weil ich euch aufrütteln wollte, weil ich euch zu wecken versucht habe. Man will euch nur in Finsternis, in Unwissenheit stoßen, damit ihr bessere Arbeitstiere seid.« Toben und Schreie antworteten ihm. »Wir wollen dich nicht hören. Wir wollen nichts mit dir zu tun haben. Wir haben nie auf dich hören wollen. Tu nicht so, als ob wir deine Freunde gewesen wären. Auf den Galgen mit dir, ja, man hat es uns gesagt, du verdienst den Tod.«

»Ja, redet nicht soviel. Macht ein Ende mit ihm.«

Aus der Menge wand sich langsam der breite Körper des Großbauern. Er lief einige Schritte allen anderen voran, stand jetzt dem ganzen Schwarm allein gegenüber.

Er begann ganz hoch, mit fistelnder Stimme, wie ein Bettler auf dem Jahrmarkt: »Ihr guten Menschen, tut ihm doch nichts, dem armen Wicht. Was wollt ihr denn von ihm? Hat er euch nicht geliebt wie unser Heiland? Habt ihr es denn schon vergessen? Früher konntet ihr ihm doch gar nicht genug zuhören. Wie er euch all die schönen Versprechungen gemacht hat, da habt ihr doch gejubelt und geklatscht. Habt ihr schon vergessen, was der Gute euch alles versprochen hat? Ihr seid die Herren, euch gehört das Land, euch gehört alles, wohin ihr schaut. Die gebratenen Tauben werden euch in den Mund fliegen. Wie ihr glücklich sein werdet. Hat er es euch nicht versprochen? Habt ihr denn alles vergessen? Auf den Galgen mit den Reichen, habt ihr geschrien. Da war ich der Schlechte, da hättet ihr mich am liebsten erschlagen. Hat er euch nicht geführt gegen die Reichen und Mächtigen? Er, das lammfromme Menschlein, das sanfte Täubchen. Warum schreit ihr jetzt. Wurdet ihr nicht glücklich? Paßt euch das Paradies nicht? Hat er euch vielleicht zuviel versprochen?« Seine Stimme tanzte immer höher, erstickt vor Lachen. »Warum hat euch das Glück nicht geschmeckt, das er euch gegeben hat? Warum haßt ihr ihn denn? Seht, er hätte mich gern euretwegen auf den Galgen gebracht, der liebevolle Engel. Gern hätte er mich geopfert, für euch geopfert, den eigenen Bruder. Er hätte mich mit Freuden ausgeraubt, mich zum Bettler gemacht, um euch meinen Reichtum zu geben. Das wißt ihr. Und ihr seid ihm nicht dankbar. Aber ich bin anders als er. Ich nehme ihm nichts übel. Ich weiß, warum er alles getan hat. Seht ihr, in mir ist keine Rachgier. Ich will es nicht. Wer von uns beiden ist der Bessere, frag ich euch. Wer?«

Der Großbauer ließ seine Stimme anschwellen, daß man ihn auch in den hintersten Reihen verstehen konnte. Die Leute wurden unruhig, sie begriffen nicht, was der Großbauer eigentlich wollte.

Wieder erscholl das Lachen des Großbauern. »Seht ihr, ich will nicht, daß ihm etwas geschieht. Ich bin nicht wie dieser Heilige, dem keine Brüderschaft galt. Er hat euch betrogen, das ist wahr. Er hat euch leere Versprechungen gemacht. Er dachte, er könnte euch dumm machen. Doch ihr ließt euch nicht lange an der Nase herumführen. Ihr habt ihn schnell durchschaut, seine leere Wortdrescherei erkannt. Ihr wußtet, daß er nur aus Neid gegen die Reichen, gegen mich hetzte. Ihr wußtet, daß er euch nur betrügen wollte, euch in noch größeres Elend stürzen. Ihr wußtet auch, wer euch eigentlich wirklich gut ist. Aber ich will keine Rache gegen ihn. Denn ihr habt ihn schon lange erkannt. Ihr sollt ihm nichts antun. Er soll nur sehen, wie ihr glücklich sein könnt, der Neidhammel. Ich mache euch keine Versprechungen, die ich nicht halte. Kommt nur, er soll sehen, wie ihr glücklich sein könnt.«

Der Großbauer blieb einen Augenblick stehen. Die Menge nahm ihn wieder auf.

Langsam bewegten sie sich vorwärts.

Sie kamen jetzt an die Tür des Wirtshauses.

Mattheus in ihrer Mitte wankte bleich, willenlos. Jemand hatte ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt.

Wieder trat der Großbauer aus der Menge hervor. Er stand an der Wirtshausschwelle, schwenkte hoch die Arme und winkte alle herbei. Einige folgten ihm gleich. Dann kamen auch die anderen. Jene, die Mattheus festhielten, zögerten, doch der Großbauer rief auch sie herbei.

Mattheus schien aufzuwachen, wollte sich losreißen. Aber Arme langten nach ihm, zogen ihn hinein in die Gaststube. Alles strömte ihm nach. Das ganze Dorf schien auf den Beinen. Auch aus den Nachbardörfern kam Zuzug. Die Einladung des Großbauern hatte sich schnell herumgesprochen. Aus allen Ecken und Enden kamen die Leute, kreischend und lärmend. Schiebend und stoßend drangen sie herein. Die Wirtsstube war plötzlich vollgepfropft, vollgefüllt mit Menschenleibern.

Sara, der Schwieger und die Alte kamen erschrocken herbei, versuchten sich zu dem Großbauern, der allein in der Mitte stand, Platz zu bahnen.

Er rief sie mit hochgerecktem Arm herbei: »Macht Licht, wir wollen feiern. Schafft Essen herbei und genug zu trinken. Leert eure Speisekammer und Boden und Keller, bringt alles, was ihr habt, herbei.« Er warf die Hand an die Brust. »Habt keine Sorge, ich bewirte alle. Heute sollen alle glücklich sein. Alle sollen sich heute freuen. Jeder soll essen und trinken, soviel er will und kann.«

Die Stimme des Großbauern kletterte ganz tief, der Finger zeigte auf das blasse Gesicht Mattheus', das jetzt unter der wogenden Menge sichtbar wurde. »Alle sollen fressen und saufen, soviel sie wollen. Nur, der da nicht.« Wieder zeigte er auf den Kopf Mattheus'. »Der soll nur zusehen.«

Er klatschte in die Hände, trieb Jakob zur Eile. »Macht, macht, was steht ihr immer noch da. Und Licht, Licht. Heute soll es hell und glänzend sein. Und Wein herbei. Macht schnell. Nehmt die Beine in die Hand.«

Dann rief er dem davoneilenden Jakob noch nach: »Und schafft Zigeuner herbei. Es soll lustig werden, heute.«

Er setzte sich auf einen Tisch, schrie immer: »Seid lustig, freut euch. Der Neidhammel soll sehen, daß ihr glücklich sein könnt, nicht versauern wollt.«

Nathan kam gebückt, brachte Kerzen herbei, stellte sie in hohe Behälter, zündete alle an, schraubte die Petroleumlampe höher, schleppte Wein herbei. Die Gläser klangen und klirrten.

In der Küche schürte die Alte das Feuer. Erschien immer wieder vollbepackt aus der Speisekammer. Töpfe und Pfannen bedeckten den Tisch.

Im Hof hörte man Gackern, verzweifeltes Kreischen, Piepsen und Entengeschrei.

Zucker und Nüsse wurden tosend gestoßen.

Sara zupfte zwischen den Knien junge Gänse und fette Hühner, drückte die Ellbogen an den Bauch, der von Schmerzen durchrüttelt war. Nur ganz leise flüsterte sie vor sich hin: »Ich kann nicht weiter. Ich will sterben.«

Die Alte trippelte aufgeregt, die Hände rückten und schüttelten, kneteten und rührten. Auf dem Tisch breitete sich Teig aus, schwoll in Kübeln neben dem Herd. Sie ging in der Küche umher wie eine alte Zauberin, murmelte vor sich hin. Die kleinen, kurzsichtigen Augen näherten sich den Töpfen, die Nase schnüffelte, die Zunge kostete.

Eier kehrten ihr gelbes Innere heraus. Aus den Tomaten quoll roter Saft. Mehl schimmerte weiß. Honig tröpfelte golden. Düfte stiegen empor. Satte, schwere, prickelnde, aufreizende.

Die Küche brodelte und summte, prasselte und zischte.

Der Schwieger kam aufgeregt herein, trieb mit fuchtelnden Armen und überschnappender Stimme zur Eile.

Schon wurden die Schüsseln gerichtet, fettig glänzende, braun-knusprige Gänse schichteten sich strotzend auf.

Die nackten Arme Saras, die Ärmel hatte sie hochgeschoben, trugen schwer die Schüsseln. Die Muskeln spannten sich. Die Lippen waren bleich, das Gesicht ohne Farbe. Sie horchte in sich hinein. Der Schmerz zerriß immer stärker den Leib.

Dann folgten andere Schüsseln. In einem Kübel breiteten sich frische, säuerlich grüngelbe Blätter aus.

Die Bauern jauchzten laut auf, als sie die Schüsseln erblickten. Einige schlugen sich klatschend die Schenkel. Andere stießen Pfiffe aus, schnalzten mit der Zunge. Manche stellten sich auf Stühle, um besser sehen zu können. Viele drangen schnell vor, langten mit weit ausgestreckten Armen in die Schüsseln. Alles tobte, rannte durcheinander.

Mattheus sah sich auf einmal ganz allein an einem Tisch. Seine Augen wurden wach, machten verstohlen die Runde, dann tastete und schob er sich zur Tür.

Der Großbauer tat, als sähe er nichts, er blickte unbeteiligt in die Luft. Unbeteiligt schien er ihm die Freiheit zu schenken. Doch kaum war Mattheus an der Tür angelangt, rüttelte er mit einem Schrei die Bauern auf, die in der Nähe saßen: »Laßt ihn nicht entwischen. Wie paßt ihr auf.«

Sofort griffen viele Arme nach Mattheus.

»Hoho«-Rufe lärmten.

»Haltet ihn, haltet ihn.« – »Packt ihn, den Durchgänger!« – »Du möchtest fortlaufen? Warte du mal, warte!« – »Wir werden dich schon lehren!« Man ergriff ihn am Arm, zerrte ihn wieder in die Stube.

Aus allen Ecken tönten Zurufe: »Fesselt ihn doch. Da hat man keine Sorgen mit ihm. Braucht nicht immer auf ihn aufzupassen.« - »Hier an diesen Pfahl bindet ihn fest.« – »Ja, bindet ihn, daß er sich nicht bewegen kann.«

»Hier sind Stricke.« – »Bindet ihn.« - »Nur festhalten.« – »Bleib still, ruhig.«

Vor seinem Gesicht fuchtelten Fäuste.

»Zieht die Hände!« – »Näher den Fuß!« – »Seht nach, ob auch die Stricke gut halten.«

»Tanz nicht so.« – »Bleib ruhig.« Die Hände zogen prüfend über die Stricke. Rüttelten und zogen. Waren endlich zufrieden.

Mattheus stand kerzengerade aufgerichtet, am ganzen Leib mit Stricken verschnürt, an den Pfahl gebunden. Der Kopf wurde hochgestoßen, in eine Vertiefung des Pfahles eingezwängt. Er konnte nur schwer atmen.

Die anderen kümmerten sich nicht mehr um ihn. Schmatzten schon. Die Schüsseln wurden leer. Immer reichlicher floß Wein. Man hörte zufriedenes Summen.

Eine Gänsekeule schaukelte jetzt vor Mattheus' Nase. Flog an einem Bindfaden ihm zu, schlug gegen seine Wange. »Riech doch.« - »Riecht's lecker, Heiliger?« Sie schlug noch einmal gegen seine Backenknochen, wurde dann zurückgerissen.

Wiehern. »Wie sein Mund danach geschnappt hat, habt ihr es gesehen?«

»Er möcht wohl fressen. Hört doch seinen Magen knurren.« – »Er will uns Musik machen, bis die Zigeuner kommen. Hier, riech doch das.«

Wieder flogen Fleischstücke gegen sein Gesicht. Fielen auf die Erde. »Schmeckt's, du Heiliger?« – »Seht, wie sein Speichel rinnt.« – »Wart nur, es kommt noch besser.«

Mattheus versuchte zu sprechen. Die Stricke nahmen ihm jede Kraft. Er konnte nur flüstern: »Warum tut ihr mich hassen? Ihr schämt euch nur vor euch selbst. Ihr tut euch nur selbst hassen, weil ihr feige und schwach wart. Weil ihr für einen fetten Bissen, für ein bißchen Wein eure Zukunft verkauft. Aber sie können es nur mit euch so machen, weil sie euch immer ausgehungert haben.«

Nur der Großbauer, der in seiner Nähe saß, hörte jedes Wort. Er rief den Bauern zu: »Er beschimpft euch, aber kümmert euch nicht um ihn.«

Neue Schüsseln wogten über die Köpfe. Saftige, rosige Hühner. Rote Zungen schwammen, eingebettet in braunem Weinsaft, zwischen Rosinen und Mandeln.

Auch die Zigeuner kamen. »Herein, herein mit euch, hier wird nicht gehungert! Wein bringt ihnen zu trinken. Volle Teller!«

»Bei uns geht es hoch her.«

Finger zeigten gegen Mattheus. »Seht, nur der darf nicht mitmachen. Der ist ein Heiliger. Der verachtet uns. Der soll nur zusehen.«

Man lacht. Das Gesicht Mattheus' will sich wegdrehen, will den lachenden, spöttischen Augen ausweichen, aber er kann den Kopf nicht bewegen. Nur der Mund verzieht sich schmerzhaft. Alles wiehert lauter.

Die Zigeuner stehen in der Ecke. Aus den Geigen strömen jauchzend, wirbelnd Töne. Auf dem Cymbal trommeln die Schläger den Rhythmus. Die Füße scharren unter den Tischen.

Bald kamen, herbeigelockt von der Musik, festlich gekleidete junge Frauen und Mädchen herbei. Die Reichsten aus dem Dorf, die nicht aus fremden Schüsseln essen brauchen. Die weißen Linnenkleider sind gold und rot bestickt. Farbige Perlen klirren um ihren Hals. Sie begannen gleich zu tanzen. Ihre Zöpfe, die Bänder flogen, ihre Röcke wippten über unzähligen Unterröcken. Sie umtanzten Mattheus. Warfen die Beine hoch, drehten sich und sprangen um ihn.

Die Zigeuner spielten schneller und wilder. Auch die Bäuerinnen drehten sich schneller. Aber auch während sie tanzten, ließen sie nicht ab von Mattheus.

Sie kitzelten ihn. Zogen seinen Bart, warfen die Schuhspitzen gegen seine Knie.

Im Takt schrien sie ihm zu: »Du wolltest, wir sollen häßlich sein. Hast gegen unseren Tand gepredigt. Wir sollten in Lumpen gehen, in graues Nesseltuch hättest du uns gern gesteckt. Lumpen sind gut für dich, du Häßlicher. Wir wollen schön sein und uns schmücken. Wir wollen nicht aussehen wie die Armen, wie schmutzige Mägde, wie Häuslerinnen, die nichts haben. Man hat dich schnell weggejagt, dich Sauergesicht. Wir aber wollen lustig sein.«

Die Musik brach ab. Die Bäuerinnen fielen erschöpft auf die Stühle. Die Luft wurde dicker und schwüler.

Saftiger Strudel wurde hereingebracht. Mit Äpfeln gefüllt, mit dunklem Mohn, süßen Nüssen. Alle liefen hin, rauften sich darum.

Die Kinder sprangen jauchzend herum, stopften sich die Münder voll, wie sie nur konnten.

Wein glänzte, rot, gelb.

Er wurde den schwitzenden Zigeunern in den Mund gegossen.

Bald aber erinnerte sich wieder einer an Mattheus, ein großer Mann. Er hatte einen Honigtopf entdeckt und beschmierte die Nase, das ganze Gesicht Mattheus' mit Honig. Er warf vergeblich den Kopf hin und her, um dem Spott zu entgehen, vergeblich versuchte er sich zu befreien, loszureißen. Wo waren seine Freunde? Wagten sie sich nicht vor? Kümmerte sich keiner um ihn? Hatte keiner Mitleid, Erbarmen?

Wieder war er von einer Menge umstanden, sie trampelten mit den Füßen, lachten, klatschten in die Hände.

»Du sollst auch was vom Guten haben. Nicht vergeblich greinen. Aber was für Gesichter er schneidet. Nichts scheint ihm gut genug zu sein.«

Fliegen, gelockt vom süßlichen Geruch, kamen scharenweise, setzten sich auf Mattheus' Gesicht, auf seine Nase, seine Ohren, sogen den klebrigen Honig.

Mattheus versuchte sie zu vertreiben, aber der Kopf saß festgeklemmt. Er schnitt Gesichter, legte die Haut in Falten. Versuchte so die lästigen Nascher wegzuscheuchen.

Die Leute umstanden ihn und schrien vor Vergnügen. »Die Fliegen lieben ihn auch, den Volkskommissar.« – »Möchten ihn am liebsten auffressen.« – »Aber die Liebe kitzelt ihn zu sehr.« – »Schneid doch nicht so saure Gesichter; zu der süßen Haut paßt das nicht.« – »Er gönnt nicht einmal den Fliegen ihr Vergnügen.« Als sie genug gelacht hatten, verließen sie ihn wieder.

Die Kinder bekamen gelben Honigkuchen, mit weißen Mandeln gefüllt. Nur Martin wollte nichts. Er wollte nicht essen. Am liebsten hätte er sich die Ohren verstopft. Die Erwachsenen hatten so viel zu tun, sie hatten ihn ganz vergessen. Er begriff nichts von diesem wilden Taumel. Er wagte niemanden zu fragen, er wußte, es wäre auch ganz vergeblich. Was wollten sie mit Mattheus, der die Fliegen verscheuchen wollte.

Als sich das Kind unbeobachtet sah, kletterte es vorsichtig auf einen Stuhl, der in Mattheus' Nähe stand. Es war jetzt genauso groß wie der an den Pfahl gebundene Mattheus. Ganz nahe sah es den verklebten Bart, die ermatteten Augen. Es wollte mit einem Tuch sein Gesicht abwischen. Es wollte ihn von den Stricken befreien. Aber seine kleinen Hände bastelten ohnmächtig, konnten nichts ausrichten. Von hier oben übersah das Kind erst den Raum, die Gesichter. Es empfand eine schreckliche, namenlose Angst, und an Mattheus' Schultern gelehnt, brach es in ein verzweifeltes, kindliches Weinen aus.

Mattheus tröstete ihn: »Geh, du brauchst nicht weinen. Jetzt ist wieder alles gut. Du hast die Rechnung glattgemacht. Aber geh jetzt, bevor dich die anderen merken.«

Doch man hatte schon das Kind gesehen. Die ganze Zeit hatte der Großbauer es gesehen. Er hatte nie die Augen von Mattheus gelassen. Trübe flackerten Haß und Hohn in ihnen.

Jakob hatte ihm frischen Wein gebracht. Er folgte dem stieren Blick und entdeckte bei Mattheus den Enkel.

Er bahnte sich den Weg mit komischen, flatternden Bewegungen. Wie kam sein Blut zu dem Verfemten. Das Kind kann damit Unglück auf sie alle bringen. Er zerrte es vom Stuhl, legte die Hand über den kleinen Mund, um das Weinen des Kindes zu ersticken.

»Du mußt ins Bett. Schlafen. Kinder müssen schlafen.« Er legte das Kind angezogen ins Bett. »Wo ist deine Mutter?« murmelte er, und als er die Tür hinter dem Kind verschloß: »Die Mutter, die kümmert sich gar nicht um ihr Kind.«

Unten in der Wirtsstube legten die Zigeuner die Gesichter über die Geigen. Die Musik hub an, leise, klagend.

Leichter Wind kam leicht wehend durch die offenen Fenster, durch die weit aufgerissene Tür.

Einige Paare begannen sich zu wiegen.

Immer mehr Leute versuchten im engen Raum zu tanzen.

Sara stand an die Küchentür gelehnt, schwer atmend. Die Bauchhöhle schmerzte, als wäre sie voll offener Wunden. Vor den Augen flimmerte es. Ihr Rücken war vom vielen Heben und Bücken wie entzweigerissen. Die Musik peitschte gegen die Schläfen. Der Lärm brandete schmerzhaft gegen ihre Ohren.

Da stand der lange Andrej, der Blödian, vor ihr und forderte sie zum Tanz auf. Sein Gesicht war dunkel, sein Körper zitterte. Sein Kopf wollte immer Mattheus suchen, aber er zwang ihn fortzuschauen. Er wollte von nichts wissen. Er wollte essen und trinken, und tanzen wollte er, tanzen mit Sara.

Er stand vor ihr in einer Haltung, daß sie ihn nicht abzuweisen wagte.

Gut, sie wollte tanzen, tanzen, bis ihr Körper auseinanderfiel. Quälen, bis zur Bewußtlosigkeit, quälen wollte sie diesen Körper, mochte dann, was immer, geschehen.

Sie legte die Hand auf seine Schulter. Ihre Hüften paßten sich der Musik an. Die Füße schoben sich langsam weiter, sie näherten sich den Zigeunern.

Sie tanzte besinnungslos. Dann lösten sich ihre Hände von Andrejs Schultern. Die Arme warfen sich hinter ihren Kopf. Ganz langsam begann sie sich zu drehen. Der Nacken bog sich tief zurück. Das Gesicht zeigte sich ganz klar, zugewandt dem Licht. Sie bewegte sich jetzt kaum. Die Beine, die Brüste gaben den zitternden Nerven nach, zeichneten die Wellen des Schmerzes. Der ganze Körper, jeder Muskel löste sich bebend auf. Sie tanzte ihren Schmerz, wollüstig.

Die anderen blieben stehen, unbeweglich, mit offenen Mündern sahen sie ihr zu.

Aber sie bemerkte nicht die Blicke, nicht die staunenden Gesichter. Sie drehte sich immer weiter nach den Tönen. Der Bauch wiegte sich leicht. Das Gesicht war wie vor Schmerz erfroren. Da lösten sich die Hände. Sie streckte sie weit aus, wie suchend.

Die Musik spielte leiser, Sara blieb jetzt stehen. Der Körper zitterte, nur von Musik durchtost. Nur die Hände tanzten noch, wanden sich, schrien und wurden plötzlich ohnmächtig, tot, als die Musik aufhörte.

Das Gesicht war weiß, verzerrt, als sie auf einem Stuhl zusammenbrach.

Die Bauern umstanden sie. Einige Bäuerinnen lachten. »Die verfluchte Jüdin hat den Teufel im Leib.« Sie riefen den Bauernburschen zu: »Man muß schon was wagen, wenn man sich hinstellt, mit der da zu tanzen.«

Andrej mußte jetzt doch nach Mattheus sehen. Vorhin hatte er die Augen nicht von Sara abwenden können. Vielleicht war es sogar besser, Mattheus anzublicken als dieses teuflische Weib. Die Bäuerinnen mußten doch recht haben.

Aber der Anblick Mattheus' war schrecklicher, als er erwartet hatte, er mußte schnell wegschauen. Er hörte ihn jetzt lallen: »Laßt mich frei. Löst doch die Stricke ... Mein Hals ist wie in eine Schraube eingespannt. Meine Hände sind schon wie aus Holz. Meine Füße sind aus Blei. Unter der Haut tanzen tausend Nadeln. Die Stricke zerschneiden mein Fleisch.«

Aber der Großbauer ließ seine Stimme alles übertönen: »Spielt, Zigeuner. Ihr seid doch nicht hier, nur um zu fressen und zu trinken. Los, spielt!«

Mattheus aber wollte alles übertönen. Sein ganzer Körper bebte vor Anstrengung. Er wollte dem Großbauern etwas sagen. Sein ganzer Körper arbeitete, um das Wort herauszuschleudern. Da kam es, es stieg langsam herauf, ein heiserer, unmenschlicher Laut. Und als er draußen war, wuchs er, übertönte die Musik, das Lachen, das Klirren, das Stampfen, und er warf es gegen den Großbauern. Wut, Haß, Flehen, alles zitterte in ihm. »Du.« Im ganzen Raum hörte man nichts als dieses »Du«. Er stieß es gegen die Brust des Großbauern. Es rüttelte würgend an seinem Hals. Es zog ihn vom Stuhl, zog ihn langsam mit winzigen Schritten hin zu Mattheus.

Er stand vor ihm.

Jetzt kam nur Atem, zischend, prasselnd, heulend, pfeifend aus dem weitgeöffneten Mund. Und dann mit ganzer Kraft, tierisch aufbrüllend: »Befreiung.«

Aber der Großbauer zog den Kopf zwischen die Schultern: »Von mir erwartest du Hilfe, von mir, dem armen Nichts?« Seine Arme machten eine breite Bewegung, umfaßten das Zimmer. »Aber hier sind sie ja, deine Freunde. Sprich doch zu ihnen. Hier sind sie. Siehst du sie? Jetzt habe ich sie dir gezeigt. Jetzt sage ihnen, daß ich ihnen nur das Blut aussauge. Da sind sie. Lieb sie doch. Ich, ich tu dir doch nichts. Hab ich dich angerührt? Hab ich etwas gegen dich getan? Aber siehst du, ich könnte mich doch nicht deinetwegen von ihnen zerreißen lassen. Nein, mich laß aus dem Spiel. Du kannst doch besser sprechen.«

Wieder ging er zurück zu seinem Tisch. Ließ Mattheus mit einer bedauernden Gebärde allein.

»Laßt das irrsinnige Gehopse«, flehte Mattheus die Tanzenden an. »Ihr Unseligen, ihr Ausgehungerten, Freudlosen, man kann euch leichter ködern als ein entkräftetes Tier.« Seine Zunge warf lallend die Worte den Bauern zu.

»Er beschimpft euch, weil ihr vergnügt seid, weil ihr Freude am Leben habt.«

»Wir werden ihm schon den Mund verstopfen, sei nicht bange. Wir wollen uns nicht alles von ihm gefallen lassen.«

Einer riß ein großes Tuch aus der Tasche, zerknüllte es zu einem Knebel. Er wandte sich an die Tanzenden und rief ihnen zu: »Einer komme doch her und sperre sein Maul auf. Der soll uns nicht länger mit seinen dummen Reden stören.«

Ein starker Bursche kam herbei, stellte sich vor Mattheus hin. Sein Mund wurde aufgerissen. Der Knäuel hineingestopft.

»Mach's nur fest«, feuerte ihn der andere an.

Hoch schwangen die Töne. Die satten, vergnügten Gesichter lachten. Die Röcke wippten. Arme fuchtelten. Stimmen jauchzten. Gläser klangen. Die Körper taumelten. Warfen sich gegeneinander.

Niemand achtete mehr auf Mattheus. Er versuchte, den Knäuel aus dem Mund zu bekommen. Konnte kaum noch atmen. Sah hilfesuchend sich um. Der Atem kam röchelnd, glucksend. Er wollte schreien. Der Schrei erstarb. Der gefesselte Körper begann zu zittern, wand sich. Die Lippen wurden blau. Die Augen traten immer mehr aus den Augenhöhlen. Der Augapfel rutschte hinauf, verschwand. Nur das rotdurchzogene Weiß blieb sichtbar. Der Körper schnellte noch einmal hoch, dann verschwand das Zittern. Die Muskeln legten sich schlaff. Die Augenlider schoben sich ganz hoch. Die Augen starrten leer. Die Fliegen kamen jetzt in Scharen herbei, bedeckten sein starres Gesicht. Nur diese schwarze Masse bewegte sich noch am ganzen Körper. Die Tanzenden flogen durcheinander vorbei, stießen sich an, kreischten.

Ein Betrunkener taumelte, fiel platt hin, stieß mit anderen Tanzenden zusammen, riß sie mit, alles kollerte auf dem Boden durcheinander.

Einer taumelte hin zu den Füßen Mattheus', schlug den Kopf gegen sie. Der Kopf schmerzte. Er sprang auf. Schnaubte vor Wut. Er brüllte: »Was, du wagst mir noch weh zu tun? Ich will dich lehren.« Seine Faust warf sich gegen Mattheus' Brust, sie prallte von etwas Hartem, Leblosem zurück. Er schlug noch mal hin, betastete ihn dann, das Fleisch war steif, wie Holz. Die Hand zog sich entsetzt zurück. Er lallte etwas. Zeigte fuchtelnd immer wieder auf Mattheus.

Die anderen merkten es, kamen herbei. Sie befühlten Mattheus, alle prallten zurück vor dem kalten Körper. Einer begann zu schreien: »Hört, er ist ja tot.«

Sie reißen den Knäuel aus seinem Mund. Der bleibt offen. Das Zahnfleisch, die gelben Zähne werden sichtbar. Man reißt ihm die Stricke ab. Eine Hand gießt Wein in den offenen Mund. Aber der rote Saft fließt bei den Mundwinkeln wieder heraus. Sie heben und reiben den Körper. Er bleibt leblos. Sie wollen ihn gerade aufrichten, aber der Körper schwankt, fällt schwer hin.

Der Großbauer, mit weit vorgestrecktem Leib, sah alles. Taumelnd wollte er sich zu Mattheus Weg bahnen. In diesem Augenblick kam ein fegender Windstoß, schlug die Fenster und Tür zu. – Flackernd verlöschen die Kerzenflammen. Nur die Petroleumlampe brennt blakend.

Aber die Zigeuner spielen weiter. Einige tanzen noch, fallen über die liegenden Betrunkenen.

Der Großbauer stößt alle, die ihm im Wege sind, fort. Seine Hände suchen im Dunkel, auf dem Boden, Mattheus. Seine Finger finden ein Gesicht, er beugt sich darüber, aber saurer Weinatem schlägt ihm entgegen. Ein Betrunkener lallt.

»Wo ist er?« Er sucht fuchtelnd im Dunkel. Er zerrt an Frauenröcken. Immer halten ihn neue Gestalten auf. Die Betrunkenen schreien, lachen, wälzen sich auf der Erde, packen seine Hand, wollen ihn hinwerfen.

Die Zigeuner fiedeln ohne Pause weiter.

Der Großbauer richtet sich auf, brüllt: »Hört auf. Seid still. Ihr habt ihn ermordet. Was habt ihr getan? Wo ist er? Macht endlich Licht.« – Immer lauter rief er nach Licht.

Jakob kam wieder und zündete die Kerzen an.

Abgesondert lag Mattheus. Sein Gesicht war verschmiert, bläulich. Noch immer umlagerten es Fliegen. Der Großbauer begann ihn vorsichtig zu rütteln. Dann sprang er auf, zischelte der Menge zu: »Mörder, Mörder seid ihr.«

In der Stube lief alles durcheinander. Suchte die Tür. Einige Frauen kreischten: »Ein Toter! Schnell fort. Kommt.« Sie liefen mit wehenden Röcken. Auch Bauern rannten hinaus. Die Zigeuner nahmen ihre Instrumente unter den Arm, schlichen sich aus der Tür. Die Betrunkenen wurden bei den Füßen ins Freie hinausgeschleppt.

Der Großbauer hielt die fliehenden Bauern am Arm fest: »Lauft doch nicht weg. Hört doch, lauft nicht weg. Ihr habt ihn ermordet. Nicht ich, nur ihr. Ich nicht.«

Er lief nach hinten in den Raum. Eine hagere Bäuerin packte ihn am Arm. Die Witwen-Anna. So blaß war ihr Gesicht, daß er erschrocken von ihr zurückwich.

Sie trug nicht das rote Tuch. Der kleine, graumelierte Haarknoten schwankte schief auf ihrem Kopf.

»Gut, daß ich mit dir noch sprechen kann, Großbauer. Mich hast du auch bewirtet, hörst du. Mich und meine vier Kinder. Weil ich mich einmal satt essen wollte, meine Kinder sollten auch einmal Hühner und Gänsebraten vorgesetzt bekommen. Aber hier, ich mag nicht dein Freimahl. Hier, ich spei es vor deine Füße.«

Mit grünem Gesicht würgte sie, spie sie.

Der Großbauer wich zurück: »Weg mit dir, du scheußliches Weib. Weg mit euch allen. Und schafft ihn fort, den Mattheus. Weg mit euch allen!«

Er suchte die Tür.

Mehrere Bauern kamen, packten den Leichnam, schleppten ihn hinaus.

»In den Fluß mit ihm. Fort mit ihm.«

Wieder kam ein Windstoß. Die Kerzen erloschen. Auch die Lampe war abgebrannt. Aber die Wirtsstube war jetzt leer.

Die Alten waren in ihr Zimmer geflüchtet.

Wie ein geschundenes Tier keuchte Sara die Treppen hinauf. Ich verblute, dachte sie schon halb bewußtlos. Warum kann der Mensch so vieles aushalten?


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