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Sechstes Kapitel. Der Tod im Kreise der Hausgenossen

Arthur Morel wuchs heran. Er war ein rascher, sorgloser, lebhafter Junge, ein gut Teil wie sein Vater. Lernen haßte er, seufzte jämmerlich über jede Arbeit und schlüpfte so bald wie möglich wieder hinaus zu seinen Spielereien.

Dem äußeren Anschein nach blieb er nach wie vor die Blüte der Seinen, hübsch gewachsen, anmutig und voller Leben. Sein dunkelbraunes Haar, seine lebhaften Farben und seine ungewöhnlich dunkelblauen, von langen Wimpern beschatteten Augen in Verbindung mit seinem offenen Wesen und seinem stolzen Benehmen machten ihn zu aller Liebling. Aber je älter er wurde, desto ungleichmäßiger wurde seine Stimmung. Er konnte über nichts in Wut geraten und erschien unerträglich roh und reizbar. Seine Mutter, die er liebte, wurde seiner manchmal überdrüssig. Er dachte nur an sich. Wenn es um sein Vergnügen ging, haßte er alles, was ihm im Wege stand, selbst wenn sie es war. Ging es ihm schlecht, so stöhnte er ihr endlos was vor.

»Liebe Güte, Junge!« sagte sie, als er ihr über einen Lehrer vorjammerte, der ihn, wie er sagte, haßte, »wenn du was nicht magst, dann ändere es, und wenn du es nicht ändern kannst, dann finde dich damit ab.«

Und seinen Vater, den er geliebt hatte und der ihn angebetet hatte, den begann er zu verabscheuen. Mit zunehmendem Alter fiel Morel allmählich zusammen. Sein Körper, einst so schön in seinen Bewegungen und seinem Äußeren, schrumpfte zusammen, er schien mit den Jahren nicht zu reifen, sondern gewöhnlich und recht eklig zu werden. Sein Aussehen bekam etwas Gemeines und Heruntergekommenes. Und wenn der gemein aussehende ältliche Mann den Jungen schalt oder seiner Wege gehen hieß, dann wurde Arthur wütend. Zudem wurden Morels Angewohnheiten schlimmer und schlimmer, sein Benehmen in mancher Hinsicht scheußlich. Zu der Zeit, wo die Kinder heranwuchsen und sich auf der entscheidenden Stufe des Heranreifens befanden, bildete der Vater gleichsam ein schlechtes Reizmittel für ihre Seelen. Seine Gewohnheiten waren zu Hause dieselben wie unten in der Grube unter den Bergleuten.

»Dreckiges Ekel!« konnte Arthur dann schreien und aufspringen und aus dem Hause laufen, wenn sein Vater ihn anwiderte. Und Morel war darin um so beharrlicher, als seine Kinder es haßten. Er schien eine Art Befriedigung darin zu finden, daß er sie anekelte und fast zum Wahnsinnigwerden trieb, während sie sich in dem empfindlichen, reizbaren Alter von vierzehn oder fünfzehn befanden. So kam es, daß Arthur, der heranwuchs, als sein Vater bereits heruntergekommen und bei Jahren war, ihn am schlimmsten von allen haßte.

Zuweilen schien dann der Vater den Haß und die Verachtung seiner Kinder zu empfinden: »Kein Mensch jibt sich mehr Mühe um seine Familie!« konnte er ausrufen. »Sein bestes dut er für se, un denn wird er wie'n Hund behandelt. Aber lange halte ick det nich mehr aus, det sag ick euch!«

Wäre es nicht um diese Drohung gewesen und um die Tatsache, daß er sich nicht so übermäßig hart abmühte, wie er vorgab, es hätte ihnen leid um ihn getan. Aber so spielte sich die Schlacht ständig weiter zwischen dem Vater und den Kindern ab, da er bei seinen schmutzigen und widerwärtigen Angewohnheiten beharrte, grade um seine Unabhängigkeit zu betonen. Es ekelte sie vor ihm.

Arthur wurde schließlich so hitzig und reizbar, daß, als er einen Platz auf der Lateinschule in Nottingham gewann, seine Mutter sich entschloß, ihn in der Stadt bei einer ihrer Schwestern wohnen und nur zum Wochenschluß nach Hause kommen zu lassen.

Annie war immer noch Hilfslehrerin an der Kostschule und verdiente ungefähr vier Schilling die Woche. Aber bald sollte sie fünfzehn Schilling bekommen, da sie ihre Prüfung bestanden hatte, und dann würde in geldlicher Hinsicht Friede im Hause sein.

Frau Morel klammerte sich nun an Paul. Er war ruhig und nicht blendend. Aber immer noch hielt er sich an seine Malerei und an seine Mutter. Was er tat, war für sie. Sie wartete abends auf seine Heimkunft, und dann legte sie jede Bürde ab, die den Tag über auf ihr gelastet hatte, oder erzählte von allem, was ihr im Laufe des Tages begegnet war. Er saß und hörte voller Ernst zu. Die beiden lebten ein gemeinsames Leben.

William war nun mit seinem Braunkopf verlobt und hatte ihr einen Verlobungsring gekauft, der acht Guineen gekostet hatte. Die Kinder sperrten bei dem fabelhaften Preise den Mund auf.

»Acht Guineen!« sagte Morel. »So'n Hansnarr! Hätt er mich wenigstens en bisken davon jejeben, det hätte doch wohl besser ausjesehen.«

»Dir etwas davon abgegeben!« rief Frau Morel. »Warum dir denn grade?«

Sie dachte daran, daß er überhaupt keinen Ring gekauft hatte, und da war ihr William doch lieber, der bei aller Narrheit doch nicht gemein war. Aber nun redete der junge Mann nur noch von Bällen, zu denen er mit seiner Verlobten ging, und verschiedenen wundervollen Kleidern, die sie trug; oder er erzählte seiner Mutter voller Freude, wie sie gleich vornehmen Leuten ins Theater gingen.

Er wünschte, das Mädchen nach Hause zu bringen. Frau Morel sagte, sie könnte ja Weihnachten mitkommen. Diesmal kam William mit einer Dame, aber ohne Geschenke. Frau Morel hatte das Abendessen angerichtet. Als sie Fußtritte hörte, stand sie auf und ging zur Tür. William trat ein.

»Hallo, Mutter!« Er küßte sie hastig und trat dann zur Seite, um ihr ein großes, hübsches Mädchen vorzustellen, das ein Straßenkleid mit kleinen weißen und schwarzen Vierecken trug und Pelzsachen.

»Hier ist Gyp!«

Fräulein Western hielt ihr die Hand hin und zeigte ihre Zähne bei einem schwachen Lächeln.

»Oh, wie gehts Ihnen, Frau Morel?« rief sie.

»Ich fürchte, Sie sind hungrig,« sagte Frau Morel.

»O nein, wir haben im Zuge gegessen. Hast du meine Handschuhe, Dickerchen?«

William, groß und grobknochig, sah sie rasch an.

»Wie sollt ich wohl?« sagte er.

»Dann habe ich sie verloren. Sei nicht böse.«

Ein finsterer Blick flog über sein Gesicht, aber er sagte nichts. Sie sah sich in der Küche um. Sie kam ihr klein und merkwürdig vor, mit ihrem glitzernden Küssestrauß, ihrem Immergrün hinter den Bildern, ihren hölzernen Stühlen und dem weißgescheuerten kleinen Tisch. In diesem Augenblick trat Morel herein.

»Hallo, Vater!«

»Hallo, mein Junge! Du legst aber nett los!«

Die beiden gaben sich die Hand, und William stellte die Dame vor. Sie zeigte wieder ihre Zähne mit demselben schwachen Lächeln.

»Wie gehts Ihnen, Herr Morel?«

Morel verbeugte sich dienstbeflissen.

»Mich jehts sehr jut, und Ihnen hoffentlich auch. Sie müssen sich hier janz zu Hause fühlen.«

»Oh, danke,« erwiderte sie, recht erheitert.

»Nun möchten Sie gewiß erst mal nach oben gehen,« sagte Frau Morel.

»Wenn es Ihnen recht ist; aber nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht.«

»Das macht keinerlei Umstände. Annie bringt Sie hinauf; Walter, bring mal den Koffer nach oben.«

»Und zieh dich nicht 'ne Stunde lang an,« sagte William zu seiner Verlobten.

Annie nahm einen Messingleuchter, und fast zu scheu, um auch nur ein Wort zu sagen, ging sie vor der jungen Dame her nach dem vorderen Schlafzimmer, das Herr und Frau Morel für sie geräumt hatten. Auch dieses sah im Kerzenschein nur klein und kalt aus. Die Bergmannsfrauen zündeten nur in Fällen schwerster Krankheit im Schlafzimmer Feuer an.

»Soll ich die Riemen an dem Koffer aufmachen?« fragte Annie.

»Oh, vielen Dank!«

Annie spielte die Rolle des Dienstmädchens und ging dann nach unten, um heißes Wasser zu holen.

»Ich glaube, sie ist recht müde, Mutter,« sagte William. »Es ist 'ne üble Reise, und wir kamen so ins Gedränge.«

»Kann ich ihr irgendwas geben?« fragte Frau Morel.

»O nein, sie wird schon zurechtkommen.«

Aber es lag etwas Frostiges in der Luft. Nach einer halben Stunde kam Fräulein Western wieder herunter, nachdem sie ein purpurfarbiges Kleid angelegt hatte, für die Bergmannsküche sehr fein.

»Ich sagte dir doch, du solltest dich nicht umziehen,« sagte William zu ihr.

»Oh, Dickerchen!« Dann wandte sie sich mit ihrem süßlichen Lächeln zu Frau Morel. »Finden Sie nicht, daß er immer etwas auszusetzen hat, Frau Morel?«

»So?« sagte Frau Morel. »Das ist nicht sehr nett von ihm.«

»Nein, wirklich nicht, nicht wahr?«

»Sie frieren,« sagte die Mutter. »Wollen Sie nicht näher ans Feuer kommen?«

Morel sprang aus seinem Armstuhl auf.

»Kommen Sie, setzen Sie sich hier mal her!« rief er. »Kommen Sie, setzen Sie sich hier mal her.«

»Nein, Vatting, du behältst deinen Stuhl. Setz dich ins Sofa, Gyp,« sagte William.

»Nein, nein!« rief Morel. »Dieser Stuhl ist am wärmsten. Kommen Sie und setzen Sie sich hier mal her, Fräulein Wesson.«

»Ich bin Ihnen so dankbar!« sagte das Mädchen und setzte sich in den Armstuhl des Bergmanns, den Ehrenplatz. Sie schauderte, als sie die Wärme des Feuers sie durchdringen fühlte.

»Hol mir ein Taschentuch, lieb Dickerchen!« sagte sie und hielt ihm den Mund hin, und mit denselben vertrauten Tönen, als wären sie ganz allein; das ließ den Rest der Hausgenossen empfinden, als wären sie besser nicht dabei. Die junge Dame faßte sie augenscheinlich gar nicht als Menschen auf: sie waren im Augenblick für sie nur Geschöpfe. William krümmte sich innerlich.

In Streatham wäre Fräulein Western in einem derartigen Haushalt eine Dame gewesen, die sich zu unter ihr Stehenden herabläßt. Zweifellos kamen diese Leute ihr ungebildet vor – kurz, wie Arbeiter. Wie sollte sie sich da hineinfinden?

»Ich will wohl hingehen,« sagte Annie.

Fräulein Western achtete nicht darauf, als hätte ein Dienstbote etwas gesagt. Aber als das Mädchen mit dem Taschentuch wieder herunterkam, sagte sie in gnädigem Ton: »Oh, danke!«

Sie saß da und sprach über das Essen im Zuge, das so ärmlich gewesen wäre; über London, über Bälle. Tatsächlich war sie überreizt und schwatzte vor Angst. Morel saß die ganze Zeit über und rauchte seinen dicken Twisttabak, sie beobachtend und ihren geläufigen Londoner Redewendungen zuhörend, während er drauflos paffte. Frau Morel, die ihre beste schwarze Seidenbluse anhatte, antwortete ruhig und ziemlich kurz. Die drei Kinder saßen in schweigender Bewunderung herum. Fräulein Western war die Prinzessin. Das beste von allem war hervorgeholt worden: die besten Tassen, die besten Löffel, das beste Tischtuch, der beste Kaffeetopf. Die Kinder glaubten, sie müsse es ganz großartig finden. Sie kam sich merkwürdig vor: denn sie war nicht imstande, die Leute zu verstehen, und wußte nicht, wie sie sie behandeln sollte. William scherzte, fühlte sich aber doch etwas unbehaglich.

Um etwa zehn Uhr sagte er zu ihr: »Bist du nicht müde, Gyp?«

»Ja, ziemlich, Dickerchen,« antwortete sie, sofort wieder in den vertraulichsten Tönen und den Kopf leicht zur Seite geneigt.

»Ich werde ihr ihre Kerze anzünden, Mutter,« sagte er.

»Schön,« erwiderte die Mutter.

Fräulein Western stand auf und hielt Frau Morel die Hand hin. »Gute Nacht, Frau Morel,« sagte sie.

Paul saß vor dem Kessel und ließ das Wasser aus dem Hahn in eine steinerne Bierflasche laufen. Annie wickelte die Flasche in ein altes Flanellgrubenhemd ein und gab ihrer Mutter einen Gutenachtkuß. Sie mußte das Zimmer mit der jungen Dame teilen, weil das Haus voll war.

»Warte mal noch eine Minute,« sagte Frau Morel zu Annie. Und Annie blieb mit der Heißwasserflasche auf den Knien sitzen. Fräulein Western gab allen in der Runde die Hand, zu jedermanns Mißbehagen, und nahm unter Williams Vorantritt ihren Abschied. In fünf Minuten war er wieder unten. Sein Herz war recht wund; warum, wußte er nicht. Er sprach nur wenig, bis alle zu Bett gegangen waren außer ihm und seiner Mutter. Dann blieb er mit gespreizten Beinen in seiner alten Stellung auf der Herdmatte stehen und sagte zögernd: »Na, Mutter?«

»Ja, mein Junge?« Sie saß in ihrem Schaukelstuhl und fühlte sich seinetwegen verletzt und erniedrigt.

»Magst du sie leiden?«

»Ja,« kam langsam die Antwort.

»Sie ist noch scheu, Mutter. Sie hat sich noch nicht daran gewöhnt. Es ist so anders als im Hause ihrer Tante, weißt du.«

»Natürlich ist es das, mein Junge; und es muß ihr schwer ankommen.«

»Ja.« Dann runzelte er rasch die Stirn. »Wenn sie sich bloß nicht so gräßlich aufspielen wollte.«

»Das ist nur so die erste Verlegenheit, mein Junge. Sie wird schon zurechtkommen.«

»Sicher, Mutter,« erwiderte er dankbar. Aber sein Ausdruck blieb düster. »Weißt du, sie ist nicht wie du, Mutter. Sie hat keinen Ernst, und sie kann nicht denken.«

»Sie ist noch jung, mein Junge.«

»Ja; und sie hat auch niemals ein Vorbild gehabt. Ihre Mutter starb, als sie noch ein Kind war. Seit der Zeit lebt sie bei einer Tante, die sie nicht ausstehen kann. Und ihr Vater war ein Lump. Sie hat niemals Liebe gekannt.«

»Nein! Na, das mußt du dann an ihr wieder gutmachen.«

»Und deshalb – muß man ihr eine Menge nachsehen.«

»Was möchtest du ihr nachsehen, mein Junge?«

»Ich weiß nicht. Wenn sie so flach scheint, dann sollte man sich immer erinnern, daß sie ja niemand hatte, um ihre tieferen Seiten herauszukehren. Und sie ist fürchterlich verliebt in mich.«

»Das kann jeder sehen.«

»Aber weißt du, Mutter, sie – sie ist so ganz anders als wir. Diese Art Leute, unter denen sie lebt, die haben anscheinend gar nicht dieselben Grundsätze wie wir.«

»Du mußt nicht zu rasch urteilen,« sagte Frau Morel.

Aber er schien im Innern doch unruhig.

Am Morgen jedoch war er auf und sang und scherzte im Hause umher.

»Hallo!« rief er, auf der Treppe sitzend. »Stehst du auf?«

»Ja,« ertönte ihre Stimme schwach.

»Fröhliche Weihnachten!« rief er ihr zu.

Aus dem Schlafzimmer wurde ihr Lachen hörbar, hübsch und glockenrein. Nach einer halben Stunde war sie noch nicht unten.

»War sie wirklich schon beim Aufstehen, wie sie sagte?« fragte er Annie.

»Ja, wirklich,« erwiderte Annie.

Er wartete ein Weilchen und ging dann wieder zur Treppe.

»Glückliches Neujahr!« rief er.

»Danke dir, lieb Dickerchen!« kam die lachende Stimme, weit her.

»Nun mal hoppla!« flehte er.

Es war fast eine Stunde, und er wartete immer noch auf sie. Morel, der immer schon um sechs aufstand, sah nach der Uhr.

»Na, das ist aber 'ne Bummelliese,« rief er.

Die Hausgenossen hatten alle schon gefrühstückt, alle mit Ausnahme Williams. Er ging an den Fuß der Treppe.

»Soll ich dir ein Osterei nach oben schicken?« rief er ziemlich ärgerlich. Sie lachte nur. Die Seinen erwarteten nach dieser Vorbereitungszeit mindestens etwas wie ein Zauberbild. Endlich kam sie, sehr nett aussehend in Bluse und Rock.

»Hast du wirklich die ganze Zeit zum Anziehen gebraucht?«

»Lieb Dickerchen! Die Frage ist doch nicht gestattet, nicht wahr, Frau Morel?«

Zunächst spielte sie die große Dame. Als sie mit William zur Kirche ging, er in Gehrock und hohem Hut, sie im Pelz und ihrem Londoner Straßenkleid, erwarteten Paul und Annie und Arthur, jedermann würde sich in Verwunderung zur Erde neigen.

Und Morel, der in seinem Sonntagsanzug am Ende der Straße stand und das ansehnliche Paar vorüberziehen sah, kam sich wie der Vater von Prinzen und Prinzessinnen vor. Und doch war sie gar nicht so großartig. Sie war jetzt ungefähr ein Jahr lang eine Art Schreiberin oder Gehilfin in einem Londoner Geschäft gewesen. Aber solange sie bei den Morels war, mußte sie die Königin herausbeißen. Sie saß da und ließ sich von Annie und Paul aufwarten, als wären sie ihre Dienstboten. Frau Morel behandelte sie mit einer gewissen Schmiegsamkeit und Morel mit Gönnermiene. Aber nach ein oder zwei Tagen änderte sie die Tonart.

William wünschte immer Paul und Annie auf ihren Spaziergängen dabei zu haben. Es war so viel unterhaltender. Und Paul bewunderte ›Gyp‹ wirklich von ganzem Herzen; in der Tat konnte die Mutter dem Jungen kaum die Anbetung vergeben, mit der er sie behandelte.

Als Lily am zweiten Tage sagte: »Oh, Annie, weißt du, wo mein Muff ist?« Da sagte William:

»Du weißt ja, in deinem Schlafzimmer. Warum fragst du Annie denn erst?«

Und Lily ging mit mürrisch geschlossenem Mund nach oben. Aber es ärgerte den jungen Mann, daß sie seine Schwester zu ihrem Dienstmädchen machen wollte.

Am dritten Abend saßen William und Lily im Wohnzimmer im Dunkeln am Feuer. Um ein Viertel vor elf hörte man, wie Frau Morel das Feuer bedeckte. William kam zur Küche hinüber, gefolgt von seiner Geliebten.

»Ists schon so spät, Mutter?« sagte er. Sie hatte allein gesessen.

»Es ist nicht spät, mein Junge, aber so spät, wie ich gewöhnlich aufbleibe.«

»Willst du denn nicht zu Bett gehen?« fragte er.

»Und euch beide allein lassen? Nein, mein Junge, von so was halte ich nichts.«

»Kannst du uns denn nicht trauen, Mutter?«

»Ob ich euch trauen kann oder nicht, ich tue es nicht. Bis elf kannst du noch bleiben, wenn du willst, und ich kann solange lesen.«

»Geh zu Bett, Gyp,« sagte er zu seinem Mädchen. »Wir wollen Mutter nicht warten lassen.«

»Annie hat die Kerze brennen lassen, Lily,« sagte Frau Morel, »ich denke, du kannst wohl sehen.«

»Ja, danke. Gute Nacht, Frau Morel.«

William küßte sein Liebchen am Fuß der Treppe, und sie ging. Er trat wieder in die Küche.

»Kannst du uns nicht trauen, Mutter?« sagte er, einigermaßen verletzt.

»Mein Junge, ich sage dir ja, ich halte nichts davon, zwei so junge Dinger wie euch beide unten allein zu lassen, wenn sonst alles schon zu Bett ist.«

Und er sah sich wohl gezwungen, diese Antwort hinzunehmen. Er gab seiner Mutter einen Gutenachtkuß.

Ostern kam er allein herüber. Und dann unterhielt er sich endlos mit seiner Mutter über seine Geliebte.

»Weißt du, Mutter, wenn ich von ihr weg bin, mache ich mir nicht das geringste aus ihr. Es wäre mir ganz einerlei, ob ich sie jemals wiedersähe. Aber wenn ich dann abends mit ihr zusammen bin, dann habe ich sie schrecklich lieb.«

»'ne sonderbare Art von Liebe, um daraufhin zu heiraten,« sagte Frau Morel, »wenn sie dich nicht mehr fesselt als nur so weit.«

»Es ist auch putzig!« rief er. Es quälte und verwirrte ihn. »Aber schließlich – jetzt ist es so weit zwischen uns, aufgeben kann ich sie nicht mehr.«

»Das mußt du am besten wissen,« sagte Frau Morel. »Ists aber so, wie du sagst, dann würde ich es nicht Liebe nennen jedenfalls siehts nicht sehr danach aus.«

»Ach, ich weiß doch nicht, Mutter. Sie ist Waise, und ,...«

Sie kamen nie recht zum Schluß. Er schien verwirrt und fast verärgert. Sie hielt sich sehr zurück. All seine Kraft und sein Geld gingen für den Unterhalt des Mädchens drauf. Er konnte kaum seine Mutter mit nach Nottingham nehmen, als er herüberkam.

Pauls Lohn war zu Weihnachten auf zehn Schilling erhöht worden, zu seiner großen Freude. Er war ganz glücklich bei Jordan, aber seine Gesundheit litt unter den langen Stunden und dem Eingeschlossensein. Seine Mutter, für die er mehr und mehr Bedeutung gewann, überlegte, wie ihm wohl zu helfen sei.

Sein halber freier Tag war Montag nachmittag. Eines Montagmorgens im Mai, als sie beide allein beim Frühstück saßen, sagte sie: »Ich glaube, es wird ein schöner Tag.« Überrascht sah er auf. Das hatte was zu bedeuten.

»Du weißt doch, Herr Leivers hat einen neuen Hof bezogen. Na, vorige Woche fragte er mich, ob ich nicht mal kommen und Frau Leivers besuchen wollte, und ich versprach, dich Montag mitzubringen, wenn es schön wäre. Wollen wir hin?«

»Nein, wie entzückend, kleine Frau!« rief er. »Und heute nachmittag wollen wir hin?«

Selig eilte Paul zum Bahnhof. Die Derbystraße hinunter stand ein Kirschbaum, der nur so schimmerte. Die alte Backsteinmauer am Parlamentsplatz brannte scharlachen, der Frühling war eine wahre Flamme von Grün. Und die steile Senkung der hohen Straße lag in dem kühlen Morgendunst mit glänzenden Mustern aus Sonnenschein und Schatten vollkommen still da. Stolz ließen die Bäume ihre mächtigen, grünen Schultern herabhängen; und drinnen im Laden sah der Junge den ganzen Morgen ein Traumgesicht des Frühlings draußen vor sich.

Als er zur Essenszeit heimkam, war seine Mutter ziemlich aufgeregt.

»Gehen wir?« fragte er.

»Sobald ich fertig bin,« erwiderte sie.

Sofort stand er auf. »Geh hin und zieh dich an, während ich aufwasche,« sagte er.

Sie tats. Er wusch die Töpfe, reckte sich und nahm dann ihre Schuhe vor. Sie waren ganz sauber. Frau Morel gehörte zu jenen von der Natur auserlesenen Menschen, die durch jeden Schmutz gehen können, ohne sich die Schuhe schmutzig zu machen. Aber Paul mußte sie doch für sie säubern. Es waren ziegenlederne zu acht Schilling das Paar. Er hielt sie jedoch für die zartesten Stiefel in der Welt und putzte sie mit genau derselben Ehrerbietung, als wären es Blumen gewesen.

Plötzlich erschien sie in dem inneren Durchgang, etwas scheu. Sie hatte eine neue baumwollene Bluse an. Paul sprang auf und ging auf sie zu.

»O Sternenschein!« rief er. »Was für'n Blender!«

Sie rümpfte die Nase auf etwas hochmütige Art und hob den Kopf.

»Das ist ganz und gar kein Blender!« erwiderte sie. »Sie ist sehr einfach.«

Sie machte ein paar Schritte vorwärts, während er sie rings von allen Seiten anstaunte.

»Na,« fragte sie, ganz scheu, aber doch sehr vom hohen Pferde herab, »magst du sie leiden?«

»Schrecklich gern! Du bist 'ne feine kleine Frau so zum Bummeln!«

Er ging um sie herum und sah sie sich von hinten an.

»Na,« sagte er, »wenn ich auf der Straße hinter dir herginge, würde ich sagen: ›ob das kleine Menschenkind sich wohl nicht für ganz was Besonderes hält!‹«

»Ach, fällt ihr gar nicht ein,« erwiderte Frau Morel. »Sie ist nicht einmal sicher, ob sie ihr auch wohl steht.«

»O nein! Sie wäre viel lieber in einer schmierigen, alten schwarzen ausgegangen, daß sie aussieht, als wäre sie in verbranntes Papier eingewickelt. Sie steht dir, und ich sage, du siehst nett aus.«

Sie rümpfte die Nase in ihrer niedlichen Art, ganz vergnügt, aber doch tat sie, als wüßte sie es besser.

»Na,« sagte sie, »sie kostet mich grade drei Schilling. Fertig gemacht hättest du sie doch wohl nicht für den Preis kriegen können, was?«

»Ich glaube nicht,« erwiderte er.

»Und, weißt du, es ist guter Stoff.«

»Riesig nett.«

Die Bluse war weiß, mit einem kleinen Zweig Heliotrop und Schwarz.

»Zu jugendlich für mich, bin ich bange,« sagte sie.

»Zu jugendlich für dich!« rief er voller Verachtung. »Warum kaufst du dir denn kein falsches weißes Haar und steckst es dir auf den Kopf?«

»Das werde ich bald nicht mehr nötig haben,« erwiderte sie; »ich werde rasch genug weiß.«

»Wieso, damit hast du dich doch gar nicht abzugeben,« sagte er.

»Was soll ich wohl mit 'ner weißhaarigen Mutter anfangen?«

»Ich fürchte, du wirst dich schon mit einer abfinden müssen, mein Junge,« sagte sie recht seltsam.

In großem Stile zogen sie los, sie mit dem Regenschirm, den William ihr geschenkt hatte, wegen des Sonnenscheins. Paul war beträchtlich größer als sie, wenn auch nicht so breit. Er bildete sich ordentlich was ein.

Auf dem flachen Lande draußen glänzte der junge Weizen wie Seide. Die Mintongrube schwenkte ihre weißen Dampffedern, hustete und rasselte heiser.

»Nun sieh doch nur!« sagte Frau Morel. Mutter und Sohn standen am Wege still und beobachteten. Den Rand der großen Schutthalde der Grube entlang kroch ein kleiner Schattenriß gegen den Himmel, ein Pferd, ein Mann und ein kleiner Wagen. Gegen den Himmel stehend, klommen sie den langen Abhang empor. Am Ende kippte der Mann den Wagen über. Ein unverhältnismäßiges Gerassel ertönte, als der Schutt den glatten Abhang der riesigen Halde hinabkollerte.

»Bleib mal eine Minute sitzen, Mutter,« sagte er, und sie setzte sich auf eine Bank, während er rasch drauflos skizzierte. Sie war still, während er arbeitete, und sah sich in dem Nachmittag um, in dem die roten Häuschen in ihrem Grün schimmerten.

»Die Welt ist doch ein wundervoller Aufenthalt,« sagte sie, »und wunderbar schön.«

»Und die Grube auch,« sagte er. »Sieh mal, wie sich das anhäuft, fast wie etwas Lebendiges – ein riesiges Wesen, das wir nicht begreifen.«

»Ja!« sagte sie. »Vielleicht!«

»Und wie alle die Karren dastehen und warten, wie eine Reihe Tiere, die gefüttert werden sollen,« sagte er.

»Und ich bin sehr dankbar, daß sie dastehen,« sagte sie, »denn das bedeutet, daß sie diese Woche leidlich gut abschließen!«

»Aber ich mag mir so gern etwas Menschliches in die Dinge hineindenken, solange es angeht. Die Wagen haben etwas Menschliches an sich, weil sie von Menschenhand bewegt worden sind, alle miteinander.«

»Ja,« sagte Frau Morel.

Sie wanderten unter den Bäumen der Landstraße hin. Er belehrte sie fortwährend, aber sie wurde auch durch alles gefesselt. Sie kamen an dem Ende des Nethersees vorbei, der den Sonnenschein wie Blütenblätter auf seinem Schoße schaukelte. Dann bogen sie in einen nichtöffentlichen Weg ein und schritten mit einigem Zagen auf einen großen Hof zu. Ein Hund bellte wütend. Eine Frau kam heraus, um nachzusehen.

»Kommen wir hier nach dem Willeyhofe?« fragte Frau Morel.

Paul hielt sich zurück, in Angst, zurückgeschickt zu werden. Aber die Frau war liebenswürdig und wies sie zurecht. Mutter und Sohn gelangten nun durch Weizen- und Haferfelder und über eine kleine Brücke auf eine große Wiese. Kiebitze mit schimmernder weißer Brust kreisten und schrien um sie her. Der See war still und blau. Hoch über ihren Köpfen schwebte ein Reiher. Gegenüber häufte der Wald seine Massen an, grün und still.

»Ist das ein wilder Weg, Mutter,« sagte Paul. »Genau wie in Kanada.«

»Ist es nicht wundervoll!« sagte Frau Morel, sich umsehend.

»Sieh mal den Reiher da – sieh, siehst du seine Beine?« Er gab seiner Mutter an, was sie sehen mußte und was nicht. Und sie war es ganz zufrieden.

»Aber nun,« sagte sie, »welchen Weg nun? Er sagte mir, durch den Wald.«

Der Wald lag eingezäunt und dunkel zu ihrer Linken.

»Hierherüber kann ich so'n bißchen von Weg fühlen,« sagte Paul. »Du hast Stadtfüße, so oder so, ganz gewiß.«

Sie fanden ein kleines Gatter und waren bald in einem breiten, grünen Gang mitten durch den Wald, mit einer jungen Kiefern- und Fichtenschonung auf der einen und altem, sich abdachendem Eichenbestand auf der anderen Seite. Und unter den Eichen standen Glockenblumen als blaue Lachen unter den frischgrünen Haselnußsträuchern, über einem blaßgelb-braunen Boden von Eichenblättern. Er pflückte ihr Blumen.

»Hier ist etwas frischgemähtes Heu,« sagte er; dann brachte er ihr wieder Vergißmeinnicht. Und wieder tat ihm das Herz weh vor Liebe, als er ihre arbeitgewohnte Hand den kleinen Blumenstrauß halten sah, den er ihr gebracht hatte. Sie war vollkommen glücklich.

Aber am Ende der Durchfahrt gabs einen Zaun zu überklettern. Paul war in einer Sekunde hinüber.

»Komm,« sagte er, »laß mich dir helfen.«

»Nein, geh weg. Laß michs auf meine eigene Art und Weise machen.«

Er blieb unten mit emporgestreckten Händen stehen. Sie kletterte vorsichtig hinauf.

»Was für 'ne Höhenkletterei!« rief er verächtlich, als sie sicher wieder unten stand.

»Widerlich, diese Übergänge!« rief sie.

»Kleiner Dummbart von Frauenzimmer,« erwiderte er, »da nicht mal rüber zu können.«

Vor ihnen, am Rand des Waldes, lag ein Haufen niedriger roter Hofgebäude. Die beiden eilten vorwärts. Auf gleicher Höhe mit dem Wald lag der Apfelgarten, dessen Blüten auf den Schleifstein herniederfielen. Der Ententeich lag tief unter einer Hecke und war überhangen von Eichen. Ein paar Kühe standen im Schatten. Der Hof mit seinen Gebäuden, drei Seiten eines Viereckes, schloß den Sonnenschein gegen den Wald hin mit seinen Armen ein. Es war sehr still.

Mutter und Sohn traten in einen kleinen, eingezäunten Garten, voll vom Duft roter Levkojen. Neben der offenen Tür standen ein paar frische Brotlaibe, zum Abkühlen herausgesetzt. Grade lief eine Henne darauf zu, um sie anzupicken. Da erschien in der Tür plötzlich ein Mädchen in einer schmutzigen Schürze. Sie war ungefähr vierzehn Jahre alt, hatte ein dunkelrosiges Gesicht, einen Schopf schwarzer Locken, sehr fein und lose, und dunkle Augen; scheu, fragend, wie etwas gegen die Fremden eingenommen, verschwand sie. Nach einer Minute erschien ein anderes weibliches Wesen: ein kleines, gebrechliches Frauchen, rosig, mit großen dunkelbraunen Augen.

»Oh!« rief sie und lächelte sie errötend an, »da sind Sie also! Ich freue mich so, Sie zu sehen.« Ihre Stimme klang vertraulich und etwas traurig.

Die beiden Frauen gaben sich die Hand.

»Stören wir Sie aber auch ganz sicher nicht?« sagte Frau Morel. »Ich weiß, was Hofleben bedeutet.«

»O nein! Wir sind nur zu dankbar, wenn wir mal ein neues Gesicht zu sehen kriegen, so verlassen sind wir hier.«

»Das kann ich mir denken,« sagte Frau Morel.

Sie wurden in das große Wohnzimmer geführt – einen langen, niedrigen Raum, mit einem großen Strauß Schneeball im Kamin. Hier fingen die Frauen an zu reden, während Paul nach draußen ging, um sich das Land anzusehen. Er stand im Garten und roch an den Levkojen und sah sich die Pflanzen an, als das Mädchen rasch herauskam und auf den großen Kohlenhaufen zuging, der neben dem Zaun lag.

»Ich glaube, dies sind wohl Zentifolien?« sagte er zu ihr, auf die Büsche am Zaun entlang weisend.

Sie sah ihn mit erschrockenen, großen braunen Augen an.

»Ich glaube, das sind Zentifolien, wenn sie aufgehen?« sagte er.

»Ich weiß nicht,« stammelte sie. Sie sind weiß mit rosa in der Mitte.«

»Dann sinds Mädchenwangen.«

Miriam errötete. Sie hatte wunderschöne, warme Farben.

»Ich weiß nicht,« sagte sie.

»Ihr habt nicht viel in eurem Garten,« sagte er.

»Dies ist unser erstes Jahr hier,« antwortete sie auf eine ablehnende und gleichzeitig überlegene Art und Weise, indem sie sich wieder zurückzog und ins Haus hineinging. Er bemerkte es gar nicht, sondern setzte seine Entdeckungsreise fort. Da kam seine Mutter heraus, und sie gingen durch die Gebäude. Paul war höchlichst entzückt.

»Und ich vermute, Sie haben wohl die Kälber und das Geflügel und die Schweine zu überwachen?« sagte Frau Morel zu Frau Leivers.

»Nein,« erwiderte die kleine Frau. »Ich kann die Zeit nicht finden, um nach dem Vieh zu sehen, und bin auch nicht daran gewöhnt. Alles was ich tun kann, ist, im Hause alles in Gang zu halten.«

»Ach ja, das glaube ich wohl,« sagte Frau Morel.

Da kam das Mädchen wieder heraus.

»Der Tee ist fertig, Mutter,« sagte sie mit einer wohlklingenden, ruhigen Stimme.

»Oh, danke, Miriam, dann wollen wir kommen,« erwiderte ihre Mutter fast schmeichelnd. »Möchten Sie auch jetzt schon Tee, Frau Morel?«

»Gewiß,« sagte Frau Morel. »Sobald er fertig ist.«

Paul und seine Mutter und Frau Leivers tranken zusammen Tee. Dann gingen sie in den Wald, der überflutet war mit Glockenblumen, während duftige Vergißmeinnicht auf allen Pfaden standen. Mutter und Sohn waren beide ganz in Verzückung.

Als sie wieder beim Hause ankamen, waren Herr Leivers und Edgar, der älteste Sohn, in der Küche; Edgar war etwa neunzehn. Dann kamen Gottfried und Moritz, große Burschen von zwölf und dreizehn Jahren, aus der Schule. Herr Leivers war ein gutaussehender Mann in der Blüte des Lebens, mit goldbraunem Schnurrbart und blauen Augen, die scharf gradeaus sahen.

Die Jungens waren sehr herablassend, aber das merkte Paul gar nicht. Sie gingen los, um Eier zu suchen, und krochen in alle möglichen Verstecke. Als sie das Geflügel fütterten, kam Miriam heraus. Die Jungen beachteten sie gar nicht. Eine Henne saß mit ihren gelben Kücken in einem Hühnerkorb. Moritz nahm eine Handvoll Korn und ließ die Henne daraus picken.

»Magst du das auch?« fragte er Paul.

»Laß mal sehen,« sagte Paul.

Er hatte eine kleine Hand, warm und recht fähig aussehend. Miriam sah zu. Er hielt der Henne das Korn hin. Der Vogel beäugte es mit seinem harten, hellen Auge und gab seiner Hand plötzlich einen Pick. Er zuckte zusammen und lachte. »Rap, rap, rap!« fuhr der Schnabel des Vogels ihm in die Hand. Er lachte wieder, und die anderen Jungens stimmten ein.

»Sie stößt einen und nibbelt so, aber sie tut einem nicht weh,« sagte Paul, als das letzte Korn verschwunden war.

»Nu, Miriam,« sagte Moritz, »nu komm du mal und laß mal sehen.«

»Nein,« schrie sie und fuhr zurück.

»Ha! du Wickelkind. So'n verpäpeltes Wickelkind!« sagten die Brüder.

»Es tut kein bißchen weh,« sagte Paul. »Es nibbelt nur so ganz nett.«

»Nein,« schrie sie wieder, ihre schwarzen Locken schüttelnd und zurückweichend.

»Sie wagts nicht,« sagte Gottfried. »Sie wagt nichts außer Gedichte hersagen.«

»Wagt nicht, von einem Zaun herunterzuspringen, wagt sich nicht auf 'ne Schaukel, wagt nicht zu glitschen, wagt nicht sich zu wehren, wenn ein Mädchen sie haut. Sie kann nichts weiter als herumrennen und sich einbilden, sie wäre was. ›Die Herrin vom See.‹ Puh!« rief Moritz.

Miriam wurde blutrot vor Scham und Kummer.

»Ich wage mehr als ihr!« rief sie. »Ihr seid immerzu bloß Feiglinge und Großmäuler.«

»Oh, Feiglinge und Großmäuler!« wiederholten sie, indem sie ihre zimperliche Redeweise verspotteten.

»So'n Rüpel mich nicht ärgern kann,
'nen Bauer red ich mit Schweigen an,«

rief einer ihr in singendem Tone nach, brüllend vor Lachen.

Sie ging hinein. Paul ging mit den Jungens in den Obstgarten, wo sie einen Barren aufgestellt hatten. Hier zeigten sie ihre Kraftkunststücke. Er war mehr gewandt als kräftig, aber es ging doch. Er nahm einen Zweig Apfelblüten zwischen die Finger, die an einem schwanken Aste niedrig herabhingen.

»Ich würde keine Apfelblüten abpflücken,« sagte Edgar, der älteste Bruder. »Nächstes Jahr gibts sonst keine Äpfel.«

»Ich wollte sie ja gar nicht abpflücken,« erwiderte Paul und ging weg.

Die Jungens standen ihm feindlich gegenüber; sie fanden die Verfolgung ihrer eigenen Ziele vergnüglicher. Er wandte sich ins Haus zurück, um nach seiner Mutter zu sehen. Als er hinten ums Haus herumschritt, sah er Miriam vor dem Hühnerkorb knien, etwas Mais in der Hand, die Lippen zusammengebissen, in gespannter Haltung zusammengekauert. Die Henne sah sie böse an. Sehr zaghaft streckte sie ihre Hand aus. Die Henne sprang auf sie los. Rasch zog sie die Hand mit einem Schrei zurück, halb vor Furcht, halb vor Kummer.

»Es tut nicht weh,« sagte Paul.

Sie errötete dunkel und stand auf.

»Ich wollte es nur mal versuchen,« sagte sie leise.

»Sieh, es tut nicht weh,« sagte er, nahm nur zwei Körner auf die flache Hand und ließ die Henne pick, pick, pick daraus fressen. »Man muß bloß darüber lachen,« sagte er.

Sie streckte die Hand aus und zog sie wieder zurück, versuchte es abermals und fuhr wieder mit einem Schrei zurück. Er runzelte die Brauen.

»Wieso, ich würde mir von ihr das Korn aus dem Gesicht picken lassen,« sagte Paul, »sie stubst nur so'n bißchen. Sie ist so vorsichtig. Wenn sie das nicht wäre, denke doch bloß mal, wieviel Dreck sie alle Tage mit aufpickte.«

In grimmem Ernst stand er wartend da und beobachtete sie. Endlich ließ Miriam den Vogel aus ihrer Hand picken. Sie stieß einen leichten Schrei aus – Furcht, und Schmerz wegen der Furcht – ganz ergreifend. Aber nun hatte sie es getan, und sie tat es wieder.

»Da siehst du,« sagte der Junge. »Es tut gar nicht weh, nicht wahr?«

Sie sah ihn an mit weiten, dunklen Augen.

»Nein,« lachte sie zitternd.

Dann stand sie auf und ging ins Haus. Sie hatte es dem Jungen anscheinend doch irgendwie verdacht.

»Er hält mich bloß für so'n gewöhnliches Mädchen,« dachte sie, und sie wollte ihm doch beweisen, daß sie etwas Großes sei, wie etwa die ›Herrin vom See‹.

Paul fand seine Mutter bereit, nach Hause zu gehen. Sie lächelte ihrem Sohn zu. Er nahm einen großen Blumenstrauß. Herr und Frau Leivers gingen mit ihnen die Felder entlang. Die Hügel lagen im Abendgold da; tief in den Wäldern zeigte sich der immer dunkler werdende Schimmer der Glockenblumen. Überall war es vollkommen still, ausgenommen das Rascheln der Blätter und die Vögel.

»Es ist doch eine wundervolle Stelle,« sagte Frau Morel.

»Ja,« antwortete Herr Leivers; »es ist 'ne nette kleine Stelle, wenn bloß die vielen Kaninchen nich wären. Sie fressen mir die ganze Weide kahl. Ich weiß nich, ob ich jemals die Pacht rauskriegen werde.«

Er klatschte in die Hände, und das Feld am Wald entlang geriet in Bewegung durch die überall herumhüpfenden Kaninchen.

»Sollte mans für möglich halten!« rief Frau Morel aus.

Sie und Paul gingen allein weiter.

»War es nicht entzückend, Mutter?« fragte er ruhig.

Eine feine Mondsichel war im Aufgehen. Sein Herz war so voller Glücksgefühl, daß es ihn schmerzte. Seine Mutter mußte drauflos schwatzen, weil auch sie vor Glück am liebsten geweint hätte.

»Nun, würde ich dem Manne nicht helfen!« sagte sie. »Würde ich mich nicht um die Hühner kümmern und um das Jungvieh! Und ich würde Melken lernen, und würde mit ihm reden und mit ihm Pläne machen. Mein Wort, wäre ich seine Frau, der Hof sollte in Gang kommen, soviel weiß ich! Aber sie hat nicht die Kraft dazu – sie hat einfach nicht die Kraft dazu. Es hätte ihr nie so viel zugemutet werden dürfen, weißt du. Sie tut mir leid, und er auch. Mein Wort, hätte ich ihn bekommen, ich hätte ihn nicht für 'nen schlechten Wirtschafter gehalten! Aber das tut sie ja auch gar nicht; und sie ist ganz reizend.«

Pfingsten kam William mit seiner Vielgeliebten wieder. Er hatte eine Woche frei. Es war wundervolles Wetter. In der Regel gingen William und Lily und Paul morgens zusammen spazieren. William sprach nicht viel mit seiner Geliebten, ausgenommen, wenn er ihr etwas aus seiner Jungenszeit erzählte. Paul redete endlos auf sie beide ein. Bei der Kirche von Minton legten sie sich alle drei auf eine Wiese. Auf ihrer einen Seite, neben dem Burghof, stand eine schöne, zitternde Wand von Pappeln, Rotdornblüten flatterten von den Hecken herab; Marienblümchen und Kuckucksblumen standen über die ganze Wiese verstreut wie ein großes Gelächter. William, ein großer Bursche von dreiundzwanzig, dünner jetzt und selbst etwas hager, lag im Sonnenschein auf dem Rücken und träumte, während sie mit seinem Haar spielte. Paul lief umher und suchte besonders große Marienblümchen. Sie hatte ihren Hut abgenommen; ihr Haar war so schwarz wie eine Pferdemähne. Paul kam wieder und flocht ihr Marienblümchen in das schwarze Haar – große Spangen aus weiß und gelb, und grade ein Hauch von rosa in den Kuckucksblumen.

»Nun siehst du aus wie eine junge Zauberin,« sagte der Junge zu ihr. »Nicht wahr, William?«

Lily lachte. William öffnete die Augen und sah sie an. In seinem Blick lag ein Ausdruck von Verwirrung vor Elend und wilder Bewunderung.

»Hat er 'ne Vogelscheuche aus mir gemacht?« fragte sie, lächelnd zu ihrem Liebhaber niedersehend.

»Ja, das hat er,« sagte William lächelnd.

Er sah sie an. Ihre Schönheit schien ihn zu schmerzen. Er blickte auf ihr blumenübersätes Haupt und runzelte die Brauen.

»Hübsch genug siehst du aus, wenn du es gerne wissen willst,« sagte er.

Und sie ging ohne Hut weiter. Nach einer kleinen Weile raffte William sich wieder auf und wurde nun ziemlich zärtlich gegen sie. Als sie an eine Brücke kamen, schnitt er ihre Anfangsbuchstaben und seine zusammen in ein Herz ein. Sie beobachtete seine starke, nervöse Hand mit den glänzenden Haaren und Sommersprossen, während er schnitzte, und schien von ihr bezaubert.

Die ganze Zeit über lag ein Gefühl von Traurigkeit und Wärme und eine gewisse Zärtlichkeit über dem Hause, solange William und Lily dort waren. Aber er war oft reizbar. Sie hatte für ihren achttägigen Aufenthalt fünf Kleider und sechs Blusen mitgebracht.

»Ach, würdest du wohl so gut sein«, sagte sie zu Annie, »und mir diese beiden Blusen und die paar Dinger da auswaschen?«

Und als William und Lily am nächsten Morgen ausgingen, stand Annie und wusch. Frau Morel war wütend. Und manchmal haßte auch der junge Mann seine Vielgeliebte, wenn er zufällig einmal ihr Benehmen gegen seine Schwester gewahr wurde.

Am Sonntagmorgen sah sie wunderschön aus in einem leichten Seidenkleide, schimmernd und fließend, blau wie eine Häherfeder und mit einem großen, sahnegelben Hut mit vielen, meist hochroten Rosen. Niemand konnte sie genügend anstaunen. Aber am Abend, als sie ausgehen wollten, fragte sie wieder: »Dickerchen, hast du meine Handschuhe?«

»Welche?« fragte William.

»Meine neuen schwarzen Schweden.«

»Nein.«

Nun gings auf die Suche. Sie hatte sie verloren.

»Sieh mal, Mutter,« sagte William, »das ist nun das vierte Paar, das sie seit Weihnachten verloren hat – das Paar zu fünf Schilling.«

»Und du hast mir doch nur zwei davon geschenkt,« verteidigte sie sich.

Und abends nach dem Abendessen stand er auf der Herdmatte, während sie auf dem Sofa saß, und schien sie zu hassen. Nachmittags hatte er sie allein gelassen, während er hinging, um einen alten Freund zu besuchen. Sie hatte gesessen und ein Buch durchgesehen. Nach dem Abendbrot wollte William einen Brief schreiben.

»Hier ist dein Buch, Lily,« sagte Frau Morel. »Hast du Lust, noch ein paar Minuten zu lesen?«

»Nein, danke,« sagte das Mädchen; »ich möchte ruhig sitzenbleiben.«

»Aber das ist doch langweilig.«

William schrieb gereizt hastig drauflos. Während er den Umschlag versiegelte, sagte er: »Ein Buch lesen! Wieso, sie hat in ihrem ganzen Leben noch kein Buch gelesen!«

»Ach, geh weg!« sagte Frau Morel, ärgerlich über diese Übertreibung.

»Das ist wahr, Mutter – nicht ein einziges,« rief er, aufspringend und seine alte Stellung auf der Herdmatte wieder einnehmend; »noch nie in ihrem Leben hat sie ein Buch gelesen.«

»Et jeht se jenau wie mich,« warf Morel ein. »Sie kann nich rauskriejen, wat in so'n Buch drinneschteckt, det man da sitzen soll und die Nase rinboren, un ick kanns och nich.«

»Aber du solltest so was nicht sagen,« sagte Frau Morel zu ihrem Sohne.

»Es ist aber doch wahr, Mutter – sie kann ja gar nicht lesen. Was hattest du ihr gegeben?«

»Ach, ich gab ihr so'n kleines Dings von Annie Swan. Sonntag nachmittags will man doch nicht so was Trockenes lesen.«

»Na, ich wette, sie hat keine zehn Zeilen gelesen.«

Die ganze Zeit über war Lily jämmerlich auf dem Sofa sitzengeblieben. Er wandte sich rasch nach ihr um.

»Hast du drin gelesen?« fragte er.

»Ja,« erwiderte sie.

»Wieviel?«

»Ich weiß nicht, wie viel Seiten.«

»Erzähl mir mal einen Vorfall, den du gelesen hast.«

Das konnte sie nicht.

Sie kam nie über die zweite Seite hinaus. Er las sehr viel und besaß einen raschen, tätigen Verstand. Sie verstand sich auf nichts als aufs Zärtlichsein und Schwatzen. Er war daran gewöhnt, seine Gedanken alle erst durch seiner Mutter Verstand durchgesiebt zu sehen; darum haßte er seine Verlobte, da er eine Gefährtin an ihr haben wollte und statt dessen seinerseits nur immer den zwitschernden, schnäbelnden Liebhaber spielen sollte.

»Weißt du, Mutter,« sagte er, als er spät am Abend mit ihr allein war, »sie hat gar keine Ahnung von Geld, sie ist zu hohlköpfig. Wenn sie ihr Gehalt kriegt, kauft sie plötzlich so'n Unsinn wie gezuckerte Kastanien, und dann muß ich ihre Zeitkarte bezahlen, und alle ihre Nebenausgaben, selbst ihr Unterzeug. Und dann will sie heiraten, und ich meine auch, wir sollten nächstes Jahr nur heiraten. Aber so ,...«

»Das wird 'ne schöne Sorte von Ehe,« erwiderte seine Mutter; »ich würde es mir noch überlegen, mein Junge.«

»Ach nein, jetzt bin ich schon zu weit gegangen, um nun noch abbrechen zu können,« sagte er, »und deshalb möchte ich heiraten, sobald ich kann.«

»Sehr schon, mein Junge. Wenn du willst, dann willst du, und niemand kann dich daran hindern; aber das sage ich dir, ich kann nicht schlafen, wenn ich daran denke.«

»Oh, sie wird schon zurechtkommen, Mutter. Wir werden schon durchkommen.«

»Und sie läßt dich ihr Unterzeug kaufen?« fragte die Mutter.

»Ja,« begann er wie sich entschuldigend, »sie hat mich nicht darum gebeten; aber eines Morgens – und es war wirklich kalt – fand ich sie am Bahnhof frierend, nicht imstande stillzustehen; deshalb fragte ich sie, ob sie gut eingepackt wäre. Sie sagte: ›Ich glaube doch.‹ Da sagte ich: ›Hast du warme Untersachen an?‹ Und sie sagte: ›Nein, nur baumwollene.‹ Ich fragte sie, warum in aller Welt sie denn bei derartigem Wetter nicht was Dickeres anzöge, und sie sagte, weil sie nichts hätte. Und grade sie – mit ihren ewigen Halsentzündungen! Ich mußte sie unter den Arm nehmen und ihr etwas Warmes kaufen. Gott, Mutter, ich würde mich ja nicht um das Geld quälen, wenn wir es hätten. Und, weißt du, sie müßte genug überbehalten, um ihre Zeitkarte bezahlen zu können; aber nein, damit kommt sie zu mir, und ich muß das Geld schaffen.«

»Das sind klägliche Aussichten,« sagte Frau Morel bitter.

Er war blaß, und auf seinem groben Gesicht, das früher so völlig sorglos und lachend zu sein pflegte, lag der Ausdruck von Kampf und Verzweiflung.

»Aber jetzt kann ich sie nicht mehr aufgeben; wir sind zu weit,« sagte er. »Und außerdem, in mancher Hinsicht könnte ich auch nicht ohne sie fertig werden.«

»Mein Junge, bedenke, du nimmst dein Leben in deine eigenen Hände,« sagte Frau Morel. »Nichts ist so schlimm als eine Ehe, die ein hoffnungsloser Fehlschlag werden muß. Meine war schlimm genug, weiß Gott, und hätte dir eine Lehre sein sollen, aber sie hätte doch noch bei weitem schlimmer sein können.«

Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Kamin, die Hände in den Hosentaschen. Er war ein großer, grobknochiger Mensch und sah aus, als würde er bis ans Ende der Welt gehen, wenns ihm in den Sinn käme. Aber sie bemerkte die Verzweiflung auf seinem Gesicht.

»Ich könnte sie jetzt nicht mehr aufgeben,« sagte er.

»Ja,« sagte sie, »denke daran, es gibt noch Schlimmeres als 'ne abgebrochene Verlobung.«

»Ich kann sie jetzt nicht mehr aufgeben,« sagte er.

Die Uhr tickte weiter; Mutter und Sohn verharrten in Schweigen, im Zwiespalt miteinander; aber er mochte nichts mehr sagen. Endlich sagte sie: »Ja, dann geh zu Bett, mein Junge. Morgen früh wirst du dich besser fühlen, und vielleicht wirst du's dann auch besser verstehen.«

Er küßte sie und ging. Sie bedeckte das Feuer. Das Herz war ihr so schwer wie noch nie. Früher, mit ihrem Manne, war scheinbar etwas in ihr zusammengebrochen, aber ihre Lebenskraft war nicht zerstört worden. Nun fühlte ihre Seele sich gelähmt. Ihre Hoffnung war getroffen.

Und so äußerte William noch häufig seinen Haß gegen seine Verlobte. Am letzten Abend zu Hause machte er sich über sie lustig.

»Ja,« sagte er, »wenn du mir nicht glauben willst, was sie für eine ist, würdest du denn wohl glauben, daß sie dreimal eingesegnet ist?«

»Unsinn!« lachte Frau Morel.

»Unsinn oder nicht, sie ists aber! So viel bedeutet ihr die Einsegnung – einfach so'n bißchen Theaterspielen, wo sie sich zeigen kann.«

»Das ist nicht wahr, Frau Morel!« weinte das Mädchen – »das habe ich nicht getan! Es ist nicht wahr!«

»Was?« rief er und fuhr wie der Blitz nach ihr herum; »einmal in Bromley, einmal in Beckenham und einmal noch woanders.«

»Nirgends woanders!« sagte sie in Tränen – »nirgends woanders!«

»Doch! und wenn auch nicht, warum bist du denn zweimal eingesegnet?«

»Das erstemal war ich erst vierzehn, Frau Morel,« sagte sie flehend, mit Tränen in den Augen.

»Ja,« sagte Frau Morel; »ich kann dich ganz verstehen, Kind. Achte nicht auf ihn. Du solltest dich schämen, William, so was zu sagen.«

»Aber es ist wahr. Sie ist fromm – sie hat ein blausamtenes Gebetbuch – und sie hat nicht so viel Frömmigkeit oder sonstwas in sich wie das Tischbein da. Läßt sich dreimal einsegnen wegen des Theaters, um sich zu zeigen, und so ist sie in allem – in allem!«

Das Mädchen saß weinend auf dem Sofa. Sie war nicht stark.

»Und Liebe!« rief er, »ebensogut könntest du 'ne Fliege bitten, dich lieb zuhaben! Sie wird sich gern auf dir niederlassen ,...«

»Nun kein Wort mehr,« befahl Frau Morel. »Wenn du so was sagen willst, dann such dir einen anderen Platz dafür. Ich muß mich deinetwegen ja schämen, William! Warum bist du nicht männlicher. Nichts zu tun als immer an einem Mädchen was auszusetzen haben, und dann so zu tun, als wärest du mit ihr verlobt.«

Frau Morel sank vor Ärger und Zorn in sich zusammen.

William war stumm, und später tat es ihm leid, er küßte und tröstete das Mädchen. Und doch war es wahr, was er gesagt hatte. Er haßte sie.

Als sie wieder fortgingen, begleitete Frau Morel sie bis Nottingham. Es war ein langer Weg bis zur Haltestelle in Keston.

»Weißt du, Mutter,« sagte er zu ihr, »Gyp ist flach. Nichts geht bei ihr tief.«

»William, ich wollte, du sagtest so was nicht,« sagte Frau Morel, die sich des Mädchens wegen, das neben ihr herging, sehr unbehaglich fühlte.

»Aber es tut nichts, Mutter. Jetzt ist sie mächtig in mich verliebt, aber wenn ich stürbe, würde sie mich in drei Monaten vergessen haben.«

Frau Morel wurde ängstlich. Ihr Herz schlug wütend, als sie die ruhige Bitterkeit in ihres Sohnes letztem Ausspruch vernahm.

»Wie kannst du das wissen?« antwortete sie. »Du weißt es nicht, und deshalb hast du auch kein Recht, so was zu sagen.«

»Immer sagt er so was!« weinte das Mädchen.

»Drei Monate, nachdem ich begraben bin, würdest du jemand anders haben, und ich würde vergessen sein,« sagte er. »Und das ist deine Liebe!«

Frau Morel brachte sie in Nottingham an den Zug und kehrte dann nach Hause zurück.

»Ein Trost ist,« sagte sie zu Paul – »er wird nie Geld genug haben, um darauf zu heiraten, das ist mir sicher. Und so rettet sie ihn auf die Weise.«

So wurde sie wieder guten Muts. Einstweilen standen die Dinge noch nicht ganz verzweifelt. Sie glaubte fest, William würde seine Gipsy nie heiraten. Sie wartete und hielt Paul dicht bei sich.

Den ganzen Sommer über hatten Williams Briefe einen fiebrigen Ton in sich; er schien unnatürlich und gespannt. Zuweilen war er übertrieben lustig, gewöhnlich aber flach und bitter in seinen Briefen.

»Ach ja,« sagte seine Mutter, »ich fürchte, er richtet sich durch dies Geschöpf noch zugrunde, das seiner Liebe gar nicht wert ist – nein, sie ist nicht mehr als 'ne Plünnerpuppe.«

Er wünschte nach Hause zu kommen. Die Mittsommerfreizeit war vorüber; bis Weihnachten war es noch lange hin. Er schrieb in wilder Aufregung und meinte, er wolle für Sonnabend und Sonntag zum Gänsemarkt kommen, die erste Oktoberwoche.

»Du bist nicht wohl, mein Junge,« sagte seine Mutter, sobald sie ihn zu sehen kriegte.

Sie war beinahe in Tränen, daß sie ihn einmal wieder ganz für sich haben sollte.

»Nein, ich bin nicht wohl gewesen,« sagte er. »Den ganzen letzten Monat über habe ich anscheinend eine verschleppte Erkältung gehabt, aber nun geht sie weg, glaube ich.«

Es war sonniges Oktoberwetter. Er schien wild vor Freude, wie ein durchgebrannter Schuljunge; dann wieder war er schweigsam und zurückhaltend. Er war hagerer als je, und es lag ein verstörter Blick in seinen Augen.

»Du arbeitest zu viel,« sagte seine Mutter zu ihm.

Er machte Überstunden und versuchte auf die Weise etwas Geld zum Heiraten zu gewinnen, meinte er. Am Sonnabendabend sprach er mit seiner Mutter nur einmal über seine Verlobte; und dann traurig und zärtlich.

»Und doch, weißt du, Mutter, das mag nun alles sein, sollte ich sterben, so würde sie zwei Monate lang ein gebrochenes Herz haben, und dann würde sie anfangen mich zu vergessen. Siehst du, sie würde niemals hierherkommen und mein Grab besuchen, nicht ein einziges Mal.«

»Aber William, du stirbst doch nicht, warum redest du denn so viel darüber?«

»Ja, ob ich nun sterbe oder nicht ,...« erwiderte er.

»Und sie kanns doch nicht helfen. Sie ist nun mal so, und wenn du sie dir ausgesucht hast –, ja, dann kannst du dich auch nicht beschweren,« sagte seine Mutter.

Am Sonntagmorgen, als er sich den Kragen zumachte, sagte er zu seiner Mutter:

»Sieh mal,« und hielt sein Kinn in die Höhe, »was für 'ne Schramme mir der Kragen da unterm Kinn beigebracht hat!«

Grade am Übergang des Kinnes in den Hals war eine große, rote, entzündete Stelle.

»Das sollte er aber eigentlich nicht,« sagte seine Mutter. »Hier, streich mal ein bißchen von dieser lindernden Salbe drauf. Du solltest andere Kragen tragen.«

Sonntag um Mitternacht ging er fort und machte einen gesunderen und festeren Eindruck, schon nach diesen zwei Tagen zu Hause.

Am Dienstagmorgen kam ein Telegramm aus London mit der Nachricht, er wäre krank. Frau Morel erhob sich auf den Knien vom Fußboden, den sie gewaschen hatte, las das Telegramm, rief eine Nachbarin, ging zu ihrer Hauswirtin und borgte sich zwanzig Schilling, zog sich an und eilte los. Sie lief nach Keston und bekam in Nottingham einen Schnellzug nach London. In Nottingham hatte sie beinahe eine Stunde zu warten. Sie sah klein aus in ihrem schwarzen Hute und fragte ängstlich alle Kofferträger, ob sie wüßten, wie sie nach Elmers End käme. Die Fahrt dauerte drei Stunden. In einer Art Starre saß sie in einer Ecke, ohne jede Regung. In Kings Croß konnte ihr immer noch niemand sagen, wie sie nach Elmers End käme. Ihre Netztasche in der Hand, die ihr Nachthemd, Kamm und Bürste enthielt, ging sie von einem zum andern. Schließlich schickte man sie in die Untergrundbahn nach Cannon Street.

Es war sechs Uhr, als sie in Williams Wohnung ankam. Die Läden waren nicht herabgelassen.

»Wie gehts ihm?« fragte sie.

»Nicht besser,« sagte die Wirtin.

Sie folgte der Frau nach oben. William lag auf seinem Bette, mit blutunterlaufenen Augen, sein Gesicht farblos. Sein Zeug lag unordentlich umher, es war kein Feuer im Kamin, ein Glas Milch stand neben dem Bett. Niemand war bei ihm gewesen.

»Nun, mein Junge,« sagte die Mutter tapfer.

Er antwortete nicht. Er sah sie an, aber erkannte sie nicht. Dann begann er mit eintöniger Stimme, als wiederholte er einen Brief, den er jemand in die Feder vorgesprochen hatte: »Infolge des Lecks im Schiffsraum war der Zucker geschmolzen und hart wie Stein geworden. Er mußte losgehackt werden ,...«

Er war völlig bewußtlos. Er hatte den Auftrag gehabt, einen derartigen Fall im Londoner Hafen zu untersuchen.

»Wie lange ist er schon so?« fragte seine Mutter die Wirtin.

»Montagmorgen um sechs kam er nach Hause und schien den ganzen Tag zu schlafen; in der Nacht hörten wir ihn dann reden, und heute morgen fragte er nach Ihnen. Da habe ich telegraphiert, und wir haben den Arzt geholt.«

»Würden Sie wohl Feuer anmachen?«

Frau Morel versuchte ihren Sohn zu beruhigen, ihn stille zu halten.

Der Arzt kam. Es war Lungenentzündung und, sagte er, eine merkwürdige Rose, die unter dem Kinn angefangen habe, wo der Kragen ihn wundgerieben habe, und die sich über das ganze Gesicht ausbreitete. Er hoffe, sie werde das Gehirn nicht angreifen.

Frau Morel begann ihn zu pflegen. Sie betete für William, betete, er möchte sie erkennen. Aber das Gesicht des jungen Mannes verfärbte sich immer mehr. In der Nacht hatte sie mit ihm zu ringen. Er tobte und tobte und konnte nicht zu Bewußtsein gelangen. Um zwei Uhr starb er in schrecklichem Todeskampf.

Eine Stunde lang saß Frau Morel vollkommen still in dem Schlafzimmer; dann weckte sie die Wirtsleute.

Um sechs Uhr machte sie ihn mit Hilfe einer Scheuerfrau zurecht; dann lief sie in der trübseligen Londoner Vorstadt zum Standesamt und zum Arzt.

Um neun Uhr kam zu dem Häuschen in der Scargill-Straße eine neue Drahtung: »William vorige Nacht gestorben. Laß Vater kommen, Geld mitbringen.«

Annie, Paul und Arthur waren zu Hause, Morel war schon zur Arbeit gegangen. Die drei Kinder sagten kein Wort. Annie begann vor Furcht zu jammern; Paul zog los nach seinem Vater. Es war ein wundervoller Tag. Auf der Brinsleygrube verging der weiße Dampf langsam am sanft blauen Himmel im Sonnenschein; die Räder funkelten hoch oben auf den Fördertürmen; das Sieb verursachte beim Durchschaufeln der Kohlen in die Wagen ein geschäftiges Geräusch.

»Ich suche meinen Vater; er muß nach London,« sagte der Junge dem ersten Mann, dem er an der Halde begegnete.

»Walter Morel suchst du? Geh da man rin und sag Joe Ward Bescheid.«

Paul trat in das kleine obere Geschäftszimmer.

»Ich suche meinen Vater; er muß nach London.«

»Deinen Vater? Is er unten? Wie heeßt er?«

»Herr Morel.«

»Wat? Walter? Is was nich in Ordnung?«

»Er muß nach London.«

Der Mann ging an den Fernsprecher und rief die untere Geschäftsstelle an.

»Walter Morel wird gewünscht. Nummer 42. Dringend. Da is was los; sein Junge is hier.«

Dann wandte er sich zu Paul um: »In ein paar Minuten is er oben,« sagte er.

Paul wanderte draußen an den Schachtkopf. Er beobachtete den Fahrstuhl beim Heraufkommen, mit einem Kohlenwagen darauf. Der große eiserne Käfig sank auf seine Rast zurück, der volle Hund wurde abgerollt, ein leerer auf den Stuhl gezogen, irgendwo klingelte eine Glocke, der Fahrstuhl schwankte und sank dann wie ein Stein in die Tiefe.

Paul war sich gar nicht klar darüber, daß William tot war; das war unmöglich, bei all dem Treiben um ihn her. Der Abzieher brachte den kleinen Wagen sofort auf die Drehscheibe, ein anderer Mann lief mit ihm die Halde hinunter über die geschwungenen Gleise.

»Und William ist tot, und Mutter in London, und was fängt sie bloß an?« fragte der Junge sich, als handle es sich um ein Rätselspiel.

Fahrstuhl auf Fahrstuhl sah er heraufkommen, aber keinen Vater. Endlich, neben einem Wagen stehend, eine Männergestalt. Der Fahrstuhl sank auf seine Rast, Morel trat herunter. Er lahmte etwas von einem Unfall.

»Du bists, Paul? Is er schlimmer?«

»Du sollst nach London kommen.«

Die beiden traten von der Halde weg, wo die Leute sie neugierig beobachteten. Als sie draußen waren und an der Bahn entlang gingen, mit dem sonnigen herbstlichen Felde auf einer Seite und einer Wagenreihe auf der andern, sagte Morel in verängstigtem Tone:

»Er is doch nich weg, Kind?«

»Ja.«

»Wenn war't?«

Die Stimme des Bergmanns klang furchterfüllt.

»Vorige Nacht. Wir hatten Nachricht von Mutter.«

Morel ging ein paar Schritte weiter, dann lehnte er sich mit der Hand über den Augen gegen eine Wagenwand. Er weinte nicht. Paul stand dabei und sah sich um, wartend. Ein Hund wackelte langsam auf die Wiegevorrichtung. Paul sah alles und jedes, ausgenommen seinen Vater, der sich gegen den Wagen lehnte, als sei er müde.

Morel war nur einmal früher in London gewesen. Ängstlich und wie ein Kranker aussehend zog er los, seiner Frau zu Hilfe. Das war am Dienstag. Die Kinder wurden zu Hause allein gelassen. Paul ging weiter zur Arbeit, Arthur ging zur Schule, und Annie ließ eine Freundin kommen, die bei ihr bleiben sollte.

Als Paul am Sonnabend um die Ecke kam auf seinem Heimwege von Keston, sah er seinen Vater und Mutter, die bis Sethleybrücken-Haltestelle gefahren waren. Schweigend zogen sie durch das Dunkel, müde, jeder für sich. Der Junge wartete.

»Mutter?« sagte er in der Dunkelheit.

Frau Morels kleine Gestalt schien ihn nicht zu bemerken. Er sagte es noch einmal.

»Paul!« sagte sie ganz teilnahmlos.

Sie ließ sich von ihm küssen, schien ihn aber gar nicht gewahr zu werden.

Im Hause war sie genau so – klein, weiß und stumm. Sie wurde nichts gewahr, sie sagte nichts, als: »Der Sarg muß heute nacht hier sein, Walter. Du siehst dich besser nach Hilfe um.« Dann, zu den Kindern gewandt: »Wir bringen ihn nach Hause.«

Dann verfiel sie wieder in das stumme Schauen ins Unendliche, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Wenn Paul sie ansah, war es ihm, als könne er nicht atmen. Das Haus war totenstill.

»Ich bin zur Arbeit gegangen, Mutter,« sagte er kläglich.

»So?« antwortete sie stumpf.

Nach einer halben Stunde kam Morel verstört und unruhig wieder zurück: »Wo wollen wir'n hinhaben, wenn er kommt?« fragte er seine Frau.

»In das Vorderzimmer.«

»Dann stell ick woll besser den Tisch um?«

»Ja.«

»Un nehm ihn denn auf'n paar Stühle?«

»Du weißt, da ,... Ja, ich glaube auch.«

Morel und Paul gingen mit einer Kerze ins Wohnzimmer. Dort war kein Gas. Der Vater schraubte die Platte des großen, eirunden Mahagonitisches ab und machte die Mitte des Zimmers frei; dann stellte er sechs Stühle einander gegenüber, so daß der Sarg auf ihren Sitzen stehen konnte.

»So wat von Länge haste noch nie nich jesehen, wie der is,« sagte der Bergmann und paßte ängstlich auf, während er weiter arbeitete.

Paul trat an das Erkerfenster und sah aus. Wie ein Ungeheuer stand der Eschenbaum schwarz vor der weiten Dunkelheit. Es war eine schwach erhellte Nacht. Paul ging wieder zu seiner Mutter.

Um zehn Uhr rief Morel: »Da is er.«

Alle fuhren auf. Ein Geräusch wie vom Aufschließen und Öffnen der Vordertür wurde hörbar, die sich unmittelbar aus der Dunkelheit in das Zimmer öffnete.

»Bring noch 'ne Kerze,« rief Morel.

Annie und Arthur gingen. Paul kam mit seiner Mutter hinterher. Er stand mit dem Arm um ihre Hüfte in dem inneren Durchgang. Mitten in dem ausgeräumten Zimmer warteten die sechs Stühle einander gegenüber. Am Fenster hielt Arthur eine Kerze gegen den Vorhang, und an der offenen Tür stand Annie gegen den Nachthimmel vornübergelehnt; ihr Messingleuchter funkelte hell.

Das Geräusch von Rädern ertönte. Draußen in der Dunkelheit der Straße konnte Paul Pferde und ein schwarzes Gefährt sehen, eine Lampe und ein paar blasse Gesichter; dann schienen ein paar Männer, Bergleute, alle in Hemdärmeln, mit der Dunkelheit zu ringen. Sogleich erschienen zwei Männer, niedergebeugt unter einer großen Last. Es waren Morel und sein Nachbar.

»Langsam!« rief Morel außer Atem.

Er und sein Genosse stiegen die hohen Gartenstufen hinauf, so daß das Sargende vom Kerzenlicht beleuchtet wurde. Gliedmaßen anderer ringender Männer wurden hinter ihnen sichtbar. Morel und Burns stolperten voran; die große dunkle Last schwankte.

»Langsam, langsam!« rief Morel wie in Schmerzen.

Sämtliche sechs Träger waren nun in dem kleinen Garten und hielten den Sarg hoch empor. Drei weitere Stufen führten zur Tür. Die gelbe Lampe des Wagens schien allein in die dunkle Straße hernieder.

»Nun!« sagte Morel.

Der Sarg schwankte, die Männer begannen die drei Stufen mit ihrer Last emporzusteigen. Annies Kerze flackerte, und sie jammerte leise, als die ersten Männer erschienen, und die Gliedmaßen und gebeugten Häupter der sechs Männer sich den Eingang in das Zimmer erkämpften und den Sarg schleppten, der wie die Sorge auf ihrem lebendigen Fleische lastete.

»O mein Sohn, mein Sohn!« weinte Frau Morel leise, und jedesmal, wenn der Sarg bei dem ungleichmäßigen Auftreten der Männer ins Schwanken geriet, wieder: »O mein Sohn – mein Sohn – mein Sohn!«

»Mutter!« klagte Paul, den Arm um ihre Hüfte. »Mutter!«

Sie hörte ihn nicht.

»O mein Sohn – mein Sohn!« wiederholte sie.

Paul sah Schweißtropfen von seines Vaters Stirn fallen. Sechs Männer standen im Zimmer – sechs Männer ohne Rock, mit ringenden, nachgebenden Gliedmaßen, den ganzen Raum ausfüllend und sich an den Sachen stoßend. Der Sarg neigte sich und wurde leise auf die Stühle niedergelassen. Der Schweiß tropfte von Morels Stirn auf die Sargbretter.

»Mein Wort, der hat aber'n Jewicht!« sagte einer der Männer, und die fünf seufzten, verneigten sich und gingen zitternd vor Anstrengung wieder die Stufen hinab, die Tür hinter sich zuziehend.

Die Hausgenossen waren allein in ihrem Wohnzimmer mit dem großen, blanken Kasten. William war ausgestreckt fast zwei Meter lang. Wie ein Denkmal lag der hellbraune, gewichtige Sarg da. Paul dachte, er würde nie wieder aus dem Zimmer zu bringen sein. Seine Mutter streichelte das blanke Holz.

Sie begruben ihn am Montag auf dem kleinen Friedhof am Hügel, der die Felder neben der großen Kirche und die Häuser überblickt. Es war sonnig, und die weißen Winterastern kräuselten sich in der Wärme.

Frau Morel ließ sich hernach weder zum Sprechen bringen noch dazu, wieder mit ihrer früheren Helligkeit am Leben teilzunehmen. Sie blieb verschlossen. Den ganzen Weg nach Hause hatte sie sich im Zuge gesagt: »Wenn ich es doch nur gewesen wäre!«

Wenn Paul abends nach Hause kam, fand er seine Mutter nach vollbrachtem Tagewerk mit ihren Händen über der groben Schürze gefaltet dasitzen. Früher hatte sie für gewöhnlich immer ihr Kleid gewechselt und eine schwarze Schürze vorgebunden. Nun setzte Annie ihm sein Essen hin, und seine Mutter saß da und stierte ausdruckslos vor sich hin, den Mund fest verschlossen. Dann zerquälte er sich das Hirn nach etwas, was er ihr erzählen könne.

»Mutter, Fräulein Jordan war heute unten und sagte, meine Skizze von der Grube wäre wirklich schön.«

Aber Frau Morel achtete auf nichts. Abend auf Abend zwang er sich, ihr allerlei zu erzählen, obgleich sie gar nicht hinhörte. Es trieb ihn fast zum Wahnsinn, sie so zu sehen. Zuletzt fragte er: »Was ist denn, Mutter?«

Sie hörte ihn nicht.

»Was ist denn?« drang er in sie. »Mutter, was ist denn?«

»Du weißt doch, was ist,« sagte sie gereizt und wandte sich ab.

Der Junge – er war jetzt sechzehn Jahre – ging trübselig zu Bett. Den Oktober, November und Dezember hindurch war er wie abgeschnitten und jämmerlich. Seine Mutter versuchte sich aufzuraffen, aber sie vermochte es nicht. Sie konnte nur über ihren toten Sohn nachgrübeln; sie hatten ihn so grausam sterben lassen.

Endlich, am 23. Dezember, wanderte Paul mit seinem Fünf-Schilling-Weihnachtspack in der Tasche wie blind heimwärts. Seine Mutter sah ihn an, und das Herz stand ihr still.

»Was ist los?« fragte sie.

»Mir gehts nicht gut, Mutter!« erwiderte er. »Herr Jordan hat mir fünf Schilling als Weihnachtsgeschenk gegeben.«

Er reichte es ihr mit zitternden Händen. Sie legte es auf den Tisch.

»Du freust dich gar nicht!« sagte er vorwurfsvoll; aber er zitterte heftig.

»Wo tut es dir weh?« fragte sie und knöpfte ihm den Mantel auf.

Es war die alte Frage.

»Ich fühle mich schlecht, Mutter.«

Sie zog ihn rasch aus und packte ihn ins Bett. Er hätte eine gefährliche Lungenentzündung, sagte der Arzt.

»Hätte er sie am Ende nicht bekommen, wenn ich ihn zu Hause gehalten hätte, ihn nicht hätte nach Nottingham gehen lassen?« war eine ihrer ersten Fragen.

»Er würde sie wohl nicht so schlimm bekommen haben,« sagte der Arzt.

Vor sich selbst verurteilt stand Frau Morel da.

»An den Lebenden hätte ich denken müssen, nicht an den Toten,« sagte sie zu sich.

Paul war schwer krank. Nachts lag seine Mutter neben ihm im Bett; sie konnten sich keine Pflegerin leisten. Es wurde schlimmer mit ihm, und die Entscheidung nahte. Eines Nachts kam er in jenem schrecklichen krankhaften Gefühl der Auflösung ins Bewußtsein zurück, wo sämtliche Zellen des Körpers in höchster Reizbarkeit niederzubrechen scheinen und das Bewußtsein zum letzten Kampfe emporflackert, wie im Wahnsinn.

»Ich sterbe, Mutter!« rief er, auf dem Kissen krampfhaft nach Atem ringend.

Sie richtete ihn auf und weinte leise: »O mein Sohn – mein Sohn!«

Das brachte ihn zu sich. Er erkannte sie. Sein ganzer Wille bäumte sich auf und hielt ihn. Er legte seinen Kopf an ihre Brust und fühlte sich durch ihre Liebe erleichtert.

»Aus gewissen Gründen«, sagte seine Tante, »war es gut, daß Paul damals um Weihnachten so krank wurde. Ich glaube, das rettete seine Mutter.«

Sieben Wochen lang lag Paul zu Bett. Weiß und gebrechlich stand er auf. Sein Vater hatte ihm einen Topf mit rot und goldgelben Tulpen gekauft. Sie pflegten im Fenster aufzuflammen im Märzsonnenschein, wenn er neben seiner Mutter im Sofa saß und ihr etwas vorschwatzte. Die beiden verflochten sich miteinander zu vollkommenster Vertrautheit. Frau Morels Leben wurzelte jetzt in Paul.

William hatte wahrgesagt. Frau Morel bekam ein kleines Geschenk und einen Brief von Lily zu Weihnachten. Frau Morels Schwester hatte Neujahr einen.

»Gestern abend war ich auf einem Balle. Ein paar entzückende Menschen waren da, und ich habe viel Vergnügen gehabt,« sagte der Brief. »Jeden Tanz hatte ich – nicht einen habe ich gesessen.«

Frau Morel hörte nie wieder von ihr.

Morel und seine Frau waren nach dem Todesfall eine Zeitlang ganz freundlich miteinander. Er konnte in eine Art Betäubung verfallen, in der er mit weit aufgerissenen, nichtssehenden Augen durchs Zimmer starrte. Dann stand er plötzlich auf und lief schleunigst von dannen nach den ›Drei Flecken‹, von wo er in seinem gewöhnlichen Zustande heimkehrte. Aber nie in seinem Leben vermochte er einen Gang nach Shepstone hinüber zu unternehmen, an dem Laden vorbei, in dem sein Sohn gearbeitet hatte, und den Friedhof mied er dauernd.


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